Die letzten Tage Morias von Pan-ara und Xannaven

"Ich fürchte, mit seiner schönen Handschrift konnte Oris nur schlimme Nachrichten festhalten", sagte Gandalf. "Das erste deutliche Wort ist Leid, der Rest der Zeile unleserlich, aber das Ende vielleicht stern, vermutlich gestern, am zehnten November ist Balin, der Herr von Moria, im Schattenbachtal gefallen. Er ging allein zum Spiegelsee, um hineinzuschauen, wurde von einem Ork erschossen, der hinter einem Stein versteckt lag. Wir erschlugen den Ork, aber viele andere ... von Osten am Silberlauf entlang.
Die restlichen Seiten sind so verwischt, dass ich kaum noch etwas erkennen kann, aber hier ist die allerletzte." Er schwieg und seufzte.
"Schlimm zu lesen!", sagte er. "Ich fürchte, sie haben ein grausames Ende gefunden.
Hört zu! Sie haben die Brücke und die zweite Halle genommen. Wir haben das Tor versperrt, können es aber nicht lange halten. Die Erde bebt. Trommeln, Trommeln in der Tiefe. Wir können nicht hinaus. Ein Schatten bewegt sich in der Dunkelheit. Wir können nicht hinaus."
Gandalf blickte auf die letzten drei Worte in dem Buch in seiner Hand. Es war ein hastiges Gekritzel. "Sie kommen!"
 
  
Der obenstehende Abschnitt ist dem Buch "Der Herr der Ringe - Die Gefährten" (neue Übersetzung) entnommen, und zwar dem 5. Kapitel des 2. Buches: "Die Brücke nach Khazad-dûm".
© by J.R.R. Tolkien / deutsche Ausgabe © by Verlag "Klett-Cotta".
Die Autoren der nachfolgenden Geschichte machen sich obigen Auszug selbstverständlich nicht zu eigen.
Selbiges gilt sinngemäß für einen Teil eines entsprechenden Abschnitts (der Oris' Aufzeichnungen nochmals enthält) der nachfolgenden Geschichte, sowie für alle von J.R.R. Tolkien kreierte Namen.
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* * *

Es war ein angenehmer Tag, zumindest, wenn man bedachte, dass es schon November war. Die Wolken hatten sich erbarmt und eine schöne, große Lücke gelassen, wodurch die Sonne ihre Strahlen der Erde entgegenstrecken konnte. Das geschah zu dieser Jahreszeit hier im Nebelgebirge eher selten und so hatte sich Balin Fundinssohn, Herr von Moria seit schon fast fünf Jahren, entschlossen einen kleinen Spaziergang im Schattenbachtal zu machen.
Das stimmte nicht ganz. Nicht er hatte sich entschlossen, sondern seine Frau hatte energisch entschieden, dass er an die frische Luft zu gehen hatte.
Schmunzelnd dachte er an die kleine, etwas rundliche Zwergenfrau1, die, puterrot angelaufen und die Hände in die Hüften gestemmt, ihm liebevoll (soll heißen etwas lauter als es unbedingt nötig war) klarmachte: "... schon viel zu lange nur mit deinem Papierkram beschäftigt... keine Zeit für nichts und niemanden... Sag´ mal, Balin, wann warst du eigentlich das letzte Mal an der frischen Luft?"
Er wäre doch erst im Mai draußen gewesen und ob es wirklich nötig wäre, dass er sich vom warmen Höhlenfeuer wegquälen musste, hatte er geantwortet.
Eine Sekunde später war ihm klar geworden, dass er das besser nicht gesagt hätte...
Aber wenn er jetzt schon mal draußen war, konnte er die (unfreiwillige) Gelegenheit auch genauso gut nutzen, um dem Spiegelsee einen Besuch abzustatten.
Der Spiegelsee war kein normaler See. In alten Sagen hieß es, der See sei das Verbindungstor zum Reich zwischen den Welten, da wo die geheimnisvollen Raum- und Zeitwächter existieren sollten. Ob diese für Balins Geschmack viel zu weit hergeholten Wesen wirklich lebten oder bloß das Hirngespinst eines auf den Kopf gefallenen und vollkommen wahnsinnigen Zwerges waren, was seiner Meinung nach zutraf, darüber ließ sich streiten. Und Balin gewann solche Streitereien immer. Er war es auch gewesen, der das alte Verbot seines Vaters, Fundin Kralssohn, der tragischerweise schon vor fünfzehn Jahren verstorben war, wieder hatte aufleben lassen: Jeder Zwerg, der ohne die bei Balin Fundinssohn, Herr von Moria, zu holende Genehmigung in der Nähe des Spiegelsees angetroffen wird, der soll sich gefälligst nicht wundern, wenn sein Hab und Gut, mit samt seiner Familie (falls er denn eine besäße) verbrannt wird, aufgrund der unheimlichen Beeinflussung des Geistes jedes Wesens durch den auf Ewigkeit verdammten See. Der Zwerg, der dieses Gebot der Zwergengötter missachtet, verleugnet oder belächelt, wird für vogelfrei erklärt und auf seinen Kopf eine Belohnung von 1.000 Kaaluna ausgesprochen.
Zwergenfrauen ist es verboten, den Spiegelsee überhaupt zu erwähnen. Sollten sie es trotzdem wagen, diese unverzeihliche Tat zu begehen, werden sie sofort und ohne Gerichtsverhandlung hingerichtet.

