Liora - Wie alles begann von Rei

Langsam glitt er über die zerklüfteten, teilweise noch immer schneebedeckten Berge, überflog gemächlich den ausgedehnten, dicht bewachsenen Wald und ließ schließlich den im Licht der untergehenden Sonne golden glitzernden See hinter sich.
Nach einigen Minuten schob sich sein Ziel allmählich in sein Blickfeld, rückte bald rasch näher.
Ob ich diesmal Erfolg haben werde? dachte er.
Nicht, dass er jemals versagt hatte, aber vor jedem Auftrag überkam ihn ein seltsames Gefühl. Er war nicht aufgeregt oder nervös, nicht mehr. Aber ein gewisses, seltsames Gefühl begleitete ihn einfach immer. Vor allem dieses Mal... Der Auftrag, den er erhalten hatte, hatte ihn zum ersten Mal schweißnasse Hände beschert, denn niemand hatte daran gespart, ihm die Wichtigkeit zu vermitteln. Aber er war ja nicht dumm. Er hatte schon verstanden und würde den Auftrag zur Zufriedenheit aller ausführen. Dessen war er sich sicher.
Das kleine Dorf war bald so nah, dass er meinte, Details erkennen zu können, also ließ er sich in Richtung Boden sinken, bis er ihn mit den Füßen berühren konnte und landete sanft.
Kunto wird Augen machen, wenn sie mich sieht, dachte er und lächelte ein zufriedenes Lächeln. Und wie sie Augen machen würde!
Am Himmel zogen sich die Wolken zusammen und mit einem Mal kam ein heftiger Wind auf. Ein Gewitter kündigte sich an, aber das störte ihn nicht. Er mochte Gewitter, je heftiger, desto besser. Nicht einmal die grellsten Blitze konnten in die Dunkelheit seiner Seele vordringen. Er lächelte. Ein Gewitter war wirklich das Beste, was ihm jetzt noch passieren konnte. Es passte so gut zum Anlass.
Mit einem leisen Grollen kündigte sich das Gewitter unmissverständlich an, und die ersten, dicken Tropen fielen zu Boden.
Er lächelte noch breiter und machte sich dann auf den Weg ins Dorf, das vielleicht noch eine halbe Stunde entfernt lag. Bis dahin würde das Gewitter seinen Höhepunkt erreicht haben.
Der Regen nahm an Heftigkeit zu, ebenso der Wind. Er zerrte an seinem Umhang und peitschte den nassen Stoff um seinen hageren Körper. Er zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und schritt zügig aus. Nicht, dass er es nötig hatte, zu laufen, aber es wirkte... nun ja, menschlicher.
Es lag eine unheimliche Stimmung in der Luft, als ob noch etwas Schreckliches geschehen würde. Das einzig Gute war, dass nur er wusste, was geschehen würde. Weder die Dorfbewohner noch Kunto ahnten, was auf sie zukam. Ein weiteres Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
Das Dorf lag nun direkt vor ihm, beinahe dunkel, nur erhellt durch grelle Blitze, die am Himmel tanzten und sich an den Wolken zerfaserten. Wind und Regen hatten tatsächlich noch weiter an Heftigkeit zugenommen und lieferten sich beinahe einen Wettstreit.
Er betrat das Dorf, dessen Straßen erwartungsgemäß leer waren. Nur der vom Regen in Schlamm verwandelte Sand auf der geteerten Straße zeigte noch schemenhaft Fußabdrücke von Dorfbewohnern, die dem Gewitter nicht rechtzeitig hatten entkommen können. Mit schlafwandlerischer Sicherheit fand er den Weg zu Kuntos kleiner Hütte, die am Rande des Dorfes stand. Drinnen brannten noch ein paar Kerzen, die alles in flackerndes, tanzendes Licht tauchten. Das machte den Reiz an der Sache aus.
Leise schlich er zu einem Fensterladen, den er vor wenigen Tagen schon manipuliert hatte, und öffnete ihn langsam. Er hätte auch einfach klopfen können, aber das nahm ihm jeden Spaß. Er mochte das, was er tat, und er mochte den Spaß, den er sich immer wieder selbst bereitete, indem er sich kleine Spielchen ausdachte.
Der Laden war offen, und er schlüpfte durch das Fenster ins Innere der Hütte. Blitze zuckten am Himmel und erleuchteten die vom Hauptraum abgetrennte Küche. Er zog den Laden wieder so sorgsam zu, wie er ihn geöffnet hatte, und kauerte sich neben dem Fenster in die Hocke und wartete einen Moment.
Im Hintergrund konnte er ihre Stimme hören, verstand jedoch nicht, was sie sagte.
Ein breites Grinsen huschte über sein Gesicht, als er sich langsam in die Höhe drückte und in Richtung Hauptraum schlich.
Ein plötzliches Fauchen brachte ihn einen Moment aus dem Konzept. Die Katze! Er hatte die verdammte Katze vergessen! Aber sie war schon verschwunden, ehe er sie richtig sehen konnte.
Er lauschte in die schwummerige Dunkelheit, die vom Kerzenlicht flackerte, aber er hörte nach wie vor Kuntos monotones Murmeln. Wenigstens hatte sie Kunto nicht aus ihrer Konzentration gerissen. Er liebte den Überraschungsmoment.
Er schlich weiter, bis er zum Durchgang zum Hauptraum gelangte. Er war abgedunkelt und wie er schon von außen gesehen hatte, nur mit ein paar wenigen Kerzen erleuchtet, die im stetigen sanften Zug, der in Kuntos Hütte herrschte, flackerten.
Kunto selbst saß im Schneidersitz auf dem mit Strohmatten bedeckten Boden. Ihre Arme hatte sie zur Seite ausgebreitet, die Handflächen zeigten nach oben. Sie wirkte im flackernden Kerzenschein wie eine unbewegliche Silhouette, war aber in tiefer Konzentration versunken. "Ich rufe Euch, Ihr alten Mächte." Sie machte eine kleine Pause, was auf ihn wirkte, als ob sie sich erst an die entsprechenden Worte erinnern musste. "Ich rufe den Herrscher über das Schicksal, den Schutzherrn der Hexen und Feind der Schatten." Sie führte die Hände vor ihrer Brust zusammen und senkte langsam den Kopf nach vorne.
Er erkannte das Ritual als ein simples Gebet um Schutz. Ein nicht wirklich starker Zauber. Er grinste, als er daran dachte, wie sehr sie sich nachher ärgern würde, dass sie keinen stärkeren Zauber gewählt hatte. Aber woher sollte sie das auch wissen?
"Sende deine Kraft in mein Heim. Tritt ein und banne die Kräfte der Schatten. Ich rufe Euch, Ihr alten Mächte..." Sie atmete tief durch und öffnete die Arme weit nach außen, während sie die Handflächen wieder nach oben drehte. Den Kopf hielt sie weiterhin gesenkt.
Doch dann bemerkte er, dass sich ihre Finger verspannten. Die Anspannung breitete sich in ihrem ganzen Körper aus und wanderte in jeden Winkel.
Er wusste, dass sie seine Anwesenheit bemerkt haben musste, also kam er aus seiner Deckung und lehnte sich entspannt gegen den Rahmen, während er die Arme vor der Brust verschränkte. Jetzt war es gleich soweit.
Kunto ließ die Arme langsam sinken und hob den Kopf, dann drehte sie sich in einer hastigen Bewegung um. Ihr Gesicht war verzerrt vor Schreck und Angst, doch das änderte sich, als sie ihn entdeckte und offensichtlich erkannte. Sie lächelte erleichtert über das ganze Gesicht, soweit er das erkennen konnte. "Was machst du denn hier?" Sie stand auf und näherte sich ihm. "Ich dachte, du hast ein wichtiges Treffen mit..."
"Ich wollte dich überraschen, meine Kunto", sagte er. Sein Gesicht verzog sich zu dem charmanten Lächeln, von dem er wusste, dass sie es mochte.
Kunto streckte die Arme aus, um ihn zu begrüßen.
Er ließ sie gewähren, ließ es zu, dass sie ihre Arme um ihn schlang. Sie presste ihren warmen Körper an seinen durchnässten.
"Du bist ja ganz nass geworden", sagte Kunto dann, als sie sich von ihm löste. "Es ist besser, du ziehst die Sachen aus, damit..."
Er unterbrach sie, indem er eine Hand in ihren Nacken legte, sie nah an sich zog und ihre Lippen mit seinen verschloss. Mit der rechten Hand griff er langsam unter seinen nassen Umhang, der ihm am Körper klebte, und ertastete das Messer, das sich darunter verbarg. Es fühlte sich kalt an, aber das Gefühl der Macht, das es ausstrahlte, übermannte ihn jedes Mal, wenn er es berührte. Er löste sich langsam von Kunto, beließ seine Hand aber an seinem Gürtel.
"... Du dich nicht erkältest", beendete Kunto atemlos ihren Satz.
Er nickte, dann zog er langsam das Messer. Das Licht der Kerzen spiegelte sich in der glänzenden Klinge und zeigte das verständnislose Gesicht Kuntos. Sie schien nicht zu verstehen, was gerade passierte.
Er lächelte, während er das Messer langsam vor ihrem Gesicht bewegte, immer so, dass er ihr direkt in die Augen sehen konnte. Sie füllten sich langsam mit Angst und Verstehen, aber Kunto machte keine Anstalten, sich zu wehren.
Er hatte sie noch immer im Nacken gepackt und verstärkte nun seinen Griff. Seine Finger bohrten sich förmlich in ihren Nacken und brachten sie zum Keuchen. "Es wird nicht weh tun...", sagte er leise. "Nicht, wenn du dich nicht wehrst."
Kunto keuchte erneut, die erste Reaktion, die von ihr selbst ausging, ohne dass er sie mit einem festen Druck in den Nacken dazu zwingen musste.
Er hielt das Messer weiterhin so, dass sie es sehen konnte, dann holte er aus, senkte es gleichzeitig und rammte es in ihren Bauch.
Kunto stöhnte, ihre Augen schienen schier aus ihren Höhlen zu quellen. Ihr Mund öffnete sich, doch es kamen keine Worte heraus, nur ein Gurgeln und Röcheln.
Warmes Blut ergoss sich über seine Hand, aber er zog das Messer nicht zurück. Noch nicht.
Draußen schoss ein greller Blitz vom Himmel und sein Donner explodierte gleichzeitig, als ob der Himmel auseinander reißen wollte.
Ein heiseres Lachen entrang sich seiner Kehle, während er spürte, dass Kunto langsam starb. Sie fiel immer mehr in sich zusammen, gurgelnd und röchelnd. Als der nächste Donner die Stille zerriss, zog er das Messer aus ihrem Bauch und betrachtete das Blut, das die Klinge und seine Hand besudelt hatte.
Sein Auftrag war erledigt.
Hier zumindest.

