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Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern
zur besten Projekt-Story 2005 im Drachental gewählt!

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Die Blutrose von Elfenfeuer

Der Schankraum des Lustigen Hirschen war wie immer gut gefüllt. Mit einem schnellen Blick suchte Jassinie nach vertrauten Gesichtern, um diesen als Zeichen der Begrüßung und Wertschätzung ein kurzes Kopfnicken zukommen zu lassen. Tirian und Ghedina, die beiden Schankmädchen, hatten den Raum gut im Griff, wie die gefüllten Bierkrüge und vollen Speiseteller erkennen ließen. Und wie immer schienen die Speisen auch gut zu schmecken. Die in festes Leder gekleidete Waldläuferin ignorierte den verführerischen Duft frisch zubereiteten Wildbrets, die Spezialität von Anselm, dem Besitzer und Koch des Lustigen Hirschen, und ging ein Stückchen in den Schankraum hinein, um nach einem freien Plätzchen zu suchen. Als Jassinie die Kapuze zurückschlug, sahen die anderen Gäste in ihr wettergegerbtes, unauffälliges Gesicht mit einer kecken Stupsnase. Sie schüttelte gerade ihr lockiges, braunes Haar aus, als ihr auf halbem Weg Tirian entgegen kam. Jassinie winkte und Tirian, die geschickt ein schweres Tablett mit Bierkrügen balancierte, zwinkerte ihr erfreut zu. Die Waldläuferin suchte nach einem freien Sitzplatz, aber Tirian beugte sich zu ihr hin und raunte ihr zu: "Warte an der Theke. Ich habe Nachrichten für dich."
Jassinie nickte, und änderte ihre Richtung schnurstracks zur Theke hin. Dort angekommen tauschte sie Nettigkeiten mit Friedorn, Anselms breitschultriger Sohn, aus. Wie immer bewältigte Friedorn die Aufgaben hinter dem Tresen mit Übersicht und gelassener Ruhe. Jassinie musste nicht lange warten, bis Tirian sich zu ihnen gesellte.
"Hallo, Jass", begrüßte die dralle Bedienung ihre Bekannte. "Ich hätte da ein paar Neuigkeiten für dich."
"Ist es dringend?" entgegnete Jass mit einem angedeuteten Kopfnicken in Richtung Friedorns. Der Schankwirt verstand den Wink und lachte: "Ich werde euch Mädels dann mal alleine lassen."
"Zu gütig, Frieder" flötete Tirian, die so leicht nichts aus der Ruhe brachte.
"Also, was gibt’s?" Jass versuchte nicht ihre Neugierde zu verbergen.
"Siehst du den alten Mann dahinten neben dem Stützbalken?" Tirian richtete Jassinies Aufmerksamkeit mit einer kaum merklichen Kopfbewegung auf einen kleinen Holztisch an dem ein graubärtiger Mann mit faltigem Gesicht saß. Trotz der wohligen Wärme im Gasthaus hatte er seinen Umhang aus Schafsfell nicht abgelegt. Sein Kragen war hochgestellt, was ihn in eine gewisse Unnahbarkeit signalisierte. Kein Wunder, dass er alleine an dem kleinen Tisch saß, obwohl die Einwohner von Gerasen sich ihrer Gastfreundschaft rühmten und Fremden gegenüber offener waren als in anderen Ortschaften.
"Was ist mit ihm?" fragte Jass, nachdem sie ihre erste Begutachtung des Fremden abgeschlossen hatte.
"Nun", meinte Tirian bedeutungsschwanger, "der Mann ist vor gut zwei Stunden hier eingetroffen. Offensichtlich ist er zu Fuß unterwegs. Als ich seine Bestellung entgegennahm, fragte er mich, ob ich einen Führer wüsste, der sich in der Gegend auskennt."
"Verstehe", sagte Jass und schaute wieder in Richtung des alten Mannes.
Tirian berührte Jass sanft am Oberarm. "Aber das war noch nicht alles."
Jass blickte sie neugierig an. Der geheimnisvolle Unterton in Tirians Stimme war nicht zu überhören. "Ja?"
Tirian beugte sich näher zu ihr hin und flüsterte gerade so laut, dass Jass sie durch das Stimmengewirr das Schankraumes verstehen konnte: "Ich fragte ihn daraufhin, ob er sein Reiseziel näher beschreiben könnte, schließlich gäbe es einige Führer, die in Frage kämen."
Jass hob eine schlanke Augenbraue. Tirians Flüstern wurde noch leiser.
"Er sagte, dass er jemanden sucht, der sich im Grünhornwald auskennt."
Tirian beugte sich wieder zurück und sah Jass mit forschenden Augen an.
"Ah", meinte Jass und versuchte sich so unbeeindruckt wie möglich zu zeigen. "Das kommt eher selten vor."
Tirian nickte bestätigend und raunte ihr zu: "Ich habe niemandem davon erzählt. Ehrenwort."
Jass legte ihrer Freundin beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Danke, Tirian." Innerlich jedoch ärgerte sie sich, dass Tirian überhaupt wusste, dass sie in irgendeiner Form mit dem Grünhornwald zu tun hatte. Je mehr davon wussten, umso schwerer war es, das Geheimnis des Waldes verborgen zu halten. Was wusste dieser alte Mann davon? Jassinie musste es herausbekommen. Sie nahm den Krug mit Wasser, den Friedorn ihr auf den Tresen gestellt hatte, und ging gemächlich zu dem Fremden hinüber. Einige ihrer Bekannten forderten sie auf, sich zu ihnen zu gesellen, aber Jassinie lehnte höflich ab. Für einen kurzen Moment wurde sie dadurch abgelenkt und bemerkte nicht, wie der alte Mann sie interessiert beobachtete. Als sie sich ihm wieder zugewandt hatte, ruhte sein Blick wieder auf dem Krug Wein auf seinem Tisch.
"Den Hohen zum Gruße, werter Wanderer. Darf ich mich zu Euch setzen?" fragte Jassinie bedächtig. Für einen kurzen Moment stutzte sie, denn der alte Mann schien bei ihren Worten zurückzuzucken. Doch schnell hatten sie beide sich gefangen, und der graubärtige Mann wies ihr einen Platz auf einem der freien Stühle zu.
"Nur zu, Mädchen." Sein Blick war weiterhin grimmig und verschlossen, aber seine Stimme war warm und einladend. "Was führt dich an meinen Tisch?"
