Nebelwald von Klaus-Peter Behrens
6. Kapitel

Sorgfältig legte sie einen Pfeil auf die Sehne, zielte und spannte den Bogen bis zum Zerreißen. Bevor Michael einen Einwand vorbringen konnte, hatte die Elbin die Sehne bereits losgelassen. Mit einem leichten Klirren der Rüstung brach der Getroffene auf der Stelle zusammen. Befriedigt hängte sich Monjya den Bogen wieder um. "Wieder einer weniger. Jetzt komm, bevor sie uns hier doch noch entdecken." Die Schatten geschickt ausnutzend, rannten sie zum Turm hinüber. Ein Blick auf die Wache bestätigte, dass diese keinen Ärger mehr machen würde. Ein gefiederter Pfeil ragte aus ihrem rechten Auge.
"Wir müssen ihn aus dem Weg räumen. Hier fällt er ein wenig auf", flüsterte Monjya, die sich unruhig umsah, doch der Platz um den Turm herum blieb vorläufig leer. Anscheinend war ihr Eindringen noch nicht bemerkt worden. "Schaff ihn unter die Treppe, ich sehe mich schon einmal oben um", bat die Elbin, dann huschte sie die Treppe hinauf. Während Michael sich damit abplagte den toten Bolg außer Sicht zu ziehen, versuchte Monjya das schmiedeeiserne Schloss der Turmtür zu knacken. Vergeblich. "Verdammt, ich bekomme dieses Schloss einfach nicht auf." Frustriert schob sie den biegsamen Draht, mit dem sie sich am Schloss zu schaffen gemacht hatte, zurück in ihre Kleidung. "Sieh mal nach, ob er einen Schlüssel bei sich hat", fragte sie. Michael glaubte zum ersten Mal eine leichte Beunruhigung in ihrer Stimme wahrzunehmen. Eilig machte er sich daran, den Toten zu durchsuchen, während ihm der Angstschweiß in die Augen rann.
"Ich hab hier einen gefunden", teilte er der nervösen Elbin einen Augenblick später mit. Eilig hastete er die Treppe hinauf und gab Monjya den Schlüssel, die sich erneut an dem uralten Schloss zu schaffen machte. Diesmal mit Erfolg. Mit einem knirschenden Geräusch drehte sich der Schlüssel einen Augenblick später im Schloss. "Perfekt", flüsterte die Elbin und gab Michael den Schlüssel zurück. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt und schlüpfte ins Innere. Michael folgte. Sorgfältig schloss er die Tür hinter sich wieder ab und legte zusätzlich einen schweren, inneren Riegel um, den er an der Innenseite der Tür entdeckt hatte. Er hoffte jedoch inständig, dass dieser keiner Belastungsprobe unterzogen werden würde, denn das würde bedeuten, dass man ihr Eindringen entdeckt hätte und sie in der Falle sitzen würden. Mit einem Kopfschütteln wischte er die unangenehmen Gedanken beiseite und folgte Monjya, die bereits die schmale Wendeltreppe des Turms hinauf geschlichen war. Von oben drang schwach das pulsierende Licht des Obelisken herunter. Eilig folgte Michael. Oben angekommen, blieb er verblüfft neben Monjya stehen. Es war nicht zu übersehen, dass der Obelisk das ins riesige vergrößerte Ebenbild seines Fundes darstellte. Links und rechts wurde er von zwei steineren Figuren flankiert, die an Scheußlichkeit nicht zu überbieten waren und einen gewaltigen steinernen Bogen hielten, der sich über den Obelisken spannte. Michael hatte eine leise Vorstellung davon, wozu er diente. "Das ist vermutlich ein riesiges Tor in ihre Heimatwelt", erklärte er, als er den fragenden Gesichtsausdruck Monjyas registrierte.
"Dann laß es uns für alle Zeiten verschließen."
Die leblosen Augen der steinernen Wächter, die die beiden Eindringlinge im dunkelrot pulsierenden Licht des Obelisken wütend anzustarren schienen, ignorierend, umkreisten sie den Obelisken auf der Suche nach einer Schwachstelle. Auf der gegenüberliegenden Seite der riesigen Kammer stießen sie auf eine schmale, wackelige Holzleiter, die auf eine Plattform hinauf führte, die den nach oben hin offenen Turm kreisförmig umgab. Während Michael sich noch über den Zweck der Plattform den Kopf zerbrach, erklang plötzlich ein tiefes, unheimliches Tuten. Erschrocken sah er Monjya an.
