Der Schankraum des Lustigen Hirschen war wie
immer gut gefüllt. Mit einem schnellen Blick suchte Jassinie nach
vertrauten Gesichtern, um diesen als Zeichen der Begrüßung und
Wertschätzung ein kurzes Kopfnicken zukommen zu lassen. Tirian und
Ghedina, die beiden Schankmädchen, hatten den Raum gut im Griff, wie
die gefüllten Bierkrüge und vollen Speiseteller erkennen ließen.
Und wie immer schienen die Speisen auch gut zu schmecken. Die in festes
Leder gekleidete Waldläuferin ignorierte den verführerischen
Duft frisch zubereiteten Wildbrets, die Spezialität von Anselm, dem
Besitzer und Koch des Lustigen Hirschen, und ging ein Stückchen in
den Schankraum hinein, um nach einem freien Plätzchen zu suchen. Als
Jassinie die Kapuze zurückschlug, sahen die anderen Gäste in
ihr wettergegerbtes, unauffälliges Gesicht mit einer kecken Stupsnase.
Sie schüttelte gerade ihr lockiges, braunes Haar aus, als ihr auf
halbem Weg Tirian entgegen kam. Jassinie winkte und Tirian, die geschickt
ein schweres Tablett mit Bierkrügen balancierte, zwinkerte ihr erfreut
zu. Die Waldläuferin suchte nach einem freien Sitzplatz, aber Tirian
beugte sich zu ihr hin und raunte ihr zu: "Warte an der Theke. Ich habe
Nachrichten für dich."
Jassinie nickte, und änderte ihre Richtung
schnurstracks zur Theke hin. Dort angekommen tauschte sie Nettigkeiten
mit Friedorn, Anselms breitschultriger Sohn, aus. Wie immer bewältigte
Friedorn die Aufgaben hinter dem Tresen mit Übersicht und gelassener
Ruhe. Jassinie musste nicht lange warten, bis Tirian sich zu ihnen gesellte.
"Hallo, Jass", begrüßte die dralle
Bedienung ihre Bekannte. "Ich hätte da ein paar Neuigkeiten für
dich."
"Ist es dringend?" entgegnete Jass mit einem
angedeuteten Kopfnicken in Richtung Friedorns. Der Schankwirt verstand
den Wink und lachte: "Ich werde euch Mädels dann mal alleine lassen."
"Zu gütig, Frieder" flötete Tirian,
die so leicht nichts aus der Ruhe brachte.
"Also, was gibt’s?" Jass versuchte nicht ihre
Neugierde zu verbergen.
"Siehst du den alten Mann dahinten neben dem
Stützbalken?" Tirian richtete Jassinies Aufmerksamkeit mit einer kaum
merklichen Kopfbewegung auf einen kleinen Holztisch an dem ein graubärtiger
Mann mit faltigem Gesicht saß. Trotz der wohligen Wärme im Gasthaus
hatte er seinen Umhang aus Schafsfell nicht abgelegt. Sein Kragen war hochgestellt,
was ihn in eine gewisse Unnahbarkeit signalisierte. Kein Wunder, dass er
alleine an dem kleinen Tisch saß, obwohl die Einwohner von Gerasen
sich ihrer Gastfreundschaft rühmten und Fremden gegenüber offener
waren als in anderen Ortschaften.
"Was ist mit ihm?" fragte Jass, nachdem sie
ihre erste Begutachtung des Fremden abgeschlossen hatte.
"Nun", meinte Tirian bedeutungsschwanger,
"der Mann ist vor gut zwei Stunden hier eingetroffen. Offensichtlich ist
er zu Fuß unterwegs. Als ich seine Bestellung entgegennahm, fragte
er mich, ob ich einen Führer wüsste, der sich in der Gegend auskennt."
"Verstehe", sagte Jass und schaute wieder
in Richtung des alten Mannes.
Tirian berührte Jass sanft am Oberarm.
"Aber das war noch nicht alles."
Jass blickte sie neugierig an. Der geheimnisvolle
Unterton in Tirians Stimme war nicht zu überhören. "Ja?"
Tirian beugte sich näher zu ihr hin und
flüsterte gerade so laut, dass Jass sie durch das Stimmengewirr das
Schankraumes verstehen konnte: "Ich fragte ihn daraufhin, ob er sein Reiseziel
näher beschreiben könnte, schließlich gäbe es einige
Führer, die in Frage kämen."
Jass hob eine schlanke Augenbraue. Tirians
Flüstern wurde noch leiser.
"Er sagte, dass er jemanden sucht, der sich
im Grünhornwald auskennt."
Tirian beugte sich wieder zurück und
sah Jass mit forschenden Augen an.
"Ah", meinte Jass und versuchte sich so unbeeindruckt
wie möglich zu zeigen. "Das kommt eher selten vor."
Tirian nickte bestätigend und raunte
ihr zu: "Ich habe niemandem davon erzählt. Ehrenwort."
Jass legte ihrer Freundin beruhigend eine
Hand auf die Schulter. "Danke, Tirian." Innerlich jedoch ärgerte sie
sich, dass Tirian überhaupt wusste, dass sie in irgendeiner Form mit
dem Grünhornwald zu tun hatte. Je mehr davon wussten, umso schwerer
war es, das Geheimnis des Waldes verborgen zu halten. Was wusste dieser
alte Mann davon? Jassinie musste es herausbekommen. Sie nahm den Krug mit
Wasser, den Friedorn ihr auf den Tresen gestellt hatte, und ging gemächlich
zu dem Fremden hinüber. Einige ihrer Bekannten forderten sie auf,
sich zu ihnen zu gesellen, aber Jassinie lehnte höflich ab. Für
einen kurzen Moment wurde sie dadurch abgelenkt und bemerkte nicht, wie
der alte Mann sie interessiert beobachtete. Als sie sich ihm wieder zugewandt
hatte, ruhte sein Blick wieder auf dem Krug Wein auf seinem Tisch.
"Den Hohen zum Gruße, werter Wanderer.
Darf ich mich zu Euch setzen?" fragte Jassinie bedächtig. Für
einen kurzen Moment stutzte sie, denn der alte Mann schien bei ihren Worten
zurückzuzucken. Doch schnell hatten sie beide sich gefangen, und der
graubärtige Mann wies ihr einen Platz auf einem der freien Stühle
zu.
"Nur zu, Mädchen." Sein Blick war weiterhin
grimmig und verschlossen, aber seine Stimme war warm und einladend. "Was
führt dich an meinen Tisch?"
"Ihr seid ziemlich direkt", meinte Jassinie
ohne nachzudenken. Es ärgerte sie, dass er sie Mädchen genannt
hatte.
Seine dunklen Augen blinzelten vergnügt.
Nach außen gab dieser Fremde sich wohl abweisend und unnahbar, aber
jetzt genoss er augenscheinlich die kleine Unterhaltung. "Wenn ein hübsches
Ding wie du, sich zu einem alten Kerl und noch dazu einem Fremden wie mich
setzt, hat das meistens einen eher außergewöhnlichen Grund.
Oder?"
"Kann schon sein." Jass fühlte sich irgendwie
überrumpelt. Dabei hatte sie doch vorgehabt, diese Begegnung zu verwenden,
um diesen seltsamen Wanderer und seine Absichten erst einmal sorgfältig
zu ergründen. Doch schnell merkte sie, dass ihr diese Unterhaltung
schon nach wenigen Augenblicken aus der Hand glitt.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass es so ist.
Also, ich höre?"
Jass war drauf und dran wieder aufzustehen
und den alten Mann seinen Geschäften zu überlassen. Sollte er
doch sehen, wie er in den Grünhornwald kam. Dennoch blieb sie sitzen.
"Ich habe erfahren, dass ihr Euch für
den Grünhornwald interessiert..."
Der alte Mann nickte. "Das ist richtig."
"Was sucht Ihr dort?" Jass beabsichtige nicht,
dem Mann ein Angebot zu unterbreiten, bevor sie nicht wusste, was genau
er im Schilde führte.
"Was, wenn du mir nicht weiterhelfen kannst?"
konterte der alte Mann jedoch geschickt. Seine Augen lächelten Jass
belustigt an.
"Ich suche keinen Führer für jene
Gegend."
Jassinies Gegenüber lächelte ihr
anerkennend zu, ließ sich aber noch immer nicht aus der Reserve locken.
"Ich werde mein Ziel auch so früher oder später finden. Ich bin
schon so lange auf der Suche, was kommt es da auf ein paar Tage mehr oder
weniger an?" Die dunklen Augen bohrten sich förmlich in das Gesicht
der jungen Frau. Was hatten diese Augen in ihrem Leben schon alles erblickt?
Jass zögerte einen Moment mit der Antwort, und kaute auf ihrer Unterlippe
herum. Unwillkürlich versuchte sie dem eindringlichen Blick des alten
Mannes auszuweichen. Welche Geheimnisse verbarg er? Welche Geheimnisse
beabsichtigte er zu erforschen?
"Nun gut", meinte Jass schließlich,
nachdem sie sich wieder ein wenig im Griff hatte. "Ihr habt mich neugierig
gemacht. Angenommen, ich könnte Euch zum Grünhornwald begleiten,
was würde euch das bringen?"
"Ah, du gibst nicht so leicht auf, was?" Die
Augen des Mannes funkelten erneut belustigt, aber seine Worte enthielten
mehr Wärme als Feindseligkeit. "Du gefällst mir. Wann brechen
wir auf?"
"Moment!", entgegnete Jass. "Ich habe noch
nicht zugestimmt, dass ich Euch führen werde." Wieder ging es der
jungen Frau viel zu schnell. Wie konnte das passieren? Sie war doch sonst
nicht auf den Mund gefallen. Und jetzt ließ sie sich von diesem alten
Mann nach allen Regeln der Kunst vorführen?
"Ich weiß, dass du mich führen
wirst, Mädchen. Du würdest sonst nicht mehr an diesem Tisch sitzen.
Du willst wissen, warum ich den Wald aufsuchen möchte, und das kannst
du nur herausfinden, wenn du mitkommst."
Jass erkannte, wann sie verloren hatte. "Habt
Ihr ein Pferd?"
Der alte Mann schüttelte den Kopf. "Benötige
ich eines?"
"Der Weg zum Grünhornwald ist weit, und..."
"...ich sehe so aus, als würden meine
alten Knochen mich nicht mehr allzu lange tragen", unterbrach der alte
Mann sie. Jass nickte schwächlich. Gab es irgendetwas, was diesen
Menschen überraschen konnte? Ungerührt fuhr der alte Mann fort:
"Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin gut zu Fuß und in einem Wald
ist ein Pferd ohnehin nicht immer nützlich, nicht war?"
"Stimmt. Und wie schaut es mit warmer, wetterfester
Kleidung aus? Wir müssten den Gletschersteig überqueren, und
zu dieser Jahreszeit könnte dort schon Schnee fallen."
Unbeeindruckt zeigte der alte Mann auf den
abgetragenen Pelzmantel, der auf der Sitzbank zu seiner Seite im Schatten
verborgen zusammengerollt lag. "Auch das sollte kein Problem sein."
"Ich hole Euch nach Sonnenaufgang ab", meinte
Jassinie und erhob sich von ihrem Stuhl. Erst jetzt bemerkte sie, dass
sie keinen einzigen Schluck aus ihrem Becher getrunken hatte, seit sie
bei dem Alten saß. Wie hatte er ihre Aufmerksamkeit derart fesseln
können?
"Ich werde hier auf dich warten." Der alte
Mann lächelte sie zum Abschied an, und wandte sich wieder seinem Weinkrug
zu.
Am nächsten Morgen brachen Jassinie und
der alte Mann zu Fuß auf. Es stellte sich heraus, dass Jassinies
Begleiter in der Tat noch sehr rüstig und ausdauernd für sein
Alter war. Mit sicherem Gang folgte er ihr auf Schritt und Tritt. Mit vierundzwanzig
Sommern war Jass in der Blüte ihrer Kraft und eine erfahrene Kundschafterin,
die manche große Strecke bereits in kurzer Zeit zurückgelegt
hatte. Doch ihr seltsamer Begleiter stand ihr in nichts nach, obwohl er
bestimmt vierzig Sommer mehr zählte als sie, schätzte Jassinie.
Auch als der Pfad steiler wurde und der Weg sie in die ersten Ausläufer
des Gletscherkamms führte, zeigte er nicht mehr Müdigkeit als
die junge Waldläuferin.
Während ihrer ersten Rast aßen
sie schweigend ihre Marschverpflegung. Viele Fragen lagen auf Jassinies
Zunge, doch die Erfahrungen des Vortages ließen sie erahnen, dass
ihr seltsamer Begleiter nur dann reden würde, wenn ihm der Sinn danach
war. So setzten sie ihren Weg fort, bis sie am Abend eine Berghütte
erreichten, in der ein Schafhirte wohnte. Jass kannte ihn und gegen ein
paar Geschichten aus der Welt überließ er ihnen gerne zwei Strohsäcke
und warme Decken. Am Abend überraschte der alte Mann Jass, als er
dem aufmerksam lauschenden Hirten viele Geschichten aus fernen Ländern
erzählte, die zum Großteil selbst ihr unbekannt waren. Anfangs
glaubte sie, dass er all das nur erfunden hatte, aber schnell entdeckte
sie immer wieder Einzelheiten und Ereignisse, die auch ihr vertraut waren.
Der Respekt vor ihrem Begleiter wuchs mit jedem weiteren Bericht. Dieser
Mann war im Laufe seines Lebens in der Tat sehr, sehr weit gereist. "Aber
wer ist der Kerl, bei allen Göttern?" dachte Jass, als sie sein Gesicht
im Schein des Kaminfeuers beobachtete.
