Der Berg lag vor ihnen, schroff und zerklüftet,
steil und gewaltig, schien er direkt aus der Ebene zu wachsen wie ein riesiger
Monolith, der von einem urzeitlichen Riesen aus einem lange im Wind und
Regen der Jahrtausende vergangenen Gebirge gehauen worden war. Die Abendsonne
durchstieß für einen Augenblick die dichten Wolken und ließ
den Berg rot aufleuchten, als wäre er aus glühendem Eisen gemacht.
Dann wurde es plötzlich dunkel. Wolken
zogen auf, die dunkler als die Nacht waren, düster und Unheil verheißend.
Wind lebte auf, fegte Staub und Blätter über die Ebene, nahm
an Stärke stetig zu, bis er den Beiden das Vorankommen ernsthaft erschwerte,
sie sogar wieder etwas zurückdrängte.
"Mist, das hat uns jetzt gerade noch gefehlt!"
schrie Gorp gegen den Sturm an, in der Hoffnung, sein Gefährte möge
ihn hören, "ausgerechnet jetzt muss ein
Unwetter aufziehen!"
Doch Gwydion schwieg. Er stand regungslos
da und starrte den Berg an, kümmerte sich nicht darum, dass der Wind
an seinem Mantel zerrte und die ersten dicken, schweren Regentropfen auf
seinem Kopf zerplatzten. Gorp drehte sich um und sah seinen Gefährten
an. Im Grunde wunderte er sich nicht über dessen Verhalten. Elfen
waren so! Sie hielten nicht unbedingt viel vom Reden, aber man konnte sich
sicher sein, dass sie jedes Wort, das man an sie richtete, behielten.
Nach einer langen Pause wandte sich der Elf
Gorp zu.
"Das ist kein Zufall", sagte er mit dieser
tiefen, melodischen Stimme, die allen Mitgliedern seines Volkes zueigen
war, und deutete in die Richtung des Berges, der inzwischen in diesem wahren
Gebirge von dunklen, schwarzen Wolken zu versinken schien, "irgendjemand
- oder irgendwas - versucht, zu verhindern, dass wir den Cleddiff Nuadai
betreten."
Gorp lachte
auf.
"Wer dies auch immer ist", rief er, "er muss
uns mehr schicken als eine kräftige Brise und ein bisschen Regen,
um uns aufzuhalten!"
Er zog sich die Kapuze seines Mantels tief
ins Gesicht und marschierte - weit nach vorne gebeugt gegen die Böen
ankämpfend - los. Zögernd folgte ihm der Elf.
Der Weg wurde zunehmend beschwerlich. Es war
nicht nur dieser Wind, der ihnen Mühe machte, mittlerweile regnete
es so heftig, als würde sich ein wahres Meer direkt über ihren
Köpfen entleeren wollen. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich
der sandige Boden der Ebene in einen einzigen Morast verwandelt. Gorps
Stiefel sanken bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln in den dicken,
rotbraunen Schlamm ein und machten das Vorwärtskommen zu einer beschwerlichen
Arbeit. Nicht so bei Gwydion. Aufgrund irgendeines geheimnisvollen Elfenzaubers
war er in der Lage, auf diesem matschigen Boden zu laufen, als sei dieser
nichts weiter als eine ebene Fläche aus glattem Stein. Gorp wunderte
sich nicht darüber. Er kannte seinen Gefährten nun schon lange
genug und war mittlerweile sehr vertraut mit der Magie, die dieser häufig
anwandte, oft genug, ohne sich selbst in diesem Augenblick darüber
bewusst zu sein.
Es kam Gorp vor wie eine Ewigkeit. Immer wieder
löste er ein Bein mit lautem Schmatzen aus dem Morast, nur, um es
erneut wieder in diesen breiigen Untergrund setzen zu müssen. Gleichzeitig
saugte sich sein Mantel voll mit Wasser, das immer noch in wahren Sturzbächen
vom Himmel fiel, und hing an ihm mittlerweile wie ein Sack voller Bleigewichte.
Doch irgendwann drangen sie in den Teil dieser fremdartigen Landschaft
vor, in dem der sandige Untergrund der Ebene überging in die ersten
felsigen Ausläufer des Cleddiff Nuadai. Zwischen rissigen, von den
seit Urzeiten über diese Ebene wehenden Winden zernarbten Felsenplatten
standen mächtige Felsbrocken, gedrungene Monolithen, groß wie
zwei oder sogar drei ausgewachsene Männer. Von dem rauhen Wetter zu
kantigen, nach oben hin spitz zulaufenden Klötzen abgeschliffen, sahen
sie aus wie die versteinerten Zähne eines gewaltigen, urzeitlichen
Riesen. Aber Gorp kannte auch die anderen Geschichten, die man sich über
diese Monolithen erzählte, abends, an den Lagerfeuern der Waldläufer,
mit leiser und zumeist erfurchtsvoller Stimme. Es waren Erinnerungen an
uralte Sagen aus jenen lange vergangenen Tagen, als die Menschheit jung
war und die Elfen die Welt unangefochten beherrschten. Es war jene Zeit,
als alle Länder, ja, sogar die Meere und die Lüfte bevölkert
waren von geheimnisvollen Wesen voller Urwüchsigkeit, Magie und oft
sowohl von beeindruckender Kraft als auch von bezaubernder Schönheit.
Man erzählte sich, dass es in jenen Tagen ein Volk gab, ein Geschlecht
von riesigen Wesen, von urtümlicher Wildheit und schier unbezähmbarer
Kraft, Kreaturen, die aus hartem, von einer merkwürdigen Magie mit
Leben beseeltem Stein bestanden. Ihre Körper waren aus Granit, ihre
Augen waren funkelnde Obsidiane und ihre Herzen bestanden aus gewaltigen
leuchtend roten Rubinen. Diese steinernen Wesen oder Trolle, wie man sie
gelegentlich auch nannte, waren ein Volk, das den Kampf über alles
liebte. Sie schlugen viele Schlachten, hauptsächlich gegen die Bergriesen
oder das Baumvolk, den Dryaden. Die meisten ihrer Kriege gewannen sie,
doch dieses Volk der Kämpfer war immer auf der Suche nach neuen, noch
mächtigeren Feinden, denn für sie galt es als umso ehrenvoller,
je unbezwingbarer ein Gegner erschien. Doch dann begingen sie einen gewaltigen
Fehler. Sie beschlossen, die heiligsten aller Wesen anzugreifen: Die Drachen!
Und damit begingen sie das größte Verbrechen, das je ein Wesen
auf der Welt verüben konnte. In einer einzigen Schlacht töteten
die Trolle fast alle Mitglieder des Goldenen Volkes. Nur ein Einziger überlebte,
Anzu, der König der Drachen. In jener Zeit aber herrschten die Winterelfen,
jene mächtigen Vorfahren der Hohen Elfen, über die Welt. Es hieß,
dass sie einst auf den Gipfeln der höchsten Berge in riesigen Palästen
aus Silber und Eis lebten und von dort aus das Geschehen in allen Ländern
beobachteten. Sie sahen den Frevel der Trolle. Und sie bestraften das Steinerne
Volk auf angemessene Weise, indem sie alle Trolle in Felsen verwandelten,
die für immer auf und denselben Platz stehen mussten, den Zeiten,
dem Wind und dem Regen ausgesetzt, bis irgendwann nichts von ihnen übrig
sein würde als der feine Sand auf dem Boden der Ozeane. Und die Geschichten
sagten, dass die Monolithen in der Ebene von Nuadai die Überreste
jenes einst so stolzen Volkes sind.
Gorp kämpfte sich bis zum Windschatten
eines besonders großen und breiten Exemplars vor. Dort setzte er
sich hin. Er brauchte einfach eine Pause. Seine mit Regenwasser voll gesogenen
Kleider zogen ihn nach unten, seine Beine schmerzten, seine Haut brannte
von den vom böigen Wind wie eiskalte Nadeln in sein Gesicht gepeitschten
Regentropfen. Er lehnte sich an den Felsen, der eine angenehme Wärme
ausstrahlte.
Gwydion blieb neben ihm stehen. Ihm war keine
Erschöpfung anzumerken, sogar seine Gesichtsfarbe hatte trotz allem
die typische zarte Blässe seines Volkes behalten. Er sah sich den
Monolith genau an. Dann streckte er die Hand aus und legte sie auf die
rissige Oberfläche des Steines.
"Wir sollten hier nicht zu lange rasten",
sagte er.
Gorp grinste.
"Du hast doch nicht etwa Angst, dass sich
dieser Klotz plötzlich in einen gewaltigen Troll verwandelt?"
Der Elf sah seinen Gefährten mit erstem
Blick an. Er antwortete nicht.
"Du meinst...?", sagte Gorp. Er kannte Gwydion
mittlerweile lange genug. Wie alle Elfen redete er kaum einmal ein Wort
zuviel. Und er machte - ebenfalls eine Eigenschaft, die allen Angehörigen
seines Volkes zueigen war - nie Scherze. Gorp sprang auf die Beine und
griff in einem Reflex an das Heft seines Schwertes.
"Keine Sorge", beruhigte ihn sein Gefährte,
"er kann sich nicht bewegen. Noch nicht!"
Der Monolith sah immer noch aus wie irgendein
Felsen in der Landschaft. Aber Gorp hatte plötzlich das Gefühl,
Umrisse zu erkennen, die ihm zuvor offenbar entgangen waren. Auf einmal
war dieser Klotz mehr als nur ein Stein. Er hatte so etwas wie einen Kopf
- es war nicht mehr als ein klobiger, runder Brocken am oberen Ende - und
auch der Rest wirkte wie der sehr grobe, kantige Entwurf eines schlechten
Bildhauers für einen zu groß und zu breit geratenen Menschen.
"Wir sollten uns beeilen!" rief Gwydion und
deutete auf den Berg, der vor ihnen in die Höhe ragte. In dem Augenblick
wurde Gorp bewusst, dass der Wind abflaute und der gerade noch strömende
Regen in ein leichtes Nieseln übergegangen war.
Gwydion lief voran. Gorp bemühte sich,
ihm zu folgen, aber er war ein Mensch und hatte als solcher nicht die Fähigkeit
des Elfen, über dieses unebene Gelände zu schweben, ganz so,
als würden die Gesetze der Natur für ihn nur eine Möglichkeit
unter mehreren sein. Er ließ den großen Monolithen hinter sich,
aber gleich darauf musste er den nächsten passieren. Dieser war kleiner,
aber Gorp konnte deutlich erkennen, dass er nicht nur einen Kopf, sondern
auch zwei Beine hatte. Gorp lief auch an diesem vorbei. Im Weitereilen
drehte er sich kurz um. Die dicken Regenwolken schienen sich auf merkwürdige
Weise ganz aufgelöst zu haben, die flach stehende Abendsonne brach
durch und überströmte die ganze Ebene bis hin zum Fluss mit ihrem
warmen Licht. Was er sah, ließ ihn für einen Moment die Luft
anhalten! In der klaren, durch den Regen von Staub und Dunst gereinigten
Luft konnte er hunderte, möglicherweise sogar tausende von Monolithen
erkennen. Sie standen gleichmäßig verteilt um den Berg herum
wie eine Armee von Felsbrocken. Und alle diese Monolithen schienen in einer
Art Verwandlung begriffen zu sein. Ohne dass sich wirklich etwas erkennbar
an ihrer Form zu ändern schien, wirkten sie zunehmend weniger wie
toter Stein und immer mehr wie richtige Lebewesen. Gorp glaubte, nicht
nur Köpfe, sondern darin so etwas wie Gesichtszüge erkennen zu
können, er bemerkte riesige, fast bis zum Boden reichende Arme und
stämmige Beine.
"Du musst dich beeilen!"
Die Stimme Gwydions ertönte direkt in
seinem Kopf, ohne den Umweg über seine Ohren nehmen zu müssen,
ein elfischer Zauber, den Gorp immer schon besonders gehasst hatte. Aber
er drehte sich zu dem Berg um. Der Elf war ungefähr zweihundert Schritte
entfernt, hatte bereits den Fuß des Cleddiff Nuadai erreicht. Doch
zwischen ihnen stand noch ein gutes Dutzend dieser Felsen - irgendetwas
in Gorp wehrte sich immer noch dagegen, sie als etwas anderes zu betrachten.
Er begann, auf den Elf zuzugehen. Dazu musste er einen weiteren dieser
Monolithen passieren. Er besah ihn sich genau. Die dem Norden zugewandte
Seite war von einem grünlichen Film aus Moos und Flechten überwuchert.
Er erkannte genau die rissige, stellenweise auch geglättete Oberfläche,
die nur ein Stein haben konnte, der über Jahrtausende regungslos dem
Wind und Wetter eines stürmischen Landes ausgesetzt war. Aber er konnte
auch eindeutig einen Kopf erkennen. Einen schiefen Kopf zwar mit Beulen
und abgebrochenen Ecken, aber auch mit einem Gesicht, in dem ein ernster
breiter Mund zu erkennen war und eine grobe, einfache Nase und zwei tief
in ihren Höhlen liegende Augen. Die, wie Gorp jetzt im Sonnenschein
erkennen konnte, tatsächlich aus Splittern von Obsidianen zu bestehen
schienen. Sie wirkten wie kleine, aber abgrundtiefe Tümpel
aus reinem Glas. Und sie sahen ihn an! Gorp beschleunigte seinen Schritt.
Der leuchtende Blick des Monolithen, nein, des Trolls folgte ihm. Und dann
bewegte es seinen Kopf! Fast unmerklich zwar, aber doch weit genug, um
nun endgültig auszuschließen, dass es Gorp nur mit merkwürdig
geformten, unbeweglichen Felsklötzen zu tun hatte. Gorp begann zu
laufen. Er hastete an dem Troll vorbei. Aus dem Augenwinkel konnte er beobachten,
wie sich diese Kreatur bemühte, seinen Kopf zu drehen, um ihn in diesen
merkwürdig kalten Augen zu behalten. Er lief direkt auf zwei andere
Exemplare dieser merkwürdigen Spezies zu. Sie waren breit und massig
und sie ließen nun absolut keinen Zweifel mehr daran, dass sie wirkliche,
lebendige Wesen waren. Sie hatten ihn genau im Blick, er glaubte sogar,
sein Spiegelbild in den Obsidiansplittern erkennen zu können. Sie
standen ruhig da, die Beine, dick wie Baumstämme, leicht gespreizt,
und jeder von ihnen hatte einen dieser überlangen Arme über den
Kopf erhoben wie eine Keule aus Granit. Gorp blieb kurz stehen. Er spürte
ein Vibrieren unter seinen Füssen wie von einem leichten Erdbeben.
Dazu kam ein Grollen wie von einer fernen Lawine, das allerdings immer
mehr anschwoll. Er drehte sich nochmals kurz um. Und spürte, wie ihn
das blanke Entsetzen packte. Alle Monolithen hatten sich mittlerweile verwandelt,
waren zu den schrecklichen steinernen Kriegern geworden und alle marschierten
mit den langsamen und vorsichtigen Schritten von Kreaturen, die sich nach
jahrtausendelangem Schlaf wieder erinnern mussten, wie man ging, in ein
und dieselbe Richtung. Und es war eindeutig, was ihr Ziel war. Die Trolle
waren ein Volk von Kriegern, der Kampf war ihr Leben und es waren mittlerweile
Jahrtausende vergangen, seit ein Troll das letzte Mal einen Feind getötet
hatte. Und ein einfacher Mensch aus weichem Fleisch und Blut war gut genug,
um die Mordlust dieser Wesen fürs Erste zu stillen.
Das Grollen schwoll an, steigerte sich zu
einem ohrenbetäubenden Lärm. Erst jetzt wurde Gorp klar, dass
dieser Lärm direkt aus den Mündern der Trolle kam. Es war die
Sprache dieser Wesen, möglicherweise so etwas wie ein Schlachtruf.