"Das Alarmsignal", erklärte Monjya. "Sieh nach oben, die Morgendämmerung bricht an. Der Angriff der Drachenreiter beginnt." Tatsächlich wurde der Himmel im nächsten Moment für eine Sekunde von der Silhouette eines Drachen verdunkelt. "Wir müssen uns beeilen. Weißt du noch, was Wogar uns eingeschärft hat? Wir müssen sein inneres Gleichgewicht zerstören. Nervös umkreiste Monjya erneut den Obelisken, bis sie plötzlich etwas entdeckte, das sie beim ersten Mal übersehen hatte. "Hier ist eine Öffnung", rief sie aufgeregt. "Vielleicht solltest du deinen Stein hier einmal ausprobieren."
Den nunmehr stark pulsierenden Stein in der rechten Hand haltend, rannte Michael zu Monjya hinüber, um ihre Entdeckung in Augenschein zu nehmen. "Und dabei wollte ich eigentlich nur nach Hause", murmelte er angesichts der grotesken Situation, in der er sich befand. Im selben Moment gab der Stein in seiner Hand ein singendes Geräusch von sich, und vor Michael öffnete sich zum zweiten Mal in seinem Leben das seltsame Tor, durch das er in diese Welt geschlittert war. Monjya wich nervös zurück. "Was beim Atem des ersten Drachens ist das?"
"Mein Weg nach Hause", erwiderte Michael. Angesichts des nicht mehr zu überhörenden Kampflärms schien es unbedingt an der Zeit, diesen ungastlichen Ort zu verlassen. Das tiefblaue Rechteck vibrierte verlockend vor seinen Augen. Er mußte nur ein paar Schritte machen und wäre wieder zu Hause. Anders als beim ersten Mal, konnte Michael diesmal die Oberfläche mit seinem Blick durchdringen. Bilder vertrauter Orte blitzten dort auf. Wie die Motte vom Licht, so wurde auch Michael von dieser tiefblauen, strahlenden Suggestion angezogen. Automatisch tat er einen Schritt in Richtung des leuchtenden Rechtecks, als Monjyas drängende Stimme ihn innehalten ließ.
"Wenn du gehst, werden wir untergehen", sagte die Elbin mit einem flehenden Unterton. Michael fluchte.
"Verdammt!" Er wußte, dass sie Recht hatte. Aber was sollte er tun? Hier war der Rückweg zu all dem, was ihm vertraut war. Sollte er das aufgeben für ein Volk, mit dem ihn nichts verband, vielleicht einmal abgesehen von seinen Gefühlen für Monjya. Sein Blick wanderte zu der Elbin hinüber. Würde sie ihn überhaupt gehen lassen? Er versuchte einen Vorstoß.
"Warum kommst du nicht mit?"
Die grünen Augen sahen ihn traurig an.
"Willst du wirklich, dass ich mein Volk verrate?"
Michael schluckte und schlug den Blick nieder, dann schüttelte er den Kopf. Die Entscheidung, was er tun sollte, war wirklich schwer. Zu allem Überfluss drangen plötzlich auch noch von unten heftige Schläge herauf. Offenkundig hatten sie den toten Wächter entdeckt, eins und eins zusammengezählt und versuchten nun, die Tür einzuschlagen. Michael seufzte, dann gab er sich einen Ruck.
"Ich hoffe, du weißt, was das für mich bedeutet", sagte er. Im selben Moment erlosch das Tor, als habe es seine Gedanken gespürt, vielleicht konnte es sich aber auch immer nur für eine bestimmte Zeit stabilisieren. Doch das tat jetzt nichts mehr zur Sache. "Ich muß verrückt sein", murmelte er, dann hastete er zu dem Loch im Obelisken hinüber und versenkte den Stein darin. "Wenn das jetzt nichts bringt, dann gute Nacht", unkte er. Doch die Sorge war unbegründet. Kaum war der Stein versenkt, begann der Obelisk in einem tiefen, stetig ansteigenden Tonfall zu vibrieren, der in Michael neue Besorgnis auslöste. "Der wird jeden Moment explodieren", vermutete er.
"Das wird nicht unsere einzige Sorge bleiben", erwiderte Monjya grimmig, als tief unten im Turm ein heftiges Splittern erklang. Die Bolg hatten die Tür eingeschlagen und stürmten nun die Treppe hinauf.
"Und was jetzt? Wenn die uns hier erwischen, sind wir erledigt", fluchte Michael. Monjya zog ihn energisch am Arm zur schmalen Leiter hinüber.