Auch am nächsten Morgen brachen Jass
und der Fremde in aller Frühe auf. Sie verabschiedeten sich herzlich
von dem Schafhirten, der ihnen noch einen schmackhaften Laib Brot und einen
lange gereiften Schafskäse mit auf den Weg gab. Jassinies Begleiter
war an diesem Tag offensichtlich besser gelaunt, denn er war weniger wortkarg
als am Vortag und erzählte ihr von seinen jüngsten Reisen. Er
stellte sich auch endlich vor: Sein Name war Názur. Jass erzählte
selber von einigen ihrer Reisen, und als sie am Abend den Ausgangspunkt
des eigentlichen Gletschersteigs erreicht hatten, hatte Názur ihr
ein freundschaftliches 'Du' angeboten und ihr bisheriges Misstrauen war
einer unbekümmerten Neugierde gewichen.
Die Nacht verging ereignislos und auch das
Wetter war ihnen gewogen. Das Frühstück wurde schweigend verzehrt
und danach nahmen sie den Aufstieg in Angriff. Es hatte seit einigen Tagen
nicht geregnet und der schmale Trampelpfad war in gutem Zustand. Jass ertappte
sich dabei, wie sie zum Schluss kam, dass die Götter es wohl gut mit
ihrer Reise meinten. Doch dann fiel ihr ein, dass sie noch immer nichts
von Názurs Absichten wusste. War es wirklich eine so gute Idee diesen
seltsamen Mann in den Grünhornwald zu führen? Jass blieb während
des ganzen Vormittags ziemlich schweigsam. Ihren Begleiter schien dies
nicht zu stören. Mit leuchtenden Augen ergötzte er sich an dem
prachtvollen Blick, der sich ihnen über die unter ihnen liegende Landschaft
bot.
An einem besondern schönen Aussichtspunkt
hielt Názur an.
"Wie kann es sein, dass die Götter so
etwas Wundervolles schaffen, um der Menschen Herzen zu erfreuen, wenn sie
gleichzeitig nicht zögern, die gleichen Herzen zu anderer Stunde in
tiefste Trauer zu stürzen?"
Jass, die gerade einen Schluck Wasser aus
ihrer Feldflasche zu sich nahm, keuchte bei diesen Worten erschrocken auf.
"Was sagst du da?" rief sie und verschluckte
sich beinahe. "Wie kannst du so von den Göttern reden?"
"Die Götter, ha!", höhnte Názur
mit verzerrtem Gesicht. "Die Götter geben und nehmen, wie es ihnen
gefällt. Und wir Sterblichen beten sie dafür an, dass wir unsere
Geschicke in ihre Hände legen dürfen und sie damit machen lassen,
wie es ihrer Laune entspricht."
Geschockt fuhr Jass auf. "Das ist Gotteslästerung,
alter Mann! Es ist unser Glück, dass die Götter uns erschaffen
haben, und uns auf ihrer Welt dulden!"
Názur drehte sich zu Jass um. Seine
Augen funkelten und Jass sah in ihnen Wut und Verzweiflung in einem Ausmaß,
das ihren Atem stocken ließ. Offensichtlich lag dieser mysteriöse
Fremde mit der Welt und den Göttern über Kreuz.
"Glück?" Mit einem Mal war alle Farbe
aus Názurs Gesicht gewichen. Er sah nun beinahe so aus wie der Berg,
an dessen Flanke sie gerade entlang kletterten: grau, verwittert und ururalt.
"Mädchen, was weißt du schon von Glück?" Názurs
Hände verkrampften sich vor seiner Brust, so dass die Knöchel
weiß hervortraten. "Schätzt du dich glücklich, bloß
zu leben? Oder sehnst du dich auch wie so viele nach deinem ganz eigenen
Glück, um dich darin zu baden und den Göttern und den Hohen für
diese Gnade zu danken? Ich sage dir, ich hatte dieses Glück schon
mehrfach gefunden. Und jedes Mal wurde es mir entrissen, und der Schmerz
des Verlustes war jedes Mal unerträglich, obwohl ich der götterfürchtigste
Mensch war, den man sich vorstellen kann. Glaub mir, ich habe die größten
Prüfungen bestanden, die sie einem Menschen auferlegen können.
Und haben sie es mir gedankt? Nein, nein, und nochmals nein!"
Jass bemerkte, wie der alte Mann während
seines Gefühlsausbruches zu zittern
begonnen hatte. Jedes einzelne Wort war ihm ernst gewesen. Beruhigend sprach
sie auf ihn ein. "Du musst Schreckliches erlebt haben, Názur, wenn
du deinen Glauben an die Götter verloren hast."
Názur lachte auf. "Oh, ich glaube nach
wie vor an sie. Nur glaube ich nicht mehr länger, dass sie die bedingungslose
Folgsamkeit der Menschen verdienen, die ihnen entgegengebracht wird. Ebenso
wie ich nicht länger glaube, dass die Hohen die Verehrung verdienen,
die sie erhalten."
Jass hatte einen Einfall. "Du hattest mit
den Hohen zu tun, richtig?" fragte sie vorsichtig.
Názur blickte sie grimmig an und seine
Augen hielten sie mit starrem Blick fest. Wieder lachte er, dieses Mal
mit der Entschlossenheit desjenigen, der nichts mehr zu verlieren hat.
"Oh, ja. Und wenn meine Reise erfolgreich ist, werde ich ihnen noch ein
weiteres Mal begegnen."
Jass schluckte. Sie hatte in den letzten zwei
Tagen begonnen, diesen seltsamen Kauz zu mögen. Deswegen zögerte
sie mit der Frage, die ihr auf dem Herzen lag. Wieder las Názur
ihre Gedanken und sprach aus, was sie selbst nicht zu fragen wagte.
"Du brauchst nicht zu befürchten, dass
meine Wünsche und Pläne den Zorn der Götter oder der Hohen
über dein Haupt bringen werden, Jassinie. Auch derjenige, den du zu
schützen suchst, hat nichts zu befürchten."
Erschrocken starrte Jass den alten Mann an.
Was wusste er von ihrem Geheimnis?
"Ich benötige lediglich eine Auskunft,
die mir der König des Grünhornwaldes erteilen könnte, wenn
ihm danach ist." Die dunklen Augen richteten sich wissend auf die junge
Waldläuferin. "Ja, Jassinie. Ich weiß von ihm. Und ich vermute,
dass du mich zu ihm führen kannst. Ich sehe deine Zweifel, aber es
ist gut, dass es jetzt ausgesprochen ist. Ich bin auf der Suche nach etwas,
zu dem er mir den Weg weisen könnte. Was das ist, kann und werde ich
dir nicht sagen. Noch nicht. Ich will dir nur soviel verraten, dass ich
dieses Etwas schon einmal in meinem Besitz hatte. Die Zeit ist gekommen,
dass ich es noch ein zweites Mal finde. Und dann werde ich mich ein weiteres
Mal den Hohen stellen."
Den Rest des Tages bestritten Jassinie und
Názur in grimmigem Schweigen. Názur hatte wieder seinen Jackenkragen
hochgezogen und verbarg sein Gesicht unter einer tiefsitzenden Wollmütze.
Jassinie war in ihren eigenen Gedanken vertieft. Die Worte des alten Mannes
hatten sie aufgewühlt und trotz seiner Versicherung, dass sein Anliegen
weder zu ihrem noch zu des Königs Schaden sein würden, nagte
eine unbestimmte Sorge an ihrem Bewusstsein. Názur hatte ihr längst
nicht alles gesagt, das war offensichtlich - nur wie viel verbarg er? Und
wenn er soviel zu verbergen hatte, wie viel davon waren unlautere Absichten?
Doch jetzt wo sie erfahren hatte, dass Názur das Geheimnis des Grünhornwaldes
kannte, wusste sie auch, dass er mit oder ohne sie versuchen würde,
den Waldkönig ausfindig zu machen. Nur wenn sie ihn begleitete, hatte
sie eine Chance, seine wahren Absichten zu ergründen.
Gegen Ende des dritten Tages hatten sie beinahe
die Passspitze erreicht. Es wäre noch genug Tageslicht geblieben,
um die Passhöhe zu erreichen, doch Jassinie wollte diesen speziellen
Augenblick nicht im Halbdunkel erleben. Dies war auch ihre Erklärung,
die sie Názur gab, als er sich nach dem Grund für ihre frühe
Rast erkundigte. Fragend deutete er auf die nahe Gebirgskerbe durch die
sie wandern würden. Aber die junge Waldläuferin bestand auf diesem
Rastplatz. Zu ihrer Überraschung verwickelte der alte Mann sie dieses
Mal nicht in einen weiteren Wortwechsel, bei dem sie mit größter
Wahrscheinlichkeit unterlegen wäre. Stattdessen murrte Názur
unverständliche Worte in einen grauen Bart und bereitete seinen Schlafplatz
vor.
Die Nachtruhe war kalt und unangenehm. Eine
unsichtbare Barriere hatte sich zwischen den beiden Wanderern aufgebaut,
und so blieb jeder seinen eigenen düsteren Träumen überlassen.
Obwohl es für die Jahreszeit verhältnismäßig warm
war, fror Jass
unter ihrer dicken Wolldecke - die abweisende Kälte zwischen ihr und
Názur kroch ihr stärker in die Glieder als der kühle Gebirgswind.
Müde und schlecht erholt wurde Jass kurz
nach Sonnenaufgang von Názur geweckt. Wortlos packten sie ihre Ausrüstung
zusammen und teilten ein ebenso wortloses Frühstück. Die ersten
Schritte fielen der jungen Waldläuferin schwer, doch je näher
sie dem Gipfel kamen, umso beschwingter wurde ihr Schritt. Das goldene
Sonnenrad stand noch nicht sehr hoch am Himmel und ihre Strahlen huschten
verschüchtert zwischen den Gipfeln des Gletscherkamms hindurch. Den
letzten Anstieg legte Jassinie beinahe laufend zurück, begierig, das
Schauspiel, das sich hinter der nächsten Erhebung abzeichnen würde,
bewundern zu können.
Als sie endlich den Scheitelpunkt erreicht
hatte, blieb sie verzückt stehen, breitete ihre Arme aus und pries
dankbar die Schönheit der Schöpfung.
Zu ihren Füßen breitete sich majestätisch
der riesige Gletscher aus, der dem Pass seinen Namen gab. Von den Flanken
der beiden hohen Berge zu ihrer Rechten und ihrer Linken herabstürzend,
wand sich ein eisiger Fluss wie eine träge Schlange über die
Westseite des Gebirgskammes. Das flache Sonnenlicht brach sich in unzähligen
Farben an den Rissen und Spalten des Eismassivs, und besprengte den Gletscher
hier und da in den schillernden Farben des Regenbogens. Von der Ebene aus
waren die Berge Jassinie immer schroff und abweisend vorgekommen, aber
hier - von der Höhe des Passes aus betrachtet - wirkten sie beinahe
so sanft wie eine nachlässig ausgebreitete, von feinem grünen
Moos überwucherte Bettdecke, die sich irgendwo zwischen Himmel und
Erde im dunstigen Blau verlor, während in der Ferne immer wieder silbrig
schimmernde Schleier aus Licht durch die schnell dahinziehenden Wolken
brachen und das Wechselspiel von Farbe und Licht keinen Augenblick zur
Ruhe kommen ließen. Jassinie hatte diesen Anblick schon so oft genossen,
aber niemals würde sie sich an diesem phantastischen Schauspiel satt
sehen können.
Noch während sie heimlich den Göttern
für die Gunst dieses Spektakels dankte, tauchte Názur an ihrer
Seite auf.
"Ah", knurrte er anerkennend, "deswegen wolltest
du erst heute den Pass überqueren."
Jass ersparte sich eine Antwort; sie wollte
sich nicht diesen einzigartigen Augenblick durch den Zynismus des alten
Mannes verderben lassen.
"Ach, wäre das Leben doch immer nur so
erfreulich, wie der Anblick dieses Ortes." Názur war sichtlich berührt,
und gleichzeitig noch trübsinniger als jemals zuvor auf ihrer gemeinsamen
Wanderschaft. Der alte Mann hob den Saum seines Mantels und setzte sich
seufzend auf einen nahen Felsblock. "Glaub mir, Mädchen. Wie oft habe
ich mir vorgestellt, mich an solch einem Ort niederzulassen, meine Reisen
zu beenden und die Vergangenheit zu vergessen."
Jass wandte sich zu dem alten Mann um. "Warum
erfüllst du dir dann nicht diesen Wunsch? Es muss ja auch nicht hier
sein. Es gibt noch viele andere Plätze auf der Welt, die ähnlich
wundervoll sind wie dieser hier."
Gedankenversunken nickte der alte Mann, der
mit einem Mal unendlich müde und von schwerer Last bedrückt wirkte.
"Ja, ich kenne selber einige Winkel dieser Welt, die der Pracht dieses
Fleckens gleichkäme." Melancholisch blickten die dunklen Augen des
alten Mannes auf einen fernen Punkt jenseits des Gebirges. Jassinie betrachtete
ihn eine Weile und wollte sich gerade abwenden, als Názur wieder
seine Stimme erhob.
"Es war an einem Ort wie diesem hier, als
ich sie das erste Mal fand. Es war ein großer, von dunklen Tannen
umkränzter See, der verborgen in den Tiefen eines mächtigen Urwaldes
seinen einsamen Schlaf schlummerte. Ein Freund hatte mir den Weg gewiesen,
doch bis ich mich zu dem See durchgekämpft hatte, waren Wochen vergangen.