Dieses Gesetz hielt Balin selber jedoch nicht davon ab, den Spiegelsee zu besuchen und auch hineinzusehen. Auch hielt er es für angebracht, erst gar keine Genehmigungen auszugeben, denn so hatte er den See ganz für sich und konnte seinem Geheimnis Schritt für Schritt näher kommen (auch wenn er natürlich nicht daran glaubte, dass es besagtes Geheimnis überhaupt gäbe).
So schlitterte er jetzt eine kurze, mit kleinen Bäumen und Büschen bewachsene Senke hinunter und kniete am sandigen Ufer des Sees nieder. Das Licht brach sich an seiner Oberfläche, was den Spiegelsee in tausend Farben schimmern ließ. Dieser farbige Schein erstreckte sich aber nicht nur im Wasser des Sees, sondern schien auch in der Luft zu liegen, förmlich von der Erde herum aufgesogen zu werden. Die Pflanzen in der Senke waren immer grün, selbst im Herbst und im tiefsten Winter. An dieser Stelle hatte es nie geregnet, Schnee erreichte nicht den Boden und die Sonne zögerte jedes Mal zur Zeit der Dämmerung endgültig die Senke zu verlassen.
Doch Balin war zu realistisch, um diese Zeichen zu erkennen. Für ihn waren die Bäume kahl, die Früchte nicht vorhanden und der Schimmer über dem See nahm für ihn die Gestalt von Nebelschwaden an. Das Wasser schien trüb und farblos.
Langsam beugte sich Balin über das Wasser und blickte seinem Spiegelbild ins Gesicht.
Wäre er nicht so vernarrt in sein eigenes Antlitz gewesen, hätte er das knacken der Zweige hinter ihm gehört und das Schleifen, das ein Pfeil verursacht, wenn er aus einem Köcher gezogen wird. Doch der Spiegelsee hat so seine Tücken und Balin, der sehr vernarrt in sein Aussehen war, sah genau das, was er sich wünschte - einen gut aussehenden, sich in den besten Jahren befindenden Zwerg.
Plötzlich spürte er ein scharfes Stechen unterhalb seiner rechten Schulter. Es war wie ein brennendes Ziehen, ein Schmerz, wie er ihn selbst in der grausamsten Schlacht nie gespürt hatte. Er merkte wie ihm die Sinne schwanden. Vor seinen Augen begann sein vorhin noch so schönes Gesicht zu verzerren und zu verschwimmen. Schwarze Kreise begannen sich zu drehen. Immer schneller und schneller. Mit letzter Kraft drehte er sich um und blickte in das schleimige und Ekel erregende Gesicht eines Orks, der ihn mit einem breiten Grinsen anstarrte, den Bogen in der Hand.

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In der Küche regte sich Quina Fundinssohn fürchterlich auf. Bambini hatte ihr beim Tischdecken geholfen, als Bambaramba und Bambazamba herein gesaust kamen und Bambini vor Schreck die Teller fallen ließ. Das war ein Grund, um mal wieder so richtig loszulegen und Quina galt nicht als eine Frau, die sich von Männern in die Schranken weisen ließ - und schon gar nicht von ihren minderjährigen Söhnen.
"Rambazambanochmal! Jetzt ist endgültig Schluss, wie oft hab´ ich euch gesagt, ihr sollt nicht so herumtoben. Hab´ ich’s oder hab´ ich’s nicht, he?"
Stille.
"Antwortet gefälligst, wenn ich mit euch streite!!"
"Aber Mama ..."
"Mama wir ..."
"Ruhe! Nicht alle auf einmal! Wie oft hab´ ich euch gesagt ..."
"Ehm, Mama?", Bambini meldete sich zu Wort, indem sie an der Schürze ihrer Mutter zupfte und ihr eine Kehrschaufel mit Porzellansplittern unter die Nase hielt.
"Ich bin fertig damit. Ach ja, und bevor ich’s vergesse, du sagst doch immer, die Nachbarn würden so neugierig sein. Vielleicht solltest du nicht ganz so laut schreien."
"Ja natürlich, Schatz. Ich werd´s mir merken!!"
Aus der Großen Halle kamen erstickte Schreie und gleichzeitig erzitterte die Erde.