***

Liora hatte keine Lust mehr. Sie saß mit gebeugtem Rücken auf ihrem Pferd, ließ Arme, Beine und Zügel einfach hängen und starrte auf den gebeugten Hals ihres Pferdes. Ihr Körper tat weh, sogar an Stellen, von denen sie nicht wusste, dass sie überhaupt wehtun könnten.
Sie seufzte, zum wiederholten Male, aber es war niemand bei ihr, der sie bemitleiden konnte. Sie war alleine unterwegs und da sie sich selbst nicht so bemitleiden konnte, dass es ihr besser ging, ging es ihr noch schlechter. Sie vermisste Orfeo, ihren Geliebten und Weggefährten, der sie lange begleitet hatte. Er hätte sie sicherlich bemitleidet oder ihr Mut zugesprochen, doch ihn hatten wichtige Geschäfte in die Heimat zurückgerufen.
Ich hatte vergessen, wie weit der Weg nach Hause ist, dachte sie voller Bedauern. Sie hatte es wirklich vergessen. In sechs Jahren konnte man einiges vergessen, das war ja keine Schande. Hauptsache, sie wusste den Weg noch. Die Weite der Strecke spielte dann eine untergeordnete Rolle. Solange jedenfalls bis man sich auf der Reise befand.
Liora seufzte erneut, dann hob sie den Blick, in der Hoffnung, endlich das Dorf sichten zu können. Gerade, als sie wieder seufzen und den Blick senken wollte, erkannte sie die ersten Schatten des Dorfes.
Sie schloss kurz die Augen, atmete tief durch, bevor sie die Augen wieder öffnete. Sie sammelte alle Kraft und Energie, die sie noch in sich fand, um wenigstens die letzte viertel Stunde nicht aus dem Sattel zu kippen. Ein Auftritt, den sie sich gerne ersparen wollte.
Das Pferd schien zu merken, dass sich ihre Körperspannung veränderte, denn es hob den Kopf und schritt weiter aus.
Liora lächelte. Bandish war seit sechs Jahren ihr Begleiter und war ihr immer treu gewesen. Sie hatten viel erlebt, was sie zusammengeschweißt hatte, dass sie sich beinahe blind verstanden. Liora war sich sicher, noch nie mit einem Menschen derart verbunden gewesen zu sein. Zusammen würden sie auch noch den Rest der Strecke schaffen.
Die Schatten des Dorfes nahmen nach und nach festere Konsistenz an und formten sich zu kleinen Hütten, dem Dorfbrunnen und einigen Pferden, die draußen vor der Taverne angebunden waren. Ein weiteres Lächeln huschte über Lioras Gesicht. Es hatte sich in den vergangen Jahren nichts verändert.
Sie trieb Bandish hektisch weiter und kaum war sie zwischen den ersten Hütten des Dorfes, überkam sie ein eigenartiges Gefühl. Es fühlte sich nicht so an, als ob sie nach langer Zeit nach Hause käme, sondern als ob sie an einem fremden Ort sei. Es hatte sich nichts verändert, dessen war sie sich so sicher wie eben schon, aber das Gefühl war anders, als sie gedacht hatte. Liora seufzte, denn sie konnte es sich einfach nicht erklären. Sie war zuhause und doch fühlte es sich nicht so an.
Vielleicht, so dachte sie, ändert sich das, wenn ich meine Cousinen wieder sehe.
Liora zog sanft an Bandishs Zügeln und brachte ihn damit zum Stehen.
"He!" Eine Stimme erklang hinter ihrem Rücken, ehe sie absitzen konnte.
Liora drehte sich nicht nach der Stimme um, sondern schwang sich erst aus dem Sattel und zog dann die Zügel über Bandishs Kopf, um ihn halten zu können. Sie klopfte ihm lobend auf den Hals und erst dann sah sie nach, wer nach ihr gerufen hatte. "Was gibt’s?"
Ein Mann baute sich vor ihr auf, nicht viel größer als sie selbst, dafür dreimal so breit. Er stemmte die Hände in die Hüften und sah sie nachdenklich an. "Bist du nicht die kleine Liora?"
Liora lachte. "Na ja, klein..." Sie nickte.
"Wusst ich’s doch!" Der Mann schlug mit einer Faust in seine offene Hand. "Jungs, rückt die Kohle raus, ich hatte Recht. Sie ist wieder da."
Liora hob verwundert den Kopf und entdeckte nun auch die drei anderen Männer, die hinter einer Hütte standen und Liora entgegenblickten. "Äh...", war alles, was sie dazu sagen konnte.
Der Mann, der sie begrüßt hatte, hatte die kleine Gruppe inzwischen wieder erreicht und hielt die Hand auf, damit die anderen ihm seinen Gewinn auszahlen konnten.
Liora runzelte die Stirn und dachte fieberhaft nach, wer der Mann war, aber es fiel ihr nicht ein. Also zuckte sie mit den Achseln und zog leicht an den Zügeln, um Bandish zu vermitteln, dass er ihr folgen sollte.
"He, warte doch mal", rief der Mann.
Liora blieb stehen und drehte sich wieder herum. "Was denn noch?" Die Müdigkeit übermannte sie erneut, der erste Schub Energie, den sie beim Anblick des Dorfes erhalten hatte, war bald aufgebraucht. Wenn sie nicht bald zur Ruhe kam, würde sie wohl auf der Stelle umfallen und einschlafen.
"Was treibt dich nach so langer Zeit wieder nach Hause?" Er hob eine Augenbraue, während er wieder die Hände in die Hüften stemmte.
"Die Sehnsucht", antwortete Liora kurz und drehte sich wieder herum, während die Männer, die inzwischen hinter der Hütte hervorgetreten waren, lauthals über ihren Freund lachten, während der leise fluchte.
Sie ließ die grölenden Männer zurück und fand beinahe mit schlafwandlerischer Sicherheit die Hütte ihrer Cousinen. Die Tür stand weit offen und gewährte Liora einen ersten Blick in die Hütte. Die Zwillinge waren mit der Hausarbeit beschäftigt und huschten mit Feger und Besen bewaffnet von einer Seite zur anderen.
Liora lächelte. Es hatte sich wirklich nichts geändert.
Sie hatte die Hütte erreicht und band Bandish an den kleinen Pfosten, der schon immer da gewesen war, seit sie denken konnte. Dann lugte sie vorsichtig ins Innere.
"Und du bist sicher, dass wir erst letzte Woche gewischt haben?" fragte Inina gerade und stöhnte gespielt übertrieben. "Mir kommt es eher so vor, als ob es Monate her ist. Wo kommt nur der ganze Dreck her?"
Anina lachte laut auf und schwenkte ihren Besen in Richtung ihrer Schwester. "Wenn du dir zwischendurch einmal die Schuhe abputzen würdest, wenn du die Hütte betrittst, dann... Liora?" Anina blinzelte und starrte Liora an, die noch immer im Türrahmen stand.
"Was ist das denn für ein Argument... Liora?" Inina schüttelte den Kopf und drehte sich zu ihrer Schwester um. "Die ist seit sechs Jahren verschwunden und zurückkehren wäre das Letzte, an das ich an ihrer Stelle denken würde... Was guckst du denn s..." Jetzt hatte auch Inina Liora entdeckt.
"Das ist ja nett, dass ich nach wie vor für Gesprächsstoff sorge", sagte Liora locker, aber so locker war sie nicht. Die kleine Bemerkung ihrer Cousine Inina hatte sie an Kleinigkeiten von damals erinnert, mitunter auch an den Grund ihres Aufbruchs: Den Tod ihrer Mutter, der einzigen im Dorf, die nie böse über Liora gesprochen hatte, die sie immer wieder in Schutz genommen hatte, was auch immer sie getan hatte. Liora seufzte leise und fragte sich zum ersten Mal, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, wieder zurückzukehren.
Anina ließ ihren Besen fallen und trat die paar Schritte, die die beiden trennten, auf Liora zu, während sie die Arme öffnete. "Schön, dass du wieder da bist", sagte sie und nahm Liora in die Arme.
Liora erwiderte die Umarmung etwas zurückhaltend, aber sie genoss den kurzen Moment der Nähe, dann löste sie sich aus der Umarmung.
"Was führt dich her", fragte Inina, die noch immer an ihrem Platz stand und ein mürrisches Gesicht machte. "Hast du Schwierigkeiten?"
Liora schüttelte den Kopf. "Nein, ich habe keine Schwierigkeiten. Keine Sorge." Sie machte eine kurze Pause. "Ich dachte einfach, es wäre an der Zeit, zurückzukehren. Sechs Jahre sind eine lange Zeit und Menschen verändern sich."
Inina zog eine Augenbraue nach oben, als ob sie Liora nicht ganz glauben wollte. "Wenn du das sagst..." Die Betonung, die sie auf das "du" legte, ließ keine Zweifel offen, wie wenig sie von der ganzen Idee hielt.
Liora ließ sich nicht zu der Antwort verleiten, die ihr auf der Zunge lag. Sie nickte nur.
Anina packte Liora am Arm und zog sie weiter in die Stube und drückte sie auf eines der Sitzkissen, die um die kleine Feuerstelle verteilt lagen. "Du bist bestimmt müde von deiner Reise, nicht wahr?" Anina nickte.
"Ja, das bin ich." Liora gähnte und streckte sich. "Aber ich muss mich noch um Bandish kümmern... Ich kann ihn nicht einfach..."
"Lass nur", unterbrach Anina sie. "Ruh dich aus. Schlaf am Besten ein bisschen." Sie schenkte Liora ein warmes Lächeln. "Dein altes Zimmer ist sogar noch frei."
Liora hob eine Augenbraue. "Tatsächlich? Ich war der Meinung, Inina hätte es nach meiner Abreise ausgeräuchert und meine Sachen verbrannt, als ich damals gegangen bin."
"Das wollte ich auch", mischte sich Inina ein. "Aber mein Vater - selig sei er - hat mich abgehalten. Das ist der Grund, wieso wir seit Jahren einen Raum sinnlos leer stehen haben, den wir - ich - gerne jemand anderem zur Verfügung gestellt hätten."
Liora hob eine Augenbraue, verkniff sich aber wieder jeden Kommentar. Stattdessen seufzte sie.
"Liora, du gehörst ins Bett", sagte Anina und gab Liora einen leichten Schubs gegen die Schulter. "Ich kümmere mich um Bandish, und du schläfst dich aus. Morgen sieht alles anders aus."
Liora nickte ihr dankbar zu und quälte sich dann auf die Beine. Tatsächlich fühlte sie sich in diesem Moment müder als jemals zuvor. Ihre Muskeln schmerzten. Ihr Schädel brummte mit einem Mal, und ihre Augen fielen ihr beinahe von alleine zu. "Danke", sagte sie leise und verzog sich in das Zimmer, in dem sie einmal gelebt hatte. Es kam ihr vor, als ob es ein anderes Leben gewesen wäre. Sie stolperte vorwärts, stieß mit dem Schienbein gegen einen Hocker, der mitten im Raum stand, und erreichte dann endlich die kleine Schlafstatt in der Ecke. Sie ließ sich schwer auf die alte Matte fallen, dachte an nichts und niemanden mehr und war eingeschlafen, noch bevor ihr Kopf die Matte auch nur berührte.