Es war, als ob der Urwald sich mir widersetzte, um mir den Lohn meiner
Mühen - das Geschenk für die Götter - zu verwehren. Als
ich schließlich an den Ufern des Sees stand und das kristallklare
Wasser meine Lebensgeister wieder weckte, empfand ich ein Gefühl der
Wonne und der Klarheit. Ich dankte den Göttern, die es gut mit mir
zu meinen schienen, und ich folgte meiner Eingebung, bis ich meinen Preis
in den Händen hielt. Doch anstelle des gerechten Lohns verweigerten
mir die Hohen die Gnade der Götter. Doch selbst als sie meine Mühen
mit ihren Füßen traten, glaubte ich noch, dass dies lediglich
der Wille der Götter war. Ich war ein Narr! Ich dachte, meine Reise
wäre beendet, doch in Wirklichkeit war es bloß der Anfang einer
weiteren, weitaus größeren Fahrt, die mich zuerst in die tiefsten
Niederungen menschlichen Leids und letztlich an diesen Ort geführt
haben. Immer auf der Suche nach ein wenig Glückseligkeit. Nach Gerechtigkeit.
Nach Frieden. Doch so sehr ich mich bemühte, so sehr versagte ich.
Deshalb beschloss ich, an den Anfang meines ersten Abenteuers zurückzukehren
und nach ihr zu suchen."
Fasziniert und mit zunehmender Besorgnis hatte
Jass den Worten ihres Begleiters gelauscht. Sie sah die Tränen auf
seinen Wangen, als schmerzvolle Erinnerungen ihren Weg in sein Gedächtnis
fanden. Jass fragte sich, was wohl der Preis gewesen sein mochte, der diesen
seltsamen, alten Mann auf seine Abenteuer geführt hatte. Doch momentan
hatte seine Verzweiflung und die spürbare Last der Erinnerungen des
Alten die Oberhand. Jass setzte sich vorsichtig neben ihn, willens, ihm
durch ihre bloße Gegenwart ein wenig Wärme zu schenken. Názur
wischte sich einige Tränen aus seinen Augen - eine Geste die diesen
stolzen, alten Mann sehr verletzlich erscheinen ließ. Fragend blickte
Jass ihren traurigen Nachbarn an.
"Wie lange bist du nun schon auf deiner Reise?"
Ihre grauen Augen musterten ihn mitfühlend.
Er schüttelte seinen Kopf: "Ich weiß
nicht mehr, wann ich losgezogen bin. Ich weiß nur noch, dass ich
sie wieder finden will! Koste es, was es wolle!"
"Sie scheint dir wirklich sehr wichtig zu
sein."
Er nickte. "Sie
war der Anfang, sie soll das Ende sein."
"Und du denkst, dass der König dir wieder
den Weg zu ihr weisen wird?"
Der alte Mann zögerte und seufzte tief
auf. "Ich hoffe es. Ich hoffe es."
Jassinie und Názur verweilten noch einige
Zeit auf der Passhöhe, ihre Gedanken beiseite schiebend und den wundervollen
Anblick genießend. Als sie sich wieder auf den Weg machten, war ein
wenig Wärme in ihren Umgang miteinander zurückgekehrt. Es war,
als schien die Last auf Názurs Schultern weniger schwer zu sein,
während Jass’ Bedenken weiter geschrumpft waren.
Innerhalb der nächsten zwei Tage stiegen
sie ohne weitere Verzögerungen die Westflanke des Gletscherkammes
hinab, stetig begleitet von den eisigen Ausläufern des riesigen Gletschers.
Schließlich wandte Jassinie ihren Weg mehr nach Südwesten, während
sich der Gletscher nach Norden hin verlor. Einen weiteren Tag später
erreichten sie die ersten Siedlungen, in erster Linie ärmliche Behausungen
einiger Bergbauern, die in mühseliger Arbeit ihren kargen Lebensunterhalt
der grimmigen Gebirgskette abrangen. Von einigen Bauern erfuhr Jass, dass
der Weg bis zum Grünhornwald ausnahmsweise frei von vagabundierenden
Wegelagerern und den halbmenschlichen Bestien war, die immer wieder über
die Menschenlande herfielen. Zuversichtlich setzten die beiden Wanderer
ihren Weg fort, bis sie schließlich knapp zehn Tage nach ihrem Aufbruch
aus Gerasen die ersten Ausläufer des Grünhornwaldes erreichten.
Názur stellte keine Fragen und überließ
Jassinie die Wahl des Weges in den sagenumwobenen Wald. Jass folgte zunächst
dem Saum des Waldes bis in die späten Abendstunden, bevor sie einen
zufriedenstellenden Lagerplatz gefunden hatte. Gemeinsam bereiteten Jass
und Názur ihre Lagerstätte vor. In den letzten Tagen hatte
sich eine gewisse Routine bei ihnen eingestellt, die sie auch jetzt befolgten.
Dennoch spürte Jass die wachsende Unruhe ihres Begleiters. Nachdem
sie ihr Abendmahl beendet hatten, saßen sie noch an dem niedrig brennenden
Feuer. Jeder grübelte vor sich hin, bis Jass schließlich das
Wort ergriff.
"Die Menschen suchen nur sehr selten die Tiefen
des Grünhornwaldes auf. Ab und zu wagen sich vereinzelte Abenteurer
in den Wald, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Wenn sie zurückkehren,
berichten sie von geisterhaften Erscheinungen und seltsamen Geschehnissen,
die sich ihrem Verständnis entziehen. Deswegen fürchten die Menschen
den Wald und seine Magie. Andererseits glauben die Menschen daran, dass
die Magie des Waldes ihre Ernten ertragreicher macht und ihre Behausungen
zusätzlichen Schutz angedeihen lässt. Daher lassen sie sich trotzdem
an den Rändern des Waldes nieder." Jass blickte Názur nun direkt
in die Augen. "Für viele ist dies nur ein Aberglaube, aber wir beiden
wissen, dass mehr dahintersteckt."
Zustimmend nickte der alte Mann. "Ja. Die
Macht der Königs des Grünhornwaldes ist beträchtlich und
sorgt dafür, dass die Magie des Waldes nie versiegt."
"Das ist richtig." Sie versuchte, seinen Blick
zu erwidern. Die Augen seien der Spiegel zur Seele eines Menschen, sagten
die Leute überall. Und sie wollte die Wahrheit, die hinter diesen
dunklen, unergründlichen Teichen ergründen. "Aber auch der König
des Waldes kann seine Magie nur solange wirken, wie der Wald ihm seine
Kraft schenkt. Wird das Gefüge der Natur des Waldes auch nur geringfügig
gestört, besteht die Gefahr, dass die Quelle der Macht versiegt."
Ohne mit der Wimper zu zucken folgte Názur
den Ausführungen der jungen Waldläuferin.
"Als ich vor einigen Jahren in das Geheimnis
des Waldes eingewiesen wurde, schwor ich, alles zu tun, um den Grünhornwald
und seine Bewohner zu schützen." Entschlossen fasste Jass sich mit
der flachen Hand auf die linke Brusthälfte. "Bei allem was mir heilig
ist: Solltest du versuchen, dem König zu schaden, so werde ich nicht
zögern, meinem Schwur Folge zu leisten."
Ungerührt hörte Názur Jassinies
Worten zu. Doch seine Augen verrieten Jass, dass er ihre Botschaft verstanden
hatte. In stillem Einverständnis lauschten sie dem knackenden und
zischenden Gesang des Feuers, bis es niedergebrannt war und sie sich zur
Nachtruhe betteten.
Jassinie wurde von fröhlichem Vogelgesang
geweckt. Noch halb im Schlaf blinzelte sie in die leuchtenden Strahlen
der morgendlichen Sonne. Es war schon erstaunlich spät, denn die Wärme,
die von den Strahlen ausging, hatte die nasse Kälte des Morgens bereits
vertrieben.
Jass benötigte eine Weile, bis sie begriff, was dies bedeutete.
Sie hatte verschlafen.
Hastig richtete sie sich auf und blickte sich
um. Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich sofort: Keine Spur von
Názur oder seiner Ausrüstung. Der alte Mann war ohne sie aufgebrochen.
"Verflucht", schimpfte Jass und sprang auf
ihre Füße. Hastig suchte sie ihr Gepäck zusammen. Erleichtert
stellte sie fest, dass nichts fehlte. Als sie fertig war, suchte sie den
Rand des Lagerplatzes nach einem Hinweis ab, in welche Richtung Názur
gegangen war. Es dauerte nicht lange, und sie fand einige niedergetretene
Grashalme, die ihr den Weg wiesen. Jassinie hatte einst einen sehr guten
Lehrmeister gehabt, und so gelang es ihr mühelos, der Fährte
Názurs zu folgen. Zu ihrer Bestürzung erkannte sie, dass er
genau den Weg gewählt hatte, den auch sie genommen hätte, wenn
sie ihn in den Wald hinein geführt hätte. Obwohl der Grünhornwald
Názur angeblich fremd war, so hatte er sich auf den Pfad begeben,
der ihn am wahrscheinlichsten zum König des Waldes führen würde.
Hastig folgte Jassinie der Spur. Sie erkannte,
dass der alte Mann mindestens drei Stunden Vorsprung hatte. Welches Spiel
trieb er? Wieso war er ohne sie weitergezogen? Hatte er sie die ganze Zeit
belogen? Jassinie glaubte nicht wirklich daran, war sich ihrer Sache aber
nicht mehr ganz sicher.
Der Morgen verstrich und Jassinie hatte Názur
noch immer nicht eingeholt. Obwohl sie kaum noch nach der Fährte suchen
musste, denn der Weg war ihr allzu vertraut, und obwohl sie ihr schnellstes
Tempo einlegte, drängte sich die Befürchtung auf, dass sie Názur
nicht mehr rechtzeitig einholen würde. Rücksichtslos bahnte sie
sich mit zunehmender Verzweiflung ihren Weg durch den immer dichter werdenden
Wald. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, und hinterließen eine Spur
aus Blättern und Dreck auf ihrer Lederkleidung.
"Ich darf nicht zu spät sein! Ich muss
ihn einholen bevor er dem Einhorn Böses zufügen kann!" Wie eine
rituelle Gebetsformel wiederholte Jass immer wieder diese beiden Sätze,
obwohl mit jeder weiteren, erfolglosen Stunde ihre Zuversicht schwand.
Schließlich wurde der Wald wieder lichter; sie näherte sich
dem verzauberten Hügel, den sie als bevorzugten Treffpunkt des Königs
des Waldes mit den wenigen Menschen, die sein Geheimnis kannten und zu
hüten versuchten, kannte. Noch immer hatte sie Názur nicht
entdeckt, obwohl sie sicher war, dass sie seine Spur nicht verloren hatte.
Gehetzt und von Panik getrieben, durchstieß Jassinie das letzte Dickicht,
das sie von dem lichten Hügel trennte, als sie eine wohlbekannte,
melodische Stimme hörte.
"Er hat ihn ausgewählt und nicht dich!"
Die Eindringlichkeit der Worte ließ keinen Zweifel an der Endgültigkeit
dieses Urteils.
"Es war nicht rechtens!" rief Názur
verzweifelt. "Ich hatte dasselbe Anrecht wie Beolf, den Platz an der Seite
der Götter einzunehmen. Ich hatte es mir genauso verdient wie er!"
"Das mag schon sein", entgegnete der König
des Waldes unbeeindruckt von der Vehemenz, mit der Názur seinen
Worten Nachdruck verlieh. "Aber das Urteil des Hohepriesters war eindeutig.
Es gibt nur einen Platz für die Blutrose, und den bekam der andere
zugesprochen!"
Jass prallte zurück, als sie die Worte
des weißen Einhorns
vernahm, welches majestätisch auf dem Scheitelpunkt des kleinen Grashügels
stand, das königliche Haupt von einer langen. weißen Mähne
umkränzt. Blutrose? Doch nicht DIE Blutrose der Legenden? Die Blutrose,
die den Sterblichen den Weg zu den Göttern ebnete und nur einmal in
jeder Generation den Göttern als Geschenk dargeboten werden konnte?
Während Jass sich noch von diesem Schock erholte, hatte der alte Mann
wieder das Wort ergriffen.
"Ich kann einfach nicht glauben, ich kann
nicht akzeptieren, dass diese Entscheidung rechtens war!" Wut, Zorn und
eine unermessliche Trauer klangen aus den Worten des alten Mannes. "Wir
beide hatten das geforderte Geschenk an die Götter dargeboten. Wir
beide hatten die Aufgabe erfüllt! Mit welchem Recht wählten die
Hohen ihn aus und nicht mich?" Názur schluchzte auf und sank auf
seine Knie. "Warum taten sie mir das an?"
"Tut mir leid, alter Freund", entgegnete das
Einhorn mitleidsvoll und dennoch keinen Zweifel an der Entscheidung der
Hohen lassend, "diese Frage kann ich dir nicht beantworten."
Der alte Mann fuhr mit seinen Händen
verzweifelt durch sein graues Haar und sein Körper wurde von Weinkrämpfen
geschüttelt. Alle Ängste vergessend eilte Jass den sanft ansteigenden
Hügel hinauf und näherte sich dem Knieeden. Das Einhorn neigte
seinen stolzen Kopf in einer leichten Begrüßung und Jass verbeugte
sich respektvoll vor dem König des Waldes.
"Es tut mir leid, mein Gebieter", erklärte
Jass schuldbewusst mit zu Boden gerichtetem Blick. "Ich habe versagt."
Das Einhorn schüttelte den Kopf, so dass
sich die Sonnenstrahlen an seinem silbernen Horn brachen wie in Kristallglas.
"Nein, Jassinie. Das hast du nicht. Ich wies ihm den Weg in den Wald."
"Ihr?" Verdutzt hob Jassinie ihren Kopf und
starrte das Einhorn fragend an. "Warum?"
"Kannst du es dir nicht denken?"
Jassinie überlegte. Rasch durchflog sie
in Gedanken alles, was sie von Názur inzwischen gehört oder
in Erfahrung gebracht hatte. Es musste etwas mit seiner Vergangenheit zu
tun haben. Das Einhorn hatte ihn "alter Freund" genannt. Názur hatte
immer wieder das Geschenk oder die Gabe an die Götter erwähnt.