"Ihr seid ziemlich direkt", meinte Jassinie ohne nachzudenken. Es ärgerte sie, dass er sie Mädchen genannt hatte.
Seine dunklen Augen blinzelten vergnügt. Nach außen gab dieser Fremde sich wohl abweisend und unnahbar, aber jetzt genoss er augenscheinlich die kleine Unterhaltung. "Wenn ein hübsches Ding wie du, sich zu einem alten Kerl und noch dazu einem Fremden wie mich setzt, hat das meistens einen eher außergewöhnlichen Grund. Oder?"
"Kann schon sein." Jass fühlte sich irgendwie überrumpelt. Dabei hatte sie doch vorgehabt, diese Begegnung zu verwenden, um diesen seltsamen Wanderer und seine Absichten erst einmal sorgfältig zu ergründen. Doch schnell merkte sie, dass ihr diese Unterhaltung schon nach wenigen Augenblicken aus der Hand glitt.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass es so ist. Also, ich höre?"
Jass war drauf und dran wieder aufzustehen und den alten Mann seinen Geschäften zu überlassen. Sollte er doch sehen, wie er in den Grünhornwald kam. Dennoch blieb sie sitzen.
"Ich habe erfahren, dass ihr Euch für den Grünhornwald interessiert..."
Der alte Mann nickte. "Das ist richtig."
"Was sucht Ihr dort?" Jass beabsichtige nicht, dem Mann ein Angebot zu unterbreiten, bevor sie nicht wusste, was genau er im Schilde führte.
"Was, wenn du mir nicht weiterhelfen kannst?" konterte der alte Mann jedoch geschickt. Seine Augen lächelten Jass belustigt an.
"Ich suche keinen Führer für jene Gegend."
Jassinies Gegenüber lächelte ihr anerkennend zu, ließ sich aber noch immer nicht aus der Reserve locken. "Ich werde mein Ziel auch so früher oder später finden. Ich bin schon so lange auf der Suche, was kommt es da auf ein paar Tage mehr oder weniger an?" Die dunklen Augen bohrten sich förmlich in das Gesicht der jungen Frau. Was hatten diese Augen in ihrem Leben schon alles erblickt? Jass zögerte einen Moment mit der Antwort, und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Unwillkürlich versuchte sie dem eindringlichen Blick des alten Mannes auszuweichen. Welche Geheimnisse verbarg er? Welche Geheimnisse beabsichtigte er zu erforschen?
"Nun gut", meinte Jass schließlich, nachdem sie sich wieder ein wenig im Griff hatte. "Ihr habt mich neugierig gemacht. Angenommen, ich könnte Euch zum Grünhornwald begleiten, was würde euch das bringen?"
"Ah, du gibst nicht so leicht auf, was?" Die Augen des Mannes funkelten erneut belustigt, aber seine Worte enthielten mehr Wärme als Feindseligkeit. "Du gefällst mir. Wann brechen wir auf?"
"Moment!", entgegnete Jass. "Ich habe noch nicht zugestimmt, dass ich Euch führen werde." Wieder ging es der jungen Frau viel zu schnell. Wie konnte das passieren? Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Und jetzt ließ sie sich von diesem alten Mann nach allen Regeln der Kunst vorführen?
"Ich weiß, dass du mich führen wirst, Mädchen. Du würdest sonst nicht mehr an diesem Tisch sitzen. Du willst wissen, warum ich den Wald aufsuchen möchte, und das kannst du nur herausfinden, wenn du mitkommst."
Jass erkannte, wann sie verloren hatte. "Habt Ihr ein Pferd?"
Der alte Mann schüttelte den Kopf. "Benötige ich eines?"
"Der Weg zum Grünhornwald ist weit, und..."
"...ich sehe so aus, als würden meine alten Knochen mich nicht mehr allzu lange tragen", unterbrach der alte Mann sie. Jass nickte schwächlich. Gab es irgendetwas, was diesen Menschen überraschen konnte? Ungerührt fuhr der alte Mann fort: "Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin gut zu Fuß und in einem Wald ist ein Pferd ohnehin nicht immer nützlich, nicht war?"
"Stimmt. Und wie schaut es mit warmer, wetterfester Kleidung aus? Wir müssten den Gletschersteig überqueren, und zu dieser Jahreszeit könnte dort schon Schnee fallen."
Unbeeindruckt zeigte der alte Mann auf den abgetragenen Pelzmantel, der auf der Sitzbank zu seiner Seite im Schatten verborgen zusammengerollt lag. "Auch das sollte kein Problem sein."
"Ich hole Euch nach Sonnenaufgang ab", meinte Jassinie und erhob sich von ihrem Stuhl. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie keinen einzigen Schluck aus ihrem Becher getrunken hatte, seit sie bei dem Alten saß. Wie hatte er ihre Aufmerksamkeit derart fesseln können?
"Ich werde hier auf dich warten." Der alte Mann lächelte sie zum Abschied an, und wandte sich wieder seinem Weinkrug zu.

Am nächsten Morgen brachen Jassinie und der alte Mann zu Fuß auf. Es stellte sich heraus, dass Jassinies Begleiter in der Tat noch sehr rüstig und ausdauernd für sein Alter war. Mit sicherem Gang folgte er ihr auf Schritt und Tritt. Mit vierundzwanzig Sommern war Jass in der Blüte ihrer Kraft und eine erfahrene Kundschafterin, die manche große Strecke bereits in kurzer Zeit zurückgelegt hatte. Doch ihr seltsamer Begleiter stand ihr in nichts nach, obwohl er bestimmt vierzig Sommer mehr zählte als sie, schätzte Jassinie. Auch als der Pfad steiler wurde und der Weg sie in die ersten Ausläufer des Gletscherkamms führte, zeigte er nicht mehr Müdigkeit als die junge Waldläuferin.
