Der schwarze Drache von Dragnore

"Was zum Kuckuck ...", fluchte sie leise und zog lautlos ihr Schwert. Gerade eben war er noch da, dachte sie, während sie vorsichtig hinter der niedrigen Mauer hervorspähte, hinter der sie sich gerade geduckt hatte. Sie erblickte nur den friedlich vor sich hinplätschernden Bach, der quer über die Waldlichtung floss. Nichts erinnerte mehr daran, dass dort vor kurzem noch ein großer schwarzer Drache gesessen hatte. Elma hatte ihre Aufmerksamkeit nur kurz einem stacheligen Gestrüpp gewidmet, das sich um ihre nackten Knöchel verfangen hatte und nun war dieses Monster weg. 
Die Kriegerin war ausgesandt worden, den schwarzen Drachen zu töten. Er war, wie es ihr die Feen und Calipso - der königliche Zauberer - erklärt hatten, einer der schrecklichsten und hinterhältigsten seiner Art. Der Magier hatte ihr von der Verwüstung, die er unter den Einhörnern und Feen angerichtet hatte, erzählt. Die Menschen schien er bisher jedoch zu meiden. Als Elma die Feen einst darauf angesprochen hatte, meinten sie, dass sie sich darauf selbst keinen Reim machen könnten, aber vermuteten, dass er nur vortäuschte, sie zu meiden und in Wahrheit die Kinder der verschiedenen Dörfer verfluchte und die Brunnen vergiftete.
Elma hatte bisher den Drachen schon seit einigen Wochen verfolgt, aber bisher nichts von solchen Tätigkeiten gemerkt.