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"Boss! Boss!", schallte es von den Hängen des Nebelgebirges, "BOOHOOSS!"
"Schrei nicht so! Willst du, dass direkt ganz Mittelerde weiß, dass wir vom HERRN DER DUNKLEN MÄCHTE ausgesandt wurden, die Zwerge auf alle Ewigkeit auszurotten, oder was? Und nenn´ mich nicht Boss, ich bin Kom-man-dant. Ich frage mich, wann das endlich in deinen strohgefüllten Kopf hinein geht, Obergefreiter!"
"Ich nie nichts getan."
"Ach sei doch still. Ist Hauptmann Kresdjhe2 schon wieder zurück?"
"Ich nichts sollen sagen. Du gesagt!"

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Hauptmann Kresdjhe trat an den Rand des Spiegelsees.
Der See lag wieder spiegelglatt und glänzend-klar vor ihm. Von Balin Fundinssohn war nichts mehr zu sehen außer seinem Helm, der eigenartigerweise ohne Wellen zu verursachen auf dem Wasser schaukelte. Hauptmann Kresdjhe beugte sich übers Wasser und fischte den Helm mit seinem Bogen heraus, hielt ihn triumphierend mit beiden Händen über den Kopf und stieß einen Siegesschrei aus.
Das Echo schallte von den Bergen zurück und zehntausende Stimmen antworteten.

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Oris, Schriftführer der "Geschichte Morias und ihrer Herrscher", setzte einen Punkt hinter den zuletzt geschriebenen Satz, legte die Feder beiseite und schlug mit einem Seufzer das Buch zu. Eine Staubwolke bahnte sich einen Weg durch die teilweise schon verblassenden Seiten nach draußen und verteilte sich auf dem Tisch.
Die Staukörner fingen an zu hüpfen.
Schuld an der ganzen Aufregung war der Haustroll Tritino.
Er kam in die große Halle gestürmt und brüllte andauernd: "Miss Quina, Miisss Quuiinaaaa!!"
Dabei stürzte er rücksichtslos durch die Menge und rannte einige Zwerge über den berühmten Haufen. Ein paar vorlaute Zwerge wollten aufbegehren, doch in diesem Moment erschien Quina im Eingang zur Großen Halle.
"Verdammt noch mal, was ist das für ein riesen Lärm? Kann mir das mal jemand erklären? Rambazambanochmal?"
"Wir warn´s doch gar nicht!", sagten Bambaramba und Bambazamba mit Unschuldsmiene.
"Der Troll war´s!", schrieen mehrere Zwerge und deuteten anklagend auf einen im Boden versinken wollenden Tritino. "S-s-sie ste-stehen vor d-den T-toren und w-wollen m-mit Mi-Miss Quina re-reden."3

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Quina stand mit ihrem Schreiber Oris vor den Toren Morias. Zwei ihrer besten Krieger (die es nicht gewagt hatten ohne große Axt, Armbrust, frisch geschärften Schwertern und versteckten Messern in nicht vorhandenen Socken den Orks gegenüberzutreten) begleiteten sie.
Sie erwarteten den Kommandanten der Orks, der gerade den schlammigen Weg herunterkam, und dabei heftig mit einem seiner Obergefreiten stritt. Er gestikulierte wild mit seinen Armen, rutschte aus und kam am Ende des Weges schimpfend wieder auf die Füße.
Quina konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, doch das Lachen blieb ihr im Halse stecken, als sie sah, dass der Ork jetzt vor Zorn blitzend auf sie zukam. Er hielt einen Helm in seinen massigen Händen.
Balins Helm!
Auch Oris neben ihr bemerkte den Helm in den Händen des Orks und zog erschrocken die Luft ein. Er wusste, Balin hütete seinen Helm wie einen Schatz und würde ihn nie freiwillig hergeben. Wenn, dann nur über seine Leiche.
Die Erkenntnis traf ihn wie einen Schlag vor den Kopf und er war zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig. Vor seinem imaginären Auge erschien immer wieder das in leuchtend blutroten Lettern geschriebene Wort TOD