***

"Ich fasse es nicht, dass sie es wagt, hier wieder aufzutauchen!" Ininas Stimme war laut und deutlich zu hören. Liora musste sich nicht besonders anstrengen und benötigte für ihr Lauschen auch keine Ausrede.
Sie lag wach auf ihrer Matte, ausgeruht und einigermaßen wieder bei Kräften. Sie hatte die Hände hinter ihrem Kopf verschränkt und starrte an die Decke, während sie die Schimpftirade ihrer Cousine über sich ergehen ließ.
"Nicht so laut", beschwor Anina ihre Schwester. "Sie kann dich bestimmt hören."
"Soll sie ruhig", wetterte Inina weiter. "Ich würde sie am liebsten wegjagen. Sie hat hier nichts verloren!"
"Inina!"
"Ich sage doch nur die Wahrheit", verteidigte Inina sich. "Sie hat schon früher nur Unglück über unsere Familie gebracht, und das wird sie jetzt wieder tun. Glaub mir."
"Ich glaube dir nicht", sagte Anina trotzig. "Und außerdem trifft sie keine Schuld an dem, was geschehen ist."
Inina lachte höhnisch.
Liora war inzwischen aufgestanden und ging in Richtung Tür, während sie mit ihren Fingern durch ihre dunklen, hüftlangen Haare fuhr, um sie ein wenig zu entwirren, dann band sie sie mit einem dünnen Lederband zusammen. Sie hatte die Tür erreicht.
"Sie trifft Schuld, Anina, sie trifft Schuld", sagte Inina gerade.
Liora trat aus ihrem Zimmer und sah Inina unverwandt an. "Woran habe ich Schuld", fragte sie dann.
"Siehst du, ich habe dir gesagt, dass sie dich hören kann", sagte Anina, und in ihrer Stimme schwangen Tränen mit.
"Du weißt es nicht, nicht wahr?" Inina verzog spöttisch den Mund. "Du weißt es wirklich nicht?"
"Inina", flehte Anina eindringlich. "Nicht, das kannst du nicht tun!"
"Was kannst du nicht tun", fragte Liora weiter, ohne sich weiter um Anina zu scheren. Sie hatte keine Ahnung, was hier gespielt wurde, aber sie spürte, dass es nichts Gutes sein konnte. Die beiden wussten offensichtlich etwas über ihre - Lioras -  Vergangenheit, was ihr bisher vorenthalten worden war. "Und was weiß ich nicht?"
"Wir sind keine Cousinen", sagte Inina tonlos und ohne Emotionen, als ob sie Liora erklärte, was es zu Mittagessen gäbe.
"Was?" Liora wich einen Schritt zurück und ihr Blick huschte kurz und unsicher zu Anina.
"Hör auf", flehte Anina wieder und faltete die Hände wie zum Gebet. "Hör auf!"
"Oh nein, ich fange gerade erst an", meinte Inina. "Ja, du hast recht gehört, wir sind keine Cousinen. Und am Liebsten wäre ich gar nicht mit dir verwandt!"
Liora wich einen weiteren Schritt zurück. "Was sagst du da?" Sie verstand gar nichts, in ihrem Kopf herrschte ein plötzliches Durcheinander, sie versuchte, dem Gesagten einen Sinn zu geben, aber sie fand in Ininas Worten nichts davon. "Was sagst du da?"
"Bitte!" Aninas Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, von Tränen erstickt.
"Wir sind keine Cousinen", wiederholte Inina langsam, als ob sie Liora für so dumm hielt, dass sie langsam sprechen musste. "Wir sind Schwestern, Halbschwestern."
Liora atmete die Luft scharf ein. Sie fühlte sich für einen verzweifelten Moment wie damals, als Bandish sie mit einer Hufe an den Kopf getroffen hatte, als sie einen Stein aus seinen Hufen entfernen wollte. Ihr Kopf schien in tausend Teile zu zerspringen, als sie versuchte, das Gehörte in ihren Verstand zu pressen. "Was...! Aber..."
"Da staunst du, nicht wahr?" Inina lächelte triumphierend.
Liora konnte nichts mehr sagen. Sämtliche Worte waren wie gelöscht, in ihrem Kopf hallte nur Ininas höhnisches Lachen und das Wort "Halbschwestern". Sie war zu keinem Gedanken fähig, und vor ihren Augen begann sich alles zu drehen.
"Und, willst du nicht wissen, wer uns zu Halbschwestern gemacht hat?" Inina hob eine Augenbraue, um Liora ihre Überlegenheit zu demonstrieren, dass sie über Wissen verfügte, das Liora nicht besaß. "Mirande, deine verfluchte Mutter, hat unseren Vater verführt!"
Liora ballte die Hände zu festen Fäusten, als ob sie sich davon Halt versprach. Sie spürte, dass sie taumelte und nahm einen Fuß nach vorne. Ihr Blick tunnelte sich, sie sah einen immer kleineren Ausschnitt ihres Sichtfeldes, bis alles schwarz war.
"Liora!"
Sie spürte, dass sie fiel und machte einen weiteren Schritt nach vorne, aber sie konnte ihren Fall nicht mehr verhindern. Mit einem Schlag war ihre Sicht wieder da, sie öffnete die Fäuste, streckte die Arme aus und federte ihren Fall so gut wie möglich ab. Sie wand sich auf allen Vieren, über sich immer noch das Gelächter von Inina, gemischt mit Aninas besorgten Fragen.
Liora überkam eine schreckliche Übelkeit. Sie atmete flach, um alles zurückzudrängen, aber sie schaffte es nicht. Sie brachte sich unter Anstrengungen auf die Füße, stolperte vorwärts, die Hände vor den Mund gepresst. Liora stürmte aus der Hütte, fiel auf die Knie und erbrach sich stöhnend. Ihre Kehle brannte, der beißende Geruch verfing sich in ihrer Nase und brachte sie erneut zum Würgen, aber ihr Magen war schon leer und krampfte nur noch.
"Liora..."
Krämpfe schüttelten Liora, während sich die Tränen mit den Überresten des Erbrochenen in ihrem Gesicht mischten. Vor ihren Augen tanzten Sterne und Schatten, mit weißen Punkten.
Eine Hand legte sich auf ihre zitternde Schulter und drückte sie sanft. "Liora..."
Die Krämpfe ließen nach und gaben Liora endlich Zeit, wieder klar zu denken. Sie ließ sich nach hinten sinken und kam auf ihren Fersen zum Sitzen. Liora wischte sich mit einer Hand über den Mund und atmete tief durch. Die Schatten verschwanden nach und nach, ebenso die Nachwehen der Krämpfe in ihrem Magen.
"Geht’s wieder?"
Liora nickte, auch wenn sie sich nicht sicher war, dass sie sich nicht gleich wieder übergeben musste. Aber ihr Magen war leer, das war ihr einziger Trost. "Stimmt das?" fragte sie leise. Ihre Kehle brannte und ihre Stimme klang belegt. Sie hatte noch immer den süßlich-säuerlichen Geschmack des Erbrochenen im Mund und spukte aus. Sie wurde den Geschmack nicht los.
"Leider", antwortete Anina.
Liora schloss die Augen und atmete wieder tief durch. "Warum... Warum wusste ich davon nichts?" Tränen rannen noch immer über ihre Wangen und nahmen ihr die Sicht.
Anina strich ihr sanft über die Haare. "Wir haben es auch erst... erst erfahren, als unser Vater auf dem Sterbebett lag." Aninas Stimme zitterte.
Liora schluchzte. Ihr Körper zitterte, als sie die Hände vors Gesicht schlug. Sie dachte nicht daran, dass sie sich gerade noch den Mund abgewischt hatte, es war ihr gleich. Sie hatte immer gedacht, ihr Vater sei schon viele Jahre früher gestorben, dabei war er die ganze Zeit bei ihr gewesen. Sie hatte die Geschichten geglaubt, dass er ihr Onkel sei... "Aber..."
"Unsere Mutter hatte sich damals, als sie erfuhr, dass unser Vater ein Kind mit einer anderen Frau hatte, das Leben genommen. Vater erzählte uns, sie wäre eines natürlichen Todes gestorben, aber dass das nicht die Wahrheit war, erfuhren wir auch erst sehr spät..." Anina machte eine kurze Pause. "Deine Mutter war neu im Dorf und alleine. Mein Vater hat ihr geholfen, als sie ankam, hatte in ihrer Hütte Reparaturen durchgeführt und hatte sie im Winter durchgefüttert, wenn es draußen eiskalt gewesen war, und ihre Vorräte zur Neige gingen. Irgendwann hat er sich in sie verliebt... Und dann kamst du auf die Welt." Sie machte eine erneute Pause.
Liora nahm die Hände vom Gesicht. Sie hörte, was Anina ihr erzählte, erfasste den Sinn aber nicht. Es war, als erzähle Anina jemand anderem, was geschehen war, als ob es sie - Liora - gar nicht betraf.
"Meine Mutter hat gleich gewusst, wer der Vater war und wollte unseren Vater rauswerfen, aber er versprach, dich und deine Mutter nie wieder zu treffen. Und er hielt sich auch daran. Er hielt sich von euch fern, und da eure Hütte auf der anderen Seite des Dorfes stand, ging es auch lange gut. Doch meine Mutter hat euch beiden immer wieder gesehen und musste mit der Schande leben, die mein Vater über uns gebracht hatte. Und irgendwann hielt sie das Geflüster hinter vorgehaltener Hand nicht mehr aus und nahm sich das Leben. Das war der Moment, in dem mein Vater euch beide zu sich nahm. Wir drei waren zu klein, um uns an das alles zu erinnern, aber mein - unser - Vater erzählte uns die ganze Wahrheit, ehe er starb."
"Und Inina gibt mir die Schuld am Tod ihrer Mutter?" Das Gesagte hatte sich in Lioras Verstand festgesetzt und ergab nun einen Sinn.
"Ja, das tut sie."
"Und du?" Liora hob den Kopf und sah Anina, ihre Halbschwester, an. Sie hoffte, dass Anina nicht so kaltherzig war wie Inina. Aber warum sollte sie sich dann überhaupt um Liora kümmern, wenn sie nicht anderer Meinung als ihre Zwillingsschwester war?
Anina schüttelte den Kopf und verzog den Mund. "Ich gebe dir keine Schuld. Du bist aus Liebe entstanden, du kannst nichts dafür."
Liora nickte. Sie wusste, was Anina ihr damit sagen wollte: Du bist nicht schuld, aber deine Mutter.
"Lass uns reingehen...", sagte Anina und zog sachte an Lioras Schulter, um sie zum Aufstehen zu zwingen.
Liora wischte die Hand ihrer Halbschwester energisch von ihrer Schulter und stand alleine auf. Ihre Knie zitterten und sie stand alles andere als sicher, aber sie wollte sich unter keinen Umständen helfen lassen. "Es geht", sagte sie kurz angebunden. Sie wankte in Richtung Haus, obwohl ihr vor Inina und ihrem höhnischen Lachen graute.
"Wenn wir drinnen sind, möchte ich dir noch etwas geben", sagte Anina, die plötzlich neben ihr lief. "Mein... Unser Vater bat uns, es dir zu geben."
Liora nickte, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, was sie meinte. In ihrem Kopf wirbelten noch immer die Informationen wild durcheinander, sie ergaben Sinn, nach und nach, und den größten Teil hatte sie sicherlich auch schon verstanden, aber es würde noch dauern, bis sie das ganze Ausmaß begriffen hatte.
Sie betraten gemeinsam das Haus. Inina war nicht mehr im Hauptraum.
Liora atmete unbewusst tiefer vor Erleichterung, dann sah sie Anina an und brachte sogar zu ihrer eigenen Überraschung ein Lächeln zustande. "Was sollst du mir geben?"
"Oh ja, warte hier", antwortete Anina schnell und verschwand kurz im Nebenraum, dem Zimmer, in dem ihr Vater immer gelebt hatte. Sie kam kurz darauf mit einem kleinen, rechteckigen Holzkasten wieder. Das Holz war dunkel, alt und fleckig.
"Was ist das?" fragte Liora, als Anina ihr den Kasten überreichte. Das Holz war überraschend warm und weich, wie sie es gar nicht erwartet hatte.
"Ich weiß es nicht. Wir sollten es dir nur geben", sagte Anina. "Unser Vater sagte, es hätte einmal deiner Mutter gehört, aber als sie starb, hatte sie es erst ihm vermacht mit der Bitte, es an dich weiterzugeben, wenn die Zeit reif wäre." Anina zuckte mit den Achseln, als sie den letzten Teil des Satzes zitierte.
"Wenn die Zeit reif ist?" Liora runzelte die Stirn, dann trat sie hinüber zu den Sitzkissen und ließ sich auf einem nieder. Sie stellte den Kasten vor sich ab und zögerte.
Anina nahm ihr gegenüber Platz.
"Das ist ein komisches Gefühl...", sagte Liora mehr zu sich selbst.
"Willst du es nicht aufmachen?"
Liora lächelte. Sie hatte keine Ahnung, wie lange Anina schon auf den Moment wartete, den Inhalt des Kastens zu erfahren, aber es machte ihr Freude, sie noch ein wenig länger auf die Folter zu spannen, auch wenn sie selbst sehr neugierig war. Dann legte sie die Daumen an die beiden metallenen Schnallen und zögerte erneut. "Ihr habt den Kasten nicht aufgemacht?" fragte sie.
Anina schüttelte den Kopf. "Wir haben es versucht, wenn ich ehrlich sein soll, aber wir bekamen es nicht auf."
Liora runzelte die Stirn. Der Kasten hatte kein Schloss, mit dem es gesichert war, nur die beiden metallenen Schnallen, die es verschlossen. Mit einem flauen Gefühl im Magen ließ sie die beiden Schnallen aufschnappen und klappte dann den Deckel nach oben. Die Scharniere an der Rückseite quietschten leise, als Liora den Deckel immer weiter öffnete, bis sie ihn schließlich auf der anderen Seite auf den Boden ablegen konnte.
"Was ist das denn...?" Anina beugte sich nach vorne, um besser sehen zu können.
Vor den beiden jungen Frauen befand sich nun eine Art Spielfeld mit Zahlen und Buchstaben. Das Holz im Inneren des Kastens war genauso weich und warm wie außen. Alle Buchstaben des Alphabets beschrieben einen zu dreiviertel vollen Kreis auf der Spielfläche, die Zahlen komplettierten den Kreis. In der Mitte war "Ja" und "Nein" aufgemalt. Die Bemalung war mit Liebe zum Detail gemacht worden und jeder Buchstabe wies eine kleine Verzierung mit einem Gegenstand auf, der mit diesem Buchstaben begann. In der rechten Ecke entdeckte Liora ein kleines Stück Holz, das an einem seidenen Band befestigt war. Sie löste das Band und als sie das Holz in der Hand hatte, ebenso dunkel, alt, warm und weich, erkannte sie, dass es ein Pfeil mit einem runden Griff am Ende war.
"Was ist das...", wiederholte Anina ihre Frage. "Ich habe so etwas noch nie gesehen."
"Ich auch nicht", gab Liora zu und ein leichter Schauer durchfuhr sie. Wieso hatte ihre Mutter ihr so etwas hinterlassen? Ihre Mutter hätte doch wissen müssen, dass sie keine Ahnung hatte, was das war. Liora legte den Holzpfeil auf das Brett. "Ich muss mir die Hände waschen", sagte sie dann und stand auf.
Anina nickte und stand ebenfalls auf. "Ich sollte das vielleicht auch mal tun." Sie lächelte.
Liora und Anina traten an die kleine Waschgelegenheit und wuschen sich die Hände mit eiskaltem Wasser. Sie spritzten sich nacheinander das Wasser auch ins Gesicht, was eine wahre Wohltat war.
Liora seufzte. Jetzt konnte sie sich wieder dem seltsamen Erbstück ihrer Mutter zuwenden. Sie drehte sich herum und blieb wie angewurzelt stehen. "Hast du den Zeiger bewegt?" fragte sie Anina.
"Nein, ich habe ihn nicht angefasst. Wieso?" Anina drehte sich ebenfalls um.
"Ich habe ihn auf dem "Ja" abgelegt", antwortete Liora und zeigte auf das Brett, was mehr eine hilflose Geste als alles andere war. "Jetzt liegt er auf dem H."
"Du musst dich irren", behauptete Anina und winkte ab. "Soll sich der Pfeil etwa von alleine bewegt haben?"
Liora schüttelte den Kopf. "Nein, also musst du ihn bewegt haben. Eine andere Erklärung gibt es nicht."
"Ich habe den Pfeil nicht angefasst", wiederholte Anina.
"Vielleicht bist du beim Aufstehen gegen das Brett gestoßen...", sagte Liora. Sie hatte das Brett nicht berührt, dessen war sie sich sicher.
"Ich habe beides nicht..." Anina brach mitten im Satz ab.
Liora riss ungläubig die Augen auf.
Der Pfeil bewegte sich langsam und ruckend auf das "O" zu.
"Was..." Anina unterbrach sich wieder mitten im Satz.
Liora war nicht fähig zu sprechen. Ihre Gedanken überschlugen sich und machten doch keinen Sinn. Was hatte ihre Mutter ihr da nur hinterlassen? Liora nahm all ihren Mut zusammen, den sie noch in sich fand, und machte einen Schritt auf das Spielbrett zu. Langsam und vorsichtig, weil sie fürchtete, der Pfeil könne sich wieder bewegen, ging sie in die Hocke und streckte eine Hand nach dem Deckel aus. Ihre Finger schlossen sich um die Ecke, und im ersten Moment kam es ihr vor, als pulsiere das alte Holz warm und weich in ihrer Hand. Aber Liora ignorierte das Gefühl, packte die Ecke fester und schlug dann den Deckel zu. Im Inneren hörte man leise den Pfeil poltern, als er durch die heftige Bewegung herumgewirbelt wurde.
Liora kam ein wenig näher und klappte die beiden Metallschnallen zu, um den Kasten zu verschließen. Dann richtete sie sich wieder auf und ging langsam und vorsichtig rückwärts, bis sie wieder neben Anina stand.
"Was war das..." fragte Anina erneut. Sie klang völlig verwirrt und ängstlich.
"Ich weiß es nicht", konnte Liora nur wieder antworten und schüttelte den Kopf. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch gar nicht mehr wissen. "Wir bringen es dahin zurück, wo es die ganzen Jahre aufbewahrt wurde." Liora nickte entschlossen. Sie hatte ihre Mutter geliebt, aber sie wollte dieses Erbstück unter keinen Unständen behalten.
Anina nickte langsam. "Das sollten wir tun."