Er drehte sich wieder um zu den beiden Trollen, die ihm den Weg zum Fuß
des Cleddiff Nuadai versperrten. Sie hatten sich nicht bewegt, hielten
ihre Keulenarme nach wie vor erhoben und zum Schlag bereit. Dahinter, in
einer Entfernung von gut hundert Schritten, konnte er Gwydion erkennen.
Der Berg stieg dort sehr abrupt steil in die Höhe und der Elf war
bereits gut fünf bis sechs Mannslängen nach oben geklettert.
Vermutlich war er dort vor den Trollen in Sicherheit. Gorp dagegen wurde
klar, dass er keine Chance hatte. Die beiden Trolle vor ihm bewegten sich
nicht, nicht, weil sie es nicht konnten oder wollten, sondern weil sie
warteten. Gorp bemerkte, wie sich allmählich düstere Schatten
um ihn herum ausbreiteten. Diese Armee aus Steinwesen begann ihn zu umzingeln,
bildeten einen Ring, der wie eine lebende furchterregende Version jener
Steinkreise wirkte, wie sie Gorp von seinen Reisen zu den Regeninseln im
Westen kannte. Sie wollten sich Zeit lassen! Sie spielten mit ihm, kosteten
seine Angst, seine Verzweiflung aus wie eine jahrtausendelang vermisste
Droge. Gorp war klar, dass er verloren war. Er zog sein Schwert, kam sich
ein wenig lächerlich dabei vor, aber auch er war einstmals zum Krieger
erzogen worden und wollte mit seiner Waffe in der Hand sterben. Der Kreis
der Steinwesen zog sich immer enger um ihn ... düstere Schatten umgaben
ihn...
"Achte auf den, der rechts vor dir steht",
sagte eine Stimme in seinem Kopf.
Es war natürlich Gwydion, sein elfischer
Gefährte, der zu ihm sprach. Allerdings hatte Gorp keine Ahnung, was
er mit dem Hinweis anfangen sollte.
Dann bemerkte er es! Ein mannshoher, fast
runder Felsbrocken
flog mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf den Rücken des erwähnten
Trolls zu. Mit einem lauten Krachen schlug er im Bereich des Hinterkopfes
des Steinwesens ein. Gorp wusste nicht, ob es nur das Ergebnis der Kräfte
war, die dieser mit rasender Geschwindigkeit aufprallende Stein verursacht
hatte, oder ob dieses Wesen aus Granit durch Fels verletzt oder sogar getötet
worden war, auf jeden Fall kippte der Troll mit einem furchtbaren, einem
nahen Donnergrollen ähnelnden Schrei zu Boden. Gorp war klar, dass
er jetzt schnell handeln musste. Mit zwei Sätzen war er auf den liegenden
Kopf des Steinriesen gesprungen, dann lief er über den Körper,
wobei er unbewusst wahrnahm, dass dieser sich leicht und rhythmisch bewegte,
als ob ein gewaltiges Herz im Inneren dieses Wesens schlüge. Dann
sah er im Augenwinkel, wie der Arm des anderen Trolls auf ihn zuraste.
Er zielte genau auf Gorps Kopf. Es waren mehrere Zentner harter Granit,
die da angeflogen kamen. Es war klar, dass ein Mensch, ein Wesen aus weichem
Fleisch und zerbrechlichen Knochen, einen solchen Schlag nicht überleben
würde. Gorp warf sich flach hin, landete auf dem Rücken des gefällten
und zum Glück immer noch bewegungslosen Trolls. Ein Windhauch, der
über ihn hinweg fuhr, teilte ihm mit, dass er gerade noch rechtzeitig
reagiert hatte. Der Troll hatte ihn verfehlt. Im selben Moment wurde Gorp
klar, dass er zumindest einen kleinen Vorteil gegenüber diesen steinernen
Kriegern hatte: Seine Gewandtheit. Er sprang sofort wieder auf. Jetzt war
der Weg zum Berg frei. Er konnte zwar auch vor sich noch zwei oder drei
dieser monolithischen Kreaturen erkennen, aber diese behinderten nicht
seinen direkten Weg zu der Stelle, wo sich Gwydion befand. Gorp lief los.
Es waren noch hundert Schritte, dann noch neunzig, achtzig ... er spürte,
wie beim Laufen der Felsenboden unter seinen Füssen bebte. Die Trolle
verfolgten ihn! Die Erschütterungen, die sie dabei verursachten, ließen
ihn einige Male taumeln. Jetzt nicht hinfallen! Doch dann geschah es! Er
geriet mit seinem rechten Fuß in eine kleine Spalte zwischen zwei
Felsenplatten. Er schlug gerade hin, knallte mit seinem Kinn auf den harten
Boden. Er spürte einen kurzen Schmerz, der sich durch seinen ganzen
Schädel zog. Einen Augenblick hatte er Angst, er könnte das Bewusstsein
verlieren. Dann sah er sich noch im Liegen um. Er hatte sich einen kleinen
Vorsprung erarbeitet. Der Erste der Trolle - ein etwas kleinerer und offenbar
auch flinkerer Vertreter seiner Gattung - war noch gut acht Schritte von
ihm entfernt. Noch hatte Gorp die Chance, den steinernen Pranken zu entkommen.
Er sprang wieder auf. Sofort schoss ein stechender Schmerz in seinen rechten
Fußknöchel. Gorp war klar, dass er sich bei dem Sturz den Fuß
verstaucht, möglicherweise sogar gebrochen hatte. Er setzte ihn nochmals
probehalber auf. Es war unglaublich schmerzhaft. Aber der Fuß knickte
nicht weg, offenbar war noch ausreichend Knochen heil geblieben. Gorp ging
weiter, humpelnd, mit zusammengebissenen Zähnen. Noch siebzig Schritte,
noch sechzig ... er warf einen Blick über seine Schulter. Er hatte
seinen Abstand zu der Steinarmee nicht verringern können, er war aber
auch nicht größer geworden. Mit einer Ausnahme: Jener etwas
kleinere Troll kam ihm näher. Gegen einen gesunden Gorp hätte
auch dieser in einem Wettlauf vermutlich kaum die Spur einer Chance gehabt,
aber gegen einen Menschen, der sich mit gebrochenen Knöchel und Schmerzen,
die ihn der Ohnmacht nahe brachten, konnte er sich behaupten. Gorp schleppte
sich weiter, warf seinen schweren Mantel ab, eine Geste der Verzweiflung.
Der kleine Troll kam immer näher.
"Duck dich", rief eine Stimme in seinem Kopf.
Gorp gehorchte.
Mit einem Zischen schoss ein weiterer Felsen
an ihm vorbei. Hinter ihm ertönte das Krachen eines harten Aufpralls.
Gorp verschwendete keine Zeit damit, sich umzusehen. Er lief humpelnd weiter
auf den Berg zu. Er erreichte den Fuß des Cleddiff Nuadai. Vor ihm
war eine steile Wand, aber er sah kleine Risse, Vorsprünge, schmale
Absätze. Er schob sein Schwert, das er - wie er selbst mit einigem
Erstaunen bemerkte - immer noch fest in der Hand hielt, in die Scheide
und begann zu klettern. Es war nur ein kurzes Stück zu dem schmalen
Plateau, wo sein Gefährte Gwydion auf ihn wartete, aber für Gorp
war es die längste Kletterpartie seines Lebens. Er besaß kaum
noch Kraft, um sich festzuhalten und er war ein ums andere Mal gezwungen,
das Gewicht seines ganzen Körpers auf seinen verletzten rechten Fuß
zu verlagern, was ihm Schmerzen bereitete, wie er sie noch nie zuvor in
seinem Leben gehabt hatte. Einige Male kam ihm der Gedanke, dass er es
nicht schaffen würde, dass er schon weit über seine körperlichen
Grenzen hinaus war, aber dann war etwas in ihm, das ihm gut zuredete, ihm
Kraft und Zuversicht gab. Er fragte sich, ob diese innere Stimme der Hoffnung
seine eigene war oder die seines elfischen Freundes, aber sie erweckte
in ihm tatsächlich diese Reserven an Energie und Willen, die es ihm
ermöglichten, auch den letzten Teil bis zu dem Plateau zu überwinden.
Als ihn die kräftigen Arme des Elfen zuletzt nach oben zogen, hatte
Gorp das Gefühl, soeben gestorben und gleich darauf wieder auferstanden
zu sein.
Sie saßen im Windschatten eines großen
Felsüberhangs. Vor ihnen brannte ein Elfenfeuer, klein, nicht sehr
hell, dafür außerordentlich warm, mit Flammen von der blassen,
bläulichen Farbe des Mondes in einer klaren Winternacht. Ein kleiner
Topf stand auf zwei Steinen, die inmitten des Feuers lagen, ein würziger
Geruch lag in der Luft, hervorgerufen von den geheimnisvollen Kräutern,
die in den schier unzugänglichen Wäldern, in denen die Waldelfen
lebten, wuchsen.
Gorp zog Gwydions Mantel ein wenig enger um
seine Schultern. Trotz des wärmenden Feuers, die Nächte am Cleddiff
Nuadai waren kalt. Gorp konnte froh sein, dass ihm sein elfischer Gefährte
seinen Mantel überlassen hatte, sein stolzer Widerstand dagegen hielt
sich in Grenzen. Es war allgemein bekannt, dass der Ursprung aller Elfen
in jenem gewaltigen Gebirge lag, das die Menschen die Säulen der Welt
nannten und in dem sogar die Täler erheblich höher lagen als
die höchsten Berge in der Welt der Menschen. Und einige ihrer berühmten
Elfenschlösser hatten diese Wesen sogar direkt in die Felsen der vom
ewigen Schnee bedeckten Gipfel dieses Gebirges gehauen. Ein Elf - soviel
stand fest - fror nicht so schnell.
Gorp griff an seinen Fußknöchel.
Der Schmerz war fast völlig abgeklungen. Wenn er nachdachte, kam ihm
alles ein wenig wie ein übler Traum vor: Das Erwachen der Trolle,
ihr Angriff auf ihn, seine Flucht mit gebrochenem Knöchel über
die felsige Ebene und die steile Wand des Cleddiff Nuadai. Vage konnte
er sich noch erinnern, wie ihn sein Gefährte über einen schmalen,
zu seinem Rande hin steil abfallenden Pfad geschleppt hatte bis zu diesem
Ort, wo der Elf ihn flach auf den Boden gelegt hatte. Dann hatte er ihm
zu Trinken gegeben aus seiner Wasserflasche und Gorp konnte sich noch an
diesen merkwürdigen, erdigen Geschmack erinnern, den das Wasser hatte.
Die nächsten Erinnerungen waren unklarer, unzusammenhängender,
so, als wäre Gorp längere Zeit in jener unwirklichen Welt zwischen
Wachsein und Schlaf gewandelt. Er wusste ganz sicher, dass er die Hand
des Elfen auf seinem verletzten Fuß gespürt hatte, dass er das
merkwürdige Gefühl hatte, irgendetwas Warmes, gleichzeitig Leichtes
floss von den Händen Gwydions direkt in seinen eigenen Körper
hinein. Und er hatte gehört, wie sein Freund Sätze murmelte in
einer fremdartigen Sprache, die sich gleichzeitig so einfach und doch so
klar und eindeutig anhörte, so als sei sie die Mutter aller Sprachen
und so alt wie die Welt selbst.
Gorp hatte eine Erinnerungslücke für
die Zeit danach. Er war wohl eingeschlafen und als er wieder erwacht war,
geweckt von dem anregenden Geruch des Kräutersuds, saß er, bedeckt
mit dem Mantel des Elfen, an einem Felsen gelehnt an dem warmen Feuer.
"Du hattest Recht", sagte Gorp, "irgendjemand
scheint nicht zu wollen, dass wir unsere Arbeit zu Ende bringen."
"Unsere Arbeit? Du glaubst nach wie vor, dass
wir hier einen unserer üblichen kleinen Dienste erledigen? Ein paar
Diebstähle, ein bisschen Kundschafterdienst für einen dieser
unzähligen wichtigtuerischen Kleinadeligen, das ganze für eine
handvoll Goldstücke? Nein, das hier ist etwas ganz Anderes! Bedenke,
wer unsere Auftraggeberin ist."
Ja, Gorp erinnerte sich ganz genau an jenen
Tag, als er sie traf. Nie hätte er gedacht, in seinem ganzen Leben
jemals einem Wesen wie ihr zu begegnen, es war, als hätte er für
einen Augenblick direkt in das Auge der Schöpfung geblickt, als wäre
die öde Welt zwischen den Grauen Wäldern und den Marschen von
Koruta, die die seine war, für diesen einen Moment zu etwas gewachsen,
das Elfenberge, die Inseln der Unsterblichen und andere mystische Orte
der Sagen und des Glaubens in sich aufnehmen könnte.
Es begann im "Gebogenen Pfeil",
einer Gaststätte von sehr zweifelhaftem Ruf, die sich in Zwergenstein
befand, einem kleinen Ort an der Kreuzung zweier eher unbedeutender Handelsstraßen.
Zwergenstein bestand aus einer schlammigen Hauptstraße, einigen winzigen
windschiefen Hütten, einer kaum größeren Herberge für
die wenigen Reisenden, die sich in diese armselige Gegend verirrten und
eben jener Kaschemme, die von einem ehemaligen Schmuggler betrieben wurde,
der nebenher noch das Gewerbe des Diebes betrieben hatte, bis man ihn in
einer der großen Städte jenseits der Grauen Berge erwischt hatte.
Von der sehr eindrücklichen Art der Bestrafung für Diebe in dieser
Stadt zeugte der eine Spanne unterhalb der rechten Ellenbeuge in einen
unansehnlichen Stumpf
endende Arm des Mannes. Nichtsdestotrotz unterhielt er seine Gäste
immer gerne mit der Geschichte seiner Amputation, so wie anderswo Männer
gerne Anekdoten von ihren Heldentaten in zweifelhaften Kriegen berichteten.
Aber Zwergenstein war eben eher ein Platz, der solchen Leute, deren Köpfe
andernorts an das Stadttor gespießt die Bürger daran gemahnte,
die Gesetze der Stadt nicht zu übertreten, eine unbedrängte Zuflucht
bot. Also auch Leuten wie Gorp und Gwydion.
Es war früher Nachmittag. Außer
den Beiden saßen in der Kaschemme nur einige jener bedauernswerten
Gestalten, die sich in ihrem Leben dem übermäßigen Genuss
des kräftigen Bieres und des Branntweins, der hier ebenfalls ausgeschenkt
wurde, schon einige Male zu oft ergeben hatten. Gorp und Gwydion saßen
an einem Tisch in direkter Nähe des offenen Kamins und waren damit
beschäftigt, die Entlohnung ihres letzten Auftrages in Speis und Trank
umzusetzen, was bedeutete, dass Gorp geschmortes Fleisch vom Wild aß
und dazu einen Humpen des hiesigen Bieres trank, während Gwydion an
einem Becher mit heißem Honigwasser saß. Gorp hatte noch nie
erlebt, dass sein Partner je in einem Gasthof etwas gegessen oder etwas
anderes als gesüßtes Wasser getrunken hätte und solche
Kaschemmen wie der "Gebogene Pfeil" waren ganz sicher nicht geeignet, die
sehr eigenartigen Bedürfnisse von Waldelfen zu befriedigen. Die meisten
Menschen wussten ohnehin nicht, womit sich die Angehörigen dieses
Volkes ernährten, es ging sogar das Gerücht, dass sie wie die
Bäume und Blumen nur von Wasser und dem Licht der Sonne lebten. Gorp
wusste zwar, dass Gwydion hin und wieder etwas aß, im Allgemeinen
Dinge, die er am Wegesrand fand, wie Beeren oder Kräuter, aber die
Bedürfnisse des Waldelfen, was seine Nahrung bedarf, schienen tatsächlich
gering ausgeprägt zu sein.
