Wer ist da? von Christine Krenz

"Wer ist da?!" rief er unsicher in das Dunkel hinein. Er erhielt keine Antwort. Statt dessen klapperte plötzlich irgend etwas am (vermuteten) Ende der Finsternis. Das Geräusch erinnerte an einen Metallstab, der auf steinernem Boden aufschlug und anschließend noch ein Stück weit wegrollte.

Karfo rutschte das Herz in die Hose. `Das kann einfach nicht gutgehen`, dachte er bei sich. Warum hatte er nur einfach seine Klappe nicht halten können? Wäre er ruhig auf seinem Stuhl sitzen geblieben und hätte gelassen seinen Krug Wein geleert, wie alle anderen in der Schenke "Zur dunklen Höhle", würde er jetzt nicht hier stehen und vermutlich in Kürze sein noch junges Leben verlieren. Aber nein, er musste sich ja provozieren lassen. Dabei war im Dorf doch allgemein bekannt, dass Hartleb, der Verwalter von Burg Hohenstein, nach einigen Krug Wein gern etwas redselig wurde. Aber Karfo hatte einfach nicht länger mit anhören könne, was für haarsträubende Geschichten Hartleb über die dunkle Höhle erzählte. "Die sind doch alle frei erfunden!", hatte Karfo Hartleb noch vor wenigen Stunden vorgeworfen. Kein Mensch hatte je die dunkle Höhle betreten, zumindest war kein solcher Versuch in den Aufzeichnungen der Dorfgeschichte, die Karfo in seiner Funktion als Archivverwalter selbstverständlich intensiv studiert hatte, enthalten. Die ganzen Berichte über schreckliche Ungeheuer, grauenerregende Geräusche und unheimliche Lichter, die wie Geister des nachts in der Höhle tanzten, waren nirgendwo historisch belegt. Hartleb hatte hingegen behauptet, seine Geschichten persönlich von Augenzeugen, die selbst nur knapp mit dem Leben davongekommen seien, gehört zu haben. Natürlich wohnte keiner der Augenzeugen hier im Dorf. Und letztlich hatte Hartleb gemeint, wenn Karfo so schlau wäre und so genau wisse, dass alle Geschichten Lügen wären, dann könne er doch höchstselbst den Beweis für die Unwahrheit von Hartlebs Geschichten erbringen.

Und nun stand er hier, inmitten der undurchdringlichen Finsternis der dunklen Höhle und konnte nicht zurück, ohne völlig sein Gesicht zu verlieren - mal abgesehen von den 50 DT um die sie gewettet hatten und die Karfos gesamte Ersparnisse bedeuteten. Hartleb und die anderen Männer aus der Schenke, die ihre Wette mitangehört hatten, warteten vor dem Eingang auf seine Rückkehr.

Karfo richtete alle seine Sinne wieder auf die Dunkelheit vor ihm. Das Geräusch des rollenden Metallstabes erstarb. Bedeutungsschwangere Stille senkte sich schwer auf Karfo hinab und schnürte ihm die Luft ab. Er schluckte trocken. "Wer ist da?", wiederholte er zögernd. Nichts. Die Stille wurde immer drückender. `Reiß dich zusammen`, ermahnte Karfo sich selbst. Obwohl er schon mehrfach versucht hatte, durch eine Fackel etwas Licht in die Dunkelheit zu bringen, deren Flamme jedoch stets durch einen geisterhaften Luftzug ausgeblasen worden war, nahm Karfo nun erneut seinen Feuerstein zur Hand und kniete sich auf den kalten Steinboden. Er mühte sich einige Momente ab, wobei ihm seine Hände immer weniger gehorchen wollten, da sie ohne sein Wollen zu zittern begonnen hatten. Dann endlich sprang ein Funke auf die Fackel über und zaghaft wuchs die Flamme in die Höhe. Ermutigt hob er die flackernde Lichtquelle, wandte sich der Finsternis vor ihm zu - und erstarrte vor Schreck.

Das musste ein Drache sein! Noch bevor Karfo richtig erfassen konnte, was er sah, spürte er auch schon einen heftigen Schlag in der Magengegend, der ihn sofort von den Füßen riss. Die Fackel fiel zu Boden und erlosch. Erschrocken über den ungewohnten Schmerz krümmte sich Karfo auf dem Boden und schnappte nach Luft. Nun setzte ein gewaltiges Getöse ein. Der Lärm erfüllte die gesamte Höhle, so dass Karfo fürchtete taub zu werden. Was ihn jedoch noch mehr entsetzte: Die Lärmquelle schien genau auf ihn zu zukommen! Hastig rappelte sich Karfo auf und tastete den Boden nach der Fackel ab. Im nächsten Moment zog er mit einem Schmerzensschrei seine Hand zurück - jemand - oder etwas? - war ihm direkt draufgetreten. Nun konnte Karfo seine aufsteigende Panik kaum mehr zurückhalten. Hastig sprang er auf die Füße. Irgendwie schaffte er es, das viel zu große Schwert, das ihm ein Kneipengast in weiser Voraussicht aufgedrängt hatte, aus seinem Gürtel zu ziehen. Mit aller Kraft umklammerte er den Griff der für ihn ungewohnten Waffe und begann um sich zu schlagen. Wie ein Wahnsinniger zerstückelte er die Finsternis - ohne Erfolg. Das schauderhafte Geräusch kam immer näher. Erschöpft ließ er das Schwert sinken. Völlig außer Atem begann er vor der Lärmquelle zurückzuweichen. Mit letzter Kraft hob er erneut seine Waffe, um erneut einen Angriff zu starten. Da spürte er einen scharfen Luftzug und im nächsten Augenblick hatte ihn ein weiterer kraftvoller Hieb in der Magengrube erwischt. Ächzend sank er in die Knie. Schon spürte er einen weiteren Schlag am Hinterteil, so dass er der Länge nach zu Boden fiel. Das Schwert fiel ihm klirrend aus der Hand. Das war zuviel. So schnell er konnte, erhob sich Karfo und rannte in die Richtung, die er für den Ausgang hielt. 
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Karfo hatte verloren. Er war Hartleb und den anderen Männern des Dorfes voller Panik in die Hände gelaufen und hatte stammelnd von einem angreifenden Drachen berichtet. Die Männer, die den Lärm aus der Dunklen Höhle ebenfalls gehört hatten, waren sofort von der Richtigkeit aller Geschichten Hartlebs überzeugt. Glücklicherweise schien der Drache nicht gewillt, die Höhle zu verlassen und so konnten alle zu ihrem üblichen Tagewerk zurückkehren. Karfo hatte seine Ersparnisse an Hartleb abgeben müssen und war jeglicher Glaubwürdigkeit beraubt.

Nachdenklich saß er auf einem einsamen Felsen unweit der Dunklen Höhle. Das schwache Licht des Mondes drang nicht das geringste Stückchen in die Dunkelheit des Höhleneingangs vor. Hatte er wirklich einen Drachen gesehen? Das Ungeheuer war riesig gewesen und das schwache Licht der Fackel hatte sich auf gefährlich blitzenden Klauen und Zähnen gespiegelt. Blitzenden Klauen? Metallisch blitzend! Karfo sprang auf und rannte zum Höhleneingang. Unsicher blieb er kurz vor der Dunkelheit stehen - und sank an der Höhlenwand zusammen als er das charakteristische Lachen ein Zwerges aus der Höhle hörte.
 

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