Wie auch immer ... nun schien sie ihn wieder aus den Augen verloren zu haben. Sie sah sich nochmals um und beschloss schließlich, hinter der Mauer hervorzukommen und die Spuren des Drachen zu suchen. Er konnte ja nicht einfach so verschwunden sein. 
Plötzlich hörte Elma hinter sich das knicksen eines Zweiges. Sie wirbelte herum und schwang ihr Schwert mit sich. Hinter ihr befand sich der Drache der die Kriegerin scheinbar neugierig inspiziert hatte, denn sein Kopf war relativ nahe bei ihr. So traf sich auch Elmas Klinge auf der Schnauze und hinterließ dort einen tiefen Kratzer.
Die schwarze Echse zog erschrocken seinen Kopf zurück und blickte Elma mit seinen golden glitzernden Augen vorwurfsvoll an. "Aua!" fauchte er und rieb sich mit einer Pranke das verletzte Körperteil, "Ich glaub, du spinnst! Ich hab dir doch nichts getan."
Elma blickte den Drachen fassungslos an. Sie hatte nie gedacht, dass der Drache sprechen könnte.
"Übrigens wieso verfolgst du mich schon seit einer ganzen Weile?" Der Drache musterte die Kriegerin mit einem äußerst kritischen Blick. Als Elma nach einer Weile immer noch nichts sagte, fügte die schwarze Echse sarkastisch dazu: "Sag mal, kannst du überhaupt sprechen? Ich meine, bisher habe ich selten Menschen erlebt die so lange so stumm blieben. Meistens sagten sie Dinge wie: 'Aaaaaa ... flieht!' oder 'Der Drache kommt! ... Rette sich wer kann!', manche Mutige meinten auch: 'Scher dich hinfort, du Ungeheuer!', bevor sie davonliefen."
Langsam fasste sich Elma wieder ... ein sarkastischer Drache, das war mal was Neues. "Also, ich kann sprechen."
Die Echse blinzelte zufrieden. "Na, also ... Wieso verfolgst du mich?"
Die Kriegerin war immer noch so fassungslos, dass ihr nichts besseres einfiel als die Wahrheit. "Ich soll dich töten."
Der Drache blickte sie skeptisch an. "Na, das hab ich mir fast gedacht. ... Und wieso willst du mich töten? ... Ich meine, habe ich einem Wesen deiner Art je was zu leide getan?"
Elma fasste sich langsam wieder. Das muss eine List des Drachen sein, dachte sie sich. "Ihr Dachen seid Ausgeburten der Hölle. Ihr lebt um zu Zerstören und um zu Töten."
Die große Echse blinzelte und reckte sich unter dem Sonnenlicht. Scheinbar schien er die Kriegerin nicht für eine besonders große Gefahr zu halten. "Weißt du eigentlich, dass ich diesen Bach hier mit einem Atemhauch zum Kochen bringen könnte, geschweige denn, dass ich dich einfach braten könnte? Es wäre nicht einmal anstrengend." Nun begann der Drache, wie ein alter Mann, der zufrieden seine Pfeife genießt, Rauch auszustoßen. "Außerdem", setzte er fort, "könntest du mich mit diesem Schwert sowieso schwer töten. Es ist viel zu kurz, als dass es wichtige Organe treffen könnte, wenn wir einmal annehmen, dass es nicht an meinen Schuppen abspringt. Ich meine, bei einem Speer würde die Sache zwar nicht viel anders aussehen, aber du hättest ein wenig mehr Chancen." Die Echse begann Rauchkringel zu blasen. "Außerdem würde ich mich freuen, wenn du mir sagst, warum du der irrsinnigen Ansicht bist, dass wir nur leben, um zu töten und zu zerstören. Ich meine, ich habe nie ein Dorf, geschweige denn eine Stadt der Menschen zerstört oder nur angegriffen."
Elma blickte den Drachen zornig an. "Warum jagt ihr dann die Feen und Einhörner?"
Der Drache schüttelte bedächtig den Kopf. "Ihr Menschen urteilt wirklich immer sehr schnell. Wahrscheinlich habt ihr euch nicht einmal Gedanken darüber gemacht, wieso wir das machen. Nichts geschieht ohne Grund, weißt du? In diesem Fall stellt sich übrigens auch die Frage, wer hier wen jagt. Die Elfen zerstören nämlich regelmäßig unsere Nester und stehlen unsere Eier. Dabei werden sie von den Einhörnern unterstützt, die sich außerdem immer wieder einen Spaß daraus machen unsere Jungen zu töten, wenn die Eltern auf Nahrungssuche sind. Außerdem zählen sie zu den Beutetieren der wirklich alten Drachen. Wie bei euch Rind oder Schwein gegessen wird, essen wir eben hin und wieder Einhörner. Ich meine, das ist zwar ein wenig auch aus Rache, aber würdest du nur so daneben stehen bleiben, wenn du siehst, wie dein Nachwuchs getötet wird?" 
Elma schüttelte den Kopf, sie konnte das nicht glauben. "Wie kannst du so etwas behaupten? Warum sollten sie so etwas tun?"
Der Drache funkelte sie an. "Hast du eigentlich gewusst, dass Feen und eure Zauberer beim ausüben von Magie Lebensenergie verbrauchen? Glaubst du wirklich, dass eure Magier oder die Elfen wirklich so viel Leben von der Natur vorgesehen haben, wie sie beim Zaubern verbrauchen? Nun ... möchtest du wissen, wie viel Lebensenergie ein einziges Drachenei enthält? Das Ei eines Lebewesens, das Millionen von Jahren leben kann." Elma wollte dies gar nicht wissen. Das schien die Echse zu bemerken. Der schwarze Drache blickte die Kriegerin interessiert an. "Weißt du, was ich mich bis vor kurzem immer fragte? Wieso zieht ihr Menschen für diese Feen in den Krieg? Bisher fand ich dafür keine wirkliche Lösung. Ich meine, wieso eure Zauberer zu diesen Wesen halten ist mir klar, sie bekommen von den Feen die Lebensenergie, die sie für ihre Zaubereien brauchen. Doch die anderen Menschen haben eigentlich nicht wirklich einen Grund, zu ihnen zu halten. Das ist auch der Grund, wieso ich euch bisher nicht angegriffen habe, wenn ihr mich in Ruhe gelassen habt." 
Mit diesen Worten setzte sich die Echse auf und erhob sich mit kräftigen Flügelschlägen vom Boden. Die Kriegerin blickte ihr lange nach. Selbst als der schwarze Drache hinter den Bergen verschwunden war, blickte sie weiter in diese Richtung. Nun hatte sie viel, über das sie nachdenken sollte.
 

© Dragnore
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