Die Blutrose! Sollte er etwa...?
Fassungslos schüttelte die Waldläuferin
ihren Kopf. "Das kann nicht sein!"
Doch der Blick des Einhorns sagte, dass ihre
Vermutung richtig war.
"Dann... dann...", stammelte Jassinie bestürzt,
"ist dieser Mann..." Jassinie blickte auf den noch immer am Boden kauernden
und in sich zusammengesunkenen alten Mann, und die Worte blieben ihr im
Hals stecken.
"Ja", vollendete das Einhorn für sie.
"Dieser Mann ist Zurán von Argonia. Oder auch Zurán der Weise.
Zurán der Gerechte. Zurán der Schreckliche. Und Zurán,
der von den Göttern Gesegnete und Verfluchte. Zurán, der die
Blutrose fand, und von den Hohen abgewiesen wurde, weil sie einen anderen
Boten wählten."
Jass schaute noch immer fassungslos auf den
Mann, den sie als Názur kennen gelernt hatte. "Názur. Ja,
natürlich. Ich Närrin!", schimpfte Jass betroffen, als sie ihre
Blindheit erkannte. Die Namen waren sich so ähnlich, dass jedes Kind
ihn eigentlich erkennen sollte.
Ihre Gedanken rasten. Jeder Mensch, jeder
Gottgläubige kannte die Geschichte von Zurán von Argonia. Einmal
in einer oder auch zwei Generationen der Menschheit verkündeten die
Hohen, dass die Götter wieder einem Auserwählten ihre Gunst erweisen
würden, der ihnen die Blutrose überbringen würde. Die Blutrose
- auch die Träne der Götter genannt. Eine Pflanze, die nur einmal
in hundert Jahren blüht, und der man magische Kräfte nachsagt.
Unendliches Glück und unermesslicher Reichtum versprach sie ihrem
Finder. Die Blutrose, die genauso oft erblühte, wie die Götter
nach ihr verlangten. Auch damals, beim letzten Aufruf, lange vor Jassinies
Geburt, hatten sich die stärksten und besten Männer auf die Suche
nach der Blutrose begeben. Viele von ihnen verzweifelten und kehrten geschlagen
in ihre Heimatstädte zurück. Andere blieben verschollen oder
strandeten wie Treibgut in den entlegendsten Winkeln der Welt. Bis zu dem
damaligen Zeitpunkt war es immer nur einem einzigen Glückspilz alleine
gelungen, eine Blutrose zu finden und zum großen Tempel von Kerlion
zu bringen, wo die Hohen im Namen der Götter über das Seelenheil
der Menschen wachten. Doch dieses Mal hatten sich gleich zwei Glückliche
gefunden, die mit einer Blutrose in ihren Händen beinahe zeitgleich
im Tempel eintrafen. Schnell hatte sich die Kunde dieses Wunders verbreitet
und gebannt hatten die Menschen das Urteil der Hohen erwartet.
Zur allgemeinem Überraschung erwählten
sie jedoch nur einen der beiden Finder als Boten der Götter, obwohl
sie beide die gestellte Aufgabe bewältigt hatten. Während Beolf
mit den Hohen den großen Tempel betrat, blieb Zurán der Zutritt
verwehrt. Den Erzählungen nach hatte Zurán nach einer Begründung
für diese Entscheidung verlangt, aber die Hohen hatten ihn nicht weiter
beachtet. Daraufhin war Zurán in seine Heimat zurückgekehrt.
Während Beolf seinen Platz an der Seite der Götter einnahm, wurde
Zurán zur lebenden Legende. Die Menschen baten ihn, ihre neugeborenen
Kinder zu segnen, Ernten auszubringen und seine Hände auf die Wunden
der Kranken zu legen. Als Zurán schließlich wieder in Argonia
eintraf, waren die Gerüchte über die Wunder, die er angeblich
vollbracht hatte, ihm vorausgeeilt. Ohne Umschweife wurde er von seinem
Volk zu ihrem Herrscher gekrönt. Ob er es wollte oder nicht: man baute
ihm ein prächtiges Schloss,
auf dass sein Glanze dem bis dahin eher armen Argonia Reichtum und Wohlstand
brächte. Im prächtigsten Saal des Schlosses wurde ein Altar errichtet,
auf dem die Blutrose in einer kristallenen Vase platziert wurde. Sie wurde
zu einem der größten Heiligtümer des Landes und aus allen
Richtungen pilgerten die Menschen herbei, um der Blutrose und ihrem von
den Göttern gesegneten Finder zu huldigen.
Den Berichten zufolge bemühte Zurán
sich ein gerechter Herrscher zu sein. Er berief die klügsten Köpfe
des Landes an seinen Hof und führte viele Gesetze ein, die das Wohl
und das Glück der Menschen von Argonia mehrten. Doch seine Regentschaft
brachte ihm selbst kein Glück. Seine Frau betrog ihn mit einem seiner
Offiziere. Es war eine Intrige gegen ihn, das wusste er. Denn seine Macht
und sein Reichtum brachte nicht nur Glück und Wohlstand. Im Schweif
seines aufsteigenden Sternes fanden sich auch unzählige Schmeichler
und Intriganten, die nur darauf warteten, dass Zurán eine Schwäche
zeigte. Argonia wäre in Chaos gestürzt, wenn er die Gesetze -
seine eigenen Gesetze - missachtet hätte. So hatte er keine Wahl,
als sein Weib nach dem Gesetz als Ehebrecherin hinrichten zu lassen. Als
sie unter dem Schwert des Henkers starb, verließ seine Tochter das
Land und ward nie wieder gesehen. Einige Jahre später versuchten die
Intriganten abermals, selbst an die Macht zu gelangen, und in der von ihnen
angezettelten Palastrevolte fiel sein Sohn ihren Dolchen zum Opfer. Schließlich,
vor etwas mehr als einer Dekade, starb sein Enkelsohn - vergiftet von weiteren
Thronräubern. Zurán überlebte, doch während Argonia
nach wie vor blühte, stand der einstige Glücksbringer vor den
Trümmern seines Lebens.
Vor sechs Jahren verkündeten die Hohen
erneut, dass die Götter ihnen mitgeteilt hatten, dass an ihrer Seite
ein Platz frei war für den Überbringer einer Blutrose. Kurz darauf
verschwanden sowohl Zurán als auch die Blutrose aus seinem Palast.
Während sich die Männer wieder auf die Suche machten - dieses
Mal sowohl nach Zurán, als auch der Blutrose, die vermeintlich in
seinem Besitz war - versank Argonia in einem blutigen Bürgerkrieg,
der bis zu diesem Tage andauerte und das kleine Land in ein Jammertal des
Leids tauchte.
Jassinie erinnerte sich, wie auch einige Männer
ihres Dorfes aufgebrochen waren, um dem Ruf der Götter zu folgen.
Sie hatte sich zu jener Zeit gerade den Waldläufern des Grünhornwaldes
angeschlossen. Damals hatte sie gerade achtzehn Sommer erlebt - solange
dauerte nun schon die Queste nach der Blutrose und Zurán von Argonia.
Nun kniete dieser Mann - diese Legende - wie
ein Häuflein Elend vor ihren Füßen und ließ seinen
Tränen freien Lauf.
Entschlossen fasst Jassinie sich ein Herz,
trat neben ihren Weggefährten und berührte ihn vorsichtig an
der Schulter. Gehorsam ließ sich der einstige Regent von ihr hochziehen,
bis er wieder aufrecht neben ihr stand. Tief durchatmend sammelte der alte
Mann sich wieder und wandte sich der jungen Frau zu.
"Ich wollte dich nicht hintergehen, Jassinie."
Die Waldläuferin nickte tapfer und erwiderte:
"Ich kann Euch verstehen, Auserwählter."
Ein Schauer fuhr durch den alten Mann und
seine Augen blickten Jass schmerzvoll an. "Bitte, ich bin kein Auserwählter.
Ich bin auch kein König oder ein weiser Mann mit magischen Kräften.
Ich bin ein Narr, der den Glauben an die Gerechtigkeit verloren hat. Verzeih
mir, wenn meine lästerlichen Worte am Gletscherstieg dich verletzt
haben sollten. Aber vielleicht verstehst du jetzt meine Verbitterung."
Jass nickte abermals. "Ich verstehe dich.
Und es tut mir leid." Jass biss sich auf die Lippe, denn trotzdem lag noch
eine Frage auf der Seele. "Eine Sache verwirrt mich aber: Warum suchst
du die Blutrose, wenn du sie doch schon hast?"
Zurán schloss die Augen und atmete
erneut tief durch. Jassinie beobachtete ihn aufmerksam. War sie mit dieser
Frage zu weit gegangen?
"Er hat die Blutrose nicht mehr, Jassinie!"
Das Einhorn sprach sanft mit mitleidsvoller Stimme.
"Woher wisst Ihr das, Gebieter?"
"Warum würde er sonst zu mir kommen?"
Irritiert wanderte Jassinies Blick von dem
Einhorn zu Zurán und wieder zurück. "Aber..."
"Der König hat recht, Jass." Zurán
richtete seine dunklen Augen wieder auf die junge Waldläuferin. "Als
ich damals das Schloss verließ, habe ich die Blutrose mitgenommen.
Aber nicht, um sie zu den Hohen zu bringen oder sie einfach vor anderen
Menschen zu verbergen. Ich war wütend und außer mir vor Trauer.
Jeder wusste, und ganz besondern die Hohen, dass es noch diese Blutrose
gab. Also warum verkündeten die Hohen, dass sie eine neue Blutrose
suchten? Hatte ich mir den Platz nicht mehr als jeder andere verdient?
Hatte ich nicht diejenigen zu Grabe tragen müssen, die ich am meisten
liebte, nur um so aufrichtig und gerecht wie möglich dem Wort der
Götter Folge zu leisten? Diese verfluchte Rose hatte mir nur Unglück
gebracht. Ich habe sie in Stücke gerissen und ihre Überreste
in die Flammen des Kamins in meinem Wohnzimmer geworfen, bevor ich mein
Schloss verließ." Grimmig lachte der alte Mann auf. "Da die Hohen
noch immer nach der Blutrose Ausschau halten, muss meine letzte...", er
zögerte, "...Amtshandlung erfolgreich gewesen sein". Die letzten Worte
hatte Zurán beinahe verächtlich hervorgestoßen.
Entsetzt blickte Jass Zurán an. "Aber
wenn die Blutrose vernichtet wurde, werden die Götter dann nicht...?"
"Nein, Jassinie", warf der König des
Waldes besänftigend ein. "Eine neue Blutrose ist bereits erwacht und
wird in Kürze in voller Blüte stehen."
"Woher wisst Ihr das, Gebieter?" fragte Jass
unsicher.
"Woher weiß ER das?" entgegnete der
König mit Bestimmtheit und schaute Zurán mit unverhohlener
Neugier an. Sein eindringlicher Blick schien sich förmlich in den
alten Mann zu bohren.
Jass blinzelte verwirrt. "Ich verstehe gar
nichts mehr."
Das Einhorn nickte. "Es ist auch nicht einfach
zu verstehen." Der König des Waldes bedachte Jass mit seinem gütigen
Blick und wandte sich dann Zurán zu, der seinerseits wieder zu alter
Sicherheit zurückgefunden hatte. "Und es ist ein wahres Mysterium,
das diesen Mann umgibt. Ich habe noch nie gehört, dass der Finder
einer Blutrose diese überlebte. Das ist außergewöhnlich
und wirft viele Fragen auf."
"Wovon redest du?" fragte Zurán mit
gefährlicher Schärfe. "Was weißt du über das Geheimnis
der Blutrose? Sag es mir!"
"Ich weiß auch nicht viel mehr als du,
alter Freund. Ich kenne weder die verborgene Macht einer Blutrose, noch
den wahren Grund, warum die Hohen immer wieder danach suchen lassen."
Jass erbleichte, und Zurán erstarrte.
"So gibt es einen weiteren Grund außer den Ruf der Götter, nach
der Blutrose zu suchen?"
Das Einhorn warf seinen majestätischen
Kopf zurück und wieherte laut. "Zurán, mehr als jeder andere
Sterbliche solltest du inzwischen erkannt haben, dass den Göttern
die Blutrose und das Schicksal ihres Finders gleichgültig sind!"
"Nein...!" Zurán fasste sich wie vom
Blitz getroffen an den Kopf. "Du willst damit doch nicht andeuten, dass
dies lediglich ein Spiel der Hohen ist?"
Das Einhorn reckte seinen schlanken Hals nach
vorne und neigte seinen Kopf, bis seine seidigen Nüstern nur wenige
Schritt von Zuráns Gesicht entfernt waren. "Ich kann dir auch dieses
Mal den Weg zur Blutrose weisen, Zurán von Argonia, wenn du dich
wirklich traust zu enträtseln, was sich hinter ihrem Geheimnis verbirgt."
Zurán hielt dem unergründlichen
Blick des Einhorns stand. "Warum sagst du es mir nicht?", flüsterte
er, den Tränen der Verzweiflung nahe.
"Ich sagte bereits, dass ich die magische
Kraft der Blutrose nicht kenne, Zurán. Aber ich bin neugierig, es
zu erfahren. Du hast die Macht, das Rätsel zu lösen!"
"Warum ich?" fragte Zurán nicht ohne
Verbitterung.
"In dir ist eine Veränderung vorgegangen,
die ich zwar nicht deuten kann, die mir aber auch nicht verborgen geblieben
ist. Ich vermute, es hat etwas damit zu tun, dass du dich durch deine Tat
vor sechs Jahren ein für alle Mal von jeglichen Banden an eine Blutrose
befreit hast." Das Einhorn richtete sich wieder auf. Es bestand kein Zweifel,
dass der König des Waldes nicht geneigt war, weitere Informationen
preiszugeben.