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Nach den Verhandlungen (bei denen nicht gerade leise zugegangen war - Quina hatte es nicht geschafft einen Satz ohne "Rambazambanochmal" zu Ende zu bringen) saß die vorhin noch so stark erscheinende Quina nun aufgelöst und zu einem Häufchen Elend zusammengesackt am Küchentisch.
Oris stand neben ihr und tätschelte unbeholfen ihre Schulter. Die Kinder hockten, die Knie mit den Armen umschlungen, trübselig auf dem Boden. Die Verhandlungen waren nicht so schlecht gelaufen, wie sie es erwartet hatten.
Sie waren viel schlechter gelaufen.
Der Kommandant der Orks hatte beschlossen die Zwerge zu informieren, dass sie bald nicht mehr auf dieser Erde sein werden und ihre Äxte zukünftig nur noch im Jenseits schwingen werden. Zu guter Letzt hatte einer der Obergefreiten sich verplappert und verraten, wer Balin getötet hatte. Danach war es zu einem Tumult gekommen, bei dem der besagte Ork erschlagen wurde.

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"DU VERDAMMTER HORNOCHSE, MADIGER ZWERG!"
"Ich sein kein Zwerg, ich sein Ork, bööser Ork!"
Eine Flut von Schimpfwörtern, die aus anstands- und altersbedingten Gründen hier nicht wiedergegeben werden können, brach aus der Kehle des Kommandanten hervor.
"Obergefreiter, machen Sie sich nützlich und rufen Sie die Truppen zusammen! Wir brechen sofort auf, ich bin stinkSAUER!
Und außerdem, ich befördere Sie hiermit zum Hauptmann! Mit anderen Worten: Sie bleiben während des Angriffes im Zelt. Trinken Sie die drei Fingerhüte Knieweich4, die im Zelt stehen und rühren Sie sonst nichts an."

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"Miss Quina, Miss Quina!", schallte es schon zum zweiten Mal an diesem Tage durch die Große Halle. Die Köpfe einiger neugieriger Zwerge lugten wie auf Befehl hin aus ihren Wohnungen.
Oris hörte das Geschrei, blickte noch einmal kurz zu Quina, die, immer noch abgetreten und nicht ansprechbar auf ihrem Stuhl saß, und schritt aus der Küche in Richtung Große Halle. Auf halbem Wege stürmte ihm einer der Krieger entgegen, der Das Tor von Moria bewachen sollte, scheinbar seine Aufgabe aber ein wenig vernachlässigte.
Oris wollte schon eine passende Standpauke abhalten, jedoch blieben ihm die Worte irgendwo auf dem Weg zum Mund stecken, so dass nur noch ein erschrockenes Keuchen zu hören war.
Der Krieger fiel.
Angstschweiß klebte auf seiner Stirn.
Aschfahl sank er in Oris´ Arme.
Zwei Pfeile steckten in seinem Rücken.
Mit brechender Stimme röchelte er die Worte: "Sie kommen!"
Blut lief aus seinem Mund.
Dann war es still.
Zu still.

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Gestern, am zehnten November, ist Balin, der Herr von Moria, im Schattenbachtal gefallen. Er ging allein zum Spiegelsee um hineinzuschauen, und wurde von einem Ork erschossen, der hinter einem Stein versteckt lag. Wir erschlugen den Ork, aber viele andere kamen heute von Osten am Silberlauf entlang.
      Alle Frauen, Kinder und kampfunfähigen Bewohner Morias wurden durch einen geheimen Gang in Sicherheit gebracht, der jedoch kurze Zeit später einstürzte.
Die übrigen Krieger versammelten sich und versuchten die Tore von Moria zu halten. Jedoch wurden sie von der überwältigenden Anzahl der Orks zurückgedrängt. Die Krieger, die diesen Angriff überlebt hatten, flüchteten über die Brücke tiefer in die Gewölbe von Moria hinein.
      Sie haben die Brücke und die zweite Halle genommen. Wir haben das Tor versperrt, können es aber nicht lange halten.
Die Erde bebt.
Trommeln, Trommeln in der Tiefe.
Wir können nicht hinaus.
Ein Schatten bewegt sich in der Dunkelheit.
Wir können nicht hinaus.

            Sie kommen!

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Oris blickte von seinem hastigen Gekritzel auf. In diesem Moment durchbrachen die Orks das Tor zur großen Halle. Die Torflügel krachten mit einem lauten RUMS gegen das Gestein der Wände. Putz bröckelte von der Decke. Die Erde erzitterte, als eine Sintflut von Orks versuchte sich auf einmal durch das entstandene Loch zu quetschen. Bei diesem Versuch ließen einige ihr Leben.5
Selbstlos stürzten sich die Zwerge ins Getümmel und die Verzweiflung gab ihnen noch mal zusätzlichen Mut.
Zuerst sah es nicht schlecht für sie aus. Ihre Äxte wüteten unter den Orks wie ein Wirbelsturm unter Bäumen.
Doch es waren zu viele.
Für einen Ork, der fiel, schienen vier neue aus dem Nichts aufzutauchen.