Während ihrer ersten Rast aßen sie schweigend ihre Marschverpflegung. Viele Fragen lagen auf Jassinies Zunge, doch die Erfahrungen des Vortages ließen sie erahnen, dass ihr seltsamer Begleiter nur dann reden würde, wenn ihm der Sinn danach war. So setzten sie ihren Weg fort, bis sie am Abend eine Berghütte erreichten, in der ein Schafhirte wohnte. Jass kannte ihn und gegen ein paar Geschichten aus der Welt überließ er ihnen gerne zwei Strohsäcke und warme Decken. Am Abend überraschte der alte Mann Jass, als er dem aufmerksam lauschenden Hirten viele Geschichten aus fernen Ländern erzählte, die zum Großteil selbst ihr unbekannt waren. Anfangs glaubte sie, dass er all das nur erfunden hatte, aber schnell entdeckte sie immer wieder Einzelheiten und Ereignisse, die auch ihr vertraut waren. Der Respekt vor ihrem Begleiter wuchs mit jedem weiteren Bericht. Dieser Mann war im Laufe seines Lebens in der Tat sehr, sehr weit gereist. "Aber wer ist der Kerl, bei allen Göttern?" dachte Jass, als sie sein Gesicht im Schein des Kaminfeuers beobachtete.
Auch am nächsten Morgen brachen Jass und der Fremde in aller Frühe auf. Sie verabschiedeten sich herzlich von dem Schafhirten, der ihnen noch einen schmackhaften Laib Brot und einen lange gereiften Schafskäse mit auf den Weg gab. Jassinies Begleiter war an diesem Tag offensichtlich besser gelaunt, denn er war weniger wortkarg als am Vortag und erzählte ihr von seinen jüngsten Reisen. Er stellte sich auch endlich vor: Sein Name war Názur. Jass erzählte selber von einigen ihrer Reisen, und als sie am Abend den Ausgangspunkt des eigentlichen Gletschersteigs erreicht hatten, hatte Názur ihr ein freundschaftliches 'Du' angeboten und ihr bisheriges Misstrauen war einer unbekümmerten Neugierde gewichen.
Die Nacht verging ereignislos und auch das Wetter war ihnen gewogen. Das Frühstück wurde schweigend verzehrt und danach nahmen sie den Aufstieg in Angriff. Es hatte seit einigen Tagen nicht geregnet und der schmale Trampelpfad war in gutem Zustand. Jass ertappte sich dabei, wie sie zum Schluss kam, dass die Götter es wohl gut mit ihrer Reise meinten. Doch dann fiel ihr ein, dass sie noch immer nichts von Názurs Absichten wusste. War es wirklich eine so gute Idee diesen seltsamen Mann in den Grünhornwald zu führen? Jass blieb während des ganzen Vormittags ziemlich schweigsam. Ihren Begleiter schien dies nicht zu stören. Mit leuchtenden Augen ergötzte er sich an dem prachtvollen Blick, der sich ihnen über die unter ihnen liegende Landschaft bot.
An einem besondern schönen Aussichtspunkt hielt Názur an.
"Wie kann es sein, dass die Götter so etwas Wundervolles schaffen, um der Menschen Herzen zu erfreuen, wenn sie gleichzeitig nicht zögern, die gleichen Herzen zu anderer Stunde in tiefste Trauer zu stürzen?"
Jass, die gerade einen Schluck Wasser aus ihrer Feldflasche zu sich nahm, keuchte bei diesen Worten erschrocken auf.
"Was sagst du da?" rief sie und verschluckte sich beinahe. "Wie kannst du so von den Göttern reden?" 
"Die Götter, ha!", höhnte Názur mit verzerrtem Gesicht. "Die Götter geben und nehmen, wie es ihnen gefällt. Und wir Sterblichen beten sie dafür an, dass wir unsere Geschicke in ihre Hände legen dürfen und sie damit machen lassen, wie es ihrer Laune entspricht."
Geschockt fuhr Jass auf. "Das ist Gotteslästerung, alter Mann! Es ist unser Glück, dass die Götter uns erschaffen haben, und uns auf ihrer Welt dulden!"
Názur drehte sich zu Jass um. Seine Augen funkelten und Jass sah in ihnen Wut und Verzweiflung in einem Ausmaß, das ihren Atem stocken ließ. Offensichtlich lag dieser mysteriöse Fremde mit der Welt und den Göttern über Kreuz.
"Glück?" Mit einem Mal war alle Farbe aus Názurs Gesicht gewichen. Er sah nun beinahe so aus wie der Berg, an dessen Flanke sie gerade entlang kletterten: grau, verwittert und ururalt. "Mädchen, was weißt du schon von Glück?" Názurs Hände verkrampften sich vor seiner Brust, so dass die Knöchel weiß hervortraten. "Schätzt du dich glücklich, bloß zu leben? Oder sehnst du dich auch wie so viele nach deinem ganz eigenen Glück, um dich darin zu baden und den Göttern und den Hohen für diese Gnade zu danken? Ich sage dir, ich hatte dieses Glück schon mehrfach gefunden. Und jedes Mal wurde es mir entrissen, und der Schmerz des Verlustes war jedes Mal unerträglich, obwohl ich der götterfürchtigste Mensch war, den man sich vorstellen kann. Glaub mir, ich habe die größten Prüfungen bestanden, die sie einem Menschen auferlegen können. Und haben sie es mir gedankt? Nein, nein, und nochmals nein!"
Jass bemerkte, wie der alte Mann während seines Gefühlsausbruches zu zittern begonnen hatte. Jedes einzelne Wort war ihm ernst gewesen. Beruhigend sprach sie auf ihn ein. "Du musst Schreckliches erlebt haben, Názur, wenn du deinen Glauben an die Götter verloren hast."
Názur lachte auf. "Oh, ich glaube nach wie vor an sie. Nur glaube ich nicht mehr länger, dass sie die bedingungslose Folgsamkeit der Menschen verdienen, die ihnen entgegengebracht wird. Ebenso wie ich nicht länger glaube, dass die Hohen die Verehrung verdienen, die sie erhalten."
Jass hatte einen Einfall. "Du hattest mit den Hohen zu tun, richtig?" fragte sie vorsichtig.
Názur blickte sie grimmig an und seine Augen hielten sie mit starrem Blick fest. Wieder lachte er, dieses Mal mit der Entschlossenheit desjenigen, der nichts mehr zu verlieren hat. "Oh, ja. Und wenn meine Reise erfolgreich ist, werde ich ihnen noch ein weiteres Mal begegnen."
Jass schluckte. Sie hatte in den letzten zwei Tagen begonnen, diesen seltsamen Kauz zu mögen. Deswegen zögerte sie mit der Frage, die ihr auf dem Herzen lag. Wieder las Názur ihre Gedanken und sprach aus, was sie selbst nicht zu fragen wagte.