"Hmm", meinte Zurán nachdenklich. "Das
ändert einiges." Mehr an Jass als an das Einhorn gewandt, sagte er:
"Ursprünglich hatte ich nur vor, aus reinem Stolz die Blutrose noch
ein weiteres Mal zu finden. Nachdem ich einige Zeit ziellos umhergestreift
war, hatte ich erkannt, dass ich dumm, impulsiv und unverantwortlich gehandelt
hatte. Doch nach Argonia konnte ich nicht mehr zurückkehren, denn
ich wäre nur ein Spielball der Machthungrigen geworden. Und auch jeder
andere Ort war mir verwehrt, denn früher oder später wäre
ich erkannt und das Ziel all derjenigen geworden, die der Blutrose hinterher
jagen. Also entschloss ich mich, dem Spuk dadurch ein Ende zu bereiten,
dass ich mich selber an der Suche beteiligte. Ich dachte, dass ich im Fall
meines Erfolges entweder die Gunst der Götter wieder finden könnte,
oder mich zumindest all der Abenteurer auf einen Schlag entledigen könnte.
Doch nun hat sich eine neue Dimension in diesem Spiel eröffnet. Wenn
es tatsächlich stimmen sollte, dass all dies nur ein Spiel der Hohen
ist, dann werde ich mich daran beteiligen. Doch dieses Mal nicht als reines
Bauernopfer!"
Die Augen des alten Mannes leuchteten mit
unverhohlenem Feuer. Jass war von seinem Willen beeindruckt, und beugte
demütig ihr Haupt. "Wenn du meine Hilfe benötigst, werde ich
dich begleiten, Zurán."
"Danke, Jassinie. Ich nehme dein Angebot mit
Freuden an!"
Das Einhorn schien beinahe verschmitzt zu
lächeln. "Worauf warten wir dann noch, meine Freunde?"
Jassenie zögerte einen kurzen Augenblick,
bevor sie durch die schwere Eichentür den Schankraum des Lustigen
Hirschen betrat. Ein tiefer Atemzug, gefolgt von einem Zurechtrücken
von Lederzeug und Waffengurt, dann war die Waldläuferin bereit. Als
sie die Tür aufstieß und sich der gut gefüllte Raum vor
ihr öffnete, verstummten die Gespräche und alle Gesichter wandten
sich ihr zu. Jassenie konnte sich nie an diese Aufmerksamkeit gewöhnen,
die ihr überall entgegen gebracht wurde, und am meisten in Gerasen,
dem Ort, wo für sie alles angefangen hatte.
Leicht angedeutete Begrüßungen
zu beiden Seiten verteilend, schritt Jass den langen Mittelgang entlang.
Bekannte nickten ihr ehrfürchtig zu und fremde Gäste steckten
ihre Köpfe zusammen, um zu beraten, ob sie die berühmte Waldläuferin
Jassenie war, die angeblich aus dieser kleinen Ortschaft stammte. Ein junger
Barde erhob sich, um eine Ruhmesballade anzustimmen, doch ein einziger,
herrischer Blick ihrer grauen Augen genügte, um ihn zurückzuweisen.
Noch eine Geschichte oder ein Lied zu ihren Ehren war einfach des Guten
zuviel.
Als sie sich der vertrauten Theke näherte,
blickte Jass in das grinsende Gesicht von Friedorn. Seine Gestalt war nach
wie vor muskulös und beeindruckend, doch der unvermeintliche Wanst,
den er vor sich herschob, legte Zeugnis über die Kochkünste seiner
Ehefrau ab. Neben ihm auf dem Holztresen hockte mit herabbaumelnden Füßchen
die zweijährige Tochter des Gastwirtes und spielte mit ernster Miene
mit einem schmutzigen Küchentuch. Als sie Jassinie erblickte, erstrahlte
ihr rosiges Gesichtchen.
"Sine! Sine!" rief die Kleine und durchbrach
damit die andächtige Stille des Schankraums. Männer und Frauen
wandten sich wieder ihren Getränken und ihren Tischgesprächen
zu, und Friedorn begrüßte Jassinie mit einer herzlichen Umarmung
über den Tresen hinweg.
"Na, auch mal wieder im Lande, Jass?"
Die Waldläuferin nickte und wehrte spielerisch
die neugierigen Hände des kleinen Mädchens ab, die besitzergreifend
nach ihr fassten.
"Du lieber Himmel, Aliana ist aber groß
geworden!" stellte Jass unbeholfen fest.
Friedorn lachte mit dem ganzen Stolz des glücklichen
Vaters. "Kein Wunder, es ist ja auch schon über ein Jahr her, dass
du hier warst."
Entschuldigend hob Jass die Schultern. "Tut
mir leid. Ich wünschte, wir wären öfters in der Gegend."
Friedorn lächelte verständnisvoll.
"Wie lebt es sich denn so als Gefährtin einer lebenden Legende?"
Blitzschnell griff Jass nach dem Küchentuch
in Alianas Hand und zielte damit neckend nach Friedorns Gesicht. "Du bist
unmöglich, Frieder!"
"Und du hast viel zu selten Zeit für
uns!" schalt eine weitere, bekannte Stimme hinter Jassinies Rücken.
"Tirian!" Jass drehte sich um und begrüßte
ihre alte Freundin. Die beiden Frauen fielen sich in die Arme und umarmten
sich herzlich. Jass hielt die Luft an, als Tirian sie mit ihren breiten
Armen empfing, und sie registrierte verwundert, wie sich der gewölbte
Bauch ihrer Freundin in ihren Unterleib presste. Lachend knuffte sie ihre
Freundin, als sie sich wieder von ihr löste. "Tirian, ihr bekommt
schon wieder Nachwuchs?"
Die schwangere Schankmaid lachte. "Ja, Frieder
ist ein übler Wicht!"
"Aber ein liebevoller Wicht!" fügte Jass
hinzu.
Tirian lächelte glücklich und warf
ihrem Gatten, der seine Frau bewundernd anschaute, einen gehauchten Kuss
zu. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Jass, und betrachtete
ihre Freundin von Kopf bis Fuß.
"Und was ist mit dir? Wann dürfen wir
dir gratulieren?"
Jass errötete. "Tirian..."
Die Schwangere warf ihre Arme in die Luft
und verdrehte ihre Augen. "Ja, was? Du bist doch noch immer mit ihm zusammen,
oder?"
Jass ließ ihre Schultern fallen und
entgegnete schwächlich: "Ja, schon. Aber du weißt wie es ständig
ist..."
"Ausreden, nichts als Ausreden! Wann setzt
ihr euch endlich zur Ruhe? Wie lange seid ihr jetzt schon unterwegs? Vier
Jahre, habe ich recht?"
"Fünf", flüsterte Jass bedrückt.
"Du warst damals gerade mit Erik schwanger..."
"Tatsächlich!" Tirian schüttelte
den Kopf. "Pass auf, dass es eines Tages nicht zu spät ist, Mädchen!"
Besorgt sah die Schankmaid ihre Freundin an. "Wo ist er überhaupt?"
"Da wo ich ihn damals hingeführt habe.
Du weißt schon, wo." Jass gab Tirian mit einem Augenzwinkern zu verstehen,
dass dieses Wissen nicht für jedermanns Ohren bestimmt war. Tirian
begriff und wechselte das Thema.
"Komm, Mädchen, jetzt isst du erst einmal
etwas Herzhaftes!"
Tirian zog ihre Freundin hinüber zum
Ende der Holztheke, wo sie in den anliegenden Versammlungsraum gingen.
Doch kaum waren die beiden Frauen durch die Tür geschritten, kam ein
hüfthohes Wollbündel um die Ecke geflogen, um sich vergnügt
an Jassinies Bein zu klammern.
"Tante Jassy, du bist wieder da!" Glücklich
lachte Erik, Tirians Erstgeborener, die Waldläuferin an, und von der
Theke krähte Alian vergnügt: "Sine! Sine!"
Jass wuschelte Erik durch das strubbelige
Haar und zog ihn behutsam von ihrem Bein fort. "Hallo, Erik. Du bist ja
fast schon groß wie dein Vater!"
Erik machte sich lang und versuchte sich auf
seinen Zehenspitzen aufzurichten. "Bald bin ich sogar größer
als Papa!" Hinter ihnen brummte Frieder etwas, was wie "Im Traume nicht..."
klang. Jass drehte sich um und schenkte ihm ein schelmisches Lächeln.
Es war herrlich, mit diesen einfachen Menschen zusammenzusein.
Erik hatte sich wieder auf seine Fersen gestellt
und zog an Jassinies Lederrock. "Tante Jassy, erzählst du mir von
Onkel Zurán!"
"Erik!" rief Tirian zurechtweisend, "quäl
Jass nicht schon wieder mit den alten Geschichten!" Sachte zog Tirian die
Tür zum Schankraum zu.
"Aber ich höre so gerne, wie Tante Jassy
und Onkel Zurán in den großen Tempel gegangen sind, und die
bösen Hohepriester vertrieben haben. Und dann war da noch das Einhorn!"
Erik schaute Jass mit kindlicher Unschuldsmiene an. "Tante Jassy, ich hab
das Einhorn schon gesehen!"
Jass wunderte sich über gar nichts mehr.
"Ist das wahr?"
Tirian nickte. "Wir waren kurz nach Frühlingsanfang
zu Besuch bei Frieders Verwandten auf der anderen Seite des Berges. Es
kam damals an den Waldrand, um die Kinder zu begrüßen." Verträumt
dachte Tirian an die Begegnung zurück. "Es ist wunderschön."
"Er", erinnerte Jass ihre Freundin. "Er ist
ein Hengst!"
"Und wenn schon." Tirian schmollte ein wenig,
doch dann fügte sie schnell hinzu: "Es kommt jetzt immer öfters
an den Waldrand, um die Menschen zu begrüßen."
Jass nickte verstehend. "Kein Wunder, jetzt
wo seine Macht und die Magie des Grünhornwaldes gefestigt sind."
"Also, was ist, Tante Jassy. Erzählst
du mir von dem großen Tempel?" bettelte Erik ungeduldig.
Jassinie zuckte mit den Schultern. Tirian
wies der Waldläuferin einen Stuhl zu und fasste nach dem Türgriff.
"Er wird keine Ruhe geben, bis du ihm nicht eine Geschichte erzählt
hast. Ich werde dir in der Zwischenzeit eine warme Mahlzeit zukommen lassen.
Anselm kocht heute mal wieder."
"Der alte Löffelschwinger hat sich noch
immer nicht zur Ruhe gesetzt?" fragte Jass überrascht.
"Uns ist es recht" antwortete Tirian. "Ich
bin zwar selber eine passable Köchin, aber Anselm hat einfach ein
paar Jährchen Vorsprung."
"Na dann", meinte Jass belustigt und setzte
sich auf ihren Stuhl. Erik hopste geschickt auf den Tisch und sah Jassinie
erwartungsvoll an.
"Wo soll ich denn anfangen, mein Großer?
Erik sah sie mit großen Augen an, kratzte
sich an der Nase und schob seine Unterlippe nachdenklich vor. "Als ihr
am Tempel ankamt, Tante?"
"Also gut, beim Tempel..." Jass lehnte sich
zurück und grub ihre Erinnerungen aus.
"Nachdem Onkel Zurán und ich dank den
Anweisungen des Königs des Grünhornwaldes tatsächlich die
neue Blutrose gefunden hatten, suchten wir einige Gefolgsleute Zuráns
auf, die ihm nach wie vor treu zur Seite standen, und bereiteten uns darauf
vor, die Blutrose zum großen Tempel der Hohen zu bringen. Als fahrende
Händler verkleidet, reisten wir in die heilige Stadt, denn wie du
dich vielleicht erinnerst, suchten viele Menschen nach Onkel Zurán
und der Blutrose."
Erik nickte eifrig und blickte Jass aufmerksam
mit weit aufgerissenen Augen an.
"Wir wurden von einem Gefolgsmann Zuráns
begleitet, der uns sicher an den Wachen vorbei durch die Stadttore lotste
und uns unerkannt zum großen Tempel begleitete. Ohne Zwischenfall
erreichten wir das große Portal, wo uns der Gefolgsmann verließ,
um seinen nächsten Auftrag durchzuführen. Zurán schaute
mich an und fragte: Willst du das wirklich mit mir durchziehen, Jass?
Du musst das nicht tun. Doch schon damals wusste ich, dass unsere Lebenswege
sich nicht mehr trennen würden, und so antwortete ich: Du kannst
versuchen, mich davon abzuhalten, alter Mann! Ich werde nie Zuráns
Blick vergessen, den er mir daraufhin zuwarf. Zum ersten Mal sah ich Hoffnung
in seinen dunklen Augen. Hoffnung auf eine Zukunft nach diesem Tag. Gemeinsam
griffen wir nach dem schweren Holzschlegel, der neben einer Säule
stand, und schlugen wie eine Hand den goldenen Gong am Tempeleingang.
Kurz darauf öffnete sich das prachtvolle
Portal. Ein prunkvoll gekleideter Mann in kostbaren Gewändern erschien
im Durchgang. Er fragte nach unserem Begehr, und Zurán antwortete
mit verstellter Stimme: Wir bringen den Göttern ihr gefordertes
Geschenk! Ich muss gestehen, die Gelassenheit des Priesters war bemerkenswert.
Ohne ein Wimpernzucken fragte er, wer von uns beiden der Bote sei. Zurán
antwortete ihm ebenso unbeeindruckt, dass wir beiden die Boten wären.