Als sie da so saßen in der düsteren
Kaschemme und Gorp die Braukunst der Zwergensteiner genoss, öffnete
sich die Eingangstür und ließ für einen Augenblick das
grelle Licht eines sonnigen Nachmittages hinein. Das Merkwürdige war,
dass Gorp den Eindruck hatte, etwas von diesem Licht würde in der
Düsternis der Gaststätte verweilen wollen, auch, nachdem die
Tür wieder verschlossen war. Es dauerte einige Augenblicke, bis er
begriff, dass da jemand eingetreten war, eine Person, die gekleidet war
in einem schweren bodenlangen Mantel aus Wolle und von der Farbe der Nacht,
mit einer großen Kapuze, die nicht nur den Kopf, sondern auch das
Gesicht dieser Erscheinung vollständig verbarg, die aber ohne Zweifel
die Quelle dieses ungewöhnlichen Leuchtens war. Gorp war auf der Stelle
klar, welcher Art diese Person war, die den "Gebogenen Pfeil" betreten
hatte. Sogar einige der einsamen Trinker an den anderen Tischen hoben erstaunt
ihre schweren Köpfe. Das fremde Wesen hielt direkt auf den Tisch zu,
an dem Gorp und sein Gefährte saßen. Für einen kurzen Moment
hatte er das unbestimmte Gefühl, jemand Vertrautes, eine Person, die
er schon lange kannte, so dass sie ihm fast vorkam wie eine nahe Verwandte,
wäre hereingekommen, um ihn zu besuchen. Doch er wusste genau, dass
er diesem ungewöhnlichen Kneipengast noch nie in seinem Leben begegnet
war. Ihm war klar, welcher Natur dieses Wesen war und er wusste genau,
dass er - wie die meisten Menschen - noch nie einem Vertreter dieses scheuen
Volkes begegnet war. Gwydion dagegen offensichtlich schon! Gorp spürte
die körperliche Anspannung des direkt neben ihm sitzenden Waldelfen,
beobachtete aus dem Augenwinkel, wie dessen Hand mit einer geschmeidigen,
unauffälligen Bewegung an den Griff seines Elfendolches glitt.
"Ich suche nicht den Kampf, Gwydion vom Stamme
der Schwarzeichen," sagte eine Stimme, eindeutig weiblich, dabei hell und
klar wie eine sprudelnde Bergquelle.
Die Hand des Waldelfen löste sich vom
Griff seiner Waffe.
"Gwydion, Verstoßener des Stammes
der Schwarzeichen", korrigierte er.
Die fremde Person trat an den Tisch heran.
Ohne von einer Hand berührt zu werden, schob sich ein Stuhl direkt
hinter sie.
Natürlich, schoss Gorp durch den
Kopf, Elfenmagie!
Die Fremde setzte sich.
"Ich muss mich Euch vorstellen", sagte sie,
"ich bin Arkana."
Dieser eine Name reichte, es bedurfte keiner
weiteren Erläuterungen! Arkana, die Fürstin der Lichtelfen! Jeder
kannte den Namen und niemand anderer in allen Ländern diesseits und
jenseits der Grauen Wälder trug ihn.
"Ich bin ...", begann Gorp, wurde aber von
der sanften Stimme der Lichtelfe unterbrochen.
"Ich weiß, wer Ihr seid, Gorp der Flinke,
Abenteurer und Meisterdieb. Das ist auch der Grund, warum ich von den Hohen
Bergen herabgestiegen und in dieses Dorf gekommen bin. Ich wollte Euch
treffen. Euch und Euren Partner."
Gwydion sah die Elfenfürstin mit misstrauischem
Blick an.
"Eine Lichtelfin, ihre Fürstin gar, will
mit Gwydion, dem Verstoßenen vom Volke der Verstoßenen sprechen?
Dies verspricht, ein wahrlich ungewöhnlicher Tag zu werden."
Gorp wusste nur grob von den Auseinandersetzungen
zwischen den Lichtelfen auf den Bergen und ihren Vettern aus den Wäldern.
Es hieß, dass alle Elfen vor langer Zeit ein einziges Volk gewesen
waren, das in Eintracht auf den Säulen der Welt lebte. Ein Ereignis,
von dem Menschen keine Kenntnis hatten, führte dazu, dass eine kleine
Gruppe dieses Volkes von der Fürstin verstoßen wurde und in
die dichten Wälder von Zamar zog. Gorp wusste nicht, ob dies eine
Entscheidung von ein und derselben Elfenfürstin war, die jetzt im
"Gebogenen Pfeil" vor ihm saß, jenes Ereigniss mochte schon viele
Generationen menschlichen Lebens zurück liegen, aber für die
Elfen hatte Zeit eine andere Bedeutung. Kein Mensch wusste, ob Elfen wirklich
unsterblich waren, wie so manche behaupteten, aber ihre Lebensalter übertraf
die von Menschen auf jeden Fall um ein Vielfaches.
"Was ich brauche, sind Eure speziellen Talente",
fuhr die Lichtelfin, ohne auf die Bemerkung Gwydions einzugehen, fort.
"Ihr kennt die die Ebene Cymryg, die die Menschen die Ebene von Grausand
nennen?"
"Ich war nie dort, aber der Name ist mir natürlich
ein Begriff. Viele Sagen und Geschichten ranken sich um diesen Ort. Menschen
meiden ihn für gewöhnlich."
"Genau jenen Ort meine ich! In der Mitte dieser
Ebene befindet sich ein Felsen, schmal und steil wächst er inmitten
des Flachlandes heraus, weswegen er in der Sprache der Elfen auch seit
jeher den Namen Cleddiff Nuadai hat, was "Schwert der Göttin Nuadai"
bedeutet. Ich möchte Euch bitten, dass Ihr genau diesen Berg aufsucht.
Es ist nicht schwer, ihn zu besteigen, uralte Pfade führen bis zu
seinem Gipfel. Dieser ist auf einem Durchmesser von Zwanzig Schritten abgeflacht.
Dort werdet Ihr etwas finden, einen Stein, rund, von der ungefähren
Größe eines Kinderkopfes. Diesen sollt Ihr mir bringen."
Sie griff in eine Tasche ihres Mantels. Gorp
spürte, wie sein Gefährte erneut kurz zuckte. Und obwohl das
Gesicht der Elfenfürstin weiterhin im Schatten der großen Kapuze
lag, glaubte er, erkennen zu können, wie sich ein besänftigendes
Lächeln in ihren Zügen ausbreitete.
"Keine Sorge, Gwydion, Verstoßener vom
Stamme der Schwarzeichen," sagte sie. Dann legte sie einen Beutel aus hellem
Leder auf den Wirtshaustisch und schob ihn zu Gorp hinüber. Dieser
erkannte, dass die Elfin schwarze Samthandschuhe an ihren Händen trug.
Kein lebender Mensch hat je in das Antlitz
eines Fürsten der Lichtelfen gesehen. Gorp erinnerte sich daran,
was man über die geheimnisvollen Anführer dieses Volkes sagte.
Offenbar besaß dieser Ausspruch nicht nur für das Gesicht, sondern
auch für die Hände dieser Wesen Gültigkeit.
Er griff nach dem Beutel und öffnete
ihn. In seinem Inneren glitzerte es. Gorp war lange genug in seinem Geschäft
tätig, in dem er es auch immer wieder mit Edelsteinen aller Art zu
tun bekam, um nicht sofort zu erkennen, was da das trübe Licht dieser
Kaschemme in dieser ungewöhnlichen Reinheit zurückwarf.
Die sagenhaften Diamanten der Lichtelfen!
Hergestellt - so sagte man - von den Mächtigsten dieser Geschöpfe
aus in reinstem Eis gefangenen Sonnenstrahlen, unzerstörbar und so
ziemlich das Wertvollste, was ein einfacher Dieb wie Gorp je in seine Hände
bekommen würde. Er entdeckte in dem Beutel gut zwanzig Stücke
dieser Steine, jeder so groß wie eine Träne. Er wusste, in diesem
Augenblick könne er zum reichsten Mann diesseits der Grauen Berge
werden. Nie mehr Nächte auf flohverseuchten Strohsäcken in zugigen
Herbergen, nie mehr endlose Fußmärsche in alten Stiefeln voller
Löcher, die munter das Wasser der Pfützen zum Einsickern einluden,
nie mehr Hunger, nie mehr Durst, keine Angst mehr vor den Häschern
der Reichen oder den Bütteln der Städte.
"Dies soll Euer Lohn sein, Gorp, den man den
Flinken nennt."
Ein leises Rascheln unter der Kapuze ließ
erahnen, dass sie sich nun an den Waldelfen wandte.
"Und der Eure, werter Gwydion, wird mein Wort
sein. Das Wort einer Fürstin der Lichtelfen, das trotz allem, was
geschehen ist, auch im Volk der Waldelfen von großem Gewicht ist.
Ich verspreche Euch, dass, solltet Ihr diesen Auftrag annehmen und ausführen,
Eure Verbannung aufgehoben werden wird."
Gwydion sah sie voller Argwohn an. Doch er
schien der Macht von Arkana zu trauen, denn nach einigen Augenblicken des
Nachdenkens deutete er mit einem wortlosen Nicken des Kopfes sein Einverständnis
an.
"Was für ein Stein soll das sein, den
wir Euch bringen sollen?" fragte Gorp. "Auf Bergen liegen für gewöhnlich
viele Steine herum."
"Nicht auf diesem! Ich habe Euch gesagt, dass
die Spitze des Cleddiff Nuadai von einem Plateau gebildet wird. Ich vermute,
dass sich dieser Stein genau in der Mitte befindet. Es wird keine anderen
Steine geben und darüber hinaus: Ich bin überzeugt, dass ihr,
sobald ihr den Stein seht, wissen werdet, dass es der Richtige ist."
An diese Worte erinnerte sich Gorp, als er
- eingewickelt in Gwydions Mantel - am blauen Elfenfeuer seines Gefährten
saß. Ein einfacher Stein, von der Mitte eines Berggipfels geklaubt,
das war es, was er der Elfenfürstin bringen sollte. Er verstand nach
wie vor nicht den eigentlichen Sinn, der hinter diesem Auftrag steckte.
Aber Gorp war kein Mann, der allzu viele Fragen stellte, vor allem, da
er, eingenäht im Inneren seines Hosenbundes, deutlich die harten Rundungen
der tränenförmigen Lichtdiamanten an seiner Taille spürte.
Aber Arkana hatte nichts von den Gefahren erwähnt, keine Worte der
Warnung ausgesprochen, die plötzlich auftretende Stürme oder
erwachende Trolle betrafen. Andererseits konnte Gorp auch nicht erwarten,
ein solches Vermögen mit einem gemütlichen Spaziergang zu verdienen.
Er nickte - erschöpft von den Anstrengungen
und Aufregungen des Tages - nochmals ein. Als er erwachte, schwirrten ihm
für einige Augenblicke noch die Bilder eines merkwürdigen Traumes
in seinem Kopf herum, eines Traumes, den er, wie ihm im Moment des Erwachens
klar wurde, schon oft gehabt hatte, doch noch bevor er diese Bilder festhalten
konnte, verschwammen die Erinnerungen an sie. Was blieb, war das vage Gefühl,
dass er beobachtet worden war. Er öffnete die Augen und war kurz geblendet
von der Sonne, die bereits über den fernen, unbekannten Hügeln
jenseits der Ebenen von Grausand aufgegangen war. Von der westlichen Ebene
her drang das dunkle Grollen zu ihnen hoch, jene Geräusche, von denen
Gorp noch vor wenigen Stunden befürchtet hatte, dass es das letzte
wäre, was er in seinem Leben hören würde. Die Trolle waren
wach. Sie redeten miteinander auf ihre urtümliche Art. Gorp fragte
sich, was sie wohl vorhatten. Würden sie in der Ebene verweilen, weil
ein uralter Zauber sie an diesem Ort band, oder würden sie sich anschicken,
ihre vor Jahrtausenden jäh unterbrochenen Kriegszüge wieder aufnehmen?
Gorp dachte mit Schaudern daran, was diese steinernen Riesen mit den Menschen
anzustellen imstande waren. Kein Schwert, kein Pfeil könnte sie aufhalten,
einzig Magie wäre dazu in der Lage! Das Geschlecht der Menschen war
der Magie nicht mächtig und die Elfenvölker hatten bisher immer
wenig Anteilnahme gezeigt an den Geschicken des Volkes der Elohim. Gorp
bezweifelte, dass das Lichtvolk den Menschen gegen die Trolle beistehen
würden.
Ich habe sie erweckt! Die Menschheit wird
viel Leid erdulden müssen und das nur wegen meiner Gier!
Plötzlich fühlten sich die kleinen
Diamanten in seinem Hosenbund so schwer an wie Mühlsteine.
Er stand auf und machte die zwei Schritte
zum Rand des kleinen Plateaus. Er blickte hinab in die Ebene. Dort hatte
sich dichter Nebel gebildet, vermutlich eine Folge der Regenfälle
in der vergangenen Nacht. Das Grollen der Steinwesen erklang inmitten des
dichten, grauen Dunstes, ganz so, als würde sich ein Gewitter zusammenbrauen
und zwar in völliger Verkehrung der Natur direkt unter ihm auf dem
Erdboden.
"Du machst dir Gedanken über die Trolle?"
fragte Gwydion. Er war neben Gorp an den Rand des Plateaus getreten.
"Was werden diese Wesen jetzt tun?"
"Was sie schon immer getan haben. Kämpfen.
Kriege führen."
Der Waldelf blickte seinen Freund mit seinen
blassen Augen an.
"Es waren nicht wir, die diese Wesen erweckt
haben", sagte er, "und wir sind auch nicht dafür verantwortlich, was
geschehen wird."
"Aber wenn wir nicht hier erschienen wären?
Es kann doch kein Zufall sein, dass die Trolle in dem Augenblick erwachen,
in dem wir mit dem Vorhaben auftauchen, auf diesen verfluchten Berg zu
steigen und einen Stein von dort mitzunehmen?"
"Es ist sicher kein Zufall", antwortete der
Waldelf, "aber unser Erscheinen und das Erwachen der Trolle könnte
jeweils die Folge von ein und derselben Ursache sein."
"Ich verstehe nicht", sagte Gorp.
"Ich auch nicht. Noch nicht."
Gwydion drehte sich ab und begann, Vorbereitungen
für den Aufbruch zu treffen. Gorp kannte seinen Gefährten gut
genug, um zu wissen, dass es keinen Sinn hatte, ihn näher über
seine zuletzt gesprochenen Worte zu befragen.
Sie machten sich an den weiteren Aufstieg.
Mit vorsichtigen Schritten folgten sie jenem schmalen, uralten Pfad, der
sich steil dem Gipfel zu wand. Die Sonne wanderte langsam nach oben und
ihre Wärme sorgte dafür, dass ihre Kleidung, die an diesem Morgen
immer noch klamm und feucht war von dem Gewittersturm des vergangenen Abends,
abtrocknete. Gorp spürte ein leichtes Taubheitsgefühl im Bereich
seines Knöchels, das einzige, was von seiner Verletzung und der anschließenden
Heilung durch Elfenmagie dort noch zu verspüren war. Es behinderte
ihn aber keinesfalls beim Aufstieg. Sie marschierten einige Stunden in
gleichmäßigem Tempo, ließen die dunstige Ebene weit unter
sich. Keine Luft regte sich hier oben, nirgends war auch nur die kleinste
Pflanze oder ein Tier - und sei es nur eine kleine Spinne - zu sehen. Gorp
hatte den Eindruck, in eine Welt vorzudringen, wie sie es vor der Erschaffung
allen Lebens, allen Seins gegeben haben muss. Einzig die Sonne, die ihren
Lauf unverändert fortsetzte, bewies ihm, dass dieser Ort zumindest
den Lauf der Zeit kannte. Sie stieg unbeirrbar weiter in die Höhe,
bis sie fast senkrecht über ihren Köpfen stand und trotz der
Höhe, die sie mittlerweile erreicht hatten, die unbewegte Luft so
aufheizte, dass Gorp die Kleidung erneut, diesmal allerdings aufgrund des
Schweißes, am Leibe klebte. Dennoch marschierten sie ohne Rast weiter,
Gorp war lange Fußmärsche gewohnt und Gwydion ... nun, Gwydion
war ein Elf und konnte, wenn es sein musste, tagelang ununterbrochen laufen.