"Du brauchst nicht zu befürchten, dass meine Wünsche und Pläne den Zorn der Götter oder der Hohen über dein Haupt bringen werden, Jassinie. Auch derjenige, den du zu schützen suchst, hat nichts zu befürchten."
Erschrocken starrte Jass den alten Mann an. Was wusste er von ihrem Geheimnis?
"Ich benötige lediglich eine Auskunft, die mir der König des Grünhornwaldes erteilen könnte, wenn ihm danach ist." Die dunklen Augen richteten sich wissend auf die junge Waldläuferin. "Ja, Jassinie. Ich weiß von ihm. Und ich vermute, dass du mich zu ihm führen kannst. Ich sehe deine Zweifel, aber es ist gut, dass es jetzt ausgesprochen ist. Ich bin auf der Suche nach etwas, zu dem er mir den Weg weisen könnte. Was das ist, kann und werde ich dir nicht sagen. Noch nicht. Ich will dir nur soviel verraten, dass ich dieses Etwas schon einmal in meinem Besitz hatte. Die Zeit ist gekommen, dass ich es noch ein zweites Mal finde. Und dann werde ich mich ein weiteres Mal den Hohen stellen."

Den Rest des Tages bestritten Jassinie und Názur in grimmigem Schweigen. Názur hatte wieder seinen Jackenkragen hochgezogen und verbarg sein Gesicht unter einer tiefsitzenden Wollmütze. Jassinie war in ihren eigenen Gedanken vertieft. Die Worte des alten Mannes hatten sie aufgewühlt und trotz seiner Versicherung, dass sein Anliegen weder zu ihrem noch zu des Königs Schaden sein würden, nagte eine unbestimmte Sorge an ihrem Bewusstsein. Názur hatte ihr längst nicht alles gesagt, das war offensichtlich - nur wie viel verbarg er? Und wenn er soviel zu verbergen hatte, wie viel davon waren unlautere Absichten? Doch jetzt wo sie erfahren hatte, dass Názur das Geheimnis des Grünhornwaldes kannte, wusste sie auch, dass er mit oder ohne sie versuchen würde, den Waldkönig ausfindig zu machen. Nur wenn sie ihn begleitete, hatte sie eine Chance, seine wahren Absichten zu ergründen.
Gegen Ende des dritten Tages hatten sie beinahe die Passspitze erreicht. Es wäre noch genug Tageslicht geblieben, um die Passhöhe zu erreichen, doch Jassinie wollte diesen speziellen Augenblick nicht im Halbdunkel erleben. Dies war auch ihre Erklärung, die sie Názur gab, als er sich nach dem Grund für ihre frühe Rast erkundigte. Fragend deutete er auf die nahe Gebirgskerbe durch die sie wandern würden. Aber die junge Waldläuferin bestand auf diesem Rastplatz. Zu ihrer Überraschung verwickelte der alte Mann sie dieses Mal nicht in einen weiteren Wortwechsel, bei dem sie mit größter Wahrscheinlichkeit unterlegen wäre. Stattdessen murrte Názur unverständliche Worte in einen grauen Bart und bereitete seinen Schlafplatz vor.
Die Nachtruhe war kalt und unangenehm. Eine unsichtbare Barriere hatte sich zwischen den beiden Wanderern aufgebaut, und so blieb jeder seinen eigenen düsteren Träumen überlassen. Obwohl es für die Jahreszeit verhältnismäßig warm war, fror Jass unter ihrer dicken Wolldecke - die abweisende Kälte zwischen ihr und Názur kroch ihr stärker in die Glieder als der kühle Gebirgswind.
Müde und schlecht erholt wurde Jass kurz nach Sonnenaufgang von Názur geweckt. Wortlos packten sie ihre Ausrüstung zusammen und teilten ein ebenso wortloses Frühstück. Die ersten Schritte fielen der jungen Waldläuferin schwer, doch je näher sie dem Gipfel kamen, umso beschwingter wurde ihr Schritt. Das goldene Sonnenrad stand noch nicht sehr hoch am Himmel und ihre Strahlen huschten verschüchtert zwischen den Gipfeln des Gletscherkamms hindurch. Den letzten Anstieg legte Jassinie beinahe laufend zurück, begierig, das Schauspiel, das sich hinter der nächsten Erhebung abzeichnen würde, bewundern zu können.
Als sie endlich den Scheitelpunkt erreicht hatte, blieb sie verzückt stehen, breitete ihre Arme aus und pries dankbar die Schönheit der Schöpfung.
Zu ihren Füßen breitete sich majestätisch der riesige Gletscher aus, der dem Pass seinen Namen gab. Von den Flanken der beiden hohen Berge zu ihrer Rechten und ihrer Linken herabstürzend, wand sich ein eisiger Fluss wie eine träge Schlange über die Westseite des Gebirgskammes. Das flache Sonnenlicht brach sich in unzähligen Farben an den Rissen und Spalten des Eismassivs, und besprengte den Gletscher hier und da in den schillernden Farben des Regenbogens. Von der Ebene aus waren die Berge Jassinie immer schroff und abweisend vorgekommen, aber hier - von der Höhe des Passes aus betrachtet - wirkten sie beinahe so sanft wie eine nachlässig ausgebreitete, von feinem grünen Moos überwucherte Bettdecke, die sich irgendwo zwischen Himmel und Erde im dunstigen Blau verlor, während in der Ferne immer wieder silbrig schimmernde Schleier aus Licht durch die schnell dahinziehenden Wolken brachen und das Wechselspiel von Farbe und Licht keinen Augenblick zur Ruhe kommen ließen. Jassinie hatte diesen Anblick schon so oft genossen, aber niemals würde sie sich an diesem phantastischen Schauspiel satt sehen können.
Noch während sie heimlich den Göttern für die Gunst dieses Spektakels dankte, tauchte Názur an ihrer Seite auf.
"Ah", knurrte er anerkennend, "deswegen wolltest du erst heute den Pass überqueren."
Jass ersparte sich eine Antwort; sie wollte sich nicht diesen einzigartigen Augenblick durch den Zynismus des alten Mannes verderben lassen.