Das wiederum schien den Priester zu irritieren, und verunsichert blickte
er von Zurán auf mich und wieder zurück. Er forderte uns auf,
ihm zu folgen und führte uns durch verzweigte Gänge, die mit
allerlei kunstvollen Malereien, Verzierungen und Teppichen geschmückt
waren. Noch nie zuvor hatte ich mit meinen eigenen Augen solch eine von
Menschenhand geschaffene Pracht gesehen. Schließlich erreichten wir
einen Pavillon, an dem der Priester uns gebot zu warten.
Mit klopfendem Herzen versuchte ich meine
Furcht zu besänftigen, doch Zuráns unerschütterliche Zuversicht
erfüllte auch mich mit Mut, und so warteten wir nur gespannt auf die
nächsten Ereignisse. Einige Zeit später kehrte der Priester,
der uns empfangen hatte, in Begleitung mehrerer seiner Glaubensbrüder
und einiger Tempelkrieger zurück. Der Priester zeigte auf uns, woraufhin
ein älterer Priester mit gemessenen Schritten auf uns zuging. Ihr
behauptet, die Gabe für die Götter mit euch zu tragen. Könnt
ihr sie uns zeigen? So lauteten seine Worte. Zurán und ich blickten
uns an. Wie verabredet fasste ich in Zuráns Manteltasche und ergriff
den Stängel der Blutrose, während Zurán seine Hand auf
die meine legte. Mit einer fließenden Bewegung brachten wir die Blutrose
zum Vorschein. Gemeinsam hielten wir sie in die Höhe.
Ein Raunen ging durch die versammelte Priesterschaft.
Ihr Sprecher erklärte uns, dass wir tatsächlich das Geschenk
für die Götter gefunden hatten. Er forderte uns auf, ihm zum
Hohepriester zu folgen. Doch zuvor mussten wir uns unserer Waffen entledigen,
denn in den heiligsten Hallen, die den Göttern geweiht waren, durfte
niemand mit Waffen oder Rüstung wandeln. Gehorsam schnallte Zurán
seinen Waffengurt ab, und sein Langschwert polterte links von ihm zu Boden.
Ich legte meinen Holzstab ab und zog meinen Dolch aus der Scheide zu meiner
Rechten. Doch noch immer hielten Zurán und ich gemeinsam den Stängel
der Blutrose zwischen uns."
Jass unterbrach ihre Geschichte an diesem
Punkt und räusperte sich. Aus der Küche drang der verführerische
Duft eines leckeren Bratens und Jass nahm einen Schluck aus dem Wasserkrug,
der in der Tischmitte stand. Erik beobachtete jeder ihrer Bewegung mit
großen Augen. Der Junge wagte nicht sich zu bewegen, aus Angst seine
Geschichtenerzählerin zu stören. Jass lächelte und fuhr
mit ihrer Geschichte fort.
"Begleitet von den Priestern, die sich selber
die Hohen nennen, und einigen Tempelwachen, wurden wir tiefer in das Tempelinnere
geführt. Schnell verlor ich die Orientierung, was mir normalerweise
nicht so schnell passiert, aber an Zuráns zuversichtlichem Blick
erkannte ich, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Nach mehreren Ecken
und Wendungen erreichten wir schließlich ein weiteres, prächtiges
Portal. Entlang des Türbogens erkannte ich die Zeichen der Götter.
Aber auch weitere, mir unbekannte Symbole verzierten den Durchgang und
die Torflügel.
Der Sprecher wandte sich an uns. Nur noch
dieser Raum trennt uns vom Heiligtum der Götter. Das Tor hinter diesem
vermag nur der auserwählte Bote der Götter zu durchschreiten.
Jedem anderen Sterblichen sind die Hallen dahinter verwehrt. Nur einer
von euch kann der Auserwählte sein, der die Blutrose den Göttern
übergibt und einen Platz an ihrer Seite einnimmt. Wer von euch soll
derjenige sein?
Mein Mund war mit einem Mal von einer entsetzlichen
Trockenheit erfüllt, die jeden Ton in meiner Kehle verbrannte. Hilflos
blickte ich den Priester an, bis ich den sanften Druck von Zuráns
Hand auf meiner spürte. Wir haben beide zusammen die Blutrose gefunden,
wir werden beide zusammen die Blutrose den Göttern überbringen.
Der Sprecher kniff für einen kurzen Augenblick seine Augen prüfend
zusammen. Die Spannung wurde beinahe unerträglich, bis auf ein unsichtbares
Zeichen hin das Tor geöffnet wurde. Wie ihr wollt. Mehr hatte
der Sprecher der Hohen nicht mehr mitzuteilen, und führte uns in die
Vorhalle der Götter hinein."
"Was geschah danach, Tante Jassy?" Erik konnte
seine Ungeduld nicht mehr zügeln und fuchtelte aufgeregt mit seinen
Kinderhänden. "Wie war es in der Halle der Götter?"
Jass lächelte. "Heh, immer eins nach
dem anderen. Ich bin erst bei der Vorhalle, mein Großer!"
"Aber wann kommt endlich der Kampf mit den
Hohen?" Wieso wollten Jungs immer von den Kämpfen hören, wunderte
Jassinie sich. Die Wege der Götter sind unergründlich, und heranwachsende,
übermütige Jungs sind einfach anders als hübsche, brave
Mädchen. Jass schluckte. Und alte, sture Männer sind anders als
junge, verliebte Frauen. Meistens. Nicht immer.
"Wann kommt der Kampf?" Der kleine Kerl ließ
nicht locker.
"Warte noch ein Weilchen", beruhigte Jass
ihren jungen Zuhörer. "Nur noch ein kleines Weilchen..." Jassinie
holte tief Luft, und setzt ihre Geschichte fort.
"Die Vorhalle war der eindruckvollste Raum,
den ich jemals betreten habe. Waren die vorherigen Hallen und Gänge
prachtvoll gewesen, so gibt es für die große Vorhalle nur einen
Ausdruck: Überwältigend. Goldener Glanz überall wo das Auge
hinschaut. Juwelen und Edelsteine aller Farben, die sich rivalisierend
um den schönsten Platz streiten. Kunstvolle Verzierungen, von kundiger
Hand geschaffen. Beeindruckend. Beängstigend. Ehrerbietend gedachte
ich all der Meister, die dieses Werk gestaltet hatten. Demütig bestaunte
ich die Macht der Hohen, die diesen Ort der Pracht ermöglicht hatten.
Überwältigt von all diesem Glanz gaben meine Beine nach und nur
Zuráns unnachgiebiger Griff um meine Hand hielt mich auf den Beinen
und gab mir Halt. Ich blickte in die Gesichter der uns umgebenden Priester
und entdeckte selbstherrliche Arroganz und erwartungsvolle Ungeduld. In
diesem Augenblick erkannte ich, dass die Hohen nicht für die Götter,
sondern nur für sich selber diese Halle geschaffen hatten, um die
Kleingeistigen mit ihrem Glanz zu blenden und vor Ehrfurcht erstarren zu
lassen. Ich weiß nicht, ob der Hohepriester meine Erkenntnis von
meinen Augen ablesen konnte; immerhin wählte er diesen Moment, um
uns zu begrüßen.
Willkommen in der Vorhalle der Götter.
Ich bin Nansal, der Hohepriester der Götter und Höchster der
Hohen. Ihr seid die Boten der Götter, die Edelsten der Gläubigen,
gekommen um den Platz an der Seite der Götter einzunehmen. Doch wie
ich sehe, seid ihr zu zweit gekommen; es gibt aber nur einen Platz an der
göttlichen Tafel.
Grimmig antwortete Zurán: Zu zweit
haben wir die Blutrose gefunden, zusammen steht uns ein Platz an der göttlichen
Tafel zu.
Der Hohepriester ließ sich nicht beirren.
Nur
einer von euch kann die Blutrose überbringen. Ihr mögt zwar zusammen
das Geschenk an die Götter gefunden haben, aber nur einer kann es
den Göttern darbieten. Die blauen Augen des Hohepriesters verengten
lauernd sich zu schmalen Schlitzen. Wie ich sehe, hat die junge Frau
ihre Hand auf dem Stängel der Rose, und nicht Ihr, alter Mann. Sie
soll die Botin sein!
Ein kalter Schauer fuhr durch mein Rückgrat
und schüttelte meinen Körper. Anstatt vor Freude zu jubilieren,
von den Göttern erwählt worden zu sein, bekam ich panische Angst.
Zurán spürte mein Zittern unter seiner Hand und entgegnete
ungerührt: Woher nehmt ihr diese Gewissheit, Höchster der
Hohen?
Der Hohepriester starrte Zurán verblüfft
an. Ein Raunen glitt durch die Reihen seiner Begleiter. Ihr wagt es,
den Willen der Götter anzuzweifeln?
Zuráns Stimme wurde schärfer.
Der
Wille der Götter, oder der Wille der Hohen? Das Raunen wurde lauter.
Hütet eure Zunge, alter Mann. Ihr
befindet euch in den heiligsten Hallen der Götter. Wie könnte
ihr es wagen, ihnen zu lästern? Die Gewänder der umstehenden
Priester raschelten vor Unruhe und zorniges Gemurmel erfüllte die
Halle. Doch auch davon ließ Zurán sich nicht beeindrucken.
Ich lästere nicht den Göttern,
oh, Höchster der Hohen. Aber ich zweifle eure Allwissenheit an.
Die Augen des Hohepriesters wurden größer und seine Wangen färbten
sich rot vor Aufregung. Zurán setzte nach. Ihr glaubt alles zu
Wissen? Wie kann es dann sein, dass ihr mich nicht erkennt, Nansal von
Bethunia. Der Hohepriester keuchte auf, als Zurán ihn mit seinem
Geburtsnamen anredete. Sprachlos starrte er Zurán an, als dieser
die Kapuze seines Umhanges zurückwarf. Gebannt beobachtete ich sein
Gesicht, auf welchem ungläubiges Erstaunen von ängstlichem Erkennen
abgelöst wurde.
Ihr? Wie kann das sein?
Zurán blickte den Hohepriester herausfordernd
an. Ja, ich! Zurán der Gesegnete. Zurán der Verfluchte.
Einstmals verwehrten die Hohen mir meinen rechtmäßigen Platz.
Nun bin ich wiedergekommen, um ihn noch einmal einzufordern.
Blinzelnd rang der Hohepriester nach Fassung.
Es
ist unmöglich. Ihr konntet es damals nicht sein. Ihr seid auch heute
nicht dafür geeignet! Einige der Priester keuchten auf. Was hatten
sie zu verbergen?"
"Tante Jassy, der Kampf!" Ungeduldig schubste
Erik sie an der Schulter. Jass schreckte auf, als sie plötzlich und
ungestüm aus ihren lebhaften Erinnerungen gerissen wurde. Erschrocken
stellte sie fest, dass ihre Hände feucht waren vor Schweiß.
Genauso wie damals, als Zurán die Hohen zur Rede stellte.
"Husch, Erik. Sei still!"
Der Junge zuckte zurück, als hätten
die scharfen Worte Jassinies ihn wie eine Ohrfeige getroffen. Ungestört
kehrte Jass wieder in die Vorhalle der Götter zurück.
"Es war offensichtlich, dass einige der Hohen
nicht wollten, dass Nansal zuviel preisgab. Die besorgten Zurufe seiner
Brüder machten den Hohepriester rechtzeitig darauf aufmerksam, bevor
er weitersprach. Doch der Schaden war angerichtet. Zurán und ich
sahen uns an. Die Priester verbargen tatsächlich ein Geheimnis, genauso,
wie das Einhorn es angedeutet hatte.
Zurán zögerte, warum weiß
ich bis heute nicht, deshalb ergriff ich nun das Wort. Es ist wie Zurán
sagt. Euer Wissen ist nicht allumfassend, was umso erstaunlicher ist, als
es sich um eine Angelegenheit handelt, die angeblich von größter
Wichtigkeit für die Götter ist!
Zurán warf mir einen mahnenden Blick
zu, aber ich hatte die Neugierde des Hohepriesters geweckt. Was meinst
du damit, Mädchen? Zweifelst auch du am Willen der Götter?
Bedächtig schüttelte ich meinen
Kopf. Nein. Ich zweifle weder am Willen noch am Wort der Götter.
Doch ich bezweifle, dass IHR mit der Zunge der Götter sprecht!
Die Priester schrieen auf. Einige forderten
unseren sofortigen Tod, andere verlangten nach einem Gottesurteil. Mit
einem Mal befürchtete ich, dass ich zu übermütig gesprochen
hatte, und zuckte vor ihrer Wut zurück. Doch wieder blieb Zurán
standhaft und behielt die Übersicht. Ihr schreit und jammert wie
keifende Teppichhändler, die sich um ihr Geschäft betrogen fühlen.
Ich sehe, auch meine Begleiterin hat euer Spiel durchschaut!
Der Hohepriester fasste sich als erster wieder.
Die
Tatsache, dass Ihr einst eine Blutrose fandet, schützt euch dieses
Mal nicht vor dem Zorn der Götter, Zurán! Ich weiß, dass
Ihr die alte Blutrose, die Ihr hattet, vernichtet habt. Ihr habt keine
Bedeutung mehr für uns.
Ich erbleichte, doch Zurán hakte nach.
Und
ihr irrt euch, wenn ihr glaubt, dass ihr richtig geurteilt habt. Ihr wollt
meine Begleiterin als Boten? Nun, dann hört mir gut zu, Ihr Allwissenden
und Mächtigen. Ich, Zurán, habe diese Blutrose gepflückt!
Ich bin der rechtmäßige Bote der Götter, und nicht diejenige,
die ihr erwählt habt! Ist dies die Weisheit der Götter oder der
Irrglaube ihrer Götzenanbeter?
Die Priester stöhnten auf. Alle Farbe
wich aus dem Gesicht des Hohepriesters. Was redet Ihr da? flüsterte
er, sichtlich geschockt von dieser Neuigkeit. Das ist unmöglich!