Man sagte, dass Elfen nicht einmal Schlaf benötigten oder zumindest
nicht, um ihren Körper zu erholen, sondern nur, um zu träumen.
Denn wenn es Elfen nach Erkenntnissen, nach Antworten auf große Fragen
verlangte, suchten sie die rätselhafte Welt der Träume auf, die
für sie ebenso wahrhaftig war wie jede andere der Welten, in denen
dieses Volk noch leben mochte. Gorp wusste wie alle Menschen wenig über
diese Traumreisen, es galt als eines dieser gut gehüteten Elfengeheimnisse,
über die Gwydion nie mit jemanden reden würde, der nicht von
seinem Geschlecht war.
Es war bereits später Nachmittag, als
sie sich dem letzten Teil ihrer Reise, dem Gipfel des Cleddiff Nuadai näherten.
Auf den letzten Schritten wand sich der Pfad in einer gleichmäßigen
Spirale um den Berg. Gorp entdeckte, dass hier riesige Reliefs in die Wand
des Cleddiff Nuadai gehauen worden waren, die wie ein mannshohes, riesiges
Band den schmalen Weg begleiteten. Es waren merkwürdige Bilder, primitiv,
urwüchsig und doch kunstvoll, von einer außergewöhnlichen
Ausdruckskraft. Gorp erkannte Drachen, auch Trolle, vermischt mit einfachen
Darstellungen von den Elfen ähnliche Wesen, Tieren, dämonischen
Gestalten mit schreckenerregenden Fratzen und noch fremdartigeren und geheimnisvollen
Kreaturen, von deren Existenz er noch nie gehört hatte, alles miteinander
verwoben und ineinander übergehend, so als wäre das ganze Bildnis
die Darstellung eines einzigen ausufernden Organismus voller urtümlicher
Kraft und drallen Lebens. Nirgends in diesem riesigen Bildnis war etwas
zu erkennen, was man als die Darstellung eines Menschen deuten konnte.
Ihm war klar, dass dieses Relief alt, sehr alt sein musste, entstanden
möglicherweise noch in jenen lange vergangenen und sagenumwobenen
Zeitaltern der Dämonenkönige, viele Jahrtausende, bevor der erste
Mensch die Bühne der Welt betrat.
Gorp legte seine flache Hand auf den Felsen.
Der glatte Stein fühlte sich auf eine merkwürdige Weise warm
an, die nicht nur allein von der Kraft der Sonne herrühren konnte.
Es war fast so, als würde eine Art von urtümlicher Lebendigkeit
in diesem gewaltigen Felsenbild stecken, so, als wäre nicht nur die
Abbilder der Wesen in diesem Stein festgehalten worden, sondern auch ein
Teil ihrer selbst. Merkwürdige traumartige Bilder erschienen in seinem
Kopf, von bleichen, elfenähnlichen Wesen, die nackt auf Bergipfeln
saßen und wohlwollend auf eine Welt voller Ungeheuer, voller Dämonen
und voller noch ungewöhnlicherer Wesen waren, von denen Gorp nicht
sagen konnte, ob sie Tier, Pflanze oder gar albischen Ursprungs waren.
Gleichzeitig spürte er in sich eine fremde Präsenz, fühlte
eine merkwürdige einfache und doch gleichzeitig machtvolle Art des
Denkens und des Fühlens, die ihm in einer primitiven Sprache vermittelt
wurde, die zwar einerseits mehr den Lauten von Tieren als den Worten der
Menschen ähnelte, gleichzeitig aber von so großer Reinheit und
Klarheit war, dass sie mehr Wahrheit auszudrücken in der Lage zu sein
schien als jede andere Sprache auf dieser Welt.
Erschreckt von der Fülle der Bilder und
Eindrücke, die auf ihn einströmten, zuckte seine Hand zurück.
Die Visionen verschwanden im selben Augenblick aus seinem Geist.
Er sah den Waldelf an. Dieser hatte ebenfalls
seine Hand auf der Oberfläche des Reliefs liegen. Sein Blick war starr,
die Augen schienen zu leuchten in dem Blau eines mittäglichen Ozeans,
dessen unruhige Wasseroberfläche das Licht der Sonne in einem tausendfachen
Glitzern zurückwarf, seine Mimik, die sonst, wie bei allen Elfen,
für Menschen so undurchschaubar war, verriet innere Anspannung und
Erregung.
Dann löste auch er die Hand vom Felsen.
Er entspannte sich und blasse Ruhe kehrte in seinen Augen zurück.
Gorp war klar, dass das, was er selbst soeben erlebt hatte, machtvolle
Visionen gewesen sein mussten, hervorgerufen von der schöpferischen
Magie der Wesen, die dieses ungewöhnliche Bild einst geschaffen hatten.
Aber wenn er selbst, als einfacher Mensch ohne jegliche magische Fähigkeiten,
diese Macht, die von dem Relief ausging, so intensiv wahrgenommen hatte,
was musste erst ein Elf spüren, welche Bilder musste er gesehen haben.
"Von wem stammen diese Bilder?", fragte Gorp.
"Ich weiß es nicht genau", gab dieser
zurück, "sie sind sehr alt."
"Sie sehen nicht so aus. Ich erkenne kein
Zeichen von Verwitterung, all diese Figuren erscheinen so deutlich, als
seien sie erst gestern in den Felsen geschlagen worden."
"Es ist der Ort. Die Sonne zieht zwar jeden
Tag - wie überall auf der Welt - ihre Kreise, aber ansonsten scheint
hier die Zeit ohne Bedeutung zu sein."
Gorp dachte daran, wie er beim Aufstieg das
Gefühl gehabt hatte, auf einem kargen Felsen zu wandern, der so verlassen
und so leblos war, dass selbst der Wind ihn zu meiden schien. Hier schien
tatsächlich die Zeit stillzustehen. Und das Leben selbst, das ohne
Zeit nicht existieren konnte, hatte hier keine Chance.
"Diese Bilder", fuhr Gwydion fort, "müssen
in jenen Tagen entstanden sein, als es noch keine Elfen gab."
"Ich dachte, Elfen hätte es schon immer
gegeben, von Anbeginn aller Zeiten an!"
Gwydion lächelte sanft und Gorp wurde
im selben Augenblick klar, dass er soeben hinter eines dieser Elfengeheimnisse
geblickt hatte. Die Menschen - so sagte man - waren ein junges Volk, sie
hatten nicht die Gelehrtheit der Elfen, sie beherrschten nicht deren Magie,
sie starben jung und ohne Weisheit erlangt zu haben, aber Gorp las in dem
Lächeln seines Freundes, dass auch die Elfen kein Volk waren, das
schon immer existiert hatte, das sogar an der Schöpfung der Welt selbst
beteiligt gewesen war, wie sie die Menschen gerne Glauben machen wollten.
"Aber ich spüre, dass Magie steckt in
diesem Bildnis", fuhr der Waldelf fort, "es berichtet von einem lange vergangenen
Volk, das mächtiger war als selbst die Winterelfen, es erzählt
Geschichten, die so alt sind, dass vermutlich selbst die Weisen der Hohen
Elfen keine Kenntnis mehr davon haben."
Er blickte Gorp an. Jene undurchdringliche
Mimik, mit der alle Mitglieder seines so ernsten Volkes den Menschen begegneten,
war wieder in sein Gesicht zurückgekehrt.
"Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl
bei dieser Sache. Ich habe Arkana noch nie getraut! Und dieser Ort trägt
nicht gerade zu meiner Beruhigung bei."
"Und dennoch werden wir unseren Kontrakt erfüllen",
sagte Gorp, "denn es ist sicher nicht sehr ratsam, einen Vertrag, den man
mit einer Fürstin der Hohen Elfen geschlossen hat, nicht zu erfüllen."
Sie setzten ihren Weg fort. Nach wenigen Schritten
endete der schmale Pfad und sie erreichten das Plateau. Ganz so, wie es
die Elfenfürstin beschrieben hatte, war es sehr flach, so als hätte
einst ein urzeitlicher Riese mit einer gewaltigen Waffe die Spitze des
Berges glatt abgetrennt. Es hatte einen ungefähren Durchmesser von
vielleicht zwanzig Schritten und war fast kreisrund. Die Oberfläche
war vollständig bedeckt von einem Staub, sehr fein und von schwärzlich-grauer
Farbe, bedeckte er das ganze Plateau wie eine dicke Schicht aus dunklem,
pulverigem Schnee. Und im selben Augenblick, als Gorp dieses Stoffes gewahr
wurde, spürte er auch den merkwürdigen Geruch, der von dieser
Substanz auszugehen schien. Es war eine Mischung aus dem beißenden
Gestank von Verwesung und dem trockenen Geruch kalter Asche, dazwischen
nahm er aber auch andere, sehr fremdartige Aromen wahr. Dennoch war ihm
als erfahrenen Waldläufer eines sofort klar: Dieses Plateau war ein
Ort des Todes, irgendjemand oder irgendetwas hatte hier sein Leben beendet
und dieser dunkle Staub war das, was von diesem Wesen übrig war. Er
zog instinktiv sein Schwert.
Doch auch hier herrschte die gleiche, merkwürdige
Ruhe vor, wie er sie während des ganzen Aufstieges verspürt hatte.
Er betrat - die Waffe immer noch in der Hand - das Plateau. Seine Füße
sanken leicht ein in dieser pulverigen Masse. Schritt für Schritt,
breite Fußspuren hinterlassend, ging er auf die Mitte des Plateaus
zu. Dort befand sich - ganz wie es die Elfenfürstin vorausgesagt hatte
- ein Stein. Er wirkte unauffällig, wie normales Geröll, das
man auf allen Bergen dieser Welt fand. Seine Farbe war vielleicht ein wenig
zu schwarz für etwas, von dem man annehmen mochte, dass es die Natur
hervorgebracht hat, seine Oberfläche eine Spur zu glatt. Und er lag
auf der Staubschicht. Was es auch immer war, was die Ursache für dieses
aschenartige, stinkende Pulver war, der Stein gelangte erst danach auf
diesen Berggipfel.
Gorp trat näher an den Stein heran.
"Das hätten wir ja dann", sagte er.
Er steckte sein Schwert ein und bückte
sich, um nach dem Felsbrocken greifen zu können.
"Sei vorsichtig!" zischte Gwydion.
Gorp grinste.
"Was hast du? Wir schnappen uns den Stein
und sehen zu, dass wir von hier verschwinden. Am besten auf eine Weise,
die etwas weniger die Aufmerksamkeit der Trolle erweckt. Wir bringen dieses
Ding Arkana und anschließend lasse ich mich in einer dieser großen
Städte jenseits der Grauen Wälder nieder und du kannst zurück
zu deinem Volk. Ich weiß, dass das all die Jahre dein sehnlichster
Wunsch gewesen war, auch wenn du nicht mit mir darüber geredet hast."
"Kommt es dir nicht merkwürdig vor?"
fragte Gwydion, "Arkana, die mächtigste der Elfen und ohne Zweifel
auch die Weiseste und ganz sicher die Person mit der größten
Zauberkraft, beauftragt einen einfachen Menschen und den Ausgestoßenen
der Ausgestoßenen, um ihr einen scheinbar völlig belanglosen
Stein zu bringen."
Gorp erhob sich, ohne den Felsbrocken angetastet
zu haben.
"Du spürst irgend etwas, ist es nicht
so? Irgendeiner deiner elfischen Sinne sagt dir etwas!"
"Ich denke, sogar du kannst es spüren",
gab Gwydion zurück, "es ist in dieser Luft."
Gorp dachte über den merkwürdigen
Geruch nach, den er im selben Augenblick bemerkt hatte, als sie den Gipfel
des Cleddiff Nuadai ansichtig geworden waren. Ein Geruch, der eindeutig
von dem dunklen Staub unter seinen Stiefeln herrührte.
"Was ich spüre", fuhr der Waldelf fort,
"ist der Tod!"
"Der Tod?"
"Hör mir zu! Es muss einen Grund geben,
warum Arkana gerade uns geschickt hat. Das Handeln dieser Elfin war noch
nie von Zufällen bestimmt gewesen. Irgendetwas hat hier auf dem Gipfel
des Berges den Tod gefunden. Irgendetwas sehr Altes und Mächtiges.
Ich habe es in der vergangenen Nacht gespürt, habe wahrgenommen, wie
hier auf dem Gipfel der Tod Einzug hielt, während du im Heilschlaf
gelegen hast. Die Trolle, die von ihrem Bann erlöst wurden in dem
Augenblick, als wir durch sie hindurch marschierten, waren ein Hinweis
darauf."
"Sie wurden von uns erweckt. Irgendein Zauber,
der dazu diente, den Berg zu beschützen, wurde durch unser Erscheinen
auf der Ebene von Nuadai ausgelöst."
"Diese Trolle standen schon seit vielen Jahrtausenden
da, regungslos und eingesperrt in massiven Felsbrocken. Denkst du nicht,
dass nicht zuvor schon einmal irgendjemand in dieser langen Zeit die Ebene
betreten hat? Ich kenne diese unglaubliche Neugierde der Menschen. Sie
haben den merkwürdigen Drang, sich Dinge aus der Nähe ansehen
zu wollen, einfach so. Nein, die Trolle erwachten nicht, weil wir einen
entsprechenden Zauber auslösten. Sie erwachten, weil sie befreit wurden.
Befreit durch den Tod!"
Gorp sah sich um. Er spürte einen leichten
Windhauch. Einige Körnchen des dunklen Staubes wurden aufgewirbelt,
drehten sich wie eine winzige Windhose spiralig nach oben, bevor sie über
den Rand des Plateaus hinweg in die Weite der Ebene getragen wurden.
"Wessen Tod?" fragte er.
"Ich weiß nicht, wie weit du bewanderst
bist, was die alten Sagen angeht. Aber ich kann mir nur ein Wesen vorstellen,
an dessen Leben das Schicksal der Trolle gebunden ist."
"Anzu!" rief Gorp aus. "Der König der
Drachen!"
Der Waldelf lächelte.
"Du weißt mehr, als ich gedacht hätte.
Es stimmt, die alten Geschichten besagen, dass das Volk der Trolle bestraft
wurde, weil es die Drachen mit einem vernichtenden Krieg überzogen
hatte. Sie wurden gebannt in den Monolithen auf der Ebene von Nuadai. Und
dass der Zauber gebunden war am Leben des letzten der Drachen, erscheint
mir nur folgerichtig."
"Und sein Tod löste diesen Zauber. Das
hieße, dieser Staub ist der Überrest von Anzu?"
"Man sagt, dass der Körper eines Drachen
aus reiner Magie besteht. Und stirbt er, zerfällt dieser zu Staub.
Und nichts bleibt übrig. Nichts außer dem Herz des Drachens."
"Das Herz?"
Gorp starrte auf den schwarzen, glatten Stein
zu seinen Füßen. Staub wirbelte in der aufkommenden Brise um
den Brocken herum, begann ihn mit einem grauen Überzug zu bedecken.
