Nacht
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"Wer ist da?!" rief er unsicher in das Dunkel hinein. Er erhielt keine Antwort. Statt dessen klapperte plötzlich irgendetwas am (vermuteten) Ende der Finsternis. Das Geräusch erinnerte an einen Metallstab, der auf steinernem Boden aufschlug und anschließend noch ein Stück weit wegrollte. Also doch! Entschlossen, sich nicht von irgendwelchen nächtlichen Geräuschen ängstigen zu lassen, kehrte Coll in sein Zimmer zurück, schnappte sich die Kerze vom Nachttisch und trat kurz darauf mit dem brennenden Stummel in der Hand auf den langen, dunklen Flur hinaus. Während er sich vorsichtig auf das Ende des Ganges zubewegte, von wo die Geräusche zu hören gewesen waren, fragte er sich einmal mehr, warum um alles in der Welt Onkel Perufil ausgerechnet hier keine Fackeln hatte an die Wände anbringen lassen - an allen möglichen und unmöglichen Orten in der Burg gab es Fackeln, Leuchter und Kerzen in Hülle und Fülle, nur hier in diesem fensterlosen Flur nicht. Noch ein Schritt, und der Lichtkreis seiner Kerze musste das erfassen, was ihn am Ende des Ganges erwartete - wenn ihn überhaupt etwas erwartete. Coll wollte automatisch den Degen ziehen, aber er fasste ins Leere. Statt dessen zog er die rutschende Hose seines Pyjamas hoch. Nun, dann eben die Faust... Er machte den Schritt. Die Kerze flackerte vom Luftzug, der von der hier in den Flur mündenden Treppe heraufkam. Etwas Längliches lag vor seinen Füßen. "Hallo?" sagte er noch einmal. Nichts. Er leuchtete ein Stück die Treppe hinunter - alles leer. "Hätte ich mir ja denken können", murmelte er, während er die knarrenden Stufen wieder hinaufstieg. Dann ging er neben dem länglichen Ding in die Hocke, um es genauer zu untersuchen. "Das wird ja immer interessanter!", flüsterte er lautlos. Ein High-Tech-Blasrohr aus Aluminium, den Schieberegler am Ende weit offen, so dass beim Hineinblasen die volle Ladung von zehn kleinen, mit Widerhaken versehenen Pfeilen herausgeschleudert werden würde - vergiftete Pfeile vermutlich. Wer hatte das hier verloren, warum hatte er es zurückgelassen, und wen wollte er ursprünglich damit abschießen? In diesem Teil der Burg wohnte nur er, im Gästezimmer - und wer hätte wohl Grund, einen auf der Durchreise ein paar Tage bei seinem Onkel rastenden Studenten mit zehn Giftpfeilen anzugreifen?! Coll fühlte sich leicht beunruhigt. Er sicherte das Blasrohr und erhob sich. Unschlüssig, was er mit der Waffe anstellen sollte, stand er einen Moment da und betrachtete das kleine Gemälde, das an der Stirnwand des Ganges hing. Es stellte einen nächtliche Landschaft unter einem hell strahlenden Mond dar, die so geheimnisvoll wirkte, dass man unwillkürlich den Atem anhielt, weil man erwartete, dass dort im nächsten Augenblick irgendetwas geschah. Coll hatte schon als Kind Stunden vor diesem Bild verbracht und sich die aufregendsten Geschichten ausgedacht, zum Beispiel, dass der Mond - Coll stutzte. Der Mond sah irgendwie anders aus als sonst. Er trat näher heran, hielt den Kerzenstummel hoch und zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. Der Mond war plastisch, sprang als Halbkugel aus der übrigen, flachen Leinwand hervor. Was sollte man davon halten? Er war sich hundertprozentig sicher, dass der Mond am Abend, als er zu Bett gegangen war, noch vollkommen flach gewesen war. Vielleicht war es nur eine Art optische Täuschung? Er legte das Blasrohr wieder auf den Boden, streckte dann die Hand aus und berührte den Mond. Die Wirkung dieser Berührung war unwahrscheinlich: das Bild sauste mitsamt des Teils der Wand, an der es hing, nach oben und verschwand in der Decke. Zurück blieb ein dunkles Loch und ein sehr verwirrter Coll, der erst langsam verarbeiten musste, dass er ganz offensichtlich vor der Öffnung eines Geheimganges stand. Sein dicker, griesgrämiger Onkel besaß Geheimgänge? Vorsichtig betrat er das Loch in der Wand, die Kerze vorgestreckt. Dann fiel