***

Dunkelheit umgab Liora. Sie konnte nicht einmal ihre eigene Hand vor Augen sehen. Ein Gefühl von Schwerelosigkeit überkam sie, so dass sie die Arme hob und die Hände nach den Seiten ausstreckte. Aber sie spürte keine Wand, keinen Halt, nichts.
Feuer loderte plötzlich vor ihren Augen und blendete sie. Liora warf stöhnend den Kopf zur Seite, presste die schmerzenden Augen zusammen. Sie schlug die Hände vors Gesicht, aber das Feuer hatte sich schon in ihre Augäpfel gebrannt und loderte in schillernden Farben weiter. Liora senkte langsam den Kopf, die Hände nach wie vor vor den Augen. Sie sah durch ihre geschlossenen Lider, dass das Feuer weiterloderte.
Sie wich einen Schritt zurück.
"Liora..." Eine Stimme, tief und leise, drang an ihr Ohr. "Liora..." Die Stimme klang sanft, verführerisch lockend, so dass Liora einen Moment versucht war, die Hände herunterzunehmen und die Augen zu öffnen. Aber noch tanzten die Schatten auf ihren Augäpfeln und noch loderten die Flammen vor ihren geschlossenen Augen. Sie wich erneut einen Schritt zurück.
"Liora, hab keine Angst", sagte die Stimme jetzt. "Nicht vor mir."
Liora wand sich. Einerseits vertraute sie der Stimme, die sie lockte, andererseits aber nicht. Sie war hin- und hergerissen und als schließlich die lodernden Flammen vor ihren geschlossenen Augen verschwanden, hatte sie auch eine Entscheidung getroffen. Sie nahm die Hände herunter und öffnete gleichzeitig die Augen.
Die Flammen waren noch immer da, aber sie brannten nicht mehr lodernd, sondern rötlich schwach. Sie bildeten eine Reihe, jeweils rechts und links von Liora, und beschrieben so einen Weg durch die undurchdringliche Dunkelheit.
"Folge dem Weg", sagte die Stimme noch immer sanft, als ob sie eine schier unerschöpfliche Geduld mit Liora hätte.
Liora starrte überrascht auf den Weg, der sich vor ihr gebildet hatte. Sie zögerte, wieder einmal, aber dann nahm sie einen tiefen Atemzug und straffte sich. Mit kleinen, aber festen Schritten folgte sie dem Flammenweg.
Sie wusste nicht, wie sie sich fühlte. Sie fürchtete sich nicht, dem Weg zu folgen, wohin auch immer er sie führen würde. Sie fürchtete sich auch nicht vor der Stimme, die sie rief. Sie verspürte aber auch keinen Argwohn, kein Vertrauen, nichts, auch keine Angst.
Ihre Schritte wurden größer, je länger sie dem Weg folgte. Er veränderte sich nicht, schlängelte sich nicht, machte keine Biegungen, führte einfach nur geradeaus. Lioras Ehrgeiz war geweckt, das Ende des Weges oder ihr Ziel zu erreichen. Und das geschah schneller, als sie erwartet hatte, denn der Flammenweg erlosch plötzlich, und die finstere Dunkelheit griff wieder nach ihr.
"Was...", begann sie, unterbrach sich aber selbst.
"Du hast dein Ziel erreicht, Liora", sagte die Stimme in die entstandene Stille.
Sie konnte noch immer nichts erkennen, als plötzlich direkt vor ihr ein schwaches Licht aufglühte. In seinem Schein schimmerte der Kasten, den sie zusammen mit Anina wieder sicher verstaut hatte.
Liora sog scharf die Luft ein und wich einen Schritt zurück.
"Bleib", forderte die Stimme. "Bleib!"
Der Kasten öffnete sich komplett, und das Spielfeld drehte sich so, dass das "Ja" und das "Nein" aus ihrer Sicht zu lesen waren.
"Es wird dir nichts geschehen."
Liora glaubte der Stimme und blieb. Sie kam sogar wieder einen Schritt näher.
Der Holzpfeil lag so, dass die Spitze wieder auf das "H" zeigte.
"Leg deinen Zeigefinger auf den Griff", forderte die Stimme sie auf.
Liora zögerte nicht und legte den Finger auf den Griff, der, wie sie überrascht feststellte, eine kleine Mulde besaß, in die ihr Finger genau passte. Das warme, weiche Holz schien sich an ihre Haut zu schmiegen.
Plötzlich bewegte sich der Pfeil.
Liora war einen Moment versucht, ihren Finger vom Griff zu lösen, entschied sich dann aber doch anders.
Der Pfeil ruckte in die Mitte des Brettes.
"Mit diesem Brett kannst du Kontakt zu den Verstorbenen aufnehmen", erklärte die Stimme, als ob es das Natürlichste der Welt wäre, mit Verstorbenen zu kommunizieren. "Ob gut oder böse, jeder wird dir antworten, wenn du ihn rufst."
Liora runzelte die Stirn. Ein Brett, über das sie mit Verstorbenen sprechen konnte? Sie wusste nicht ganz, was sie von der Sache halten sollte, fühlte sich aber nicht so unwohl, wie sie es erwartet hatte. Sie war ruhig und entspannt und sogar neugierig auf das, was da noch kommen sollte.
"Du kannst auch mit deiner Mutter sprechen", sagte die Stimme.
Liora hob den Kopf und blickte in die Dunkelheit, als ob sie der Stimme in die Augen sehen wollte. "Meine Mutter?" Es waren die ersten Worte, die ihr flüssig über die Lippen kamen. Ihr Herz schlug plötzlich hart in ihrer Brust, und alle Ruhe und Gelassenheit waren verflogen. Sie war mit einem Mal aufgeregt. Sie konnte mit ihrer Mutter sprechen! Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, beschattet von einer Träne, die sich aus ihrem Augenwinkel löste. "Wie...?"
"Berühre den Pfeil, so wie jetzt und konzentriere dich auf die Person, die du sprechen willst", erklärte die Stimme.
Lioras Kopf war plötzlich ganz leer, kein Gedanke war da. Ihr Finger zitterte leicht, wie ihr ganzer Körper. Das war ihre Chance, mit ihrer Mutter in Kontakt zu treten, und sie konnte es nicht tun.
"Wer bist du", fragte sie schließlich, als die Gedanken wieder in ihren Kopf flossen. Sie war noch nicht bereit für ihre Mutter. Sie löste den Finger vom Holzpfeil und trat einen Schritt zurück.
Das Licht veränderte sich, wurde ein wenig heller und erleuchtete so einen größeren Teil der Dunkelheit. Zuerst nahm Liora nur ein leichtes Schimmern aus den Augenwinkeln wahr, das sich immer weiter verstärkte. Dann trat eine schimmernde Klaue mit großen, dunklen Krallen in den Lichtkreis.
Liora blieb der Atem stocken, aber sie bewegte sich nicht.
Der Klaue folgte ein Bein, schimmernd, mit vielen Schuppen besetzt. Eine zweite Klaue folgte, und schließlich auch das zweite Bein. Dann kam eine Brust, schimmernd und schuppenbesetzt wie die Beine, zum Vorschein.
Liora hob den Kopf, denn allein die Brust überragte sie um zwei Köpfe. Dann sah sie den Kopf. Stromlinienförmig, schuppenbesetzt, mit dunklen, klugen Augen.
Liora trat nun doch einen Schritt zurück, um besser sehen zu können. Ihr Herz schlug ruhig in ihrer Brust, als sie den Drachen vor sich stehen sah. Sie war gelassen und war zu ihrer eigenen Überraschung nicht einmal erschrocken über das, was sich ihr da zeigte.
"Ich bin Áedán..."

***

Liora hatte Kopfschmerzen. Nicht nur von dem seltsamen Traum, den sie in dieser Nacht gehabt hatte. Ihr tat der Schädel weh, als ob sie am Abend zu viel getrunken hätte. Aber das war es nicht. Sie hatte viel geweint, bis sie endlich eingeschlafen war, hatte viel an ihre Mutter und ihren "Onkel", der plötzlich ihr Vater war, gedacht. Sie hatte an Anina und Inina gedacht und verstand jetzt auch, warum Inina sie so sehr hasste. Und trotz allem brummte ihr Schädel.
Sie war mit Bandish im Schlepptau auf dem Weg zum Schmied. Es war spät und die Dämmerung war schon hereingebrochen, aber Liora hatte keine Lust gehabt, anderen Leuten zu begegnen. Jeder wusste über ihre Vergangenheit bescheid und würde wohl hinter vorgehaltener Hand über sie reden. Von daher zog sie es vor, in den Abendstunden ihre Dinge zu erledigen.
Sie bog gerade in die kleine Gasse ein, als jemand ihr den Weg versperrte. Die Gestalt trug einen Umhang und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
"Guten Abend", grüßte Liora und trat zur Seite, um den Fremden durchzulassen, doch der machte keine Anstalten, an ihr vorbeizugehen.
Liora runzelte die Stirn. "Kann ich Ihnen helfen?" Sie zog eine Augenbraue hoch und betrachtete die Kapuze argwöhnisch. "Suchen Sie jemanden?"
"Ja, dich", stieß der Fremde hervor, von der Stimme her eindeutig ein Mann. Im gleichen Moment zog er ein Messer unter seinem Umhang hervor.
"He..." Liora wich einen Schritt zurück und zog Bandish hinter sich her.
Der Fremde setzte ihr nach und hob sein Messer, dass es in dem spärlichen Licht, das aus den geschlossenen Läden der Häuser schimmerte, aufblitzte.
Lioras Herz machte einen schmerzhaften Sprung, und ihr Atem entwich keuchend ihrer Lunge.
Bandish schnaubte ängstlich, als sie Lioras Angst auf ihn übertrug. Er riss die Augen soweit auf, dass das Weiße zu sehen war.
Der Fremde machte einen weiteren Schritt nach vorne, das Messer blitzte immer wieder auf, wenn es einen Lichtstrahl schnitt.
Liora zerrte an Bandishs Zügeln, während sie immer weiter nach hinten wich. Dann prallte sie mit dem Rücken gegen eine Hauswand und keuchte erneut den Atem aus ihren Lungen. Panik stieg in ihr auf, als das Messer in ihre Richtung zuckte.
Der Fremde kam einen weiteren Schritt näher.
Bandish wieherte ängstlich auf. Das Getrappel seiner Hufe hallte laut zwischen den Hauswänden. Dann machte er plötzlich einen Satz nach vorne und sprang direkt zwischen Liora und den Fremden.
Der Fremde schrie überrascht auf und wich zurück. Ein helles Klappern verriet, dass er das Messer aus den Händen verloren hatte.
Liora wurde von Bandish zur Seite gezerrt, denn sie hielt die Zügel noch immer fest in ihren Händen. "Bandish!"
Das Pferd machte einen weiteren Satz, diesmal zur Seite, und drängte den Fremden weiter ab.
Liora stolperte und hielt sich nur wegen der Zügel aufrecht, die sie sich ums Handgelenk gewickelt hatte.
Bandish hielt mitten in seiner Bewegung inne, plötzlich und ohne Vorwarnung, so dass Liora gegen ihn prallte.
Der Fremde schrie erneut auf, und Liora wurde klar, dass Bandish ihn gegen die Hauswand drängen musste.
"Bandish", rief sie erneut, als sie wieder sicher stand. Sie zerrte an Bandishs Zügeln, und das Pferd gehorchte zögernd.
Der Fremde nutzte seine Chance und machte sich aus dem Staub.
"He, warte!" Liora sah ihm nach, bis er um eine Häuserbiegung verschwunden war. "Verdammt! Was sollte das?" Sie klopfte Bandish den Hals.
Bandish schnaubte.
"Was sollte das?" Liora schüttelte verwundert den Kopf. Ihr Herz kam schnell wieder zur Ruhe und schlug bald wieder ruhig in ihrer Brust. Sie bückte sich nach dem Messer und betrachtete es im Schein des Lichtes, das durch die fast geschlossenen Läden drang. Es war fein gearbeitet, sorgfältig geschärft und wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass es zweifach geschliffen war.
Liora runzelte die Stirn. "Eine Atame...", murmelte sie, als sie erkannte, dass ihre Mutter ein ähnliches Messer besessen hatte.