"Das bedeutet, dass Arkana uns den Auftrag
gegeben hat, ihr das Herz des Drachenkönigs zu bringen?"
"Und das", gab der Waldelf mit leiser Stimme
zurück, "gibt mir zu denken. Dieser Stein ist - wenn ich Recht habe
- ein Gegenstand von großer Bedeutung und zwar nicht nur für
Arkana und ihr Volk, sondern für die ganze Welt. Warum beauftragt
die Elfenfürstin ein paar kleine Diebe, wie wir es sind, damit, ihn
zu beschaffen. Es wäre für Arkana oder einem anderen Hohen Elfen
ein leichtes, hierher zu kommen. Sie könnten auf ihren geflügelten
Pferden reisen, die so schnell sind wie der Falke, wenn er auf seine Beute
hinab stürzt, oder sie könnten über die verschlungenen Pfade
der Welt auf der anderen Seite der Spiegel zu diesem Berg gelangen. Sie
könnten - mit Hilfe ihrer Magie - problemlos der Gefahr einer Auseinandersetzung
mit rauflustigen Trollen aus dem Weg gehen. Warum also ausgerechnet wir?"
"Das kann ich dir sagen, Waldelf!"
Die dröhnende Stimme ertönte direkt
über ihren Köpfen. Gorp blickte nach oben, während er gleichzeitig
erneut sein Schwert zog. Was er sah, nahm ihn für einen Augenblick
die Luft. Er sah die Umrisse eines Wesens, das, die nachmittägliche
Sonne verdeckend, schräg über ihnen in der Luft zu hängen
schien. Sein Körper war ungefähr mit dem eines Menschen vergleichbar,
die Figur schlank und grazil wie die einer jungen Frau, gleichzeitig war
diese Kreatur aber fast doppelt so groß, wie es ein normaler Mensch
war. Das Erstaunlichste aber waren die Flügel, die, den Schwingen
eines Adlers ähnlich aus den Schultern dieses Wesens wachsend, dieses
in der Luft zu halten schien wie einen Raubvogel, der, vom Luftstrom getragen,
über seiner Beute schwebte und darauf wartete, herabzustoßen.
In der Hand hielt dieses Wesen einen kurzen Speer, dessen breites Blatt
silbern in der Sonne glitzerte. Ansonsten hatte es nichts bei sich, nicht
einmal Kleider konnte Gorp an dem riesigen Körper erkennen.
"Maa-Kial!" rief Gwydion aus. Auch er hatte
sein schlankes Elfenmesser gezogen.
"Maa-Kial!" echote die Stimme, "der Name,
den mir die Elfen gegeben haben. Eosfor oder Morgenröte nannte mich
das Volk der Menschen. Doch diese wurden gezwungen, mich und meinen Namen
zu vergessen!"
Langsam sank das Wesen herab und landete am
Rande der Plattform. Die Flügel aber hielt es nach wie vor ausgebreitet
und erstreckten sich fast über die gesamte Breite des Plateaus. Jetzt,
nachdem es den Schatten der Sonne verlassen hatte, konnte Gorp dieses Geschöpf
besser erkennen. Tatsächlich trug es keine Kleidung, aber nichts an
dem riesigen Körper ließ erkennen, ob es männlichen oder
weiblichen Geschlechts war. Es hatte eine glatte, glänzende Haut von
rötlichem Schimmer und auch die schulterlangen, gelockten Haare leuchteten
in der Farbe des Morgenrots. Auch das Gesicht war glatt, ebenmäßig
geschnitten, von einer ungewöhnlichen Schönheit. Ein wenig erinnerte
ihn dieses Wesen an die Skulpturen von Göttern, wie sie Gorp in den
Städten jenseits der Grauen Berge gesehen hatte. Doch trotz der schlanken
Figur schien eine urtümliche Kraft in diesem gewaltigen Körper
zu ruhen, die es Gorp ratsam erscheinen ließ, keine unbedachten Bewegungen
mit seinem Schwertarm zu machen. Darüber hinaus schien es eine Wärme
auszustrahlen, die weit über die Körpertemperatur eines jeden
Wesens, dem Gorp je begegnet war, hinauszugehen schien. Er hatte fast den
Eindruck, er könne verbrennen, wenn er sich dieser Kreatur zu sehr
näherte.
Die Augen des Wesens waren im Gegensatz zu
dem leuchtenden Rot des gesamten Körpers einschließlich der
Federn seiner Flügel von dem dunklen Schwarz eines Teiches aus reinem
Teer. Sie waren auf Gorp gerichtet, musterten ihn von oben bis unten.
"Du bist ein Mensch", stellte Maa-Kial fest,
"ich habe schon lange keinen Menschen mehr gesehen."
Ein Lächeln umspielte das rote Gesicht.
Das Wesen wandte sich an Gwydion.
"Ein prächtiges Exemplar. Ich muß
zugeben, ich bin immer noch stolz auf dieses Volk."
"Was soll das bedeuten?", fragte Gorp seinen
Gefährten.
Gwydion schwieg. Mit angespanntem Blick beobachtete
er das fremde Geschöpf.
"Er wird es dir nicht sagen, Mensch!"
"Ich dachte, man hat Euch besiegt", sagte
Gwydion, den Blick immer noch starr auf Maa-Kial geheftet.
Gorp spürte, dass da etwas war zwischen
diesem Wesen und dem Elfen, ein abgrundtiefer Hass, eine Feindschaft, die
so alt war, dass sie schon bestanden haben musste, lange bevor er selbst
oder möglicherweise sogar Gwydion das Licht der Welt erblickt hatten.
"Ihr habt uns nicht alle niedergezwungen",
sagte Maa-Kial und hob seinen Speer in die Höhe, "und du allein wirst
mich nicht besiegen können. Oh, es ist viele Jahrtausende her seit
unseren Schlachten mit den Winterelfen. Ich habe viele von ihnen getötet
und im Gegensatz zu diesen bist du ein schwaches Wesen, deine Magie hat
nur ein Bruchteil der Kraft, die auch nur der geringste deiner Vorfahren
aufbringen konnte. Oh, ja. Was ich sehe, ist nur ein trauriger Abklatsch
dessen, was sich in früheren Tagen Elf nennen durfte."
Maa- Kial lachte dröhnend.
"Ich habe es schon immer gewusst: Auch das
Zeitalter der Elfen wird irgendwann enden. Und das offensichtlich auch
ohne mein Zutun."
Gorp stand immer noch in der Mitte des Plateaus,
mit dem Stein zu seinen Füßen und dem Schwert in der Hand.
"Gwydion", zischte er seinen Freund an, "was
ist hier los?"
"Von ihm wirst du keine Antwort erhalten",
sagte Maa-Kial, "Elfen haben schon immer sehr viel Wert darauf gelegt,
ihre Geheimnisse zu hüten. Und dieses Geheimnis würden sie ganz
sicher keinem Menschen anvertrauen."
Er deutete eine Verbeugung an, was bei diesem
gewaltigen Wesen ein wenig sonderbar wirkte.
"Ich bin ein Elohim."
"Elohim", murmelte Gorp, "dieses Wort kenne
ich. Die Elfen nennen die Menschen Kinder der Elohim."
"So? Und weißt du auch, wieso?"
"Nein, das ist ..."
"... ein Elfengeheimnis?"
"Ja."
Erneut lachte das Wesen.
"Dann höre die Wahrheit, Mensch! Natürlich
nur, wenn es dein elfischer Freund zulässt."
Gwydion stand nach wie vor am dem Fremdling
gegenüber liegenden Rand des Plateaus. Er hielt sein glänzendes
Elfenmesser vor sich ausgestreckt. Obwohl kein sterblicher Mensch es wagen
würde, auch nur in die Nähe einer solchen Klinge zu geraten,
wirkte es dennoch lächerlich klein und harmlos im Vergleich zu der
Macht und der Kraft, die der Elohim ausstrahlte. Nach einigen langen und
wortlosen Augenblicken, während denen die feindselige Stimmung geradezu
in der Luft zu hängen schien, entspannte sich der Waldelf und steckte
seine Waffe zurück in die Scheide.
"Was gehen mich diese alten Geschichten alt",
murmelte er, "ich bin ein Verstoßener. Im Grunde bin ich ohnehin
zur Hälfte ein Mensch."
Solche Worte hatte Gorp noch nie aus dem Munde
seines Freundes gehört. Aber ihm war klar, dass eine gewisse Wahrheit
in ihnen ruhte. Seit Jahren zogen sie beide durch die Welt der Menschen.
Elfen, die das Volk der Elohim, wie sie sie bezeichneten, mieden, waren
sie nie begegnet, zumindest nicht bis zu jenem merkwürdigen Treffen
im "Gebogenen Pfeil". Und auch wenn die Aufeinandertreffen der Menschen
zu seinen Gefährten zumeist eher von Argwohn und Furcht als von Freundschaft
und Herzlichkeit bestimmt waren, so war er doch im Laufe der Zeit zu einem
Teil ihrer Welt geworden.
Maa-Kial wertete die Geste Gwydions offenbar
als Einverständnis, das Geheimnis der Elfen einem Menschen anzuvertrauen.
"Höre, Sterblicher", sagte er, "die Elohim
sind, nein, sie waren Schöpfer. Es ist uns, meinen Geschwistern und
mir, zu verdanken, dass die Welt so ist, wie sie ist. Wenn ihr Menschen
noch von uns wüsstet, würdet ihr uns Götter nennen, ihr
würdet uns anbeten in Tempeln und an anderen heiligen Plätzen.
Aber die Elfen haben alles dafür getan, um eure Erinnerung an uns
zu löschen. Wir waren einst vier Geschwister, geschlüpft aus
einem Ei. Unsere Namen waren Gib-Rial, Ra-Hal, Urial und Maa-Kial. Wir
kamen in eure Welt, jung und ohne Weisheit, so wie alle Lebewesen sind
am Tage ihrer Geburt. Die Welt war damals eine andere, sie war bedeckt
von Eis und Schnee, riesige Gletscher durchzogen das Land und die Meere
waren zugefroren. Es gab nur wenige Lebewesen in dieser Ödnis, die
Herrscher dieser Welt aber war das Volk der Winterelfen. Zunächst
nahm sie sich unser an, ließen uns an ihrer Weisheit teilhaben, zeigten
uns ihre Magie des Eises. Aber nach kurzer Zeit - es waren einige Jahrtausende,
für Menschen somit eher eine halbe Ewigkeit - erkannten meine Brüder
und ich unsere eigenen Fähigkeiten, die weit über die der Winterelfen
hinausging. Und wir entdeckten unsere Bestimmung. Wir waren geboren und
auf diese Welt gesandt worden, um zu schaffen! Um aus einem kargen Felsen
voller Eis und Schnee eine neue Welt zu formen, eine Welt, die angefüllt
war von Leben aller Art, von riesigen Bäumen, von endlosen Wiesen,
von dem kleinsten Getier bis hin zu gewaltigen Meeresfischen und nicht
zuletzt von Wesen, die in der Lage waren, zu denken und zu fühlen..."
"...und Euch anzubeten!", ergänzte Gwydion
und wandte sich an Gorp, "denn eine ihrer Eigenschaften, die sie den Winterelfen
voraus hatten, war ihre grenzenlose Eitelkeit. Du kennst diese fragwürdige
Tugend, denn sie haben auch den Menschen ein ganzes Stück davon mitgegeben."
"Oh, ja. Eitelkeit und das Verlangen nach
Schönheit, Dinge, mit denen Elfen noch nie viel anzufangen wussten.
Weswegen sie sich auch damit zufrieden gaben, über eine leblose Welt
ohne Farben, ohne Freuden und ohne Wärme zu herrschen."
"Für einen Elfen ist eine solche Welt
das Höchstmaß an Schönheit, rein und klar und ohne die
Verunreinigungen des wuchernden Lebens, das Ihr erschaffen habt!"
"Ich bin nicht zurückgekehrt, um mich
mit dem Abkömmling der Winterelfen in Disputen über den Begriff
von Schönheit zu ergehen!" donnerte Maa-kial.
Dann wandte er sich wieder an Gorp.
"Wir trennten uns von den Winterelfen. Wir
zogen in jene einsamen Gegenden, die nicht von ihnen besiedelt waren. Und
dann begannen wir unser Schöpfungswerk. Gib-Rial, der, so wie ich
die Farbe Rot trage, an seinem ganzen Körper von blauem Schimmer war,
verwandelte Gletscher in Seen und schmolz das Eis der Meere, um die Tiere
des Wassers zu schaffen. Sein Volk war das der Nixen oder Nöcks, wie
es in den alten Sprachen genannt wurde. Ra-Hals Farbe war Grün, er
schuf alle Pflanzen und viele Tiere des Waldes und er schuf das Baumvolk,
das in der Sprache der Elfen als Dryaden bezeichnet wurde. Urials Farbe
war Silber, er war der Schöpfer der Lüfte und der Bergwelten,
sein Volk war das der Trolle. Er war im Übrigen der erste von uns,
der sich eine eigene Rasse erschuf. Ich muss zugeben, dass das Ergebnis
nicht gerade sehr zufrieden stellend war. Ihr habt sein Volk ja kennen
gelernt. Nun, Urial hatte einen anderen Begriff von Schönheit als
ich, er liebte die Berge und die hohen Lüfte mehr als die Lebendigkeit
in den Niederungen. Nun ja, ein wenig hatte er etwas von einem Elfen...
Meine Schöpfung hingegen war die der
Menschen, ich formte sie und lehrte sie den Umgang mit dem Feuer, weswegen
sie mich Eosfor nannten, was "Der Bringer des Lichts" bedeutete. Ich brachte
ihnen auch bei, wie man Erze schmolz, um Waffen und Werkzeuge zu schaffen,
zeigte ihnen, wie man jagte, aber auch, wie man liebte und hasste, wie
man begehrte und wie man dieses Begehren stillte und Zufriedenheit erlangte.
Vor allem die letzteren waren Dinge, die den Winterelfen weitgehend unbekannt
waren."
Er lächelte und sah Gwydion an. Dieser
schwieg.
"Als die Winterelfen aber sahen, was wir taten,
bemerkten sie, dass die Welt, welche die Elohim schufen, nicht mehr die
ihre war. Und sie forderten von uns, all unsere Schöpfungen rückgängig
zu machen. Natürlich taten wir das nicht. Und so kam es unweigerlich
zum Kampf. Es war ein gewaltiger Krieg, von dem ihr euch kaum eine Vorstellung
machen könnt, die Völker der Trolle, der Menschen und Dryaden
marschierten vereint gegen die Winterelfen, während die Nixen unterhalb
der zugefrorenen Meere und Flüsse schwimmend direkt in die Eisfestungen
der Elfen zu gelangen versuchten, um diese von innen her zu bekämpfen.
In manchen Schlachten wurde soviel Magie freigesetzt, dass die ganze Welt
drohte, auseinander zu brechen. Lange sah es unentschieden aus, der Blutzoll
allerdings war hoch, fast die gesamte Rasse der Dryaden wurde ausgerottet,
es gibt auch heute nur noch wenige dieses Volkes in sehr abgelegenen uralten
Wäldern und auch das Volk der Menschen nahm an Zahl deutlich ab. Dennoch
waren wir trotz der Kämpfe weiter damit beschäftigt, die Welt
zu formen. Und während die Winterelfen auf den Schlachtfeldern erfolgreich
waren, wurde ihre Welt des Eises und des Schnees immer kleiner und machte
Platz den Wäldern und den Steppen Ra-Hals, den eisfreien Meeren und
Flüssen Gib-Rials und der Wärme der Sonne, für die ich zuständig
war. Die Winterelfen begriffen. Sie begannen nun damit, uns, die Elohim
selbst anzugreifen, anstatt sich mit unseren Völkern herumzuschlagen.