Das ist entsetzlich! Ihr lügt uns an! Ein alter Mann kann nicht -
darf nicht! - die Bande des Blutes tragen! Fragend schaute ich Zurán
an. Wovon redete Nansal? Doch zum ersten Mal am heutigen Tag wusste Zurán
keinen Rat. Der Hohepriester wandte sich von uns ab und ging mit unsicheren
Schritten zu den übrigen Priestern. Zurán und ich verfolgten
wachsam ihre Beratung. Seine Hand lag noch immer beruhigend auf meiner.
Ohne seine Kraft und Zuversicht wäre ich schon längst davongelaufen
oder vor Angst gestorben.
Nach einer endlos lang erscheinenden Wartezeit
wandte sich der Hohepriester wieder uns zu. Folge mir, Zurán.
Mit wiedererlangtem Befehlston zeigte er auf mich. Das Mädchen
bleibt hier! Besorgt schaute ich Zurán an. Unsere Augen trafen
sich. Er gab mir Mut. Sein Blick senkte sich für einen Bruchteil eines
Atemzugs auf seine linke Hand. Vier Finger waren langgestreckt. Vier Minuten
sollte ich ihm Zeit geben. Er drückte meine Hand und ich lächelte.
Er griff mit Daumen und Zeigefinger den Blütenstil und entließ
mich aus unserem gemeinsamen Griff. Ich trat einen Schritt zurück.
Der Hohepriester drehte sich um. Zurán folgte ihm, ebenso wie ein
Teil der übrigen Priester. Ein nicht sichtbarer Gong wurde geschlagen,
und das Tor auf der anderen Seite der Halle schwang auf. Ich versuchte,
einen Blick auf den dahinterliegenden Raum zu erhaschen, doch ich sah nur
schummriges Zwielicht. Dies sollte die Halle der Götter sein? Dann
verstellten mir die verbliebenen Priester die Sicht. Drei von ihnen wandten
sich mir mit verschränkten Armen zu, zwei weitere folgten der Prozession
ein Stück und bauten sich in dem Durchgang auf. Ein weiterer Gong
wurde geschlagen, als Zurán im Gefolge des Hohepriesters und seiner
Begleiter durch das Tor trat und schlagartig aus meinem Blickfeld verschwand."
Jass genehmigte sich eine Pause, um einen
Schluck Wasser zu trinken. Ein kurzer Blick verriet ihr, dass ihr kleiner
Zuhörer vor Ungeduld beinahe platzte.
"Nachdem Zurán verschwunden war, trat
ich unruhig auf der Stelle herum, während ich innerlich die Sekunden
herabzählte. Nach zwei Minuten vergrub ich meine Hände, wie ein
sich langweilender Straßenjunge, in den Hosentaschen. Ich schaute
mich in der Vorhalle um und studierte die Wanddekorationen. Nach drei Minuten
drehte ich mich langsam um, mit großen Augen und ehrfürchtig
staunendem Mund. Ohne dass es die Priester merkten, tastete ich nach der
zerbrechlichen Phiole in meiner linken Hosentasche. Als ich bis auf zwanzig
herunter gezählt hatte, schlossen sich meine Finger um das dünne
Glas. Zehn! Noch immer hatte ich nichts aus der Halle der Götter gehört.
Wie es wohl Zurán erging? Fünf! Mein Atem wurde schneller,
mein Herz pochte wie wild. Ich spannte meine Muskeln an und machte mich
bereit. Drei, zwei, eins... Jetzt!
Ich wirbelte zu den Priestern herum, zog die
Phiole aus meiner Hosentasche und schleuderte sie direkt vor ihren Füßen
auf die marmornen Fliesen. Die Phiole zerbrach klirrend, und ein gelber
Dampf erhob sich zischend aus ihren Überresten. Das Betäubungsgift
wirkte sofort - wie Zuráns Gefolgsleute es versprochen hatten -
und die drei Priester sanken wenige Sekunden später bewusstlos zu
Boden. Doch zuvor hatte ich schon das verborgene Wurfmesser aus meinem
Stiefelschaft gezogen und es in Richtung eines der beiden Priester beim
Durchgang geworfen. Wenn ich jemals einen perfekten Wurf benötigte,
dann jetzt. Und die Götter standen mir bei! Das Wurfmesser bohrte
sich in den Hals des Priesters, der noch verdutzt seine Mitbrüder
zu Boden sinken sah. Röchelnd fasste er sich an den Hals. Ich sah
nicht wie er stürzte, sondern war schon auf dem Weg in Richtung des
letzten verbliebenen Priesters. Geschützt durch ein Gegengift, welches
Zurán und ich vor dem Betreten des großen Tempels eingenommen
hatten, durchquerte ich die stinkende, gelbe Wolke, ignorierte die niedersinkenden
Priester, und war in wenigen Sätzen bei meinem letzten Gegner.
Der Priester begriff endlich, dass er angegriffen
wurde und erhob seine Hände, um einen Fluch oder einen Zauberspruch
auf mich zu schleudern. Doch ich war schneller. Mit einem verzweifelten
Sprung rammte ich ihn, so dass er umfiel. Die Zauberworte des Priesters
erstarben auf seinen Lippen. Wir stürzten zu Boden. Wieder war ich
schneller. Ich richtete mich auf und schlug ihm mit aller Kraft einmal,
zweimal ins Gesicht. Ich griff nach seinem Kopf, packte ihn an den Haaren
und schmetterte ihn auf den Marmorboden. Seine Augen wurden glasig. Ich
hatte sie alle besiegt! Ich, die kleine Waldläuferin aus Gerasen,
hatte soeben fünf der Hohen überwunden. Wenn ich noch einen Beweis
benötigt hätte, dass die Hohen nicht mit dem Willen der Götter
handelten, so hatte ich ihn jetzt!"
Ein leises Aufkeuchen unterbrach Jassinie,
die mit fiebrigem Blick ihre Erzählung vorgetragen hatte. Erik starrte
sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sein kindlicher Blick hing förmlich
an ihren Lippen. Hinter ihm war Tirian aus der Küche gekommen, und
presste ihre Hand vor ihren Mund, während Bratensoße ihr von
dem schräg gehaltenen Teller in der anderen Hand tropfte. Hinter der
schwangeren Frau, bemerkte Jass ihren Schwiegervater Anselm, der ebenfalls
die letzten Passagen mitgehört hatte.
Verschämt schluckte Jass. Wieder einmal
hatte sie sich von dem Erlebten davontragen lassen. Sie rieb ihre schwitzenden
Hände an ihrer Lederhose, räusperte sich, und fragte: "Soll ich
weitererzählen?"
Erik nickte mehrfach mit seinem flachsblonden
Kopf, während Tirian endlich bemerkte, dass sie die halbe Soße
über den Boden verschüttet hatte. Viel mehr gab es ohnehin nicht
mehr zu erzählen, an dieser Stelle wäre es Zuráns Part
gewesen, die Geschichte weiterzuführen. Jass hatte sich von dem letzten
Priester erhoben, und sich in Richtung des Durchgangs in die Halle der
Götter bewegt, ohne zu wissen, wie es Zurán wohl ergangen war.
"Ich kann leider nicht genau beschreiben,
was sich in der Zwischenzeit in der letzten Halle zugetragen hatte..."
erhob Jass gerade ihre Stimme, als sie sofort wieder unterbrochen wurde.
"...deswegen werde ich unserem kleinen Helden
hier erzählen, was in der Halle der Götter passierte, nachdem
Jass und ich voneinander getrennt worden waren."
Jass fuhr herum.
"Zurán!"
Jassinies Gefährte, der Mann um den sich
Legenden rankten, und der die Hohen von ihrem Thron gestürzt hatte,
stand in der Tür zum Schankraum. Hinter ihm grinste Friedorn fröhlich,
während er seine kleine Tochter auf den Armen trug. "Sine, Sine! Uán,
Uán!"
Die grauen Augen der Waldläuferin leuchteten
vor Freude. "Ich habe dich nicht so schnell erwartet." Sie erhob sich von
ihrem Stuhl, um dem Mann, der ihr Leben so nachhaltig verändert hatte,
entgegen zu gehen. Doch sie wurde daran gehindert. Erik zupfte ungehalten
an ihrem Lederrock und schaute sie bettelnd an. "Tante Jassy, ich mag die
Geschichte zu Ende hören. Bitte, bitte! Es ist gerade so spannend!"
Zurán bedeutete ihr mit einer knappen
Handbewegung, sich zu setzen. Sich in ihr Schicksal fügend, ließ
Jass sich wieder nieder, während Tirian endlich den Teller auf dem
Tisch abstellte und wieder in die Küche eilte, um noch einen zweiten
Teller für den Neuankömmling zu holen. Zurán dankte Friedorn
für dessen Verschwiegenheit, was dieser mit einem zufriedenen Brummen
quittierte. Der zweifache Träger der Blutrose ging festen Schrittes
auf den kleinen Kerl zu, der ihn mit ebenso erwartungsvollen Augen ansah
wie zuvor Jassinie.
"Du willst also hören, was sich in der
Halle der Götter ereignet hat, kleiner Mann?" Zurán strich
dem Jungen liebevoll durch das strubbelige Haar.
Erik nickte enthusiastisch.
"Aber es ist nicht wirklich etwas für
kleine Jungs, weißt du?"
Die Augen des Vierjährigen bettelten
unnachgiebig. "Bitte, Onkel Zurán. Nie darf ich die Geschichte zuende
hören. Aber ich weiß doch schon, dass du den bösen Hohepriester
vertrieben und den armen Beolf erlöst hast!"
"Du bist ganz schön neugierig, weißt
du?" Zurán lächelte, doch sein Lächeln galt weniger Erik
als der jungen Frau auf dem Stuhl neben ihm.
"In der Tat, das ist er. Ganz wie seine Mutter!"
Jass erwiderte das Lächeln und zog einen zweiten Stuhl unter dem Tisch
hervor. "Und nun setz dich, und erfüll unserem jungen Helden seinen
Wunsch, sonst kommen wir nie zu einer warmen Mahlzeit."
Zurán wusste, wann es sich nicht lohnte,
mit Jass zu diskutieren. Mit einer höfischen Geste nahm er den dargebotenen
Stuhl entgegen, ließ sich darauf nieder und übernahm die Geschichte
dort, wo Jassinie aufgehört hatte.
"Der Hohepriester hatte mich überrascht,
als er uns offenbarte, dass er mich in die Halle der Götter führen
wollte. Endlich! Endlich würde ich den Göttern gegenüber
treten können. Aber ich war vorsichtig. Erst nachdem ich Jass wie
verabredet das Zeichen gegeben hatte, folgte ich bereitwillig dem Hohepriester,
die Blutrose fest in meiner rechten Hand haltend. Ich hatte mir nie vorgestellt,
was ich in der Halle der Götter vorfinden würde, dennoch war
ich zunächst erschrocken, dass der Raum von einem diffusen Zwielicht
erfüllt wurde. Es bestand keine Spur von Ähnlichkeit mit der
prunkvollen Vorhalle. Gewaltige, feucht glänzende Säulen aus
schwarzem Basalt trugen die Kuppel einer Halle von wahrhaft zyklopischen
Ausmaßen. Der Geruch von Fäulnis lag in der Luft und eine unheimliche
Kälte kroch in meine Glieder. Die ganze Atmosphäre wirkte auf
mich wie in einem finsteren Kerker. Gemessenen Schrittes ging der Hohepriester
voran. Seine Brüder flankierten mich. Was ich schließlich sah,
ließ mein Blut gefrieren. In der Mitte des Raumes befanden sich vier
mit Runen versehene, schwarze Säulen. Sie bildeten ein Quadrat, in
dessen Zentrum ein Altar stand, verblüffend ähnlich dem, auf
dem dereinst in meinem Schloss die erste Blutrose ausgestellt worden war.
Hinter dem Altar stand ein steinerner Tisch, der mit eisernen Ketten versehen
war. Auf diesem Tisch, den ich in dem Halbdunkel nur vage erkennen konnte,
lag ein ausgezehrter, von Alter und Schwäche gezeichneter Mann. Viele
Jahre waren vergangen, doch ich erkannte Beolf sofort. Das war also der
Platz an der Seite der Götter!
Der Hohepriester spürte mein Entsetzen
und drehte sich zu mir um. Willst du noch immer den Platz an der Seite
der Götter einnehmen? Selbstgefällig sah er mir in die Augen.
Mein Hass schnürte mir förmlich
die Kehle zu. Ich konnte meine Wut kaum zügeln. Warum tut ihr das
den Menschen an?
Nansal zeigte auf den Altar. Sieh genau
hin. Erkennst du es?
Ich ließ meinen Blick von seinem zufriedenen
Gesicht auf den Mittelpunkt des Saales gleiten. Ja, da war etwas. Eine
wogende, kaum sichtbare Präsenz, die wie eine kleine Windhose unmittelbar
über der Blutrose tanzte. Was ist das? Ich konnte mir nicht
vorstellen, dass diese Kreatur ein Gott sein sollte.
Dies ist die Quelle unserer Macht, Zurán.
Du hast richtig geraten. Wir, die Hohen, sprechen nicht mit der Zunge der
Götter. Vielleicht taten unsere Vorgänger dies noch vor langer,
langer Zeit, doch inzwischen haben wir uns unsere eigene Machtbasis geschaffen.
Hast du die Götter jemals wirken gesehen? Würden die Götter
ein Schicksal wie das deine zulassen? Ich glaube, dass sich die Götter
längst von uns abgewendet haben. Denn ließen sie nicht zu, dass
wir in ihrem Namen die Macht an uns rissen, um die Geschicke der Menschen
nach unseren Vorstellungen zu formen?