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Oris klappte hastig das Buch zu, klemmte es sich unter den Arm und brachte sich in einer Nische in Sicherheit. Von dort betrachtete er mit weit aufgerissenen Augen das Gemetzel. Die schier unendliche Zahl der Orks machte sich zunehmend schnell bemerkbar. Immer mehr Zwerge fielen den Angreifern zum Opfer.
Oris versuchte noch "Die Geschichte Morias und seiner Herrscher" weiterzuschreiben, doch er brachte es einfach nicht über sich. Er konnte nicht aufschreiben, wie der Schmied Andru, mit dem er gestern noch ein Glas Met beim Kartenspiel getrunken und mit dem er gelacht hatte, als Bambavroni einen Witz erzähle, gegen vier Orks auf einmal kämpfte. Mit einem Schwert in jeder Hand hielt er sie sich vom Leib.
Auf einmal traf Andru ein Pfeil in die Brust und Oris sah, wie er fiel. Einer der Orks zögerte nicht lange und enthauptete Andru mit seiner Axt.
Tränen rannen Oris über die Wangen als er das schmerzverzerrte Gesicht abwandte. Ihm kam das alles wie ein entsetzlicher Traum vor und gleichzeitig fühlte er sich wie ein Verräter. Hier in der Ecke zu sitzen, an einem sicheren Ort, während die anderen versuchten Moria zu verteidigen und dabei ihr Leben aufs Spiel setzten.
"Hallo kleiner Zwerg!", hauchte eine Stimme in sein Ohr, die klang, als ob jemand mit den Fingernägeln über eine Schiefertafel fahren würde.
Hastig drehte er den Kopf.
Ein Ork stand über ihm.
"Wasn? Hat dir mein Anblick etwa die Sprache verschlagen?"
Nachträglich und ein paar Sekunden zu spät improvisierte er eine entsetzte Miene. Er musste Zeit gewinnen. Unbedingt!
Langsam tastete er mit seiner rechten Hand nach dem Messer, das Balin ihm einmal geschenkt hatte.
Plötzlich gewahrte er einen erstaunten Ausdruck auf dem Gesicht des Orks. Dieser öffnete seinen mit faulenden Zähnen besetzten Mund zu einem stummen Schrei und schwankte drohend. Oris brachte sich mit einer kühnen Rolle aus der Fallrichtung. Genau dort, wo er eben noch gelegen hatte, schlug der Ork Staub aufwirbelnd auf den Boden auf. Eine Axt steckte in seinem Rücken.
Oris dankte dem Zwerg, der die Axt geworfen hatte, mit einem Kopfnicken, hob das Schwert eines Gefallenen auf und blickte sich um.
Ihm war klar geworden, dass er sich nicht ewig verstecken konnte, und raffte das letzte Quäntchen Mut, welches er wundersamerweise noch besaß, zusammen und stürzte sich mit erhobenem Schwert auf die Orks. Er wusste, er würde sterben. Doch wollte er so viele dieser widerlichen Kreaturen mit in den Tod nehmen, wie es nur ging.

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Mittlerweile blutete er aus einem dutzend Wunden und kämpfte verbissen gegen die aufkeimende Übelkeit an.
Er spürte wie Müdigkeit seinen Körper zu übermannen drohte.
Kälte kroch in ihm hoch und hüllte ihn in einen Mantel aus tausend Eiskristallen.
Bald würden die Krallen des Todes nach ihm greifen und ihn in das unendliche Dunkel der Tiefe ziehen.
Er sah, wie die letzten zwölf Zwerge die Orks reihenweise niedermachten; und dennoch war es aussichtslos. Die Krieger waren verletzt und müde - die Orks nicht.
Vor Oris Augen begann sich die Welt zu drehen und die Sicht zu verschwimmen. Er gewahrte noch einen drohenden Schatten auf sich zukommen, dann spürte er eine eiserne Klinge auf seiner Brust. Er merkte, wie der kalte Stahl in sein Herz eindrang, aber es tat nicht einmal mehr weh.
Oris, der königliche Schreiber, war tot.