Urial war der erste, den ihre Zauberfürsten bezwangen, später
traf es Gib-Rial. Ra-Hal und ich begriffen, dass wir uns aus den Kämpfen
heraushalten mussten, denn waren erst wir besiegt, dann war auch unsere
gesamte Schöpfung zum Untergang verurteilt. Und so trafen wir einen
folgenschweren Entschluss. Schon lange hatten wir bemerkt, dass es auf
der Welt auch eine Zeit vor dem Winter gegeben hatte. Es gab Überreste,
alte Knochen oder geheimnisvolle Aufzeichnungen wie jene Bilder hier auf
diesem Berg. Und es gab eine Rasse urzeitlicher Geschöpfe, die sich,
als der lange Winter kam, dazu entschlossen hatten, in die tiefsten Höhlen
unter der Erde zu kriechen und dort zu schlafen, bis es jemanden in den
Sinn kam, sie zu wecken."
Der Elohim senkte seine Lanze und deutete
mit der Spitze des Blattes auf den dunklen Stein.
"Dies ist so ein Wesen. Man sagt, es sei nur
sein Herz, aber in Wirklichkeit besteht es aus diesem Kern. Dieser ist
im Grunde in der Lage, einen Körper ganz nach seinem Wunsch um sich
herum zu erschaffen, aber diese Wesen wählten zu allen Zeiten immer
die Form des Drachen. Mein Bruder und ich, wir wussten von diesen Geschöpfen.
Und wir sahen unsere letzte Hoffnung in ihnen. Wir stiegen hinab in jene
Höhlen, wo diese Wesen ruhten. Wir bündelten all unsere schöpferischen
Kräfte, unsere Magie und unsere Macht und übertrugen sie auf
die schlafenden Drachen. Und wir erweckten sie. Dann suchte jeder von uns
ein Versteck, um uns zu verkriechen für eine sehr lange Zeit. Ra-Hal
wurde auf dem Weg in die Berge Gibelar von einem elfischen Krieger gestellt.
Er konnte sich, seiner Magie beraubt, kaum zur Wehr setzen und wurde getötet.
Ich hingegen schaffte es. Ich fand Unterschlupf in einer Höhle in
den Grauen Bergen. Und dort wartete ich. Ich wartete viele Jahrtausende.
Ich habe gewartet bis zu dem heutigen Tag!"
"Und der Krieg?", fragte Gorp. "Wer siegte?"
"Nachdem die Winterelfen Ra-Hal getötet
hatten, glaubten sie, sie hätten uns geschlagen. Sie spürten
meine Anwesenheit nicht mehr. Und die Drachen, die plötzlich aus ihren
Höhlen hervorkrochen, sahen sie nicht als Feinde an, da auch sie von
deren Existenz unter der Erde Kenntnis hatten und sie genau wussten, dass
diese keine Geschöpfe der Elohim waren. Andererseits bemerkten sie,
dass sie trotz aller magischer Macht nicht in der Lage waren, unsere Schöpfung
rückgängig zu machen. Mit Sicherheit ahnten sie, dass die Elohim
vielleicht besiegt, ihre Kraft auf der Welt aber immer noch existent war.
Also machten sie Frieden mit den Völkern der Elohim und zogen sich
zurück in ihre kleiner gewordene Welt des Eises."
"Aber was hat das alles mit uns zu tun?",
rief Gorp.
"Nun, ein Drachen konnte zwar uralt werden,
älter als jedes andere Geschöpf auf der Welt, Elfen eingeschlossen.
Aber sie sind nicht unsterblich. Und wenn der letzte der Drachen sein Leben
beenden würde, dann würde die Macht der Elohim, die in seinem
Herzen ruhte, frei werden und auf den übergehen, der ihn berührte.
Vorausgesetzt, dieser wäre ein Wesen mit magischen Fähigkeiten.
Meine Geschwister und ich, wir hatten aus den uralten Aufzeichnungen hier
auf dem Felsen erfahren, dass sich der letzte der Drachen dereinst, wenn
sich sein Leben dem Ende neigte, hier auf diesen Berg zum Sterben zurückziehen
würde. Also hatten wir, bevor wir in die Höhlen herabgestiegen
sind, einen Zauber bewirkt, so dass jeder, der von der Magie berührt
ist, den Tod finden würde, wenn er versuchte, den Stein von hier oben
zu entfernen."
"Jeder, der von Magie berührt ist?",
murmelte Gwydion, "also ist kein Elf in der Lage, Anzus Herz zu berühren."
"Höchstens, wenn ihr noch ein paar Jahrtausende
warten würdet bis zu jenen Tagen, an denen die Elfen endgültig
von der Magie verlassen sein werden. Aber ich habe die Befürchtung,
dass diese Tage auch das unwiderrufliche Ende deines Volkes bedeuten werden.
Ohne Magie werdet ihr den Menschen nichts entgegen zu setzen haben."
"Der einzige, der im Augenblick diesen Stein
berühren kann, bin also ich?", fragte Gorp.
"Oh, ja.", bestätigte Maa-Kial, "dieser
Zauber ist so mächtig, dass er sogar mich selbst bezwingen würde.
Es war die einzige Möglichkeit, um dieses Relikt vor den Winterelfen
zu schützen. Nur ein Mensch, eines meiner Geschöpfe, war in der
Lage, diesen Berg zu besteigen und ihn mit dem Stein wieder zu verlassen.
Ein Troll kann den schmalen Pfad nicht bezwingen, ein Nöck würde
in dieser trockenen Einöde außerhalb seiner natürlichen
Umgebung der Flüsse, Seen und Meere nur wenige Stunden überleben
und ein Dryade entfernt sich nie weiter als eine Tagesreise von dem Baum,
mit dem er in enger Symbiose verbunden ist. Aber dennoch habe ich mit Eurer
Anwesenheit hier nichts zu tun. Irgendjemand hat euch hierher gesandt.
Und ich denke, dass dies ein sehr mächtiger Elf war, denn niemand
sonst würde es nicht nur schaffen, hinter das Geheimnis von Maa-Kial
zu kommen, sondern auch noch voraussagen können, wann Anzu sein Leben
beenden würde. Allerdings hat er nicht damit gerechnet, dass es mich
noch gibt."
"Du irrst dich, Letzter der Elohim!"
Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen.
Doch im nächsten Augenblick veränderte sich etwas in dem Bereich
des Himmels, der sich hinter Maa-Kial und etwas oberhalb von ihm befand.
Es ähnelte zunächst dem Flirren in der Luft an einem heißen
Sommertag, begann dann aber, Gestalt anzunehmen, es schien, als würde
sich die Realität selbst an dieser einen Stelle verändern, als
würde sie verdreht und verschoben werden, um dann Platz zu machen
für eine Art Tor, kreisrund, mit flimmernden Rändern. Die Öffnung,
die sich innerhalb dieses Tores bildete, bot einen ungewöhnlichen
Blick auf eine völlig andere Welt, eine Art langgestreckte Höhle,
grün schimmernd ausgeleuchtet von einer unsichtbaren Lichtquelle und
gesäumt von hellen Gebilden, die aussahen wie die versteinerten Knochen
urzeitlicher Riesenwesen und jenes Höhlenlicht in einem merkwürdig
kalten Cyanblau zurückwarfen. Und durch diese Höhle hindurch,
mit einer fast wahnwitzig anmutenden Geschwindigkeit, auf einem prächtigen
geflügelten weißen Pferd reitend, mit leuchtend weißer
Rüstung und wehenden schneeweißen, im Sonnenlicht bläulich
schimmernden Haaren unter einem Rundhelm aus reinstem Eis, kam Arkana geflogen.
Gorp wusste sofort, dass sie es war, auch ohne den bodenlangen Mantel mit
der Kapuze.
Der Pegasus schoss über die Plattform
hinweg, zog aber gleich darauf einen engen Kreis, wobei er sich so weit
auf die Seite legte, dass sich für einen Moment Flügelpferd und
Reiterin auf der gleichen Höhe befanden. Nach diesem halsbrecherischen
Manöver hatte die Elfenfürstin ihre Flugrichtung so geändert,
dass sie jetzt, nun deutlich langsamer, aus der entgegen gesetzten Richtung
als der, aus der sie ursprünglich durch das Tor gekommen war, auf
das Plateau zuflog. Kurz bevor sie diese erreichten, verharrte das geflügelte
Pferd mitten in der Luft mit weit ausgebreiteten Schwingen wie ein Raubvogel
über einer vielversprechenden Beute.
Jetzt hatte Gorp die Gelegenheit, in das Gesicht
der Elfenfürstin zu blicken. Und wie bereits schon einmal, als er
Arkana an jenem Nachmittag im "Gebogenen Pfeil" das erste Mal begegnet
war, hatte er das merkwürdige Gefühl, dass er diese Elfin kannte,
sogar gut kannte. Es war wie einer jener seltsamen Augenblicke, in denen
man sich plötzlich aus unerklärlichen Gründen sicher ist,
alles, was in diesem Moment geschah, schon einmal durchlebt zu haben.
Unter dem Eishelm war das zarte, schmale,
aber doch stolze, fast überhebliche Gesicht einer Elfin zu erkennen,
mit schmalen Lippen und einem energischen Kinn, die Haut allerdings noch
schimmernder und glatter und die Augen noch strahlender, als er es von
den Waldelfen kannte, den einzigen Vertretern dieser Rasse, denen er je
zuvor begegnet war.
Sie sah den Elohim mit einem scharfen Blick
an. Dann lächelte sie.
"Du bist also Maa-Kial", sagte sie, "ich habe
viel von dir gehört und gelesen. Ich habe auch Abbildungen gesehen,
uralte, halbverwitterte Skulpturen oder Flachreliefs. Es ist wie so häufig:
Die Realität enttäuscht die Erwartungen unserer Fantasie. Auf
den meisten dieser Bilder bist du so groß wie eine ausgewachsene
Tanne, hast Stierhörner, einen Krokodilschwanz und bist unentwegt
damit beschäftigt, die Leiber von noch lebenden Elfen in dein riesiges
Maul zu stopfen."
"Es gab Zeiten, in denen diese Bilder der
Wahrheit durchaus recht nahe gekommen wären", gab Maa-Kial grinsend
zurück.
"Ich werde dafür sorgen, dass diese Zeiten
nie wieder kommen werden", gab die Elfenfürstin grimmig zurück,
"du magst jenen Menschen hier mit deiner Größe und deinem glänzenden
Speer beeindrucken, aber ich weiß, wie schwach du bist. All deine
Kraft ruht in jenem Stein und weder du noch sonst jemand ist in der Lage,
diese zu nutzen. Ich selbst habe Gorp den Flinken vom Volk der Menschen
erwählt, mir und nur mir das Herz des Drachen zu bringen."
Die Elfenfürstin sah ihn an, bestimmend,
mit der überheblichen Autorität einer Herrscherin über ein
mächtiges Volk, gleichzeitig war da aber auch Freundlichkeit in ihrem
Blick und die sanfte Güte, wie sie eine Mutter gegenüber ihrem
Kind hatte. Ihre Augen schienen aus reinem Licht zu bestehen und als Gorp
tief hinein blickte, hatte er den Eindruck, dass er darin verloren gehen
könnte, ganz so, als würde er in das Eis eines einsamen, zugefrorenen
Bergsees einbrechen. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass ihn Arkana
töten konnte, einfach so, nur mit ihrem Blick. Aber er sah auch wieder
jenes seltsam Vertraute in den Augen der Elfin, jene undeutlichen Erinnerungen,
die er mit ihr verband.
Allmählich hatte Gorp den Eindruck, die
Figur in einem Spiel zu sein, einem tödlichen Spiel, dessen Regeln
sich ihm nicht erschlossen und das schon seit vielen Jahrtausenden lief.
Aber auch einem Spiel, das nun zu seinem Ende zu kommen schien. Und das
in jedem Fall einen Sieger haben würde und einen Verlierer.
Arkana lächelte ihn an.
"Ich sehe dir an, Gorp der Flinke, wie dir
unzählige Fragen durch den Kopf rasen. Du hast das Gefühl, mich
zu kennen, und zwar schon sehr lange. Aber dennoch bist du dir sicher,
mir vor unserer Begegnung in Zwergenstein noch nie begegnet zu sein. Nun,
zum Teil stimmt das auch. Ich habe dich besucht, sehr oft sogar und zwar
seit vielen Jahren. Ich war das erste Mal bei dir an jenem Tag, an dem
ich dich dazu erwählt habe, das Herz des Drachen zu bergen. Ich habe
dich immer in den Nächten besucht, und zwar ausschließlich nur
in deinen Träumen."
Plötzlich wurde Gorp alles klar! Die
Erinnerungen an diese merkwürdigen Träume, die er seit frühester
Jugend hatte und die er regelmäßig nach jedem Aufwachen vergaß,
kamen nun mit einem Schlag alle wieder. Es war, als wäre er sein ganzes
Leben lang in einem kleinen, fensterlosen Zimmer eingeschlossen gewesen
und urplötzlich würde sich eine bisher verschlossene Tür
vor ihm auftun und den Blick freigeben auf die ganze Welt, die sich außerhalb
dieses Raumes befand.
"Du warst in meinen Träumen?"
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Er wusste nun ganz genau, woher er diese Augen kannte. Er hatte sie gesehen,
in vielen Nächten, er hatte bemerkt, wie sie ihn beobachteten, neugierig
und doch wissend, lauernd, aber auch fürsorglich wie eine Mutter.
"Das ist die Art der Elfenzauberer", sagte
Maa-Kial in einem abschätzigen Tonfall, "sie kennen viele Methoden,
um andere unter ihre Macht und ihren Einfluss zu zwingen. Und Menschen
waren für sie noch nie etwas anderes als Ungeziefer, das ihre zuvor
so reine Welt verschmutzte und gerade gut genug war, um sie für ihre
Zwecke zu manipulieren."
"Du kennst die Elfen schlecht", antwortete
Arkana, "du hast uns noch nie verstanden. Macht bedeutet uns nichts! Ich
habe nur das eine Ziel und das ist, dich zu vernichten und damit einen
Jahrtausende alten Krieg zu beenden, was schon vor sehr langer Zeit hätte
geschehen müssen. In all der Zeit, während du dich verkrochen
hast wie ein verwunderter Wolf, haben sich Menschen, Nixen, Dryaden und
Elfen friedlich die Welt geteilt. Die Völker waren zwar nicht in Freundschaft
verbunden, aber sie führten auch keine Kriege gegeneinander. Wenn
du deine Macht zurückerhalten würdest, würde sich das schlagartig
ändern. Und deswegen werde, nein, muss ich dich jetzt töten!"
Sie zog ihr Langschwert. Die Klinge war so
kristallklar und durchscheinend wie die Eisdiamanten, die Gorp bei sich
trug. Sie glänzte in der Sonne wie ein geschliffener Eiszapfen. Für
einen kurzen Augenblick überschlug Gorp, was diese Waffe wohl wert
sein mochte bei den Liebhabern der Elfenkunst in den Städten jenseits
der Grauen Berge. Arkana streckte die Klinge so vor sich, dass sie auf
die Brust des Elohim zeigte. Die Spitze der Waffe war ruhig, keinerlei
Zittern war zu erkennen.
Maa-Kial grinste breit und entblösste
dabei ein Reihe großer, furchterregend spitzer, feuerroter Zähne.
Gorp fiel ein, was die Elfenfürstin zuvor über die Bildnisse
des elfenverschlingenden Elohim gesagt hatte. Dann erklang die Stimme Maa-Kials,
laut, dröhnend, gleichzeitig spöttisch und doch wütend.
"Du bist nicht die erste Elfin, die glaubt,
Maa-Kial, Eosfor, den Lichtbringer, die Morgenröte der Menschen töten
zu können! Und ich bin mir sicher, du wirst nicht die letzte sein!"