ihm ein, dass es vielleicht nicht besonders schlau war, einen Geheimgang im Schlafanzug und ohne jede Waffe zu erkunden, - als er sich jedoch umdrehte, um wieder in den Flur zurückzukehren, stellte er fest, dass die Wand sich wieder geschlossen hatte. Zu allem Überfluss ging nun auch noch seine Kerze aus - es zog hier wie Hechtsuppe -, so dass er nicht nach dem Öffnungsmechanismus suchen konnte. Da stand er nun im Pyjama in einer undurchdringlichen Finsternis, seine nackten Füße wurden von dem ständigen Luftzug eiskalt, und er hatte das unangenehme Gefühl, in dieser Dunkelheit könnte sich jemand oder etwas verbergen und ihn ohne Vorwarnung angreifen. Und er hatte noch nicht einmal das Blasrohr in der Hand behalten. Die Tür hinter ihm war zu - aber so ein Gang hatte sicher irgendwo ein Ziel, und dort womöglich einen zweiten Ausgang... Und so tappte er, die nackten Füße machten auf dem Steinfußboden ein platschendes Geräusch, vorwärts, die Hände ausgestreckt, um nicht mit der Stirn gegen eine Wand zu rennen. Das kann einfach nicht gutgehen, dachte er, aber was blieb ihm anderes übrig? Es ging nicht gut. "Suchst du mich?" fragte eine tiefe Stimme, und Coll erschrak derart, dass er zur Seite sprang - und mit dem Kopf gegen eine Wand prallte. Leicht benommen stand er da, während die Stimme sich ihre Frage selbst beantwortete: "Wohl nicht. Ich hatte mich auch schon gewundert, wie du mich mit bloßen Händen hättest töten wollen." "W-wer bist du?" japste Coll. "Wo bin ich hier eigentlich? Und was soll das alles?" "Oh", machte der Unbekannte, "die Sache wird interessanter. Du bist also noch nicht mal mit Absicht hier?" "Die - die Tür ist zu", sagte Coll nicht sehr intelligent, aber im Prinzip traf das ja auch den Kern der Sache. "Hm", machte die Stimme, "hmm. Du bist der Neffe des alten Fleischklopses, nicht?" Coll nickte - sprachlos, denn er hatte noch nie jemanden getroffen, der es gewagt hätte, einen Mann wie Graf Perufil von Rodeneck als Fleischklops zu bezeichnen (auch wenn es ihn selbst als Kind durchaus danach gelüstet hatte). "Gut", sagte die Stimme. Sie klang nun näher und schien irgendwie von oben zu kommen. "Dann werde ich dich jetzt mal küssen." Coll erstarrte. "Küssen?! Nie im Leben!" quiekte er und drückte sich gegen die Wand. "Sei nicht so albern!" knurrte die Stimme ärgerlich. "Ich will dich doch nicht auf den Mund küssen!" Coll spürte etwas Weiches auf dem Kopf. Er wollte sich darunter wegducken, aber das vergaß er im selben Moment, denn - er konnte mit einemmal sehen! Die glattgeschliffenen Granitplatten des Fußbodens, die Klauen, seine eigene Füße... Klauen?!!! Alle Alarmglocken schrillten in seinem Kopf, entsetzt hob er den Kopf - und sah direkt in ein großes, gelbes Auge mit einer schmalen, schlitzförmigen Pupille. Coll schnappte nach Luft. Das Auge gehörte ohne Zweifel zu einem Drachen. Ein großer, pechschwarzer Drache kauerte vor ihm, wie ein Hund auf den Hinterbeinen sitzend, und schien zu grinsen. "Na", fragte er, "sind das Augen?!" Coll interessierte sich im Angesicht der scharfen Zähne, die der Drache dabei entblößte, herzlich wenig für seine verbesserte Sehfähigkeit. Seine Gedanken drehten sich ausschließlich darum, wie er diesem Alptraum lebendigen Leibes entrinnen könnte. Ihm fiel nichts ein. Obwohl - wenn er nun im Dunkeln sehen konnte... Coll sprintete zur Tür - beziehungsweise zu der Stelle der Wand, an der sie sich befinden musste, auch von innen war sie im geschlossenen Zustand nicht zu erkennen - und suchte nach einem Öffnungsmechanismus. "Vergiss es", bemerkte der Drache nach einer Weile, "das Ding ist magisch gesichert. Nicht mal ich weiß das Passwort." Wahrscheinlich hat das Vieh sogar recht, dachte Coll seufzend, denn es war auch bei genauestem Suchen kein Knopf, kein Hebel oder irgendetwas anderes zu finden, das man hätte betätigen können. "Okay", sagte er entschlossen und drehte sich wieder um, "dann friss mich oder mach, was immer