"Dort hinauf. Hier unten haben wir keine Chance." In Windeseile hasteten sie die Leiter hinauf und duckten sich auf dem kreisrunden Gang so gut es ging in die Schatten, als die Bolg in der Kammer eintrafen. Es waren fünf. Wahre Giganten und alle bis an die Zähne bewaffnet. Angesichts des heftig vibrierenden Obelisken, blieben sie jedoch verblüfft stehen, wofür Monjya dankbar war, gaben sie so doch perfekte Zielscheiben ab. Mit einem dumpfen Geräusch ging der vorderste Bolg zu Boden. Der Bolg zu seiner Linken hatte gerade noch Zeit zu registrieren, dass seinem Kameraden plötzlich ein gefiederter Pfeil aus dem Hals ragte, als auch er getroffen zu Boden ging. Dann brach die Hölle los. Die verbliebenen Bolg hatten die Elbin inzwischen ausgemacht und stürmten auf die Leiter los. Sofort stürzte Michael hinüber, um sie einzuziehen oder umzuwerfen, doch die Leiter war mit der Plattform fest verschraubt.
"Verdammt, ich kann sie nicht umwerfen." Verzweifelt zog er sein Schwert, als der erste Bolg die oberste Sprosse erreichte. Doch seine ungelenken Schläge wehrte der Bolg lässig mit seiner Streitaxt ab, während er sich unaufhaltsam auf die Plattform zog. "Du bist tot", knurrte er, als er endlich oben angekommen war. Seine Streitaxt wirkte blutrot im Licht des immer heftiger vibrierenden Obelisken. Michael schwitzte, hier half nur eine List. "Jetzt", brüllte er plötzlich aus Leibeskräften, wobei er zugleich aufgeregt auf einen imaginären Punkt hinter dem Bolg starrte. Der drehte überrascht den Kopf, worauf Michael nur gewartet hatte. Mit aller Gewalt rammte er ihm sein Schwert gegen die Brust. Zwar vermochte er den Brustpanzer nicht zu durchdringen, die Heftigkeit des Angriffs brachte den Bolg jedoch aus dem Gleichgewicht, so dass er mit rudernden Armen rückwärts die Leiter hinunterfiel und bei der Gelegenheit die anderen Bolg, die gerade im Begriff waren, ihrem Anführer zu folgen, mit in die Tiefe riss. Mit einem heftigen Scheppern schlugen sie auf dem Boden auf.
"Die alten Tricks sind doch immer noch die besten", grinste Michael. Das Grinsen verging ihm jedoch, als sein Blick auf den Obelisken fiel. Dieser vibrierte inzwischen so stark, dass Michael es sogar hier oben auf der Plattform spüren konnte. Es war dringend an der Zeit, den Turm zu verlassen.
"Wir müssen wieder runter und hier raus", rief Michael hektisch.
"Dazu reicht die Zeit nicht mehr, außerdem kommen wir an den Bolg nicht vorbei. Ich habe eine andere Idee. Vertrau mir."
Erst jetzt fiel Michael auf, dass die Elbin ihre Pfeife in der Hand hielt und verzweifelt den Himmel absuchte, der voll war von hin und her jagenden Drachenreitern. Plötzlich bohrte sich ein Armbrustbolzen genau zwischen Monjya und Michael in die Wand. Erschrocken duckten sich die beiden noch tiefer. Ein Blick nach unten zeigte, dass die noch immer schwer angeschlagenen Bolg Verstärkung bekommen hatten. Erneut bohrte sich ein Bolzen nur Zentimeter oberhalb von Michaels Kopf in einen Holzpfeiler. Solange sie unten blieben, boten sie zwar eine sehr schlechte Zielscheibe, doch Michael war klar, wozu der Beschuss diente.
"Sie geben ihren Kameraden Deckung. Wir bekommen hier oben jeden Moment Besuch." Verzweifelt blies die Elbin erneut in die Pfeife, während sie ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Himmel und dem Ende der Leiter teilte. Zwar verfügte sie auch über einen Bogen, in der tief geduckten Position konnte sie diesen jedoch nicht einsetzen. Doch es gab ja noch andere Waffen. Das letzte in seinem Leben, das der erste Bolg noch wahrnahm, als er seinen Kopf über die Plattform schob, war das Messer der Elbin, das sich zielsicher in seinen Hals bohrte.