Für einen kurzen Moment schien Arkana
tatsächlich etwas verunsichert zu sein. Doch dann zog ein dünnes
Lächeln über ihr Gesicht.
"Du bist wie ein kleiner Hund, der viel zu
laut bellt. Wir alle wissen, dass all deine göttliche Kraft in dem
Herz des Anzu ruht. Du bist mir nicht mehr gewachsen als jener schwache
Mensch."
Sie deutete mit der freien Hand auf Gorp.
Doch Maa-Kial machte nicht den Eindruck, sich
in sein unveränderliches Schicksal fügen zu wollen. Er holte
mit seinem mächtigen Arm aus und schleuderte den Kurzspeer direkt
auf die Elfenfürstin. Der Elohim mochte ohne magische Macht sein,
aber seine körperliche Kraft war dennoch gewaltig. Mit unglaublicher
Geschwindigkeit schoss der Speer auf Arkana zu. Diese hob blitzschnell
die Hand, mit der sie eben noch auf Gorp gedeutet hatte und machte damit
eine kleine, fast unscheinbare Geste. Für einen kurzen Moment sah
es so aus, als wäre die Elfin überzogen von einer Schicht aus
blauem, schimmerndem Eis, als wäre sie selbst und ihr Reittier eingeschlossen
in einem einzigen Eisblock wie eine Fliege in Bernstein. Der Speer prallte,
nur eine Handbreit entfernt von ihrem Herzen, auf das Maa-Kial gezielt
hatte, von diesem Eis ab und fiel, all seiner Energie beraubt, Gwydion
vor die Füße, wo er in den staubigen Überresten des Drachenkönigs
stecken blieb. Im nächsten Augenblick war dieser Eisblock verschwunden,
so dass sich Gorp fragte, ob er diesen ungewöhnlichen Panzer tatsächlich
gesehen hatte oder ob ihm seine Augen ihm nur einen Streich gespielt hatten.
Aber schließlich war Arkana eine Fürstin ihres Volkes, eine
mächtige Zauberin und Eis war das bevorzugte Element der Hohen Elfen.
"Du hast Mut, Elohim", sagte Arkana, "aber
mir scheint, es ist der Mut der Verzweiflung. Es wird nun Zeit, den Kampf
zwischen den Elohim und den Elfen ein für alle Mal zu Ende zu bringen."
"Und was geschieht dann?"
Gorp war selbst von seinem plötzlichen
Ausruf überrascht. Er war zwar ein erfahrener Waldläufer und
geschickter Dieb, aber er war nicht der Mann, der lautstark aufbegehrte,
wenn göttergleiche Wesen gerade damit beschäftigt waren, um die
Herrschaft der Welt zu kämpfen. In der rauen Welt diesseits der Grauen
Berge hat man nur geringe Überlebenschancen, wenn man seine eigene
Bedeutung überschätzte. Aber schließlich war er - wenn
Maa-Kial die Wahrheit gesagt hatte - der einzige hier, der diesen vermaledeiten
Stein berühren konnte.
Das wusste auch Arkana. Sie sah Gorp mit einem
Lächeln an.
"Nichts wird geschehen. Die Sonne wird weiter
ihre Kreise ziehen, die Sterne am Nachthimmel funkeln, der Wind sein Spiel
mit dem Wasser der Meere treiben. Die Elfen werden auf den höchsten
Bergen leben und auf jenen Inseln des Eises weit im Norden, die Menschen
werden in ihren Städten und Dörfern ihr so kurzes Leben führen.
Es wird Friede herrschen zwischen den Völkern, so, wie es schon all
die Jahre gewesen war. Und das Herz des Drachenkönigs wird vernichtet
und die Macht der Elohim und damit die letzten Erinnerungen an Maa-Kial
und seine Brüder werden aus dieser Welt für immer verschwinden!"
Ihre Stimme war während dieser Worte
immer lauter geworden, so als wollte die Elfenzauberin dem ganzen Tal,
möglicherweise der ganzen Welt kundtun, was die Fürstin der Hohen
Elfen entschieden hatte.
"Und nun", rief sie, "stirb, Elohim!"
Was nun geschah, dauerte nur wenige Augenblicke.
Aber jedesmal, wenn sich Gorp irgendwann in seinem späteren Leben
daran erinnerte - und er erinnerte sich häufig, allzu häufig
daran -, dehnten sich die Ereignisse in die Länge wie einer jener
merkwürdigen Träume, in denen die Zeit selbst sich fast bis zum
Stillstand zu verlangsamen schien.
Mit einer unscheinbaren Bewegung ihrer Füße
fügte Arkana sanften Druck auf den geflügelten Schimmel aus.
Dieser streckte seine gewaltigen Schwingen aus. Von einem einzigen, mächtigen
Flügelschlag angetrieben, schoß die Elfenfürstin blitzschnell
nach vorne, direkt auf Maa-Kial zu, trotz dieser unglaublichen Beschleunigung
immer noch ruhig auf dem Reittier sitzend und die Spitze des Schwertes
auf die Brust des Elohim gerichtet. Gorp sah das Flattern ihres Schneehaares
im Fahrtwind, erhaschte für einen kurzen Moment einen Blick in diese
entschlossenen Elfenaugen. Maa-Kial stand unverändert am Rande des
Plateaus, nach wie vor breit grinsend und dabei seine raubtierartigen Zähne
entblößend. Er machte keine Bewegung, um den Angriff der Elfin
abzuwehren, möglicherweise war er dazu auch überhaupt nicht in
der Lage, denn der Angriff erfolgte so plötzlich, dass niemand, der
nicht die Macht und die Kraft von Elfen besaß, fähig gewesen
wäre, in dieser Zeit auch nur eine Hand zu seiner Verteidigung zu
erheben. Dennoch war keine Spur von Furcht im Gesicht des Elohim zu erkennen.
Sein Grinsen wurde sogar noch breiter, alles an ihm strahlte Selbstbewusstsein
und Überheblichkeit aus.
Im nächsten Moment geschahen zwei Dinge
gleichzeitig. Die Elfenklinge fuhr in die Brust von Maa-Kial wie ein Blitz
in den Gewitterhimmel, der selbstsichere Ausdruck im Gesicht des Elohim
erstarb auf der Stelle und verwandelte sich in ungläubiges und fassungsloses
Erstaunen. Im gleichen Augenblick erkannte Gorp, dass der Schaft eines
Speeres aus dem Rücken der Elfenfürstin ragte. Mit einem gewaltigen
Schrei, der sich mehrfach an den Felsen des Cleddiff Nuadai brach, ließ
sie das Heft des Schwertes, das sie tief in den Körper Maa-Kials gestoßen
hatte, los. Ihr Körper erschlaffte. Ihr Pegasus, von der Kraft des
einen Flügelschlages angetrieben, schoss über den Rand der Plattform
hinaus in den tiefblauen Himmel über der Ebene von Nuadai, wo die
Elfenfürstin aus dem Sattel rutschte. Sie - oder ihr lebloser Körper
- begann einen langen und tiefen Fall bis hin zu dem felsigen Fuß
des Berges. Gleichzeitig flog der Pegasus, von seiner Reiterin und womöglich
auch Beherrscherin befreit, mit seinen riesigen Schwingen sanft auf der
stetigen Brise reitend, nach Süden, dorthin, wo sich die Marschen
von Dhem befanden, jenem unheimlichen und rätselhaften Landstrich,
in dem, der Sage nach, von undurchdringlichen Nebelbänken gleichzeitig
eingeschlossen und beschützt, die letzten freien Exemplare dieser
magischen Reitiere lebten. Gorp, der nach wie vor in der Mitte der Plattform
stand, sah, wie der Körper der fallenden Elfin aus seinem Blickfeld
geriet, wusste aber von seinem Aufstieg her, wie schrecklich lange dieser
Sturz noch dauern würde. Einige sehr lange anmutende Augenblicke später
drangen aus der Tiefe die Geräusche des Aufschlages nach oben, das
dumpfe Aufklatschen eines Körpers auf den Felsen, begleitet von dem
Scheppern zersplitternden Metalls, hervorgerufen durch eine Elfenrüstung
und dem Poltern der durch den Aufprall losgelösten Steine. Dann folgte
ein Moment der völligen Stille, bevor urplötzlich wieder jener
dröhnende Gesang der Trolle zu hören war. Gorp fragte sich, was
diese Steinkrieger wohl mit dem toten Körper einer mächtigen
Elfin anstellen würden.
Dann bemerkte er Maa-Kial, der vor ihm stand.
Arkana hatte ihr Schwert so tief in die Brust des Elohim gestossen, dass
dieses noch gut eine Elle lang aus seinem Rücken ragte. Der Riese
schwankte, während Blut, das von so dunklem Rot war, dass es fast
so schwarz wie seine Augen zu sein schien, aus der Wunde sprudelte. Dennoch
deutete sein Blick weniger auf Schmerzen oder gar die Angst vor dem nahenden
Ende hin als auf die unendliche Verwunderung über die Tatsache, dass
die Eisklinge der Elfenfürstin nun seinen Körper durchbohrte.
Und dieser Blick des Erstaunens galt eindeutig
... Gwydion!
Und erst jetzt wurde Gorp klar, woher jener
Speer gekommen sein musste, der im selben Augenblick, als das Schwert Arkanas
ihr Ziel fand, in den ungeschützten Rücken der Elfin geschleudert
wurde. Es war eben jene furchterregende Waffe Maa-Kials, die zuvor noch
an der Magie der Elfenfürstin gescheitert und dem Waldelfen vor die
Füße gefallen war.
Gwydion, sein Freund und Gefährte war
es gewesen, der diese mächtige Zauberin getötet hatte!
"Du hast... es zugelassen", sagte Maa-Kial
an den Waldelf gewandt, "du hast zugelassen, dass sie mich tötet!"
Seine Stimme war schwach, flüsternd,
seine Augen schienen zu flattern, aber er hielt sich nach wie vor aufrecht.
Gorp, der dem menschlichen Tod schon oft, zu oft begegnet war, erkannte
sofort, dass dies die Stimme und der Blick eines Sterbenden war. Konnte
dieses mächtige, uralte Wesen den Tod finden, hier, auf diesem einsamen
Felsbrocken inmitten dieser kargen, leblosen Ebene? Es war merkwürdig,
dass eine göttliche Gestalt wie der Elohim sterben würde wie
ein Mensch, mit der gleichen Verzweiflung in den Augen und mit denselben
hoffnungslosen Versuchen, gegen das Unausweichliche anzukämpfen wie
die Vertreter des Volkes, das er selbst erschaffen hatte.
"Das war nicht ... unsere Abmachung," fuhr
Maa-Kial fort. Er sprach die Worte kraftlos aus, mit zitternder Stimme.
"Das war nicht unsere Abmachung, richtig",
sagte Gwydion, "du hast mich beauftragt, Arkana zu töten, bevor sie
die Möglichkeit haben würde, dich zu töten. Arkana dagegen
hat mich beauftragt, Gorp zu beschützen und sie selbst notfalls dabei
zu unterstützen, dich zu töten. Ihr beide spieltet Euer Götterspiel
und habt mich und den Menschen zu Euren Spielfiguren auserkoren."
Langsam ging er auf den Elohim zu. Maa-Kial
sackte auf seine Knie, versuchte aber immer noch in dem verzweifelten Bemühen,
der Würde eines Wesens von göttlicher Natur gerecht zu werden
und seinen gewaltigen Oberkörper aufrecht zu halten. Selbst jetzt
überragte er Gorp immer noch um eine Manneslänge.
Gwydion trat an Maa-Kial heran.
"Ihr fühltet Euch so mächtig, so
überlegen, dass Ihr nie auch nur auf den Gedanken gekommen wärt,
dass Eure Figuren in der Lage sein könnten, ihr eigenes Spiel zu spielen."
Ein breites Lächeln zog durch das von
Schmerzen gequälte Gesicht des Elohim. Blut, so dick wie Schlamm,
quoll zwischen den spitzen Zähnen hindurch.
"Ihr wollt teilnehmen an einem Spiel für
Götter", sagte er mit einem höhnischen Unterton in der Stimme,
"ihr, ein Volk, das alle anderen Völker meidet und sich verkriecht
in den tiefsten und unzugänglichsten Wäldern?"
"Wo wir dich schließlich auch gefunden
haben, wie du dich versteckt hieltest seit Tausenden von Jahren, regungslos
in einer Felsspalte unter der Wurzel einer Eiche kauernd, auf den Tod des
Drachenkönigs wartend und darauf hoffend, dass dich kein Winterelf
finden würde."
Maa-Kial sackte immer mehr in sich zusammen.
Aber nach wie vor war er bemüht, zumindest seinen Kopf aufrecht zu
halten. Gwydion war jetzt ganz nah an den Elohim herangetreten. Nach wie
vor verriet ein leichtes Flimmern in der Luft, dass Maa-Kial eine Hitze
ausstrahlte, die für einen Menschen, wäre er diesem Schöpferwesen
so nahe gekommen wie in diesem Augenblick der Waldelf, absolut tödlich
gewesen wäre. Aber Gwydion schwitzte nicht einmal. Andererseits schwitzten
Elfen ohnehin nie, so wie sie auch nie froren. Ohne dass der völlig
kraftlose Elohim in der Lage wäre, auch nur einen Finger zu rühren,
um irgendetwas dagegen zu tun, griff Gwydion nach dem Heft des Schwertes.
Dort, wo die Klinge in den Körper des Riesen eindrang, stieg eine
kleine Dampfwolke hoch.
"Feuer und Eis" murmelte er, "der alte Kampf.
Ich vermute, dieser Krieg dauert schon seit ewigen Zeiten, vermutlich viel
länger, als wir es uns überhaupt vorstellen können."
Mit einem plötzlichen Ruck zog er die
Waffe aus der Brust des Elohim. Sofort quoll dickes, dunkles Blut aus der
Wunde, ganz so, als habe die Elfenklinge es zurückgehalten wie ein
Stauwehr einen wilden Bergfluss. Der Kopf Maa-Kials sank herab, wenige
Augenblicke lang besah er mit staunenden Augen, wie mit seinem Blut, das
an diesem Tag das erste Mal überhaupt vergossen wurde, auch sein Leben
verrann. Dann sank er langsam nach hinten, stürzte über den Rand
der Plattform und folgte Arkana auf den Weg in die Tiefe.
Währenddessen stand Gwydion nur ruhig
da und betrachtete das Schwert. Kein Tropfen Blut haftete an der Klinge,
die immer noch von den dunstigen Schwaden schmelzenden Eises umweht wurde.
"Das könnte das Ende dieses Krieges sein",
sinnierte der Waldelf, "oder auch nur der Beginn einer neuen Phase."
In einer heftigen Bewegung warf er Arkanas
Schwert vor sich auf den Boden. Jene Mischung aus Staub und Asche, die
die Überreste des Drachenkörpers bildeten, wirbelte an der Stelle
auf. Doch nachdem sich die kleine Wolke gesenkt hatte, lag die Waffe da,
kristallen glänzend, von keinem noch so kleinen Staubkörnchen
berührt, so als würde sich selbst der Schmutz auf dem Boden weigern,
in Berührung mit diesem magischen Schwert zu kommen. Weiterhin stiegen
die schmalen Schwaden von verdunstendem Eis von der Klinge auf. Gorp bemerkte,
dass sich das Schwert verändert hatte, seit es von Arkana gezogen
worden war, vor nur wenigen Augenblicken, aber vor einer Zeit, die ihm
mittlerweile vorkam wie eine halbe Ewigkeit. Es war deutlich schmaler geworden,
flacher, nun schien die ganze innere Struktur der Klinge zu brechen, der
Glanz des kostbaren elfischen Diamanteneises verblasste und machte Platz
für das zahllos gebrochene Funkeln frisch gefallenen Schnees. Die
ganze Waffe schmolz dahin, sie war nur zu dem einen Zweck von zauberischen
Elfenschmieden, womöglich sogar von der Fürstin selbst, geschaffen
worden: Um Maa-Kial, den Feuerbringer, die Morgenröte der Menschheit,
zu töten!