du sonst vorhast - aber mach schnell. Und sag mir vorher wenigstens, was du überhaupt hier tust." Der Drache verzog das Gesicht. "Ich möchte wirklich wissen, wie ihr auf die vermessene Idee kommen könnt, irgendwer könnte euch freiwillig aufessen. Igitt", er schüttelte sich, "ich fress' doch keine Menschen!" Er schauderte noch einmal, dann fuhr er fort: "Was ich hier tue? Ich bin deines Onkels Wachhund. Komm mit!" Damit schubste er Coll mit der Schnauze zur entgegengesetzten Wand, in der der junge Mann nun eine schmale Tür entdeckte. Der Drache wollte ihn hindurchschieben, aber Coll blieb wie angewurzelt stehen, als er dicht daneben einen noch schwelenden Haufen Asche entdeckte, aus dem unverkennbar ein verkohlter menschlicher Schädel ragte. Der Drache folgte seinem Blick. "Oh, der", sagte er, "deines Onkels Leibdiener. Wollte mich mit einem Blasrohr erschießen." Coll wurde übel. Er presste beide Hände gegen den Mund, um nicht seinen Magen neben die sterblichen Überreste zu entleeren. Die Stimme des Drachen klang bedrückt, als er hinzufügte: "Das ist nun mal mein Job." Coll stolperte über die Türschwelle. Sein Magen beruhigte sich nur langsam, aber schließlich ließ der Brechreiz nach, und er hob den Kopf, um zu sehen, wo er war. Augenblicklich klappte, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können, seine Kinnlade nach unten. Um ihn herum glitzerte und funkelte es wie in einer Schatzkammer. Und genau das war es auch. Ringsum an den Wänden standen Regale und Truhen, die von Gold, Silber und Edelsteinen überquollen, in den Regalen stapelte sich kostbares Porzellan neben Elfenbeinschnitzereien und seidenen Gewändern, dazwischen immer wieder goldene Pokale, Schmuck, Zierrat, Waffen - ein unfassbarer Reichtum lagerte hier. Coll machte einen Schritt weiter in den Raum hinein und entdeckte jetzt erst einen schlichten Holzstuhl, der inmitten all dieser Pracht irgendwie verloren wirkte. Auf dem Stuhl lag ein glänzendes Schwert. Er durchquerte den Raum und betrachtete es genauer. Es war beinahe ebenso schlicht wie der Stuhl, und doch war es wunderschön, ein perfektes Meisterwerk der Schmiedekunst. Alles um ihn herum verblasste, nur noch das Schwert war da, glänzend und so faszinierend real. Coll streckte die rechte Hand aus, seine Finger schlossen sich um den Griff, als hätten sie sein ganzes Leben darauf gewartet, und er hob das Schwert hoch. Augenblicklich veränderte sich die Welt um ihn herum. Alles wirkte kleiner, er selbst dagegen riesig, nicht in Metern und Zentimetern, sondern von seiner Bedeutung her. Er wusste, dass er stark war, sehr stark. Mit dem Schwert in der Hand könnte nichts und niemand ihm widerstehen. Er könnte jedem befehlen, was er zu tun und zu lassen hätte, er könnte eine Armee sammeln und gegen den König in den Krieg ziehen - mit dem Schwert würde er siegen und selber herrschen... - Mit einem Aufschrei warf Coll das Schwert auf den Stuhl zurück. Schwer atmend stand er vor dem Stuhl und starrte die Waffe an wie eine Schlange, dann drehte er sich um und rannte zur Tür. Der Drache versperrte ihm den Ausgang. "Nun?" fragte er. "Willst du nichts mitnehmen?" Coll holte tief Luft und antwortete: "Was soll ich mit Gold und Edelsteinen? Eine Freundin hab ich nicht, und ich selber finde das Zeug langweilig." "Und das Schwert?" hakte der Drache nach. "Es hat schreckliche Gedanken in mir geweckt... es ist ein magisches Schwert, oder? Es macht mir Angst vor mir selber..." Seine Hand zitterte immer noch. "Es ist das Schwert der Macht", sagte der Drache. "Du hast gespürt, was es bewirkt. Bisher war allerdings noch niemand so klug wie du, seiner Kraft sofort zu widerstehen... Dein Onkel hat die Gefahr glücklicherweise wenigstens noch rechtzeitig erkannt - beziehungsweise seine Frau hat sie erkannt, und er hat es bis heute nur ein einziges Mal benutzt, nämlich um mich zu seinem Wachhund zu machen..." Er seufzte tief. "Wie kam das?" wollte Coll wissen. Der