"Ach, wäre das Leben doch immer nur so erfreulich, wie der Anblick dieses Ortes." Názur war sichtlich berührt, und gleichzeitig noch trübsinniger als jemals zuvor auf ihrer gemeinsamen Wanderschaft. Der alte Mann hob den Saum seines Mantels und setzte sich seufzend auf einen nahen Felsblock. "Glaub mir, Mädchen. Wie oft habe ich mir vorgestellt, mich an solch einem Ort niederzulassen, meine Reisen zu beenden und die Vergangenheit zu vergessen."
Jass wandte sich zu dem alten Mann um. "Warum erfüllst du dir dann nicht diesen Wunsch? Es muss ja auch nicht hier sein. Es gibt noch viele andere Plätze auf der Welt, die ähnlich wundervoll sind wie dieser hier."
Gedankenversunken nickte der alte Mann, der mit einem Mal unendlich müde und von schwerer Last bedrückt wirkte. "Ja, ich kenne selber einige Winkel dieser Welt, die der Pracht dieses Fleckens gleichkäme." Melancholisch blickten die dunklen Augen des alten Mannes auf einen fernen Punkt jenseits des Gebirges. Jassinie betrachtete ihn eine Weile und wollte sich gerade abwenden, als Názur wieder seine Stimme erhob.
"Es war an einem Ort wie diesem hier, als ich sie das erste Mal fand. Es war ein großer, von dunklen Tannen umkränzter See, der verborgen in den Tiefen eines mächtigen Urwaldes seinen einsamen Schlaf schlummerte. Ein Freund hatte mir den Weg gewiesen, doch bis ich mich zu dem See durchgekämpft hatte, waren Wochen vergangen. Es war, als ob der Urwald sich mir widersetzte, um mir den Lohn meiner Mühen - das Geschenk für die Götter - zu verwehren. Als ich schließlich an den Ufern des Sees stand  und das kristallklare Wasser meine Lebensgeister wieder weckte, empfand ich ein Gefühl der Wonne und der Klarheit. Ich dankte den Göttern, die es gut mit mir zu meinen schienen, und ich folgte meiner Eingebung, bis ich meinen Preis in den Händen hielt. Doch anstelle des gerechten Lohns verweigerten mir die Hohen die Gnade der Götter. Doch selbst als sie meine Mühen mit ihren Füßen traten, glaubte ich noch, dass dies lediglich der Wille der Götter war. Ich war ein Narr! Ich dachte, meine Reise wäre beendet, doch in Wirklichkeit war es bloß der Anfang einer weiteren, weitaus größeren Fahrt, die mich zuerst in die tiefsten Niederungen menschlichen Leids und letztlich an diesen Ort geführt haben. Immer auf der Suche nach ein wenig Glückseligkeit. Nach Gerechtigkeit. Nach Frieden. Doch so sehr ich mich bemühte, so sehr versagte ich. Deshalb beschloss ich, an den Anfang meines ersten Abenteuers zurückzukehren und nach ihr zu suchen."
Fasziniert und mit zunehmender Besorgnis hatte Jass den Worten ihres Begleiters gelauscht. Sie sah die Tränen auf seinen Wangen, als schmerzvolle Erinnerungen ihren Weg in sein Gedächtnis fanden. Jass fragte sich, was wohl der Preis gewesen sein mochte, der diesen seltsamen, alten Mann auf seine Abenteuer geführt hatte. Doch momentan hatte seine Verzweiflung und die spürbare Last der Erinnerungen des Alten die Oberhand. Jass setzte sich vorsichtig neben ihn, willens, ihm durch ihre bloße Gegenwart ein wenig Wärme zu schenken. Názur wischte sich einige Tränen aus seinen Augen - eine Geste die diesen stolzen, alten Mann sehr verletzlich erscheinen ließ. Fragend blickte Jass ihren traurigen Nachbarn an.
"Wie lange bist du nun schon auf deiner Reise?" Ihre grauen Augen musterten ihn mitfühlend. 
Er schüttelte seinen Kopf: "Ich weiß nicht mehr, wann ich losgezogen bin. Ich weiß nur noch, dass ich sie wieder finden will! Koste es, was es wolle!" 
"Sie scheint dir wirklich sehr wichtig zu sein." 
Er nickte. "Sie war der Anfang, sie soll das Ende sein."
"Und du denkst, dass der König dir wieder den Weg zu ihr weisen wird?"
Der alte Mann zögerte und seufzte tief auf. "Ich hoffe es. Ich hoffe es."

Jassinie und Názur verweilten noch einige Zeit auf der Passhöhe, ihre Gedanken beiseite schiebend und den wundervollen Anblick genießend. Als sie sich wieder auf den Weg machten, war ein wenig Wärme in ihren Umgang miteinander zurückgekehrt. Es war, als schien die Last auf Názurs Schultern weniger schwer zu sein, während Jass’ Bedenken weiter geschrumpft waren.
Innerhalb der nächsten zwei Tage stiegen sie ohne weitere Verzögerungen die Westflanke des Gletscherkammes hinab, stetig begleitet von den eisigen Ausläufern des riesigen Gletschers. Schließlich wandte Jassinie ihren Weg mehr nach Südwesten, während sich der Gletscher nach Norden hin verlor. Einen weiteren Tag später erreichten sie die ersten Siedlungen, in erster Linie ärmliche Behausungen einiger Bergbauern, die in mühseliger Arbeit ihren kargen Lebensunterhalt der grimmigen Gebirgskette abrangen. Von einigen Bauern erfuhr Jass, dass der Weg bis zum Grünhornwald ausnahmsweise frei von vagabundierenden Wegelagerern und den halbmenschlichen Bestien war, die immer wieder über die Menschenlande herfielen. Zuversichtlich setzten die beiden Wanderer ihren Weg fort, bis sie schließlich knapp zehn Tage nach ihrem Aufbruch aus Gerasen die ersten Ausläufer des Grünhornwaldes erreichten.
Názur stellte keine Fragen und überließ Jassinie die Wahl des Weges in den sagenumwobenen Wald. Jass folgte zunächst dem Saum des Waldes bis in die späten Abendstunden, bevor sie einen zufriedenstellenden Lagerplatz gefunden hatte. Gemeinsam bereiteten Jass und Názur ihre Lagerstätte vor. In den letzten Tagen hatte sich eine gewisse Routine bei ihnen eingestellt, die sie auch jetzt befolgten. Dennoch spürte Jass die wachsende Unruhe ihres Begleiters. Nachdem sie ihr Abendmahl beendet hatten, saßen sie noch an dem niedrig brennenden Feuer. Jeder grübelte vor sich hin, bis Jass schließlich das Wort ergriff.