Gwydion sah seinen Gefährten mit ernster
Miene an.
"Die Entscheidung liegt nun bei dir", sagte
er.
"Ich verstehe das alles nicht", gab Gorp zurück,
"und ich lasse mich ungern auf Dinge ein, die ich nicht verstehe."
"Du hast schon oft Dinge getan, von denen
du nicht einmal im Ansatz eine Ahnung hattest, warum du sie tatest."
Gorp grinste.
"Ja, aber da hatte ich Auftraggeber, Leute,
die mich dafür bezahlten, das zu tun, was ich dann tat und mir zumeist
noch einen Extrabonus dafür gaben, dass ich keinerlei Fragen stellte
über das Warum. Aber du hast meinen jetzigen Auftraggeber mit einer
Lanze in den Rücken in die Tiefe geschickt."
"Ich vermute, ich bin dir einige Erklärungen
schuldig", sagte Gwydion.
"Also höre: Es waren die Waldelfen, die
Maa-Kial fanden, damals, in jenen Tagen, als sie sich eine neue Heimat
suchten in den dunklen Forsten des Nordens, weit weg von den Hohen Elfen,
aber auch von dem unentwegten Lärm der Menschen. Und obwohl der letzte
der Elohim seit Urzeiten Bestandteil in den Überlieferung aller Elfen
war und es in den alten Liedern hieß, dass die Welt erst ihre Reinheit
zurückgewinnen würde, wenn der Feuerbringer gefunden und für
immer vernichtet sein würde, entschlossen wir uns, Maa-Kial nicht
zu töten. Wir waren nur noch ferne Nachfahren der Winterelfen, ihre
Kämpfe waren schon lange nicht mehr die unseren und ihre Feinde waren
nur noch bedeutungslose Namen in alten Sagen. Das Volk der Waldelfen lebte
in einer völlig anderen Welt als ihre Vorfahren aus den Eisländern
und vermutlich würde es in jenem lange vergangenen Zeitalter der Reinheit,
das in den alten Hymnen besungen wurde, für sie ebenso wenig einen
Platz geben wie für jene armselige, unter einer Wurzel kauernde Gestalt
des letzten der Elohim. Als dieser aber bemerkte, dass wir sein Leben verschonen
würden, versuchte er sogleich, mein Volk in seine Pläne einzubeziehen
und uns für seine Bedürfnisse auszunutzen."
Gwydion ging zum Rand des Plateaus und starrte
in die Tiefe. Nach wie vor ertönten die grollenden Gesänge der
Trolle vom Fuße des Berges.
"Er war nicht sehr schwierig für dieses
Wesen, das schon mehr als einmal in seinem Leben dem Todesstoß durch
eine Elfenklinge durch sein Geschick, andere zu manipulieren, entkommen
war. Elfen sind nicht wie Menschen. Wir sind Euch zwar an Wissen, Lebensdauer,
magischer und körperlicher Kraft überlegen, auf der anderen Seite
sind wir aber auch - im Gegensatz zu Euch - Wesen von fast unvorstellbarer
Naivität. Die Fähigkeiten, andere zu beeinflussen, Gerüchte
zu lancieren, Intrigen zu spinnen, sind bei den meisten Elfen nur gering
ausgeprägt. Arkana war natürlich eine Ausnahme, weshalb sie es
auch schaffte, bei den Hohen Elfen eine solch große Macht zu erlangen.
Und Maa-Kial war ein wahrer Meister darin. Er schürte unseren Hass
gegen die Hohen Elfen, das Volk, das uns verstoßen hatte. Und er
machte uns somit zu seinen Verbündeten. Wir begannen, für ihn
zu spionieren, schickten unsere Freunde, die Krähen des Tiefen Waldes,
aus, schlaue Geschöpfe, die niemand, nicht einmal Arkana selbst, in
Verdacht hatten, dass sie mehr waren als dumme, krächzende, Aas fressende
Vögel. So erhielten wir Kenntnis davon, dass Arkana nachforschte über
die Elohim und über Anzu, dem Drachenkönig. Die Elfenfürstin
hatte sich immer für sehr klug gehalten, aber Diskretion war nicht
gerade eine ihrer Stärken. Sie liebte einfach viel zu sehr den großen
Auftritt. Auch als sie uns beide in ihrer merkwürdigen Verkleidung
traf, tat sie das nicht irgendwo während unserer Reisen in einem einsamen
Wald, sondern suchte uns in einer gut besuchten Kaschemme auf. Und keinem,
der an diesem Tag anwesend war, und auch wenn er noch so betrunken war,
konnte entgangen sein, dass da ein sehr außergewöhnliches Wesen
plötzlich mitten unter ihnen war. Und Krähen redeten gern mit
Betrunkenen, wenn sie auf dem Heimweg von einem feuchtfröhlichen Abend
waren, denn selbst wenn diese sich am nächsten Tag noch daran erinnerten,
würden sie nicht den Mut haben, zu behaupten, sie hätten mit
einem Vogel geplaudert. So war es nicht sehr schwer, herauszufinden, in
welche Richtung sich die Nachforschungen der Fürstin bewegten. Alles
lief auf diesen Tag zu, auf diese Stunde."
"Aber das erklärt nicht, warum du sie
getötet hast. Beide!"
"Ihr Menschen habt nur ein sehr begrenztes
Lebensalter. Elfen, zumal wenn sie sehr zaubermächtig sind, erreichen
oft ein Alter, das viele Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende umfasst.
Auch Arkana ist sehr alt, auch wenn man es ihr nicht ansieht. Manche sagen
sogar, sie sei tatsächlich die letzte der Winterelfen und hat die
Elohimkriege selbst noch als junges Mädchen miterlebt. Sie war bereits
Fürstin der Hohen Elfen, als deren Oberster Rat unter ihrem Vorsitz
beschloss, mein Volk zu verbannen. Es würde zu weit führen, dir
erklären zu wollen, warum das geschah. Es ist viele Jahrhunderte her,
aber sie war damals schon sehr mächtig. Und ihre Macht ist seit jenen
Tagen noch weiter gestiegen. Das Volk der Elfen ist normalerweise friedlich.
Wir beschäftigen uns lieber mit anderen Dingen, mit der Sprache der
Tiere zum Beispiel oder mit der Magie der Elemente als mit den Spielen
der Macht oder mit dem Kampf. Arkana war schon immer anders und es fiel
ihr nicht schwer, ihr Volk mit Magie und mit ihrer Willenskraft zu beherrschen.
Und es war ihr Wille gewesen, uns zu verbannen. Ihr Tod war die Rache für
mein Volk, die Rache der Waldelfen."
"Für dein Volk? Ich dachte, du bist ein
Verstoßener!"
"Das bin ich auch. Und werde es für alle
Tage bleiben. Denn es gilt bei allen Elfen als ein schändliches Verbrechen,
andere aus so niedrigen Beweggründen wie dem Wunsch nach Vergeltung
zu töten. Aber dennoch war das Ende der Fürstin der Hohen Elfen
etwas, was sich mein Volk seit Jahrhunderten erhofft hatte. Und ich weiß,
dass - auch wenn mich die uralten und gerechten Gesetze verurteilen - die
Herzen der Waldelfen immer mit mir sein werden."
"Und Maa-Kial?"
"Wir brauchten ihn, um an Arkana heran zu
kommen. Wir wussten, dass sein Speer die einzige Waffe auf der Welt war,
die mächtig genug sein würde, um der Elfenfürstin den Tod
zu bringen. Und das auch nur, wenn man sie einsetzte, während Arkana
selbst abgelenkt war. Und so geschah es schließlich auch! Maa-Kial
hatte die ganze Zeit geglaubt, dass er uns benutzte, um an das Herz des
Drachen zu kommen. Aber wir benutzten ihn, um unsere Rache an der Fürstin
der Hohen Elfen verüben zu können."
"Aber du hättest seinen Tod verhindern
können!"
"Wozu? Arkana hatte nicht Unrecht! Er hätte
die Welt erneut mit Krieg überzogen! Wir Elfen kennen die Elohimkriege
noch auch den alten Liedern, die wir über viele Jahrhunderte von Generation
zu Generation weitergegeben haben. Es war eine schreckliche Zeit gewesen!
Maa-Kial und seine Geschwister führten die ihnen im unbedingten Gehorsam
untergebenen Heere der Menschen und Trolle gegen die Winterelfen an, es
gab gewaltige Schlachten mit unzähligen Toten, wobei die Zahl der
Verluste auf der Seite der schwachen Menschen ein vielfaches höher
war als auf der der Elfen. Aber Maa-Kial hat euch mit einem ohnehin kurzen
Leben, mit hoher Fruchtbarkeit und mit einer kurzen Jugend geschaffen.
So konnte er immer wieder neue Heere aufstellen. Es war eine Zeit, in denen
die Todeskrähen fett wurden, in der der Tod so alltäglich war,
dass jeder, ob Mensch oder Elf, an jedem neuen Morgen dankbar und zumeist
auch erstaunt darüber war, noch zu den Lebenden zu gehören. Weit
im Norden, dort, wo die Welt nur für wenige Wochen frei von Eis und
Schnee war, gibt es Ebenen, aus denen hohe Hügel, fast Berge, herausragen,
geschaffen aus den Gebeinen der Toten von nur einer Schlacht. Nein, so
etwas durfte nie wieder geschehen! Ma-Kial musste ebenso wie Arkana sterben."
Der Waldelf schwieg. Für einen kurzen
Moment herrschte völlige Ruhe auf dem Plateau des Cleddiff Nuadai.
Es war, als würde die Welt, ja, das ganze Universum den Atem anhalten.
"Was wird nun geschehen?", fragte Gorp.
"Das", antwortete Gwydion, "das entscheidest
alleine du."
Er deutete auf das Herz des Drachen, das vor
seinem menschlichen Gefährten im Staub lag.
"Niemand weiß, welche Macht darin ruht!
Dieser Stein birgt nicht nur das Geheimnis der Elohim in sich. Er ist auch
der Kern dessen, was einst einen gewaltigen Drachen ausgemacht hat."
"Das entscheide alleine ich?", ein Lächeln
durchzog Gorps Gesicht, "erstaunlich, nachdem ich offensichtlich mein ganzes
Leben lang nichts mehr als der Spielball von Elfen und Halbgöttern
gewesen war. Auch der von dir, Gwydion, mein Freund."
Er bückte sich und berührte die
Oberfläche des Steines. Er fühlte sich glatt an, war aber gleichzeitig
narbig und durchfurcht, so, als sei er seit Urzeiten dem Einfluss von Wind
und Wetter und nicht dem der Magie gewaltiger Wesenheiten ausgesetzt gewesen.
Er hatte geglaubt, dass er irgendetwas von dieser Kraft spüren könnte,
dass die Macht der Elohim und die der Drachen sich bemerkbar machen würde,
wenn er diesen Stein anfasste. Aber er fühlte nichts anderes als die
warme Oberfläche eines alten, halbverwitterten Felsbrockens in der
Mittagssonne.
Er erhob sich. Langsam ging er zum Rand des
Bergplateaus. Der Nebel in der Ebene hatte sich mittlerweile aufgelöst.
Nur noch wenige, vereinzelte Pfützen wiesen auf das Unwetter des Vortages
hin. Drachen - so hieß es in den alten Sprüchen - waren die
Boten des Regens. Vermutlich war dieser Sturm Künder des Todeskampfes
des letzten und mächtigsten dieser Rasse gewesen. War noch irgendetwas
von Anzu in diesem Stein? Und von Maa-Kial und seinen Geschwistern?
Er sah zu, wie die Trolle westwärts marschierten.
Von hier oben sah es aus, als bewegte sich ein Lawine aus Felsen und Findlingen
waagerecht über die Ebene, langsam zwar und fast gemächlich,
aber dennoch bereit, alles zu zermalmen, was sich ihr in den Weg stellte,
wie es eben die Art dieser Naturgewalt war. Diese mächtigen Steinwesen
werden vermutlich die ganze Welt mit Krieg überziehen. Könnte
ihm der Stein dabei irgendwie von Nutzen sein? Er wusste, dass es keinen
Sinn hatte, Gwydion danach zu fragen. Er würde keine Antwort erhalten.
Er drehte sich um. Zu seinen Füßen
entdeckte er das Eisschwert der Elfenfürstin. Noch immer sonderte
es dünne Schwaden kalten Dampfes ab, die wie dünne Streifen aus
schneeweißer Seide im sanften Wind nach oben tanzten. Er bückte
sich, griff nach dem Heft der Waffe und hob sie hoch. Sie fühlte sich
merkwürdig leicht an, so, als bestünde die Schneide nur aus der
Luft, in die sie sich nun allmählich aufzulösen schien. Aber
er spürte noch etwas Anderes, Fremdartiges und ihm wurde klar, dass
da noch ein Teil der Macht und der Persönlichkeit Arkanas in diesem
Schwert steckte. Er hatte davon gehört: Die Elfen besaßen magische
Waffen, geschmiedet mit Zaubersprüchen und gehärtet in ihrem
eigenen Blut. Sie waren fast so etwas wie ein Teil ihres Körpers.
Und gleichzeitig mit der seltsamen Präsenz der Elfenfürstin,
die von dem Schwert auszustrahlen schien, kamen die Erinnerungen wieder,
Erinnerungen von merkwürdigen Bildern, von Worten, Gedanken und den
Gefühlen, der er in lange vergessen geglaubten Träumen erlebt
hatte und die nun in kleinen, unzusammenhängenden Fetzen vorüber
wehten wie sich im Wind auflösender Rauch. Und das einzige, das er
festhalten konnte, das hinter diesen Fragmenten von Erinnerungen so allgegenwärtig
war wie der eigene Herzschlag, war die große, stolze Gestalt von
Arkana. Und obwohl er erst seit dieser Stunde überhaupt davon wusste,
dass ihn die Elfenzauberin in seinen Träumen besucht, beobachtet,
überwacht hatte, wusste er tief in seinem Inneren, dass er dies all
die Jahre gespürt und auf gewisse Weise auch gewusst hatte. Und in
diesem Augenblick wurde Gorp klar, dass er nun frei war! So frei, wie er
noch nie in seinem Leben gewesen war und so frei, wie er es wohl nie wieder
sein würde.
Er sah Gwydion an, blickte in dessen helle
Augen und in eine Mimik, die wie immer so verschlossen, so undurchdringlich
und undurchschaubar war wie das Gesicht eines Höhlenbären.
Dann ging sein Blick die allmählich schmaler
werdende, aber immer noch scharfe Schneide des Elfenschwertes in seiner
Hand entlang.
"Damit könnte ich vermutlich den Stein
zerstören?", fragte er.
"Ja", gab Gwydion zurück, "ich vermute,
dass das Arkanas Vorhaben gewesen war: Mit dieser magischen Waffe Maa-Kial
zu töten und das Herz des Anzu zu zerschmettern."
Gorp lächelte.
"Ich könnte es tun. Ich könnte den
Stein und damit alles, was von den Drachen und von den Elohim noch auf
Erden existiert, für immer vernichten."
Er hob die Waffe in die Höhe. Sie war
leicht, lag gut in seiner Hand.
"Ich könnte den Stein aber auch mit mir
nehmen", sagte er.
Er blickte in den blauen Himmel. Eine leichte
Windbö blies warme, feuchte Luft in sein Gesicht. Ansonsten herrschte
völlige Stille.
"Ich kann machen, was ich will", flüsterte
er in den Wind, "denn ich bin frei!"
© Agilo
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