Drache tat ihm auf einmal leid. "Was bist du eigentlich, und woher kommst du?" "Ich bin ein Nachtdrache. Vertrage kein Licht, darum lässt Perufil auch den Flur unbeleuchtet. Frag mich nicht, wie er mich aufgespürt hat - die meisten Menschen glauben ja nicht mal an unsere Existenz - jedenfalls kam er eines Tages in meine Höhle weit im Norden gestolpert, und bevor ich mich irgendwie wehren konnte, hatte er das Schwert gezogen und mir befohlen, mitzukommen. Hier hat er mich dann angekettet und mir aufgetragen, jeden zu töten, der versuchen sollte, hier einzudringen. Zum Glück finden nicht allzu viele Leute überhaupt heraus, wo die Schatzkammer liegt - der Idiot von Leibdiener vorhin war erst der dritte. Interessant ist allerdings, dass er bewaffnet war... dein Onkel scheint anzufangen, im Schlaf zu reden oder sowas." "Und ich?" wagte Coll zu fragen. "Warum hast du mich nicht...?" "Nun", grinste der Drache, "zunächst mal bist du nicht eingedrungen, sondern aus Versehen reingestolpert. Darum konnte ich dich in die Kammer lassen, ohne ungehorsam zu sein - auch Zauber müssen präzise ausgeführt werden... Außerdem gefielst du mir. Und du bist Perufils Verwandter, das macht die Sache einfacher. - Hilfst du mir zu fliehen? Heute ist ideal, es ist sogar Neumond. Der Schlüssel liegt im größten der Pokale da drin...?" Coll überlegte einen Moment. Er fing an, den Drachen zu mögen, aber... "Besteht nicht die Gefahr", begann er langsam, "dass mein Onkel das Schwert wieder nimmt, um sich eine neue Wache zu besorgen, und ihm dann ganz verfällt?" Der Drache kniff die Augen zusammen. "Hmm... 'verfallen' ist zwar kein besonders treffendes Wort - das Schwert selbst ist nicht böse, es verleiht nur Macht. Wenn jemand stark genug wäre, könnte er es wahrscheinlich auch für etwas Gutes benutzen. Aber du hast Recht, dein Onkel ist nicht stark genug und würde ein Tyrann werden, wenn er das Ding nochmal in die Hand bekäme... übrigens auch alle anderen Menschen, denen ich bisher in meinem Leben begegnet bin - und ich lebe schon sehr lange!" Coll dachte an die Gefühle, die in seinem Kopf entstanden waren, als er das Schwert in der Hand hielt - er selber war auch nicht stark genug. Er schüttelte das Grauen ab, das ihn erneut überfallen wollte, und fragte: "Und du?" "Ich? Ich könnte es ja nicht benutzen, also kann es mir auch keine Macht verleihen. Warum?" Coll antwortete nicht sofort, sondern holte zunächst den Schlüssel aus der Schatzkammer. Als er wieder herauskam, hatte er seine Gedanken gesammelt. "Dann nimm du es mit: leg es in deine Höhle, schmeiß es ins Meer - Hauptsache es kommt so schnell nicht mehr in die Hände eines Menschen!" Der Drache sah ihn an. "Du bist ein erstaunlicher Mensch!" Coll schwieg und schloss statt dessen die Eisenfesseln auf, die die Füße des Drachen an der hinteren Wand festketteten. Dann trat er beiseite und sah ihm zu, wie er die Tür durch zwei gezielte Feuerstöße verbreiterte, in die Schatzkammer trat und das Schwert mit einer Vorderklaue aufnahm. Dann kam er zurück und blieb vor Coll stehen. "Ich werde es vor der Insel Jarah ins Meer werfen. Niemand hat dort jemals den Grund erreicht." Einen Augenblick lang schwiegen sie beide und sahen sich nur an. Dann beugte sich der Drache zu Coll hinab, küsste ihn erneut auf den Scheitel und sagte: "Lebewohl, Coll Drachenfreund!" Die Wand neben der Geheimtür widerstand dem Drachenfeuer nur kurz, dann sank sie lautlos in sich zusammen. Der Drache schlüpfte hindurch. Coll kletterte hinterher, aber als er auf dem Flur ankam, war der Drache schon verschwunden. Er rannte zu seinem Zimmer zurück und öffnete das Fenster. Vor dem dunklen Himmel konnte er einen noch dunkleren Schatten erkennen, der in Richtung Norden davonflog. Coll blickte ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war und spürte, dass sein Leben in dieser Nacht eine entscheidende Wende genommen hatte. © Latsi
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