***

Liora atmete tief ein.
Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden ihres Zimmers, vor sich hatte sie den Kasten mit den Buchstaben und Zahlen. Den Holzpfeil drehte sie noch unentschlossen zwischen ihren Fingern. Die Atame, mit der sie gestern angegriffen worden war, lag rechts neben ihr auf dem Boden.
Sie war verwirrt. Nicht nur wegen dem Überfall am gestrigen Abend, nein, auch der Traum mit dem Drachen ließ sie nicht mehr los. Es war seltsam, denn normalerweise machte sie sich nichts aus Träumen. Doch dieser ließ sie einfach nicht mehr los.
Irgendwie spürte sie, dass der Traum und der aufgeklappte Kasten mehr waren, als es zunächst schien. Und Liora hatte beschlossen, dass es an der Zeit sei, herauszufinden, um was es wirklich ging.
Sie drehte den Holzpfeil ein letztes Mal, dann legte sie ihn auf das Brett, den Griff zu sich gewandt. Sie platzierte ihren Finger direkt in die Mulde, wie sie es auch in ihrem Traum getan hatte. Liora schloß die Augen und atmete tief durch. "Mutter", sagte sie dann leise. Sie spürte die Anspannung in ihrem Körper und war sich auch ihres schnellen Herzschlages bewusst. Schweiß trat ihr aus allen Poren, aber sie atmete weiterhin ruhig und hielt die Augen entspannt geschlossen.
Der Holzpfeil bewegte sich ein wenig, und im gleichen Moment war es Liora, als ob sie eine Präsenz fühle. Leise, unsichtbar und schüchtern, aber sie war da.
Liora zuckte zusammen, atmete aber noch einmal durch und öffnete dann langsam die Augen.
Der Holzpfeil bewegte sich ein wenig schneller, auf das L zu. Dann fuhr er hinüber zum I, O, R und zum Schluss blieb er auf dem A stehen.
Liora traute ihren Augen nicht. Hatte der Pfeil eben tatsächlich ihren Namen buchstabiert? "Mutter, bist du da?" Ihre Stimme klang atemlos und angespannt. Es war, als ob sie nur die Lippen bewegte und kaum sprach.
Der Holzpfeil bewegte sich auf das "Ja" zu und verharrte dann mit der Spitze dort.
Liora atmete tief aus und sank ein wenig in sich zusammen. Es war ein seltsames Gefühl. Sie wusste, dass sie den Holpfeil nicht selbst bewegte, aber sie konnte sich nicht erklären, wieso er sich überhaupt bewegte.
Die Präsenz, die sie zu Anfang gespürt hatte, schien realer geworden zu sein, nicht mehr so schüchtern und unwirklich.
Eine Träne rann über ihre Wange. "Ich vermisse dich...", sagte Liora leise und meinte im gleichen Moment, eine Veränderung in der Präsenz zu spüren. Sie schien berührt zu sein von dem, was sie sagte.
Der Holzpfeil setzte sich wieder in Bewegung: I C H  D I C H  A U C H
Liora schluchzte und sog zitternd die Luft ein. "Bist du wirklich hier?"
Der Holzpfeil fuhr zurück auf das "Ja".
Liora lächelte durch ihre Tränen und atmete entspannt durch. Auch wenn sie es sich nicht erklären konnte, beruhigte sie das, was sie hier tat. Für einen Außenstehenden mochte es seltsam anmuten, wie sie hier auf dem Boden saß und sich mit einem Holzpfeil unterhielt, aber ihr tat es gut.
I C H  M Ö C H T E  D I R  E I N  G E H E I M N I S  V E R R A T E N
Liora runzelte die Stirn, hatte sie doch gar keine Frage gestellt.
A B E R  E S  I S T  W I C H T I G  D A S S  D U  M I T  N I E M A N D E M  D A R U E B E R  S P R I C H S T
Liora nickte unbewusst.
M I T  N I E M A N D E M
Liora nickte wieder, diesmal bewusster. Ihr Herz, das eben noch entspannt in ihrer Brust geschlagen hatte, schlug erneut schneller.
G E H  Z U M  W O L F S H U E G E L
"Aber..." Liora beendete den Satz nicht.
G E H  Z U M  W O L F S H U E G E L  A D E A N  I S T  B E I  D I R
Liora wollte gerade wieder etwas sagen, aber der Holzpfeil bewegte sich so plötzlich über das Brett, dass ihr die Worte wegblieben. Sie verlor den Kontakt zum Pfeil, so dass er vom Brett sauste und gegen die gegenüberliegende Wand prallte.
Die Präsenz verlor im gleichen Moment an Dichte und Realität, bis Liora ganz das Gefühl dafür verlor.
Sie sackte tiefer in sich zusammen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, die schon fast getrocknet waren. Eine Leere breitete sich in ihr aus, wie sie sie zuletzt gefühlt hatte, als ihre Mutter gestorben war. Und mit dem Verlust dieser seltsamen Präsenz fühlte sie sich, als ob sie ihre Mutter erneut verloren hatte.
"Geh zum Wolfshügel", murmelte Liora und hob entschlossen den Kopf. Wenn ihre Mutter eben wirklich mit ihr gesprochen hatte, dann wollte sie ihr auch diesen Wunsch erfüllen.
Liora stand vom Boden auf und ging hinüber zur Wand, an die der Holzpfeil geprallt war, als sie den Kontakt zu ihm verloren hatte. Er fühlte sich noch immer so warm und weich an wie zu dem Zeitpunkt, als sie ihn zum ersten Mal berührt hatte. Sie drehte ihn zwischen den Fingern.
Liora erinnerte sich an die letzten Worte ihrer Mutter: Áedán ist bei dir. Áedán... Der Drache aus ihrem Traum. Woher kannte ihre Mutter ihn?
Liora schüttelte den Kopf, weil sie diese Gedanken nicht denken wollte. Sie waren so verwirrend und anstrengend, dass ihr Kopf nach einer Weile wehtat.
Aber ihre Neugierde war geweckt. Nicht nur, weil ihre Mutter den Drachen aus ihrem Traum kannte. Nicht nur, weil sie mit dem Spielbrett Kontakt mit ihr aufnehmen konnte. Nicht nur, weil alles gar keinen Sinn zu ergeben schien. Liora war fest entschlossen, alle Geheimnisse zu lösen.
Sie packte den Holzpfeil fester in ihrer Faust und nickte, als ob sie sich selbst noch einmal ihre Entscheidung bestätigen wollte.
Liora verstaute den Holzpfeil wieder in dem Holzkasten und klappte ihn zusammen. Sie ließ die Scharniere zuklappen und verstaute den Kasten unter ihrem Bett. Sie wusste nicht, ob er dort wirklich sicher war, aber da ihre Halbschwestern den Kasten nicht aufbekommen hatten, als sie versucht hatten, sein Geheimnis herauszufinden, machte sie sich darum weiter keine Sorgen.
Sie verließ das Haus, darauf bedacht, dass keiner der Zwillinge sie sah oder ihr möglicherweise folgte. Sie wollte keine der beiden bei sich haben, wenn sie die Geheimnisse ihrer Mutter erfuhr.
Der Wolfshügel lag weit außerhalb des Dorfes, vielleicht eine Stunde Fußweg. Der Weg war nicht beschwerlich, und als kleine Kinder hatte Liora dort oft mit Anina und Inina gespielt, während ihre Mutter und ihr Onkel... Vater auf sie aufgepasst hatten. Liora schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu verdrängen. Sie wollte jetzt nicht an ihren Vater denken, dazu wollte sie sich später Zeit nehmen. Jetzt gab es wichtigere Dinge zu erledigen.