So phantastisch diese Geschichte klang, ich
glaubte dem Hohepriester. Es passte alles zu gut zusammen. Es gab nur noch
eine Sache, die mich interessierte. Was hat die Blutrose damit zu tun?
Der Hohepriester drehte sich zu mir um. Triumph
und Boshaftigkeit stand in seinen Augen. Das, mein Lieber, ist der Schlüssel
unserer Macht. Die Blutrose bindet den Daimonion an diesen Ort. Der Daimonion
wiederum bindet den Grossteil der Magie dieser Welt in sich. Da er aber
an die Butrose gebunden ist, können wir seine unermessliche Kraft
für unsere Zwecke nutzen. Es gibt nur ein Problem dabei. Eine Blutrose
ist immer an die Lebenskraft desjenigen gebunden, der sie gepflückt
hat. Solange der Finder lebt, blüht die Blutrose.
Ich verstand. Deshalb wurde ich damals
abgewiesen: Beolf war einfach jünger als ich. Aber jetzt habe ich
euch mit euren eigenen Waffen geschlagen. Ich nütze euch heute nicht
mehr als damals, aber ich habe auch die nächste Blutrose gefunden.
Ich fühlte meinen Triumph nahen, sehnte mich danach ihn auszukosten,
doch die Zuversicht des Hohepriesters irritierte mich. Ich machte mich
bereit.
Das ist in der Tat ein Problem, allerdings
nur ein Kleineres. Es ist äußerst günstig, dass du eine
junge Gefährtin mitgebracht hat, die ebenfalls schon mit der Blutrose
in Berührung kam. Ich spürte ihre Verbundenheit mit der Rose.
Hast du mich vielleicht gar belogen? Der Hohepriester gab ein Zeichen
und auf sein Kommando packten mich die vier Priester hinter mir und hielten
mich fest. Ich versuchte mich loszureißen und schrie vor Zorn und
Sorge um Jass. Mir fiel ein, dass sie jetzt gerade wohl vor einer ähnlichen
Situation stand. Ob sie es schaffen würde? Der Hohepriester stand
plötzlich direkt vor mir und rang mir die Blutrose aus der Hand. Ja,
Zurán. Beinahe hättest du über uns triumphiert, aber nun
hast du uns doch den Schlüssel zur Erhaltung unserer Macht gegeben.
Es gibt ein Ritual, mit der wir das Blutband von dir auf das Mädchen
übertragen können, wenn du wirklich die Blutrose gepflückt
haben solltest. Nur leider wirst du das nicht mehr erleben können.
Bindet ihn und holt das Mädchen!
Die Zeit des Handelns war gekommen. Mit einer
wuchtigen Vorwärtsbewegung stieß ich meinen Kopf in das Gesicht
des Hohepriesters. Seine Nasenknochen brachen und er stürzte schreiend
zu Boden. In der Rückwärtsbewegung zerschmetterte ich mit meinem
Hinterkopf das Gesicht des hinter mir stehenden Priesters, der mich erschrocken
losließ. Ich riss mich von den drei übrigen Priestern los. Überrascht
schauten sie mich an. Sie hatten einen alten, gebrechlichen Greis erwartet,
und keinen Mann, der sich mit der Kraft und der Schnelligkeit eines Dreißigjährigen
bewegte.
Ich trat dem nächsten Priester mit meinem
Stiefel zwischen die Beine und er brach stöhnend zusammen. Mit einer
einzigen Bewegung zog ich mein Wurfmesser, das ich wie Jass in meinem Stiefel
versteckt hatte. Die Priester erholten sich von ihrem Schock und sprangen
auf mich zu. Da vier weitere Priester ebenfalls noch in der Halle waren,
und ich nicht wusste, ob Jass mit den anderen Priestern draußen fertig
werden würde, blieb mir nur noch ein verzweifelter Ausweg. Ich wirbelte
auf meinem Absatz herum, wandte den Priestern den Rücken zu und schleuderte
mein Wurfmesser auf das einzige Ziel, das von Bedeutung war. Während
ich ein Stoßgebet an die Götter schickte, wo immer sie auch
sein mochten, schrie der Hohepriester auf. Nein! Es war zu spät.
Mein Wurfmesser grub sich in Beolfs Brust. Die Klinge bohrte sich direkt
in Beolfs schwaches Herz und erlöste den armen Mann von seinem grausamen
Schicksal.
Ein Heulen erschütterte den Saal. Der
Wirbel in der Mitte des Säulenvierecks begann zu pulsieren. Immer
schneller tanzte die verzerrte Luft um den Altar. Vor unseren ungläubigen
Augen zerfiel die Rosenblüte auf dem Altar zu Staub, und der Bannkreis
des Daimonions, der Jahrhunderte überdauert hatte, wurde durchbrochen.
Die magische Kreatur hatte nur eines im Sinn: Rache! Wie ein Pfeil stieß
sie auf Nansal, den Höchsten der Hohen, herab. Sein Kreischen gesellte
sich zu dem übernatürlichen Heulen des Daimonions. Noch bevor
es verstummte, war die Kreatur zum nächsten Hohen gesprungen und saugte
auch ihm die Lebensenergie aus. Gebannt verfolgte ich, wie ein Priester
nach dem anderen von dem Daimonion ausgelöscht wurde. Ich wusste,
ich würde das nächste Opfer sein. Dann sah ich Jass im Eingangstor
stehen."
Übergangslos setzte Jassinie die Erzählung
fort.
"Ich lief durch das Tor hindurch und wurde
von einem schrecklichen Heulen empfangen. Vor mir breitete sich eine Szenerie
des Entsetzens aus. Der letzte Priester sackte leblos zu Boden, und ich
sah nur noch Zurán auf den Beinen. Ich wollte ihm zu Hilfe eilen,
doch mit einer gebieterischen Handbewegung hielt er mich zurück. Ich
sah, wie er sich dem wirbelnden Etwas zuwendete.
Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges.
Ich fühlte, wie die Dinge um mich herum erblassten, als würden
sie aufhören zu existieren. Mein Atem wurde langsamer und langsamer,
bis ich meinen Atem nicht mehr wahrnehmen konnte. Es war, als würde
ich mich mit Zurán und dieser Kreatur in einem Kokon befinden, in
dem der Lauf der Zeit angehalten war. Fasziniert beobachtete ich, wie mit
der Verlangsamung der Zeit auch der Daimonion immer körperlicher wurde.
Ich kann nicht beschreiben, ob es ein Geschöpf des Schreckens oder
des Lichts war. Meine Erinnerung an ihn ist längst verblasst, wie
die Halle der Götter um uns herum, als dieser zeitlose
Raum entstanden war. Zurán und der
Daimonion schienen miteinander zu kommunizieren.
Eine halbe Ewigkeit verstrich, ohne dass irgendetwas
Erkennbares passierte. Schließlich bog sich die unirdische Gestalt
in Andeutung einer Verbeugung vor Zurán. Schlagartig kehrten wir
in die Halle der Götter zurück. Erdrückende Stille empfing
uns. Der Daimonion war verschwunden. Und das grausame Spiel der Hohen mit
den Geschicken der Menschen war endlich vorbei."
Stille umgab auch die Zuhörer im Versammlungsraum
des Lustigen Hirschen, nachdem Jassinie die Geschichte beendet hatte. Jeder
der Anwesenden hing seinen eigenen Gedanken nach, entweder in Erinnerungen
tauchend oder sich fragend, wie der Weltenlauf weitergegangen wäre,
hätten Zurán und Jass das perfide Spiel der Hohen nicht enträtselt
und aufgedeckt.
"Sind die Hohen jetzt alle tot, Onkel Zurán?"
Eine leichte Verunsicherung sprach aus der Stimme des Jungen, aber sein
kindlicher Wissensdurst siegte über seinen Respekt.
"Nein, Erik. Die Hohen sind nicht tot. Zumindest
nicht alle von ihnen. Ihre Macht ist zwar geschwächt, und die Magie,
die sie all die Jahre gebündelt hatten, ergießt sich wieder
über die Welt, wovon wir alle profitieren. Aber noch immer sind sie
sehr mächtig und versuchen, die Menschen weiterhin zu ihren Gunsten
zu manipulieren."
"Hmm", meinte Erik verwirrt. "Warum machen
die Hohen das?"
Zurán schaute den Jungen ernsthaft
an. "Die Menschen sind nun einmal so. Der Wille und die Gier des Menschen
sind sein Himmelreich. Nur die wenigsten Menschen geben sich mit wenig
zufrieden. Die anderen trachten stets danach, ihren Besitz und ihre Macht
zu mehren."
"Ich bin zufrieden mit dem was ich hab. Außer
dass Papa mir kein neues Holzpferd schnitzen will." Unsicher blickte Erik
von Zurán auf Jass und wieder zurück. "Ist das schlimm?"
Zurán lachte vergnügt. "Nein,
Erik. Es ist nicht schlimm, sich immer neue Ziele zu setzen. Man sollte
es nur nicht übertreiben und maßlos werden!"
Der blonde Junge war erleichtert. Die Küchentür
ging auf und Tirian brachte zwei neue Teller herein. "So, jetzt esst ihr
beiden mal in Ruhe. Ich habe auch Jass eine neue Portion gebracht. Die
erste ist ja inzwischen ganz kalt."
Jass und Zurán setzten sich an den
Tisch wie zwei brave Kinder, die auf ihre Mahlzeit warteten. Tirian stellte
vor jeden von ihnen einen Teller, von dem herrlicher Bratenduft in ihre
Nasen stieg. Aus dem Schankraum brachte Friedorn zwei Krüge frisch
gezapften Bieres. Jass und Zurán aßen mit Heißhunger.
Tirian schaute ihnen zufrieden zu. "Liebe geht durch den Magen", dachte
sie, und blickte durch die halb geöffnete Zwischentür glücklich
zu ihrem Ehemann, der wieder seinen Platz hinter dem Tresen eingenommen
hatte.
"Für einen fast Achtzigjährigen
hast du einen guten Appetit", bemerkte Tirian mit einem schelmischen Lächeln.
Zurán wischte sich die Finger an einem
Küchentuch ab, nachdem er seinen letzten Bissen genießerisch
in seinen Magen befördert hatte. "Ach, es geht doch nichts über
einen guten Braten von Vater Anselm."
Jass grinste. Zurán hätte selber
Anselms Vater sein können. Tirian dachte wohl das Gleiche. "Habt ihr
inzwischen herausgefunden, wieso du all die Jahre nicht gealtert bist,
Zurán?"
Zurán strich über seinen grauen
Bart. "Nun, es ist nicht völlig richtig, dass ich nicht gealtert wäre.
Äußerlich haben die Jahre ihre Spuren an mir hinterlassen. Nur
meine Stärke, meine Geschicklichkeit und meine Ausdauer sind mir erhalten
geblieben."
"Was ich durchaus zu schätzen weiß",
fügte Jass neckisch hinzu und löste ein gemeinschaftliches Gelächter
aus. Zurán schaute sie liebevoll an und warf ihr eine Kusshand zu,
bevor er sich wieder Tirian zuwendete.
"Ich war gestern im Grünhornwald und
habe mich mit dem König des Waldes unterhalten. Sein Verständnis
vom Wirken der Magie ist einzigartig, ist er doch selber ein magisches
Geschöpf. Wir vermuten, dass die erste Blutrose, während sie
in meinem Schloss blühte, aber nicht mit einem Daimonion verbunden
war, die Kraft, die sie aus dem Band des Blutes gewann, auf mich zurückgab.
Deshalb wurde mein Alterungsprozess hinausgezögert. Das ist zumindest
unsere gegenwärtige Theorie."
Tirian nickte, obwohl sie nur die Hälfte
von dem begriff, was Zurán ihr erklärte. "Was habt ihr jetzt
vor? Wie lange werdet ihr noch durch die Gegend ziehen?"
Zurán war aufgestanden und bot Jass
seine Hand. "Das weiß ich nicht. Die Menschen werden lange brauchen,
um sich von den Fesseln der Lügen zu befreien, mit denen die Hohen
sie über Generationen hinweg geknechtet haben."
Jass hatte Zuráns Hand ergriffen und
sich ebenfalls erhoben. "Zurán meint, dass wir vielleicht einfach
einige Zeit nur beobachten sollten, wie die Dinge sich entwickeln."
Tirian freute sich. "Das klingt ja hervorragend.
Ihr habt eine Pause verdient, will ich meinen!" Sie ging zu ihrem Sohn
und legte ihm mütterlich eine Hand auf den Arm. "Eine Frage habe ich
noch, wenn ihr sie mir gestattet."
Jass und Zurán warteten neugierig.
"Bitte. Ohne dich würden wir möglicherweise heute nicht hier
zusammen stehen. Du kannst uns jederzeit fragen, was du möchtest,
Tirian."
"Also gut." Tirian holte tief Luft und nahm
all ihren Mut zusammen. "Wenn ich es richtig verstanden habe, blüht
ja auch die zweite Blutrose noch immer, ohne dass ihre Kraft von irgendeinem
magischen Wesen, uhm, benutzt wird."
"Stimmt." Zurán betrachtete Jass mit
leuchtenden Augen und die junge Waldläuferin erwiderte seinen Blick
mit Liebe und Zuneigung. Tirians Wangen glühten, doch sie war die
Mutter zweier wilder Kinder und ein drittes war auch schon auf dem Weg.
So leicht konnte sie nichts mehr erschrecken.
"Dann frage ich euch, wer hat denn nun die
zweite Blutrose wirklich gepflückt?"
Jass kicherte wie ein junges Mädchen
und Zuráns kräftige Finger umschlungen die feingliedrigen Finger
seiner Gefährtin. "Kannst du es dir nicht denken, Tirian?"
Dann drehten die beiden sich um und verließen
Hand in Hand den Versammlungsraum.
© Elfenfeuer
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
|