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Quina blickte sich nervös um. Die Orks hatten die entfliehenden Zwerge trotz der Vorsichtsmaßnahmen, die getroffen worden waren, entdeckt.
Nun rannte Quina mit ihren Kindern und den anderen Flüchtlingen von den Orks getrieben den Abhang des Spiegelsees hinunter.6
Schlitternd kamen sie, die Hacken in den Boden gestemmt und Sand vor sich herschiebend, vor dem riesigen See zum stehen.
Es gab keinen Ausweg.
Die Orks hatten sie schnell eingeholt und kreisten sie nun von drei Seiten her ein.
Quina sah keinen anderen Ausweg mehr als zu schwimmen. Die Aussicht, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen, war mehr als gering.
Es war schlicht und einfach unmöglich.
Einige Zwerge waren schon auf dem Weg ins Wasser, als Quina auch ihren Kindern und den noch verbliebenen Zwergen zurief, sie sollten sich gefälligst ins Wasser begeben und um ihr Leben schwimmen. "Aber fix, rambazambanochmal!!"
Die Masse von verängstigten Zwergen stürzte sich kopfüber ins Wasser - diejenigen, die nicht schwimmen konnten, wurden einfach mitgezogen.
Die letzten Bedenken den Spiegelsee nicht betreten zu dürfen, wurden schlagartig in den hintersten Winkel des Bewusstseins gedrängt, als ein Hagel von Pfeilen auf die Zwerge niederprasselte.
Auf einmal schlugen Blasen aus dem Wasser und ein Plötzlich entstandener Sog zog die Zwerge hinunter.

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Man stelle sich einen Raum vor, einen schwarzen unendlichen Raum, der so groß ist, dass die Wände nicht zu sehen sind.
Man stelle sich eine Kälte vor, eine Kälte, die in die Knochen dringt und den Atem gefrieren lässt.
Man stelle sich ein helles gleißendes Licht vor, das sich einen Weg in diese schwarze Leere sucht, ohne dass es die Dunkelheit jedoch in irgendeiner Weise verdrängen könnte.
Man stelle sich vor, dass dieses fast weiße Licht sich durch die Unendlichkeit bewegt, langsam, unaufhaltsam und stetig auf einen zu.
Man stelle sich vor, dass das Licht plötzlich in millionen Strahlen auseinander bricht und kurz darauf implodiert.
Man stelle sich vor, dass man in das in sich zusammenfallende Licht gesogen wird.
Man stelle sich eine Sonne vor, die vom Himmel strahlt.
Denn genau das sah Quina.
Sie befand sich im Wasser, wunderschönes klares, blaues Wasser, das einen übersinnlichen Schein verbreitete.
Die Sonne trug zu dieser Atmosphäre bei, denn ihre Strahlen schienen ungeheuer mildes Licht der Erde entgegen zu tragen.
Quina schaute sich um und gewahrte andere Zwerge, die aus dem Wasser tauchten, doch noch lange nicht so viele, wie es hätten sein müssen.
Diejenigen, die sich im ersten Moment verdattert umgeblickt hatten, schwammen hastig ans Ufer. Quina tat es ihnen gleich. Das Gewässer schien sich um einen riesigen See zu handeln. In seiner Mitte erhoben sich zwei hohe Berge, die in der Mitte schmal waren und nach oben und unten immer breiter wurden. Quina erinnerte diese Formation an zwei Sanduhren.
Beide waren durch eine Brücke miteinander verbunden. Auf der kleineren sah sie auf einer 
Erhebung eine Art Tempel oder Kapelle; auf der anderen eine ganze Stadt, dessen Architektur Quina an ihrem Verstand zweifeln ließ. Sie zog gerade Bambinia an Land, als Bamaramba und Bambazamba aus vollen Kehlen kreischten.
"Hey Mama! Guck mal! Da kommt jemand!"
Quina vergaß ganz "Rambazambanochmal! Schreit nicht so laut!" zu poltern und starrte mit aufgerissenen Augen, genau wie viele andere, die auf sie zu kommende Gestalt an. Um so näher sie ihnen kam, desto mehr musste Quina ihren Kopf in den Nacken legen, um in das Gesicht der Gestalt zu blicken.
Es handelte sich um einen jungen Mann, auf den ersten Blick zumindest. Doch Quina war auf der Stelle klar, dass das kein Mensch sein konnte.
Das "Etwas" (Quina beschloss ihn erst mal so zu nennen) hatte unglaublich blasse Haut, doch schien sie einen fast silbernen Schimmer zu besitzen. Die Augen des Wesens waren von so einem intensiven Grün, dass es beinahe schon wehtat hinein zu schauen. Eine eigenartige Aura umgab die ganze Gestalt. Das Haar (falls dieses "Etwas" denn welches besäße) verbarg sich, ebenso wie der Rest der Gestalt, unter einem weiten blau-grauen Gewand mit silberner Kapuze.
Ein spöttisches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, als das Wesen eine so tiefe Verbeugung machte, dass es sich mit Quinas Augen auf gleicher Höhe befand.
"Willkommen im Reich zwischen den Welten!" sagte er, beziehungsweise "es" ("sie" konnte man getrost ausschließen, fand Quina). "Mein Name ist Riam. Ich soll euch hoch in ...!"
Was immer Riam hatte sagen wollen, er kam nicht dazu, denn Quina fuhr ihm anstandslos (wie immer!) über den Mund. "Im Reich zwischen WAAAS?"
Das Grinsen auf Riams Gesicht wurde noch breiter und wirkte nun richtig unverschämt. Er beendete seine Verbeugung, richtete sich auf und zeigte auf die zu sehende Umgebung.
"Das, meine Freunde, ist das Reich zwischen den Welten. Ich bin ein Wächter des Raumes und der Zeit!"
Neben Quina fielen einige Zwergenfrauen, die nicht so starke Nerven hatten, in Ohnmacht.