***

Der Wolfshügel war kleiner, als sie ihn Erinnerung hatte. Liora war beinahe enttäuscht, als sie die kleine Erhebung mitten im Wald erreicht hatte. Der Wolfshügel bildete eine eigene Lichtung, war aber auf seiner höchsten Stelle mit zwei Bäumen bewachsen, deren Äste ineinander verschlugen waren, als ob sie ein Liebespaar wären, das sich für alle Zeit umarmte.
Liora betrat den Wolfshügel und näherte sich den beiden Bäumen, deren Blätter leise im Wind raschelten. Zärtlich berührte sie die geschwungenen Äste mit den Fingerspitzen und meinte für einen Moment, etwas Vertrautes zu spüren. Liora runzelte die Stirn und berührte die Äste erneut. Sie waren weich und warm, wie der Holzpfeil und der Kasten mit dem Spielbrett.
"Erkennst du es wieder?"
Liora fuhr erschrocken herum und verlor den Kontakt zu den Ästen, als sie die Stimme hörte. Ihr war, als ob ihr Herz einen Schlag aussetzte und dann wieder holpernd in Takt kam. "Wer...", weiter kam sie nicht, als der Fremde aus den Büschen trat.
Er trug einen Umhang, ähnlich dem, den der Angreifer getragen hatte, aber das war nicht der Fremde, der es in der Nacht auf ihr Leben abgesehen hatte. Sie spürte es auf eine seltsam Weise. Sein Gesicht war unter der Kapuze verborgen, doch er hob die Hände und nahm die Kapuze von seinem Kopf. Mit einer geschmeidigen Bewegung ließ er sie nach hinten auf seinen Rücken fallen und lächelte sie an. "Erkennst du es wieder?" wiederholte er seine Frage.
Liora schluckte hart. "Wer bist du?" Sie verspürte keine Angst, eher ein seltsames Gefühl von Verbundenheit, obwohl sie sicher war, ihn niemals zuvor gesehen zu haben.
"Sag mir erst, ob du es erkennst", forderte der Fremde.
Liora nickte. "Ja, ich erkenne es." Sie warf den beiden Bäumen einen kurzen Blick zu, dann wand sie sich wieder an den Fremden. "Ich habe ein Spiel, das aus diesem Holz gefertigt wurde."
Der Fremde nickte zufrieden. "Ich bin Áedán", sagte er dann und lächelte wieder.
Liora runzelte die Stirn. "Du... bist Áedán?" Sie schüttelte den Kopf. "Aber in meinem Traum..."
"Das war meine wahre Gestalt", antwortete Áedán, bevor Liora ihre Frage stellen konnte. "Wenn ich dich beschützen will, muss ich eine andere Gestalt annehmen."
Liora nickte und tat so, als ob sie verstand, was er sagte.
"Und was ist in dieser Welt wohl die beste Tarnung?" Er breitete die Arme aus, und gab Liora damit zu verstehen, dass er offensichtlich die beste Lösung gefunden hatte. "Deine Mutter hat dir sicherlich von dem Geheimnis erzählt?" Er hob fragend eine Augenbraue.
Liora nickte. Ihr fehlten einfach die Worte. Wie konnte das alles überhaupt sein? Sie unterhielt sich mit einem völlig fremden Mann, mit dem sie sich auf seltsame Weise verbunden fühlte, die sie sich nicht erklären konnte und redete mit ihm über ihre Träume und ihre Mutter. Wer war er überhaupt? Was wusste sie denn über ihn? Sie schüttelte langsam den Kopf, nicht um seine Frage zu verneinen, sondern um sich selbst entgegen aller Sympathie zurechtzuweisen. "Wer bist du?" fragte sie schließlich leise. Sie warf Áedán einen eindringlichen, flehenden Blick zu, ihr die Wahrheit zu sagen.
Áedán sah kurz zu Boden und nickte. "Wir wussten, dass du, nun ja, nicht gleich überzeugt sein wirst."
Liora runzelte die Stirn. "Wir?"
Áedán ignorierte ihre Frage, aber er hob den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. "Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich und auch... deine Reaktionen auf alles." Er lächelte. "Du bist genau wie sie."
Liora trat einen Schritt zurück. Ihr Argwohn war noch nicht geweckt, wohl aber eine erste, leichte Vorsicht.
"Ich bin der Drache aus deinem Traum", sagte Áedán dann. "Ich habe dir gezeigt, wie man das Spiel spielt, das deine Mutter dir hinterlassen hat."
"Ich... glaube dir nicht", sagte Liora zaghaft. Sie glaubte ihm tief in ihrem Herzen, aber ihr Verstand war noch nicht bereit dafür. "Ich glaube dir nicht."
Áedán nickte erneut, dann schloss er für einen Moment die Augen. Seine Lippen bewegten sich, und er murmelte leise, so dass Liora ihn nicht verstehen konnte.
Sie trat einen weiteren Schritt zurück, unwillkürlich, nur, um sich in sicherer Entfernung zu wähnen. Sie wusste nicht, was gleich passieren würde, aber ihr war ein sicherer Abstand lieber.
Áedáns Körper begann zu flimmern.
Liora blinzelte ein paar Mal, um den Blick wieder scharf zu bekommen.
Áedáns Körper wurde immer undeutlicher und unschärfer. Im Kontrast zum grünen Wald und den dunklen Bäumen war er deutlich zu sehen und jetzt konnte niemand mehr das Flimmern, das ihn umgab und seinen gesamten Körper erfasst hatte, leugnen. Und dann war er plötzlich verschwunden, innerhalb eines Bruchteils eines Augenblickes.
Liora blinzelte erneut.
Im gleichen Moment setzte das Flimmern wieder ein, diesmal nicht auf den Raum eines menschlichen Körpers beschränkt, sondern größer, um vieles größer. Das Flimmern bekam langsam Konsistenz, eine Gestalt, die in Lioras Kopf aber noch keinen Wiedererkennungseffekt auslöste.
Das Flimmern wurde schwächer, während der Körper dahinter immer deutlicher wurde. Große Pranken, ein geschwungener Leib, ein Kopf, der voller Stolz gehoben wurde.
Liora schluckte, als sie ihn erkannte: Der Drache aus ihrem Traum! Er stand leibhaftig auf der kleinen Lichtung auf dem Wolfshügel und blickte sie mit seinen dunklen, geheimnisvollen Augen an.
Sie öffnete den Mund, bekam aber keinen Ton heraus. Ihr Hals war trocken und tat weh, wenn sie schluckte. Ihr Herz schlug unregelmäßig und schnell in ihrer Brust, während ihr Atem keuchend aus ihren Lungen wich, und sie sie zu jedem Atemzug zwingen musste.
"Das ist meine wahre Gestalt", sagte Áedán. Seine Stimme hatte sich nicht verändert, sie klang nach wie vor Vertrauen erweckend.
Liora starrte ihn nur an. Ihr Kopf war voller wirrer Gedanken und Fragen, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Sie stand einfach nur da und starrte den Drachen, ein Wesen, das es nicht gab, nicht geben durfte, an. Liora atmete tief durch und senkte langsam ihren Blick, zwang sich regelrecht, Áedán nicht mehr anzustarren.
"Es ist ein bisschen viel, nicht wahr?" Áedáns Stimme erklang dicht an ihrem Ohr.
Erschrocken sah sie auf und wich zur Seite, als er wieder in seiner menschlichen Gestalt neben ihr stand.
Er legte eine Hand auf ihre Schulter, um sie zu beruhigen. Sein Lächeln war ernst gemeint.
"Nicht..." Liora fegte mit einer entschlossenen Handbewegung seine Hand von ihrer Schulter und machte einen weiteren Schritt zur Seite. "Nicht..." Ihre Stimme klang atemlos und voller Angst. Sie wusste, sie spürte, dass sie keine Angst haben brauchte, aber trotzdem war sie da. "Nicht..."
"Es ist gut, Liora", sagte Áedán und trat einen Schritt zurück. "Dir geschieht nichts."
Sie schüttelte den Kopf. "Ich..."
"Es ist ein bisschen viel", wiederholte Áedán. "Aber es ist an der Zeit, dass du unser Geheimnis, das Geheimnis deiner Mutter erfährst. Ich bin hier, um dich einzuweihen, und um dich zu schützen, wenn es sein muss auch mit meinem Leben." Er lächelte sie wieder mit seinem gewinnenden Lächeln an, und zum ersten Mal fiel ihr auf, dass seine Augen von einem so durchdringenden Grün waren, dass sie beinahe leuchteten. "Aber zuerst möchte ich dir etwas geben. Ein weiteres Geschenk deiner Mutter." Áedán holte unter seinem Umhang ein in Leder gebundenes Buch hervor. Das Leder war an einigen Stellen speckig und sogar schon schwarz. Die Seiten des handbreit dicken Buches waren im unteren Teil vergilbt und wellig und wurden weiter oben immer weißer und gerader, als ob sie erst nach und nach hinzugefügt worden waren.
"Was ist das?" Liora zögerte einen Moment, streckte dann aber die Hand nach dem Buch aus. Áedán übergab es ihr, und sie war überrascht, wie leicht es angesichts seiner Dicke war. "Was ist das?"
"Das ist das Zauberbuch deiner Mutter", antwortete Áedán.
Liora sah auf und runzelte die Stirn. "Zauberbuch?" Die Verwunderung war ihrer Stimme deutlich anzuhören.
Áedán nickte. "Lies die Inschrift."
Liora glättete ihre Stirn und schlug das Buch auf. Auf der ersten Seite standen ein paar Zeilen in der verschnörkelten Handschrift ihrer Mutter. "Höret meine Worte! Verborgen war mein Selbst in den Schatten, bevor ich fand das Licht. Verborgen war die Macht, die mich begleitete mein Leben lang. In dieser Stunde rufe ich Euch an, ihr alten Mächte, gebt mir zurück, was verborgen war in den Schatten. Ich bin bereit, gebt mir die Macht."
Ein Schauer überlief Lioras Rücken und ließ sie zittern. Sie schlug das Buch zu, verbunden mit einem mulmigen Gefühl, und während sie den Blick hob, hatte sie das Gefühl, als wäre die Welt ein wenig zur Seite gerückt, nicht viel, aber doch soviel, dass es ihr auffiel. "Was...?" Sie hob das Buch in beiden Händen und sah Áedán ratlos an. "Was ist passiert?"
Áedán lächelte. "Du hast deine Kräfte geweckt, die Magie, die in dir verborgen war."
Liora schüttelte den Kopf und widerstand dem Drang, das Buch einfach aus ihren Händen gleiten zu lassen. "Du redest wirres Zeug!"
"So, tue ich das?" Áedán hob kurz eine Augenbraue. "Und wie erklärst du dir dann, dass ich eben noch als Drache vor dir stand? Wie erklärst du dir, dass das Spielbrett dich gebeten hat, hierher zu kommen, zum Wolfshügel? Und warum bist du überhaupt hergekommen, wenn du nicht daran glaubst?" Seine Augenbraue wanderte wieder nach oben.
Liora schüttelte langsam den Kopf. Sachte nahm sie das Buch näher an sich heran, schlang die Arme darum, während sie es an ihre Brust drückte. "Ich weiß es nicht", sagte sie dann langsam. "Ich wusste nicht, was mich erwartet... Ich..." Sie schüttelte erneut den Kopf und sah kurz zu Boden, um die Tränen aus ihren Augen zu blinzeln. Dann hob sie den Blick wieder. "Vielleicht habe ich die ganze Zeit über schon gewusst, dass etwas geschehen wird, vielleicht auch nicht. Ich kann es dir nicht sagen..." Sie brach ab und sah zur Seite. Ihr Herz schlug hart in ihrer Brust, weil sie in diesem Moment erkannte, dass sie es geahnt hatte. Manche Dinge, die früher geschehen waren, ergaben plötzlich einen Sinn, wenn man die Magie darin sah. "War nur meine Mutter eine... Zauberin?"
Áedán schüttelte den Kopf. "Sie war keine Zauberin, sie war eine Hexe, eine gute Hexe. Dein Vater war ebenfalls ein magisches Geschöpf."
Liora warf Áedán einen Blick zu, während sie das Buch fester an sich drückte. "Geschöpf? Du meinst, so wie du?"
"Ja, so wie ich." Áedán nickte. "Er war damals zu ihrem Schutz abgestellt worden. Dass sie sich verliebten, war nicht vorgesehen. Aber du siehst, nicht einmal in einer Welt voller Magie kann man alles kontrollieren."
"War mein Vater auch ein Drache?"
"Ja", kam die knappe Antwort. "Er hatte schon viele Hexen begleitet und beschützt, bis deine Mutter ins Dorf kam. Von da an ging alles durcheinander, denn die beiden wollten ihre Liebe entgegen aller Hindernisse durchsetzen. Deine Geburt, Liora, verstieß gegen alle Regeln."
Sie senkte den Kopf. "Es darf mich also gar nicht geben?"
"So ist es", sagte Áedán. Seine Stimme klang traurig.
"Aber ich bin trotzdem da und..." Sie warf einen kurzen Blick auf das Buch in ihren Armen, das sie fest umklammerte, als ob es das Einzige sei, was sie auf dieser Welt noch hatte. "Und habe dieses Buch."
"Der Rat der Drei hat deinen Eltern vergeben, als sie sahen, was durch ihre Ungehorsamkeit entstanden ist", sagte Áedán weiter. Seine Stimme klang tröstend, als ob er versuchte, wieder gutzumachen, was er eben gesagt hatte.
Liora sah Áedán direkt in die Augen. "Was ist entstanden?" Sie war mit einem Mal von einer Vorfreude erfüllt, wusste aber nicht, warum. Ihr Kopf schwirrte vor Informationen und Empfindungen, so dass sie kaum mehr aufnehmen konnte. Aber diese eine Information war wichtig, das wusste sie.
"In dem Buch wirst du die Antworten finden", sagte Áedán ausweichend.
"Du willst es mir nicht sagen?" Liora war enttäuscht und ließ es sich auch anmerken.
Áedán lächelte. "Ich kann dir nicht alles beibringen", sagte er dann. "Ich kann dich beschützen und begleiten, aber lernen musst du selbst. Jetzt."
"Aber..."
Áedán lächelte ein letztes Mal, dann verschwamm sein Körper plötzlich wieder vor ihren Augen.
"Warte... Bleib..." Liora streckte eine Hand aus, aber bevor sie Áedán berühren konnte, war er verschwunden. "Warte..." Liora machte einen Schritt nach vorne, als ob sie ihn damit wieder zurückholen konnte. Mit einem Mal fühlte sie sich einsam und verlassen, einfach nur schutzlos.
Sie taumelte den Schritt wieder zurück und prallte mit dem Rücken gegen die ineinander verschlungenen Bäume. Langsam ließ sie sich nach unten gleiten, bis sie auf dem Boden saß. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, während sie das Buch an ihre Oberschenkel lehnte und die erste Seite erneut aufschlug.
"Höret meine Worte! Verborgen war mein Selbst in den Schatten, bevor ich fand das Licht. Verborgen war die Macht, die mich begleitete mein Leben lang. In dieser Stunde rufe ich Euch an, ihr alten Mächte, gebt mir zurück, was verborgen war in den Schatten. Ich bin bereit, gebt mir die Macht", las sie.
Ein erneuter Schauer überkam sie. Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch, bis der Schauer abgeklungen war. Dann öffnete sie die Augen wieder und schlug die nächste Seite auf. Sie erkannte die Schrift ihrer Mutter auch hier wieder, doch je weiter sie blätterte, desto verschiedener wurden die Handschriften, als ob viele Hände an diesem Buch gearbeitet hatten. Sie las nicht wirklich, nur quer, und es kam ihr so unwirklich vor, was sie hier tat. Nicht nur, dass in dem Buch Wesen erwähnt wurden, die sie aus den Märchen kannte, die ihre Mutter ihr früher immer erzählt hatte, wenn sie nicht einschlafen konnte. Es gab auch Zeichnungen, von Menschen, Tieren und eben jenen Wesen, die es gar nicht gab.
Liora blickt kurz auf. Oder gab es sie doch? Áedán war doch auch hier gewesen und hatte sich vor ihren Augen in einen Drachen verwandelt. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Liora sah zur Seite und lehnte den Kopf schwer gegen die Baumstämme, die ganz eng beieinander standen. Sie seufzte und wand sich wieder dem Buch zu.
Ein Geräusch schreckte sie auf. In einer ruckartigen Bewegung drehte sie ihren Oberkörper herum und klappte die Knie zur Seite, um noch weiter herum zu kommen. Ihr Atem stockte für einen Moment, als sie ihn erkannte. "Orfeo..."
"Liora...", sagte er leise, beinahe so leise, dass sie es kaum hören konnte. "Ich habe dich gesucht", fügte er dann etwas lauter hinzu.
Liora ließ das Buch von ihren Beinen gleiten, kam auf die Knie und stemmte sich dann in die Höhe. Sie ließ das Buch auf dem Boden liegen, einige der vergilbten Seiten blätterten von selbst leise knarzend zurück. "Was tust du denn hier...?" Sie ging die paar Schritte auf ihn zu, die sie voneinander trennten. Liora hob die Arme und schloss Orfeo in ihre Arme, während sie die Augen schloss, um sich ganz dem Moment hinzugeben. Wie hatte sie ihn vermisst!
Doch plötzlich meinte sie, einen Schlag in den Magen bekommen zu haben. Ihr Körper zuckte schmerzlich zusammen, und vor ihren geschlossenen Lidern entstanden plötzlich Bilder, die keine Erinnerungen waren: die verschlungenen Bäume, ein blitzendes Messer.
"Alles in Ordnung?" Orfeo schob sie ein wenig von sich weg und sah sie besorgt an. "Alles in Ordnung?"
"Ja... ja...", antwortete Liora atemlos. Sie hob den Blick und blinzelte einen Moment verwirrt, doch dann schob sie die Bilder zur Seite, aus ihrem Kopf. "Ich bin so froh, dich zu sehen." Sie lächelte Orfeo an und schlang erneut ihre Arme um ihn. Zögernd schloss sie die Augen wieder, aus Sorge, die Bilder kämen wieder, aber nichts geschah. Erleichtert lächelte sie und entspannte sich in Orfeos Umarmung. Sie hatte ihn wirklich vermisst, wie sehr, wurde ihr erst jetzt bewusst. "Hast... hast du schon einmal etwas Unerklärliches erlebt?"
Orfeo lockerte seine Umarmung für einen Moment, doch dann drückte er sie wieder fest an sich. "Das nennt man Glück", meinte er dann lapidar. "Oder Zufall, wie du willst."
Liora schüttelte sanft den Kopf an seiner Schulter.
"Wieso, was ist passiert?"
"Nichts, ich... Ich habe nur gefragt..." Liora öffnete die Augen und fixierte keinen bestimmten Punkt weit entfernt. "Nichts..."
"Ich würde dir gerne etwas zeigen", sagte Orfeo und befreite sich aus Lioras Umarmung.
Sie legte den Kopf schief und schaute ihn neugierig an. Die Bilder waren vergessen, die Neugierde siegte. "Was denn...?"
Orfeo lächelte geheimnisvoll und nahm sie bei der Hand. "Das wirst du schon noch sehen..." Er lächelte erneut geheimnisvoll und zog sie dann hinter sich her.
"Warte..." Liora machte sich kurz los, lief zurück und griff nach dem Buch. Ihr Blick fiel auf die Seite, die sich aufgeblättert hatte. Sie zeigte einen Mann mit Umhang und einer Kapuze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Er stand breitbeinig, die Hände hingen locker neben dem Körper. Liora schlug das Buch zu und klemmte es sich unter ihren Arm. "Gut, wir können gehen." Sie ergriff Orfeos Hand.
"Was ist das für ein Buch", fragte er neugierig und reckte ein wenig den Hals.
"Das hat mir meine Mutter vermacht", antwortete Liora. "Kochrezepte."
"Für die gute Ehefrau?" fragte Orfeo und lachte.
"Jetzt zeig mir endlich deine Überraschung!" Liora stimmte in sein Lachen ein, als ihr Herz einen erleichterten Sprung machte. Orfeo war wieder bei ihr, und sie konnte das Erlebte für einen Moment vergessen.