"Die Menschen suchen nur sehr selten die Tiefen des Grünhornwaldes auf. Ab und zu wagen sich vereinzelte Abenteurer in den Wald, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Wenn sie zurückkehren, berichten sie von geisterhaften Erscheinungen und seltsamen Geschehnissen, die sich ihrem Verständnis entziehen. Deswegen fürchten die Menschen den Wald und seine Magie. Andererseits glauben die Menschen daran, dass die Magie des Waldes ihre Ernten ertragreicher macht und ihre Behausungen zusätzlichen Schutz angedeihen lässt. Daher lassen sie sich trotzdem an den Rändern des Waldes nieder." Jass blickte Názur nun direkt in die Augen. "Für viele ist dies nur ein Aberglaube, aber wir beiden wissen, dass mehr dahintersteckt."
Zustimmend nickte der alte Mann. "Ja. Die Macht der Königs des Grünhornwaldes ist beträchtlich und sorgt dafür, dass die Magie des Waldes nie versiegt."
"Das ist richtig." Sie versuchte, seinen Blick zu erwidern. Die Augen seien der Spiegel zur Seele eines Menschen, sagten die Leute überall. Und sie wollte die Wahrheit, die hinter diesen dunklen, unergründlichen Teichen ergründen. "Aber auch der König des Waldes kann seine Magie nur solange wirken, wie der Wald ihm seine Kraft schenkt. Wird das Gefüge der Natur des Waldes auch nur geringfügig gestört, besteht die Gefahr, dass die Quelle der Macht versiegt."
Ohne mit der Wimper zu zucken folgte Názur den Ausführungen der jungen Waldläuferin.
"Als ich vor einigen Jahren in das Geheimnis des Waldes eingewiesen wurde, schwor ich, alles zu tun, um den Grünhornwald und seine Bewohner zu schützen." Entschlossen fasste Jass sich mit der flachen Hand auf die linke Brusthälfte. "Bei allem was mir heilig ist: Solltest du versuchen, dem König zu schaden, so werde ich nicht zögern, meinem Schwur Folge zu leisten."
Ungerührt hörte Názur Jassinies Worten zu. Doch seine Augen verrieten Jass, dass er ihre Botschaft verstanden hatte. In stillem Einverständnis lauschten sie dem knackenden und zischenden Gesang des Feuers, bis es niedergebrannt war und sie sich zur Nachtruhe betteten.
Jassinie wurde von fröhlichem Vogelgesang geweckt. Noch halb im Schlaf blinzelte sie in die leuchtenden Strahlen der morgendlichen Sonne. Es war schon erstaunlich spät, denn die Wärme, die von den Strahlen ausging, hatte die nasse Kälte des Morgens bereits vertrieben. Jass benötigte eine Weile, bis sie begriff, was dies bedeutete.
Sie hatte verschlafen.
Hastig richtete sie sich auf und blickte sich um. Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich sofort: Keine Spur von Názur oder seiner Ausrüstung. Der alte Mann war ohne sie aufgebrochen.
"Verflucht", schimpfte Jass und sprang auf ihre Füße. Hastig suchte sie ihr Gepäck zusammen. Erleichtert stellte sie fest, dass nichts fehlte. Als sie fertig war, suchte sie den Rand des Lagerplatzes nach einem Hinweis ab, in welche Richtung Názur gegangen war. Es dauerte nicht lange, und sie fand einige niedergetretene Grashalme, die ihr den Weg wiesen. Jassinie hatte einst einen sehr guten Lehrmeister gehabt, und so gelang es ihr mühelos, der Fährte Názurs zu folgen. Zu ihrer Bestürzung erkannte sie, dass er genau den Weg gewählt hatte, den auch sie genommen hätte, wenn sie ihn in den Wald hinein geführt hätte. Obwohl der Grünhornwald Názur angeblich fremd war, so hatte er sich auf den Pfad begeben, der ihn am wahrscheinlichsten zum König des Waldes führen würde.
Hastig folgte Jassinie der Spur. Sie erkannte, dass der alte Mann mindestens drei Stunden Vorsprung hatte. Welches Spiel trieb er? Wieso war er ohne sie weitergezogen? Hatte er sie die ganze Zeit belogen? Jassinie glaubte nicht wirklich daran, war sich ihrer Sache aber nicht mehr ganz sicher.
Der Morgen verstrich und Jassinie hatte Názur noch immer nicht eingeholt. Obwohl sie kaum noch nach der Fährte suchen musste, denn der Weg war ihr allzu vertraut, und obwohl sie ihr schnellstes Tempo einlegte, drängte sich die Befürchtung auf, dass sie Názur nicht mehr rechtzeitig einholen würde. Rücksichtslos bahnte sie sich mit zunehmender Verzweiflung ihren Weg durch den immer dichter werdenden Wald. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, und hinterließen eine Spur aus Blättern und Dreck auf ihrer Lederkleidung.
"Ich darf nicht zu spät sein! Ich muss ihn einholen bevor er dem Einhorn Böses zufügen kann!" Wie eine rituelle Gebetsformel wiederholte Jass immer wieder diese beiden Sätze, obwohl mit jeder weiteren, erfolglosen Stunde ihre Zuversicht schwand. Schließlich wurde der Wald wieder lichter; sie näherte sich dem verzauberten Hügel, den sie als bevorzugten Treffpunkt des Königs des Waldes mit den wenigen Menschen, die sein Geheimnis kannten und zu hüten versuchten, kannte. Noch immer hatte sie Názur nicht entdeckt, obwohl sie sicher war, dass sie seine Spur nicht verloren hatte. Gehetzt und von Panik getrieben, durchstieß Jassinie das letzte Dickicht, das sie von dem lichten Hügel trennte, als sie eine wohlbekannte, melodische Stimme hörte.
"Er hat ihn ausgewählt und nicht dich!" Die Eindringlichkeit der Worte ließ keinen Zweifel an der Endgültigkeit dieses Urteils.
"Es war nicht rechtens!" rief Názur verzweifelt. "Ich hatte dasselbe Anrecht wie Beolf, den Platz an der Seite der Götter einzunehmen. Ich hatte es mir genauso verdient wie er!"