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Quinus holte zu Riam auf. In der Zeit, in der er einen Schritt machte, musste Quinus vier machen und zwischendurch einen Hüpfer einbauen, um sich nicht von dem Raum- und Zeitwächter abhängen zu lassen.
Quinus dachte an die letzten zehn Minuten zurück. Nachdem seine Mutter und einige Freiwillige es geschafft hatten, die in Ohnmacht Gefallenen wieder zu den Lebenden zurückzuholen, hatte Riam sie mit den Worten "Ihr werdet bereits erwartet!", zu einem Floß an einem Landungssteg geführt und war mit ihnen zu dem größten Berg gefahren.
An seinem Fuße begann eine Höhle, die sie alle zögerlich (außer Riam) betreten hatten. Nun erklommen sie eine steile Wendeltreppe, deren Stufen einige Zentimeter zu groß für die Zwerge waren, sodass sie ein bequemes Treppensteigen für sie nicht möglich war.
Als Quinus Riam eingeholt hatte, zögerte er noch einen Augenblick, dann zupfte er den Wächter zaghaft an einem Zipfel seines Umhangs.
Riam spürte das sanfte Rucken und blickte sich, weiter die Treppe als erster hochschreitend, zu Quinus um. Er schaute den jungen Zwerg an und dieses Mal war es nicht das spöttische Grinsen, sondern ein aufrichtiges Lächeln, das über sein Gesicht glitt.
"Ist was?", fragte er Quinus.
"Nein...ehm...Ich...äh...!", stotterte Quinus, "Ich wollte Sie auf gar keinen Fall belästigen, Herr."
"Das tust du nicht. Und lass das "Herr" weg. Ich mag das nicht."
"Ja, He...", Quinus schaffte es gerade noch so zu tun, als erlitte er einen plötzlichen Hustenanfall. "Ich wollte nur fragen was das ist, ein Raum- und Zeitwächter."
"Weißt du, mein Junge", antwortete Riam, "es gibt mehr als nur diese eine Welt, aus der du stammst! Alle diese Welten sind miteinander verbunden, zu einer Art endlosem Knoten. Es gibt jedoch auch Stellen, an denen dieser Knoten locker ist und somit nicht sehr stabil. Solch eine Stelle ist auch der Spiegelsee, wie ihr ihn nennt, durch den ihr hierher gekommen seid. Dieser See hat allerdings keine direkte Verbindung zu einer anderen Welt, der Knoten am Spiegelsee verengt sich ein Stück nach unten hin, sodass er wieder undurchdringlich wird, man kann praktisch nur zu einer Zwischenstation gelangen: das "Reich zwischen den Welten". Von hier aus haben wir Möglichkeiten mit anderen Welten Kontakt aufzunehmen. Wir, als Raum- und Zeitwächter, haben die Aufgabe darauf zu achten, dass keine Raum- oder Zeitverschiebungen stattfinden, denn sonst geraten die Welten durcheinander und dieses Chaos, welches dann entstehen würde, würde alles zerstören."
Quinus hätte gerne noch gefragt, wie die Wächter denn dies allen hinkriegten, doch in diesem Moment kam über ihnen eine Tür in Sicht, die Riam wuchtig aufstieß.
Quinus betrat als zweiter eine gewaltig Halle, die von hellem Sonnenlicht durchflutet wurde.
Hinter ihm wurden überraschte Rufe laut und staunende Blicke schauten zur Decke, die mit Reliefs verziert war.
Eine Frau, die ähnlich wie Riam gekleidet war, schritt auf sie zu. Sie war von außerordentlicher Schönheit, doch in ihren Augen lag eine Kälte, die Quinus einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ.
"Frau Fundinssohn!", sagte sie mit zuckersüßer Stimme zu Quinus' Mutter, aber in ihren Augen blieb diese unbeschreibliche Kälte.
Quinus war klar, dass sie eine Wächterin sein musste, da war er ganz sicher. Er war sich nur noch nicht sicher, was er hier sollte, geschweige denn, was genau passiert war, dass er überhaupt hier war!
Die Stimme der Wächterin, sie hatte sich eben mit Esrana vorgestellt, riss ihn aus seinen Gedanken.
"Ich wette Sie werden hocherfreut sein ihn wieder zu sehen, Frau Fundinssohn.", meinte Esrana.
In diesem Moment öffnete sich ein großes Portal und in die Halle trat der schwarze Umriss einer kleinen Gestalt. Quina musste Esrana nicht weiter zuhören, um zu wissen wer das war. Sie rannte auf Balin zu und sprang ihm in die Arme.