***

Orfeo führte Liora tiefer in den Wald. Bald - so schien es ihr - drang kein Sonnenlicht mehr bis zum Boden durch. Sie fröstelte leicht, ließ es sich aber nicht anmerken. "Wo willst du denn eigentlich mit mir hin?" fragte Liora zum hundertsten Mal, wie es ihr vorkam. Langsam verlor sie ihre Neugierde und auch die Lust, hinter Orfeo durch den Wald zu stolpern.
"Wir sind doch schon da!" Orfeo betrat eine Lichtung, viel kleiner als die am Wolfshügel. Sie war kreisrund und das Licht der untergehenden Sonne schien nur auf der Lichtung zu scheinen, nicht aber in den Wald einzudringen.
"Wo sind wir hier?" Liora drehte sich einmal um sich selbst und sah Orfeo dann fragend an, während sie die Lippen kraus zog.
"Das ist eine ganz besondere Lichtung", sagte Orfeo und trat einen Schritt näher. "Áedán würde sie auch gefallen..."
"Áedán...?" Liora runzelte ihre Stirn. "Woher... Warum weißt du von Áedán?" Sie trat einen Schritt zurück. "Ich habe dir nichts von ihm erzählt!"
Orfeo machte ein betroffenes Gesicht, als ob er gerade einen Fehler begangen hatte. "Stimmt, das hast du nicht. Aber das tut nichts zur Sache, mein Schatz." Er griff unter seinen Umhang und zog langsam, fast genüsslich, einen langen Dolch hervor, der in der untergehenden Sonne blitzte. "Und du hättest mir sicherlich auch nichts von ihm erzählt, nicht wahr?"
Liora trat einen weiteren Schritt zurück. Sie presste das Buch fest an ihre Brust und atmete keuchend vor Angst. Sie erkannte das Messer voller Schreck wieder. "Du hast mich in der Gasse angegriffen", sagte sie. Es war keine Frage, es war eine Feststellung. "Du warst es!"
Orfeo nickte langsam, während er einen Schritt näher kam. "Ganz recht, ganz recht", sagte er. "Aber du hattest Glück, dass dein dummes Pferd dir geholfen hat. Hier kann dir keiner helfen. Und das hier..." Er griff nach dem Buch, riss es aus Lioras Händen und warf es in den Wald. Die Seiten flatterten laut im Flugwind, und das Buch prallte dumpf auf dem Boden auf. "Das brauchst du jetzt nicht mehr."
"Orfeo..." Liora ließ die Hände sinken. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Satz nach dem anderen, ihr Atem brannte in ihren Lugen, und ihre Augen tränten. Angst saß ihr wie ein Kloß in ihrem Hals und erschwerte ihr das Schlucken, machte es teilweise auch gänzlich unmöglich. Sie starrte ihn entsetzt an.
"Na los, zier dich nicht so..." Orfeo hob das Messer vor Lioras Gesicht. "Ich habe nicht ewig Zeit, um auf deine Kräfte zu warten..."
Liora schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht, was er sagte, es gab keinen Sinn. Welche Kräfte meinte er? Wovon redete er überhaupt?
"Ich will sie..." Seine Stimme hatte einen tiefen, brummenden Unterton angenommen, fast als spräche er mit zwei Stimmen gleichzeitig. Sein Gesicht war zu einer wütenden Fratze verzerrt. "Jetzt sofort..."
Liora wich einen weiteren Schritt zurück, doch Orfeo setzte hinter ihr her und zuckte mit dem Messer nach vorne.
"Nein!" Liora schrie auf, ihre Stimme überschlug sich vor Angst. Sie drehte sich in einer hilflosen Bewegung zur Seite und stolperte, doch sie fing sich nach ein paar taumelnden Schritten wieder. Ängstlich wand sie sich ihm wieder zu. Schweiß perlte auf ihrer Stirn und sammelte sich auch in ihrem Nacken.
Orfeo war wütend, und er kam immer näher.
"Nein!" Liora schrie erneut auf und ballte ihre Hände zu Fäusten. Im gleichen Moment sauste etwas an ihr vorbei und traf Orfeo mitten ins Gesicht.
Er schrie vor Schreck und Schmerzen auf, dann sank er plötzlich in sich zusammen und ließ das Messer aus der Hand fallen. Er stürzte zu Boden und blieb regungslos liegen.
Liora keuchte vor Angst und Unglauben, was eben passiert war. Dann erkannte sie auch, was Orfeo getroffen hatte: Ein vertrocknetes, armdickes Stück Holz.
Lioras Knie gaben einen Moment nach, und sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Keuchend streckte sie eine Hand aus und stützte sich am Boden ab, während ihre andere Hand auf ihrem Oberschenkel ruhte. Sie gönnte sich ein paar tiefe Atemzüge, die sie nicht wirklich zur Ruhe kommen ließen, dann drückte sie sich wieder in die Höhe. Mit zitternden Knien und wackeligen Schritten ging sie zu dem Buch hinüber, das mit dem aufgeschlagenen Einband nach oben auf dem weichen Gras lag. Einige Seiten waren umgeknickt, und Liora nahm sich die Zeit, die alten Seiten glatt zu streichen, ehe sie das Buch schloss. Sie drückte es wie einen alten Freund an ihre Brust und drehte sich dann wieder zu Orfeo um, der noch immer bewusstlos auf dem Boden der Lichtung lag.
Angst erfüllte sie aufs Neue, die sie endlich einen richtigen Gedanken denken ließ: Lauf weg!
Liora machte einen großen Bogen um Orfeo und rannte dann so schnell sie konnte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.
Sie dachte an Áedán und seine Worte, er würde sie beschützen. Am Liebsten hätte sie laut aufgelacht, aber sie konnte in diesem Moment nur weinen. Die Tränen kamen so plötzlich, dass sie einen Moment versucht war, stehenzubleiben. Doch die Angst trieb sie weiter voran.
Äste schlugen ihr ins Gesicht und kratzten über ihre Arme. Wurzeln schienen nach ihren Füßen und Knöcheln greifen zu wollen, aber Liora lief weiter. Tränenblind wie sie war, hastete sie durch den Wald, das Buch ihrer Mutter fest an sich gepresst. Sie versuchte, dem ganzen eine logische Erklärung abzugewinnen, aber sie fand keine. Es gab keine!
Liora stolperte aus dem immer lichter werdenden Wald hinaus und rannte den schmalen, gewundenen Weg entlang, der zurück ins Dorf führte. Atemlos erreichte sie die Dorfgrenze, rannte beinahe einen kleinen Jungen um, der sich auf der Straße gerade nach seinem Spielzeug bückte.
"He", rief die Mutter ihr wutentbrannt hinterher.
"Entschuldigung", rief Liora zurück, nicht wissend, woher sie die Kraft dazu nahm. Ihre Lungen brannten, ihr Atem pfiff und ihre Augen tränten noch immer. Schweiß lief ihr in Strömen über den ganzen Körper, brannte in ihren Wunden und ihr Herz schien sich vor Angst und Anstrengung beinahe zu überschlagen.
Ein Gefühl von Sicherheit überkam sie, als sie endlich ihr Haus entdeckte. Sie hielt darauf zu und nahm all ihre Kräfte zusammen, die sie noch hatte. Polternd prallte sie gegen die Tür und riss sie auf. Kaum war sie drinnen, verriegelte sie die Tür, legte das Buch zur Seite und verriegelte dann alle Fenster.
Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es nichts nützen würde. Sie wusste zwar nicht, woher sie diese Sicherheit nahm, aber sie war da, und sie ignorierte sie einfach, indem sie die Fenster verriegelte.
"Liora...?" Anina, die gerade in der Küche stand und das Abendessen vorbereitete, sah sie verwirrt an. "Alles in Ordnung?"
"Nein", keuchte Liora. "Nein..." Sie griff nach dem Buch, drückte es wieder fest an sich und zog sich dann in ihr Zimmer zurück, dessen Tür sie ebenfalls verriegelte. Sie schloss die Läden in ihrem Zimmer und suchte dann im schwummerigen Halbdunkel ihres Zimmers nach einer Kerze. Sie fand sie und zündete sie mit zitternden Fingern und einem scheinbar lebendigen Streichholz an. Die Flamme erfüllte das kleine Zimmer mit einer flackernden Helligkeit, die Schatten an die Wand warf und vor denen Liora zusammenzuckte.
Sie gönnte sich einen Moment Ruhe, während sie sich im Schneidersitz vor die Kerze hockte und dann das Buch auf ihren Knien aufschlug.
Auch wenn ihr nicht im Geringsten klar war, was hier passierte, so war sie der festen Überzeugung, in diesem Buch die Antwort zu finden. Ihr fiel das Bild ein, das sie gesehen hatte, bevor sie zusammen mit Orfeo zur anderen Lichtung gegangen war. Hektisch blätterte sie durch das Buch, bis sie das Bild wieder fand.
"Dämon...", las sie leise, als fürchte sie, Orfeo damit anzulocken. "Böser Geist..." Sie blickte einen Moment auf, direkt in die Kerze. Das helle Licht ließ ihre Augen erneut tränen, so dass sie den Blick wieder senkte.
In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, so dass sie keinen klar erfassen konnte. Was sollte sie jetzt tun? Was konnte sie jetzt tun? Und wo war Áedán, wenn man ihn brauchte? Er war zu ihrem Schutz abgestellt, hatte er gesagt. Aber wo war er jetzt?
Ein Poltern ließ sie herumfahren. Anina stieß einen spitzen Schrei aus, dann wieder ein Poltern, und der Schrei riss plötzlich ab.
Liora riss die Augen auf. Orfeo war hier!
Hektisch wand sie sich wieder dem Buch zu, doch ihr Blick verschwamm, so dass sie kaum etwas lesen konnte. "Verdammt!" Sie schlug mit der geschlossenen Faust auf das Buch.
Das Poltern hatte ihre Tür erreicht. "Liora!" Orfeos Stimme klang nicht wie seine, sie war tiefer und klang böse, dass es ihr einen Schauer über den Rücken trieb. Er polterte erneut gegen die Tür, dass schon die ersten feinen Splitter durch die Luft wirbelten und zu Boden sanken.
Liora wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und warf einen letzten Blick ins Buch. Sie wusste, dass es ihre letzte Chance war, einen geeigneten Zauber zu finden, der ihr helfen könnte.
Im gleichen Moment gab die Tür krachend nach und explodierte in den Angeln in tausende kleiner Splitter und Holzteile, die wie scharfe Geschosse durch die Luft schossen, direkt auf Liora zu.
Liora schrie auf, kniff die Augen zusammen und hob die Hände schützend vor ihr Gesicht. Blaues, helles Licht umgab sie plötzlich, an dem die scharfen Geschosse abprallten und zu Boden fielen.
Keuchend rollte sich Liora zusammen, immer darauf vorbereitet, von den Splittern und Holzteilen getroffen zu werden. Aber der erwartete Schmerz blieb aus.
"Liora..."
Liora öffnete vorsichtig ein Auge und wurde sich des blauen Lichtes bewusst, das sie umgab. Sie hatte es durch ihre Augenlider schon bemerkt, aber sie hatte angenommen, dass es von Orfeo ausging. Sie öffnete das zweite Auge und hob langsam den Kopf.
Orfeo stand außerhalb des Lichtes, mit wutverzerrtem Gesicht und gezücktem Messer.
Sie keuchte die Luft aus ihren Lungen und kam auf alle Viere, um von Orfeo wegzukommen. Sie krabbelte ungeschickt bis zu ihrem Bett und zog sich an der Kante herauf, bis sie auf dem Bett saß. Das blaue Licht begleitete sie die ganze Zeit über, als ob sie sich im Inneren einer Blase befinden würde.
"Liora..." Orfeo rief ihren Namen, voller Wut und Hass, als er sich auf sie stürzte, das Messer erhoben in der Hand.
Liora zuckte zusammen, hob die Hände erneut abwehrend vor ihr Gesicht. Sie wimmerte, presste die Augen zusammen und wartete erneut auf die Schmerzen.
Ihre Gedanken schienen mit einem Mal klar zu sein. Sie sah Áedán vor sich, wie er sie anlächelte und ihr Mut machte. Sie sah ihren Vater vor sich, wie er sie anlächelte und sie immer wieder daran erinnerte, dass sie ein besonderer Mensch war. Und sie sah ihre Mutter vor sich, mit ihrem weichen Lächeln, das jeden Schmerz lindern konnte. Liora lächelte zurück, lächelte ihnen allen zu.
Orfeo schrie auf, ein erneutes Poltern beendete den Schrei.
Liora riss die Augen auf und starrte Orfeo entsetzt an.
Er lag bewegungslos in der Ecke ihres Zimmers, das Messer hielt er nicht mehr in der Hand.
Sie stand langsam auf und stand auf zittrigen Knien, als das blaue Licht langsam um sie herum erlosch. Die Kerze war ebenfalls erloschen, so dass in dem Zimmer eine schwummerige Dunkelheit herrschte, die Liora einen Schauer über den Rücken jagte. Sie konnte kaum etwas sehen und im Hinterkopf war sie sich immer noch der Gefahr bewusst, die von Orfeo ausging. Sie stolperte einen Schritt nach vorne und stieß gegen etwas Hartes. Liora bückte sich, tastete im Dunklen über das Hindernis und erkannte das Buch. Sie nahm es an sich und drückte es sanft an ihre Brust.
Orfeo stöhnte leise auf. Ein Rascheln deutete seine Bewegungen an, erst unkontrolliert und fahrig, doch dann verstummten sie wieder. "Ich kann dich sehen, Hexe", sagte Orfeo drohend.
Liora schluckte und kauerte sich weiterhin auf dem Boden zusammen.
"Ich kann dich sehen..." Ein heiseres Lachen war zu hören, das sich durch den Raum zu bewegen schien. "Und noch mal werde ich auf deinen Schutzschild nicht hereinfallen..." Die Stimme wanderte noch immer, immer wieder um Liora herum. "Ich wusste gar nicht, was ich da für ein Schätzchen an Land gezogen habe..." Die Stimme wanderte weiter.
Liora zitterte am ganzen Körper und starrte in die Dunkelheit. Sie atmete flach, aus Angst, er könne sie hören. Doch was sollte das bringen, er konnte sie sehen! Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, dass sie meinte, er könne es hören, so dass sie das Buch fester an sich drückte, in der Hoffnung, es würde den Hall mindern.
"Aber jetzt weiß ich es..." Orfeo lachte erneut. "Weiß der Rat der Drei von dir...? Weiß er, dass deine Kräfte geweckt wurden...?"
Liora schloss die Augen und atmete weiterhin flach. Schweiß und Tränen liefen über ihr Gesicht und brannten in ihren Augen.
"Offensichtlich nicht, denn sonst hätten sie dich schon längst vernichtet..." Orfeo wanderte noch immer um sie herum und zog den Kreis dabei immer enger. "Ich werde ihnen den Gefallen, und ihnen die Arbeit abnehmen... Ich werde dich töten..."
Liora zuckte zusammen, als Orfeo bei seinen letzten Worten ganz dicht an sie herankam.
"Ich werde es tun..."
"Deine Liebe zu mir war nicht rein..."
"Was tust du da...?" Orfeos Stimme klang überrascht, und er zog sich ein wenig zurück.
Liora wusste nicht, was sie tat, aber sie hoffte, dass Orfeo es ihr nicht anmerken würde. "Deine Liebe zu mir war nicht rein, verfolgtest im Hintergrund einen Plan. Drum soll meine Liebe von dir genommen sein, mein Herz nimmt dich nicht mehr an..."
Orfeo keuchte und wich weiter zurück. Ein metallisches Geräusch verriet, dass er das Messer verloren hatte.
Liora atmete tief durch. "Deine Liebe zu mir war nicht rein, verfolgtest im Hintergrund einen Plan. Drum soll meine Liebe von dir genommen sein, mein Herz nimmt dich nicht mehr an..." Ihre Stimme klang entschlossen und voller Kraft. Sie glaubte an das, was sie tat, auch wenn sie nicht wusste, woher es kam und was es bewirkte. Das Buch presste sie so fest an sich, dass sie meinte, der lederne Einband würde sich verbiegen, aber sie spürte, dass das Buch sie unterstützte, als ob es mit ihr kämpfte.
Plötzlich schrie Orfeo und ein greller Blitz erhellte das Zimmer für einen Augenblick. Dann war es still.
Liora sah die Nachwirkungen des Blitzes auf ihrer Netzhaut und blinzelte, doch er verschwand nicht. Mit zitternden Händen legte sie das Buch zur Seite und tastete nach der Kerze und den Streichhölzern. Als sie beides gefunden hatte, zündete sie die Kerze an. In ihrem flackernden Schein sah sie das Durcheinander, das Orfeo angerichtet hatte, die zerstörte Zimmertür, die zerstörte Kommode, gegen die der Schutzschild ihn geschleudert hatte. Aber Orfeo konnte sie nicht sehen. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
"Anina!" Mit Schrecken dachte sie an ihre Halbschwester und stand auf. Ihre Knie zitterten und gaben beinahe unter ihrem Gewicht nach, aber die Sorge um Anina trieb sie aus ihrem Zimmer und in die Küche.
Auch hier hatte Orfeo gewütet, die Tür war zerborsten und hing nur noch in Einzelteilen in den Angeln. Von draußen drang das seichte Licht der untergehenden Sonne herein. Liora stellte ihre Kerze ab und riss die Fensterläden wieder auf, um besser sehen zu können.
Anina lag bewusstlos auf dem Boden. Sie blutete leicht am Hinterkopf, aber ansonsten schien sie nicht verletzt zu sein. Liora zog sie auf ihren Schoß und schloss ihre Arme um den leblos scheinenden Körper, um sie an sich zu drücken, wie das Buch.
Liora starrte geradeaus, ohne einen bestimmten Punkt zu fixieren. Ihre Gedanken überschlugen sich, denn sie hatte noch immer nicht verstanden, was eben passiert war. Woher waren die Worte gekommen? Woher war dieses blaue Licht gekommen, das sie vor den Splittern und sogar Orfeo geschützt hatte?
"Áedán...", murmelte sie und schloss die Augen, um zur Ruhe zu kommen. "Áedán..."