"Das mag schon sein", entgegnete der König des Waldes unbeeindruckt von der Vehemenz, mit der Názur seinen Worten Nachdruck verlieh. "Aber das Urteil des Hohepriesters war eindeutig. Es gibt nur einen Platz für die Blutrose, und den bekam der andere zugesprochen!"
Jass prallte zurück, als sie die Worte des weißen Einhorns vernahm, welches majestätisch auf dem Scheitelpunkt des kleinen Grashügels stand, das königliche Haupt von einer langen. weißen Mähne umkränzt. Blutrose? Doch nicht DIE Blutrose der Legenden? Die Blutrose, die den Sterblichen den Weg zu den Göttern ebnete und nur einmal in jeder Generation den Göttern als Geschenk dargeboten werden konnte? Während Jass sich noch von diesem Schock erholte, hatte der alte Mann wieder das Wort ergriffen.
"Ich kann einfach nicht glauben, ich kann nicht akzeptieren, dass diese Entscheidung rechtens war!" Wut, Zorn und eine unermessliche Trauer klangen aus den Worten des alten Mannes. "Wir beide hatten das geforderte Geschenk an die Götter dargeboten. Wir beide hatten die Aufgabe erfüllt! Mit welchem Recht wählten die Hohen ihn aus und nicht mich?" Názur schluchzte auf und sank auf seine Knie. "Warum taten sie mir das an?"
"Tut mir leid, alter Freund", entgegnete das Einhorn mitleidsvoll und dennoch keinen Zweifel an der Entscheidung der Hohen lassend, "diese Frage kann ich dir nicht beantworten."
Der alte Mann fuhr mit seinen Händen verzweifelt durch sein graues Haar und sein Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Alle Ängste vergessend eilte Jass den sanft ansteigenden Hügel hinauf und näherte sich dem Knieeden. Das Einhorn neigte seinen stolzen Kopf in einer leichten Begrüßung und Jass verbeugte sich respektvoll vor dem König des Waldes.
"Es tut mir leid, mein Gebieter", erklärte Jass schuldbewusst mit zu Boden gerichtetem Blick. "Ich habe versagt."
Das Einhorn schüttelte den Kopf, so dass sich die Sonnenstrahlen an seinem silbernen Horn brachen wie in Kristallglas. "Nein, Jassinie. Das hast du nicht. Ich wies ihm den Weg in den Wald."
"Ihr?" Verdutzt hob Jassinie ihren Kopf und starrte das Einhorn fragend an. "Warum?"
"Kannst du es dir nicht denken?"
Jassinie überlegte. Rasch durchflog sie in Gedanken alles, was sie von Názur inzwischen gehört oder in Erfahrung gebracht hatte. Es musste etwas mit seiner Vergangenheit zu tun haben. Das Einhorn hatte ihn "alter Freund" genannt. Názur hatte immer wieder das Geschenk oder die Gabe an die Götter erwähnt. Die Blutrose! Sollte er etwa...?
Fassungslos schüttelte die Waldläuferin ihren Kopf. "Das kann nicht sein!"
Doch der Blick des Einhorns sagte, dass ihre Vermutung richtig war.
"Dann... dann...", stammelte Jassinie bestürzt, "ist dieser Mann..." Jassinie blickte auf den noch immer am Boden kauernden und in sich zusammengesunkenen alten Mann, und die Worte blieben ihr im Hals stecken.
"Ja", vollendete das Einhorn für sie. "Dieser Mann ist Zurán von Argonia. Oder auch Zurán der Weise. Zurán der Gerechte. Zurán der Schreckliche. Und Zurán, der von den Göttern Gesegnete und Verfluchte. Zurán, der die Blutrose fand, und von den Hohen abgewiesen wurde, weil sie einen anderen Boten wählten."
Jass schaute noch immer fassungslos auf den Mann, den sie als Názur kennen gelernt hatte. "Názur. Ja, natürlich. Ich Närrin!", schimpfte Jass betroffen, als sie ihre Blindheit erkannte. Die Namen waren sich so ähnlich, dass jedes Kind ihn eigentlich erkennen sollte.
Ihre Gedanken rasten. Jeder Mensch, jeder Gottgläubige kannte die Geschichte von Zurán von Argonia. Einmal in einer oder auch zwei Generationen der Menschheit verkündeten die Hohen, dass die Götter wieder einem Auserwählten ihre Gunst erweisen würden, der ihnen die Blutrose überbringen würde. Die Blutrose - auch die Träne der Götter genannt. Eine Pflanze, die nur einmal in hundert Jahren blüht, und der man magische Kräfte nachsagt. Unendliches Glück und unermesslicher Reichtum versprach sie ihrem Finder. Die Blutrose, die genauso oft erblühte, wie die Götter nach ihr verlangten. Auch damals, beim letzten Aufruf, lange vor Jassinies Geburt, hatten sich die stärksten und besten Männer auf die Suche nach der Blutrose begeben. Viele von ihnen verzweifelten und kehrten geschlagen in ihre Heimatstädte zurück. Andere blieben verschollen oder strandeten wie Treibgut in den entlegendsten Winkeln der Welt. Bis zu dem damaligen Zeitpunkt war es immer nur einem einzigen Glückspilz alleine gelungen, eine Blutrose zu finden und zum großen Tempel von Kerlion zu bringen, wo die Hohen im Namen der Götter über das Seelenheil der Menschen wachten. Doch dieses Mal hatten sich gleich zwei Glückliche gefunden, die mit einer Blutrose in ihren Händen beinahe zeitgleich im Tempel eintrafen. Schnell hatte sich die Kunde dieses Wunders verbreitet und gebannt hatten die Menschen das Urteil der Hohen erwartet.
