Die Dankbarkeit eines Drachen von Berni Mutzatko

Ich ging einen vorsichtigen Schritt weiter, dann noch einen... und nochmals einen. Schließlich war meine Hand nur noch wenige Zoll von ihm entfernt. 
Ich zögerte. 
War er das Risiko überhaupt wert? Sollte ich mich seinetwegen in Gefahr bringen? 
Aber ich musste irgendwas tun!

Ich konnte den armen Drachen doch nicht in dieser Falle lassen!
Andererseits, wenn jemand kommt, während ich ihn befreie, was dann?
Wenn ich mich jetzt nicht schnell entscheide, stirbt er vielleicht.
Ohne noch länger nachzudenken, beschwöre ich eine Zauberformel, mit deren Hilfe man magische Fallen aufhebt. Der Drache, es war noch ein ganz junger, seufzte erleichtert auf und mit einer tiefen wohlklingenden Stimme sagte er: "Ich danke dir, dass du  mein Leben gerettet hast. Ich stehe in deiner Schuld und werde mich noch erkenntlich zeigen. Zuvor allerdings muss ich zurück, die anderen werden sich wahrscheinlich schon Sorgen um mich machen." Mit diesen Worten fing er an, sich in die Luft zu erheben. Seine Flügel erzeugten einen kleinen Sturmwind, der mich zu Boden warf. 
Als der Drache weg war, hörte ich plötzlich den Donner mehrere Hufe. Die Ritter des Königs! fuhr es mir durch den Kopf, wenn die mich hier neben der leeren Falle finden, bin ich tot! Ich brauchte dringend ein Versteck. Weil mir nichts besseres einfiel, versteckte ich mich im Dickicht und wartete die Ankunft der Reiter ab. Ich hatte Glück, es waren nur drei, aber sie alle waren bis an die Zähne bewaffnet, so wie alle Ritter des Königs. Nun musste ich nur noch warten bis sie abgestiegen sind, dann konnte ich mir eines ihrer Pferde schnappen und damit fliehen. Sie stiegen ab... jetzt leise anschleichen... geschafft! Ich habe mir das nächststehende Pferd geschnappt und galoppiere los. Zu spät fällt mir ein, dass die Treue der Pferde ihren Herren gegenüber genauso groß ist, wie die der Ritter dem König. Wie auf Befehl warf mich das Pferd von seinem Rücken und blieb auf seinen Herren wartend stehen. Unsanft landete ich ihm Gras; mir tat alles mögliche weh. Als ich versuchte aufzustehen, tauchte vor meiner Nase ein Schwert auf. Erschöpft und auf den Tod wartend ergab ich mich meinem Schicksal. Aber statt mich gleich umzubringen, und mir somit noch schlimmeres zu ersparen, fesseln die Ritter mich und schleppen mich vor ihren König.
"Majestät! Wir haben hier einen Zauberer gefunden, der den Drachen, der euch in die Falle ging, entkommen ließ. Wie lautet euer Urteil?" fragt einer der Ritter. Mit einem zornigen Blick antwort der König in meine Richtung: "Du weißt ganz genau, dass es bei Strafe verboten ist, meine gejagte Beute anzurühren, geschweige denn zu befreien! Dafür kann es nur eine Strafe geben: Übergebt ihm den Kerkermeister!" Nun wurde ich in einen großen unterirdischen Raum mit allerlei Folterinstrumenten gebracht. Unsanft werde ich in die Mitte des Raumes gestoßen und sehe einen kleinen, kräftigen Mann mit irrem Blick und einem sadistischen Lächeln auf mich zu kommen, es war der Kerkermeister! Im Dorf wurden viele Geschichten über ihn und seine Foltermethoden erzählt, aber ich dachte, das sei alles nur Unsinn, ausgedacht von den Leuten des Königs, um andere abzuschrecken. Aber nun sollte ich am eigenen Leibe erfahren, wie war diese Geschichten sind...

Ich weiß nicht, wie lange ich diese Qualen nun aushalte oder wie lange ich sie noch aushalten werde! Sie treiben mich in den WAHNSINN! DIESE SCHMERZEN!!! Und immer noch werden die dröhnenden Folterinstrumente benutzt, immer noch hat sich keiner von beiden erbarmt meinen Schmerzen ein Ende zu bereiten, weder der Kerkermeister noch der Tod! Ich wünschte, ich würde endlich an diesen Qualen zugrunde gehen als sie noch länger ertragen zu müssen! Ich werde noch wahnsinnig!! Ich kann schon keinen klaren Gedanken mehr fassen, ich sehe plötzlich die Gasse, in der ich aufgewachsen bin, klar vor mir. Ich sehe meinen Vater, meine Mutter, meine Geschwister, aber sie verschwinden, werden von der Dunkelheit geschluckt. DUNKELHEIT, GNÄDIGE DUNKELHEIT, UMFANGE MICH, NIMM MICH IN DEIN REICH, MACH MICH ZU EINEM TEIL VON DIR!!! ICH WILL NICHT MEHR LEBEN!!!

Was ist das für eine Stimme die mich ruft?
Sie ist angenehm, tief und wohlklingend, es ist die Stimme des Drachen, den ich gerettet habe. Wie lange mag das wohl schon her sein? Einen Tag, zwei Tage, drei Tage, vielleicht auch schon mehrere Wochen? Ich weiß es nicht. 
Ich fange an zu verstehen, was er sagt: "Junger Zauberer, der mein Leben rettete, dem ich Dank versprach. Weil du mein Leben rettetest, bist du gestorben. Jetzt rette ich dein Leben und begleiche meine Schuld. Dein Körper ist allerdings durch die Folter unbrauchbar geworden, also werde ich dir einen neuen schenken. Du sollst als Drache in meinem Volk wiedergeboren werden. Bestimmt sehen wir uns also bald wieder!"
Plötzlich verstummte die Stimme und ein angenehmes Gefühl breitete sich in mir aus.

Ich öffnete vorsichtig die Augen. Das erste was ich sah, war eine große Schnauze, hinter der ein freundliches Augenpaar auftauchte. Ich begann zu verstehen: Ich war der erste Mensch, der als Drache wiedergeboren war, aber noch wusste, dass er einmal ein Mensch war. Doch ich werde diese Erinnerungen verdrängen und mein neues Leben als Drache genießen und ich werde dem Drachen, den ich damals rettete, ewig dankbar sein.
 
 

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