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ENDE

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Nachwort

So ging die ganze Geschichte doch noch für die meisten Zwerge glimpflich aus. Vor allem Quina hatte aus ihr so ihre Vorteile gezogen. Sie befand Balin letztendlich als unfähig, verantwortungsvoll mit seinen Untertanen umgehen zu können und übernahm als erste Frau in der Geschichte Mittelerdes das Kommando über ein Volk.
Balin (genauso eitel wie eh und je) war der festen Überzeugung, dass sie sich wohl ein Beispiel an Achath genommen hatte, einer weiteren Raum- und Zeitwächterin, die es liebte alle herumzukommandieren und dabei trotzdem nie ihre liebenswerte Art verlor.
Quinus, der Riam jedes Mal, wenn er ihn sah, ein wenig mehr vergötterte, beschloss, sich von seinem neuen Freund in der Kunst des Wächters unterrichten zu lassen, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder, als der weise Wächter Imanjo in schallendes Gelächter ausbrach.
Bambaramba und Bambazamba stellte einen neuen Rekord in Sachen Sabotage auf. Sie schafften es doch tatsächlich, jeden einzelnen Spiegel in der "Kammer der tausend Winde" in mikroskopisch kleine Glassplitter zu zerlegen. Als Esrana sie dabei erwischte wurde sie fuchsteufelswild und verdonnerte sie dazu, jede Scherbe - aber auch wirklich jede - an ihren ursprünglichen Platz zu setzen.
Kajaphas, der als einziger Wächter über Magie verfügte, die der Gandalfs recht nahe kam, erbarmte sich schließlich und fügte die Splitter wieder zusammen.

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Apropos Gandalf. Er und die acht weiteren Gefährten sollten niemals erfahren, dass es Zwergen gelungen war, sich vor den Orks in Sicherheit zu bringen.
Moria wurde nie wieder aufgebaut, denn die Raum- und Zeitwächter erlaubten den Zwergen nicht zurückzukehren. Sie hatten Angst, die kleinen Leute könnten von der Tatsache ihrer Existenz erzählen.
Und mal ganz ehrlich: keiner der Zwerge wollte mehr nach Hause zurück.

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Und die Geschichte lebt weiter...
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Fußnoten:

1 - Balins Familie besteht aus: Quina Fundinssohn,
  ihren Töchtern: Bambini, Bambina, Bambinia, Bambavroni, Bombarina, Bombarinia und Quinia
  und ihren Söhnen: Bambino, Bambinius, Bamboni, Bombarin, Bomba, Bambaramba, Bambazamba, Quinius und Quino
2 - Aufgrund des Problems, dass die fauchenden Laute der Orks von menschlichen Sprechorganen nicht erfasst und nachgebildet werden können, wurden hier die für uns unaussprechlichen Namen unseren dafür zuständigen Organen und ihren Fähigkeiten, Laute zu bilden, angepasst.
3 - In besonders brenzligen Situationen pflegten Trollgehirne liebend gern mal auszusetzen. Daher entsteht die allgemeine Meinung, Trolle hätten nicht mehr alle Tassen im Schrank, jedoch ist das nur auf die Tatsache zurückzuführen, dass Trolle eine enorme Anziehungskraft für brenzlige Situationen besitzen.
4 - Knieweich ist berüchtigt dafür, dass jeder, der mehr als einen Fingerhut davon trinkt, sofortige vorübergehende Gehirnstörungen erleidet und somit eine gewisse Zeit außer Gefecht gesetzt wird.
5 - Das lag teilweise an den von den Zwergen abgeschossenen Pfeilen, größtenteils aber an eigener Verschuldung.
6 - Die Angst vor den Orks war größer als die Angst vor den Folgen der Missachtung des Verbots, das in dem verrückten Schädel des altersschwachen Fundin Krahlssohn entstanden war.
 

© Pan-ara und Xannaven
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