"Das wird ihnen eine Weile zu denken geben", verkündete Monjya grimmig, als der Aufschlag des Bolgs zwei Stockwerke tiefer auf dem Boden zu ihnen herauf hallte. "Ich habe noch mehr davon", brüllte sie, doch die Bolg gaben nicht auf. Kaum war ihr Kamerad unten angekommen, war der Turm plötzlich erfüllt von dem Sirren der Armbrustbolzen, das an einen zornigen Hornissenschwarm erinnerte. Flach auf den Boden gepresst mußten sie hilflos mit ansehen, wie der nächste Bolg am Ende der Leiter auftauchte. In der Hand hielt er ein gefährlich aussehendes Krummschwert. Diesmal wurde es eng. Zu Michaels Erstaunen warf die Elbin plötzlich aus der Unterhand ein weiteres Messer auf den sich nähernden Bolg, doch der wehrte das Messer schon beinahe lässig mit seinem Krummsäbel ab.
"Wird Zeit, dass du dir was neues ausdenkst", murmelte Michael, als plötzlich das Schlagen gewaltiger Flügel erklang. Im nächstem Moment war der Bolg aus Michaels Gesichtskreis verschwunden. Ein schrilles Kreischen ertönte, als der Drache den Bolg zwischen seinen Zähnen zermahlte. Ehe sich die übrigen Bolg von dem Schreck erholen konnten, griff der Drache erneut an, doch diesmal stieß er eine gewaltige Feuerlanze aus, als er über die Turmöffnung hinweg flog, die etliche Bolg am Boden in Schlacke verwandelten. Wer noch am Leben war, verließ fluchtartig den Turm. Monjya jubelte begeistert und schwenkte wild mit den Armen. Im nächsten Augenblick ließ der Drache sich auf der Turmumrandung nieder. Sein Anblick erinnerte Michael an einen gewaltigen Wasserspeier. Doch diesmal kannte er kein Zögern und folgte Monjya auf den Rücken des Drachens. Als der abhob, konnte er zum ersten Mal sehen, wie es außerhalb der Burg aussah. Überall herrschte hektisches Kampfgetümmel. Zu seiner Bestürzung sah er auch einig leblose Drachen und ihre Reiter im Burghof liegen. Der Plan hatte mehr Opfer gekostet, als er erwartet hatte. Beinahe hätte er die eigentliche Gefahr völlig vergessen.
"Wir müssen hier dringend weg", rief er Monjya zu. Die nickte und gab den anderen Drachenreitern das vereinbarte Zeichen, indem sie aus ihrer Satteltasche ein weißes Tuch hervorzog und damit wild hin und her schwenkte. Fast synchron zogen sich die Drachenreiter daraufhin in eine höhere Luftregion zurück, bevor sie in V-Formation in Richtung Nebelwald zurückflogen. Sorgenvoll warf Michael immer wieder einen Blick zurück, doch sie waren schon gut drei Kilometer entfernt, als in der Mitte der Feste plötzlich eine gewaltige Feuersäule in die Höhe schoss, gefolgt von einer Explosion, von der man noch hundert Jahre später berichten wird. Er bezweifelte, dass von der Feste mehr als ein Haufen Asche übrig geblieben war. Blieb nur zu hoffen, dass sein Stein das Inferno überlebt hatte, indem er durch ein Tor in eine andere Welt verschwunden war. Vielleicht würde er ja eines Tages zu ihm zurückfinden. Doch Zeit, um lange darüber nachzudenken, hatte er nicht, denn im nächsten Augenblick erfassten die Ausläufer der Druckwelle die Drachenreiter und ließen sie wie Spielzeuge in der Luft trudeln. Nur dem Umstand, dass sie hoch genug aufgestiegen waren, hatten sie zu verdanken, dass die Druckwelle sie nicht vom Himmel fegte. Nachdem sich der Himmel wieder beruhigt hatte, drehte sich Monjya mit einem doppeldeutigen Grinsen zu ihm um, während sie ihren Drachen immer mehr hinter die anderen zurückfallen ließ.
"Ich denke, es ist Zeit für eine Rast, was meinst du?", fragte sie schelmisch.
Michael grinste.
"Daran könnte ich mich gewöhnen", erwiderte er und mußte sich eingestehen, dass die Tatsache, dass er hier wahrscheinlich für unabsehbare Zeit festsaß, doch gar nicht so schlecht war, und wer weiß, vielleicht würde er ja eines Tages einen anderen Stein zurück in seine Welt finden. Wer konnte schon wissen, was die Zukunft bringen würde?
 
© Klaus-Peter Behrens
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Diese Geschichte ist hiermit - vorerst (?) - beendet.

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