The
Neverending Tale
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- 06 -
Wind |
Ein beruhigendes Lied weckte langsam Ghilthanas Sinne. Die Quelle der bezaubernden Melodie schien sich behutsam zu nähern. Als er die Augen öffnete, befand er sich inmitten eines hellen Raumes. Klare Wolken umgaben ihn. Sie hinderten ihn daran den Ausgangspunkt der Melodie ausfindig zu machen. Er drehte sich, doch bekam nichts zu sehen als das strahlende Weiß der Wolken. Fast geblendet tat er einige Schritte nach vorne. Sofort fiel ihm auf, dass seine Füße keinerlei Grund berührten. Wie ist das möglich? Wo bin ich? Die beruhigende Melodie wandelte sich langsam in ein bedrohliches Brausen. Die Wolken verfinsterten sich und aus der Ferne schien sich grollend ein Gewitter auf Ghilthanas hinzu zu bewegen. In Sekundenschnelle hatte er die Kontrolle über seine Bewegungen verloren, der aufkeimende Sturm fegte ihn heftig durch die Leere des Raumes. Angst stieg in ihm auf und verwandelte sich rasch in Panik. "Beruhige dich, junger Yanalaeî." Die Stimme war weiblich und klang fremd, doch zugleich auch zutraulich. Trotz des ohrenbetäubenden Donners hörte er die Frau klar und deutlich. Gerade so, als wäre sie direkt in seinen Gedanken. "So ist es besser. Verdränge die Angst, die die Gefahr nährt. Stelle dich aufrecht hin und blas das Negative fort." Ghilthanas verstand nicht ganz. Wie sollte er seine Bewegungen kontrollieren, wenn er nicht einmal festen Boden unter den Füßen hatte? "Denk nicht darüber nach, tu es einfach!" Er versuchte die Anweisungen zu befolgen. Merkwürdiger Weise gelang es ihm tatsächlich. Sein Körper war wieder durchgestreckt, die Böen wurden schwächer. Auch die Wolken erhellten sich allmählich wieder. "Spürst du, wie einfach es ist? So leicht wie gehen, rennen und springen. Man muss es nur einmal erlernen. Kontrolliere es, lasse nicht zu, dass aus dem Affekt heraus deine Gedanken und Gefühle dir die Kontrolle entreißen." Ohne den Boden zu berühren konnte er sich jetzt wieder im Raum fortbewegen. Alles war wieder vollkommen erhellt, ein Gefühl der Erleichterung überkam den jungen Sodrak. Langsam kehrte auch die wohltuende Melodie zurück. "Schau, du kannst den Wind sogar für dich singen lassen."
"Wer ich bin spielt keine Rolle. Das entscheidende ist doch, wer
Du bist, junger Yanalaeî."
Stirnrunzelnd blickte Ghilthanas sich um. Die Stimme war tatsächlich
nur in seinem Kopf, hier waren nichts als Wolken. Erst jetzt bemerkte er,
dass er auch keinerlei Empfinden für Temperatur hatte. Wenn er keinen
Boden unter den Füßen hatte, musste er hoch in der Luft schweben.
Aber dort wäre es doch gewiss kalt.
"Mach dir keine Sorgen, mein Junge. Träume können irritierend
sein."
Der Wind hatte aufgehört melodisch um ihn herumzutanzen. Stille Erwartung machte sich breit. Ghilthanas konzentrierte sich auf einen Punkt direkt vor sich. Mit einer ausholenden Geste bewegte er seine Arme so, als wolle er die Wolken entzwei reißen. Ein kraftvoller Windstoß folgte und durchbrach die dichte Wolkendecke. Mit Bedacht schritt er hindurch. Unter sich erstreckte sich ein hoher Berg, der die kleine Insel, auf der er stand, fast komplett bedeckte. Weites Meer umringte die Szenerie. "Ah, ein Yanalaeî wolan. Sehr interessant!"
Er verstand kein Wort. Was sollte das alles hier bedeuten? "Nun, für heute habe ich genug gesehen. Wach auf, mein Junge. Wach auf und erfülle deine Aufgabe." Seine Sicht verschwärzte sich und langsam kehrte Gefühl zurück in seinen Körper. Es war Nässe, Kälte und Feuchtigkeit. Er öffnete seine Augen und sah sich auf der vom Morgentau durchtränkten Lichtung wieder, die er als Nachtlager ausgewählt hatte. Erste Lichtstrahlen erwärmten sein Gesicht. Ghilthanas stand auf und wischte sich etwas Laub und Gras von seinen Armen. Wenn das mal nicht ein verrückter Traum war. Vielleicht habe ich mich gestern bei der Wahl der Pilze ein wenig getäuscht. Keltson hat mich schon öfter angemahnt, alles zumindest gründlich im Feuer zu erhitzen. Er wunderte sich, als ein paar Grashalme sich nicht von seinem Unterarm
wegwischen ließen. Doch bei genauerer Betrachtung fiel ihm auf, dass
es gar kein Gras war. Hauchdünne, grün-bläuliche Linien
zogen sich von seinem Armband am linken Handgelenk ein Stück weit
seinen Arm hinauf.
Nun ja, so lange es nicht schmerzt, wird es nichts schlimmes sein. Vermutlich muss ich nur gründlich im Fluss baden, dann geht es weg. Nachdem Ghilthanas kurz ein paar frische Beeren von nahe liegenden
Sträuchern frühstückte, packte er sein Bündel zusammen
und machte sich weiter auf in Richtung Gebirge. Nachdem er schon einige
Tage Fußmarsch hinter sich hatte, waren erste Ausläufer der
Berge nicht mehr weit entfernt. Mit etwas Glück würde er bald
erste Spuren der Elduar finden.
© Christopher
Batke
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