***

Liora lehnte mit dem Rücken gegen die eng aneinander stehenden Stämme der sich liebenden Bäume. Sie hielt die Augen geschlossen und genoss die Sonnenstrahlen, die sie wärmten.
Der gestrige Tag kam ihr wie ein Traum vor, ein Alptraum, aus dem sie erst erwacht war, als sie heute Morgen dem Schreiner einen Auftrag für zwei neue Türen gegeben hatte. Dann war sie hierher gekommen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier saß und wartete. Aber wenigstens wusste sie, auf wen sie wartete.
Ein Rascheln ließ sie herumfahren und die Augen aufreißen.
"Keine Angst, ich bin es nur", sagte Áedán und setzte sich neben sie auf den Boden. "Alles in Ordnung?"
Liora starrte ihn einen Moment ungläubig an, dann schüttelte sie den Kopf. "Ich dachte, du bist zu meinem Schutz da?"
"Ja..." Áedán warf ihr einen kurzen Blick zu. "Wieso fragst du?"
"Kann es sein, dass ich mich gestern zufällig in Gefahr befunden habe?" Sie zog eine Augenbraue hoch. "Und von dir war weit und breit nichts zu sehen?"
"Oh..." Áedán senkte schuldbewusst den Kopf. "Das... Na ja, ich weiß auch nicht alles..."
"Was ist los?" Liora hob die Hände, um wild gestikulieren zu können, doch sie senkte sie einfach wieder. "Ich meine... Du erzählst mir, du würdest auf mich Acht geben und dann..." Sie unterbrach sich wütend. Aber war sie denn wirklich wütend? Liora atmete tief ein und wusste es dann selbst nicht mehr. "Ich... ich bin so verwirrt, ich weiß gar nicht, was mit mir geschieht."
Áedán sah sie verständnisvoll an. "Du musst nur an das Erbe denken, das deine Eltern dir hinterlassen haben. Du bist eine mächtige Hexe, Liora, entstanden aus einer Hexe und einem Drachen. Nicht einmal der Rat der Drei weiß, was aus dir werden wird."
Liora nickte, als ob sie alles verstünde, dabei verwirrte er sie noch mehr. "Was ist das, der Rat der Drei?"
Áedán seufzte. "Ich weiß, es ist viel für den Anfang, aber ich muss sagen, für deinen ersten Dämon hast du dich nicht schlecht geschlagen." Er lachte kurz auf. "Du hattest mehr Glück als Verstand, aber alles in allem hast du eine gute Figur gemacht."
Liora runzelte die Stirn. "Du hast alles gesehen? Und hast mir nicht geholfen?"
Áedán schüttelte den Kopf. "Ich kann nicht immer für dich da sein", sagte er dann. "Auch wenn ich dich beschütze, aber ich habe... Nun ja, nennen wir es noch andere wichtige Aufgaben zu erledigen."
"Und wenn ich während dieser ach so wichtigen Aufgaben deine Hilfe brauche?" Liora war entsetzt. Wieso sagte er so etwas, wenn er gestern doch noch behauptet hatte, immer für sie da zu sein?
"Ich werde dich schon finden, keine Sorge", antwortete Áedán lapidar. "Aber um auf den Rat der Drei zurückzukommen..."
Liora öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber gleich wieder, weil ihr keine passende Antwort einfiel. Außerdem siegte die Neugier auf den Rat der Drei.
"Wie ich dir schon sagte, haben sie deinen Eltern ihren Ungehorsam verziehen, aber sie sind vorsichtig", sagte Áedán. "Sie werden nicht zulassen, dass du die Magie verrätst."
Liora sah Áedán von der Seite an. "Aber..."
"Das ist das Wichtigste, Liora, bewahre die Magie als dein Geheimnis, teile es mit niemandem. Wenn du jemandem begegnest, der das Geheimnis kennt, wirst du ihn erkennen und er dich. Du wirst erkennen, ob er gut oder böse ist. Und du wirst dich auch entscheiden müssen."
"Wofür", fragte Liora, auch wenn sie es schon ahnte.
"Für das Gute oder für das Böse", antwortete Áedán und sah ihr direkt in die Augen. "Noch bist du neutral, auch wenn du mit Orfeo einen bösen Dämon vernichtet hast."
"Was bist du?"
Áedán lachte leise. "Ich bin einer der Guten... Ich sage es mal so, die andere Seite hat schneller reagiert, als sie dir Orfeo schickten, aber ich denke, sie haben nicht damit gerechnet, dass Orfeo dich aus dem Weg räumen wollte. Und damit haben wir jetzt die Chance, dich zu einer von uns zu machen. Zu einer der Guten."
Liora nickte und sah zu Boden. "Es wird sich viel ändern, nicht wahr?"
"Einiges sicherlich", antwortete Áedán. "Aber langweilig wird es dir sicherlich nicht mehr."
Liora lachte heiser, als sie an die vergangen Jahre dachte, die sie unterwegs gewesen war. "Mir war es schon lange nicht mehr langweilig, wenn du das meinst."
"Dein Leben ändert sich von nun an komplett", sagte Áedán, diesmal mit ernster Stimme. "Du hast sehr viel Verantwortung mit deiner Macht übernommen, das muss dir erst einmal klar werden. Du musst dir klar werden, wer du bist und was du bist. Und du musst damit zurechtkommen. Kannst du das?"
Liora zuckte die Schultern. "Ich weiß es nicht..." Sie machte eine kurze Pause. "Aber es ist das Erbe meiner Eltern. Ich werde es hochhalten und die beiden nicht enttäuschen." Sie sah Áedán direkt in die Augen, als sie das sagte.
Er nickte. "Das wollte ich hören, Liora, das wollte ich hören."
 

© Rei
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