Zur allgemeinem Überraschung erwählten sie jedoch nur einen der beiden Finder als Boten der Götter, obwohl sie beide die gestellte Aufgabe bewältigt hatten. Während Beolf mit den Hohen den großen Tempel betrat, blieb Zurán der Zutritt verwehrt. Den Erzählungen nach hatte Zurán nach einer Begründung für diese Entscheidung verlangt, aber die Hohen hatten ihn nicht weiter beachtet. Daraufhin war Zurán in seine Heimat zurückgekehrt. Während Beolf seinen Platz an der Seite der Götter einnahm, wurde Zurán zur lebenden Legende. Die Menschen baten ihn, ihre neugeborenen Kinder zu segnen, Ernten auszubringen und seine Hände auf die Wunden der Kranken zu legen. Als Zurán schließlich wieder in Argonia eintraf, waren die Gerüchte über die Wunder, die er angeblich vollbracht hatte, ihm vorausgeeilt. Ohne Umschweife wurde er von seinem Volk zu ihrem Herrscher gekrönt. Ob er es wollte oder nicht: man baute ihm ein prächtiges Schloss, auf dass sein Glanze dem bis dahin eher armen Argonia Reichtum und Wohlstand brächte. Im prächtigsten Saal des Schlosses wurde ein Altar errichtet, auf dem die Blutrose in einer kristallenen Vase platziert wurde. Sie wurde zu einem der größten Heiligtümer des Landes und aus allen Richtungen pilgerten die Menschen herbei, um der Blutrose und ihrem von den Göttern gesegneten Finder zu huldigen.
Den Berichten zufolge bemühte Zurán sich ein gerechter Herrscher zu sein. Er berief die klügsten Köpfe des Landes an seinen Hof und führte viele Gesetze ein, die das Wohl und das Glück der Menschen von Argonia mehrten. Doch seine Regentschaft brachte ihm selbst kein Glück. Seine Frau betrog ihn mit einem seiner Offiziere. Es war eine Intrige gegen ihn, das wusste er. Denn seine Macht und sein Reichtum brachte nicht nur Glück und Wohlstand. Im Schweif seines aufsteigenden Sternes fanden sich auch unzählige Schmeichler und Intriganten, die nur darauf warteten, dass Zurán eine Schwäche zeigte. Argonia wäre in Chaos gestürzt, wenn er die Gesetze - seine eigenen Gesetze - missachtet hätte. So hatte er keine Wahl, als sein Weib nach dem Gesetz als Ehebrecherin hinrichten zu lassen. Als sie unter dem Schwert des Henkers starb, verließ seine Tochter das Land und ward nie wieder gesehen. Einige Jahre später versuchten die Intriganten abermals, selbst an die Macht zu gelangen, und in der von ihnen angezettelten Palastrevolte fiel sein Sohn ihren Dolchen zum Opfer. Schließlich, vor etwas mehr als einer Dekade, starb sein Enkelsohn - vergiftet von weiteren Thronräubern. Zurán überlebte, doch während Argonia nach wie vor blühte, stand der einstige Glücksbringer vor den Trümmern seines Lebens.
Vor sechs Jahren verkündeten die Hohen erneut, dass die Götter ihnen mitgeteilt hatten, dass an ihrer Seite ein Platz frei war für den Überbringer einer Blutrose. Kurz darauf verschwanden sowohl Zurán als auch die Blutrose aus seinem Palast. Während sich die Männer wieder auf die Suche machten - dieses Mal sowohl nach Zurán, als auch der Blutrose, die vermeintlich in seinem Besitz war - versank Argonia in einem blutigen Bürgerkrieg, der bis zu diesem Tage andauerte und das kleine Land in ein Jammertal des Leids tauchte.
Jassinie erinnerte sich, wie auch einige Männer ihres Dorfes aufgebrochen waren, um dem Ruf der Götter zu folgen. Sie hatte sich zu jener Zeit gerade den Waldläufern des Grünhornwaldes angeschlossen. Damals hatte sie gerade achtzehn Sommer erlebt - solange dauerte nun schon die Queste nach der Blutrose und Zurán von Argonia.
Nun kniete dieser Mann - diese Legende - wie ein Häuflein Elend vor ihren Füßen und ließ seinen Tränen freien Lauf.
Entschlossen fasst Jassinie sich ein Herz, trat neben ihren Weggefährten und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Gehorsam ließ sich der einstige Regent von ihr hochziehen, bis er wieder aufrecht neben ihr stand. Tief durchatmend sammelte der alte Mann sich wieder und wandte sich der jungen Frau zu.
"Ich wollte dich nicht hintergehen, Jassinie."
Die Waldläuferin nickte tapfer und erwiderte: "Ich kann Euch verstehen, Auserwählter."
Ein Schauer fuhr durch den alten Mann und seine Augen blickten Jass schmerzvoll an. "Bitte, ich bin kein Auserwählter. Ich bin auch kein König oder ein weiser Mann mit magischen Kräften. Ich bin ein Narr, der den Glauben an die Gerechtigkeit verloren hat. Verzeih mir, wenn meine lästerlichen Worte am Gletscherstieg dich verletzt haben sollten. Aber vielleicht verstehst du jetzt meine Verbitterung."
Jass nickte abermals. "Ich verstehe dich. Und es tut mir leid." Jass biss sich auf die Lippe, denn trotzdem lag noch eine Frage auf der Seele. "Eine Sache verwirrt mich aber: Warum suchst du die Blutrose, wenn du sie doch schon hast?"
Zurán schloss die Augen und atmete erneut tief durch. Jassinie beobachtete ihn aufmerksam. War sie mit dieser Frage zu weit gegangen?
"Er hat die Blutrose nicht mehr, Jassinie!" Das Einhorn sprach sanft mit mitleidsvoller Stimme.
"Woher wisst Ihr das, Gebieter?"
"Warum würde er sonst zu mir kommen?"
Irritiert wanderte Jassinies Blick von dem Einhorn zu Zurán und wieder zurück. "Aber..."
"Der König hat recht, Jass." Zurán richtete seine dunklen Augen wieder auf die junge Waldläuferin. "Als ich damals das Schloss verließ, habe ich die Blutrose mitgenommen. Aber nicht, um sie zu den Hohen zu bringen oder sie einfach vor anderen Menschen zu verbergen. Ich war wütend und außer mir vor Trauer. Jeder wusste, und ganz besondern die Hohen, dass es noch diese Blutrose gab. Also warum verkündeten die Hohen, dass sie eine neue Blutrose suchten? Hatte ich mir den Platz nicht mehr als jeder andere verdient? Hatte ich nicht diejenigen zu Grabe tragen müssen, die ich am meisten liebte, nur um so aufrichtig und gerecht wie möglich dem Wort der Götter Folge zu leisten? Diese verfluchte Rose hatte mir nur Unglück gebracht. Ich habe sie in Stücke gerissen und ihre Überreste in die Flammen des Kamins in meinem Wohnzimmer geworfen, bevor ich mein Schloss verließ." Grimmig lachte der alte Mann auf. "Da die Hohen noch immer nach der Blutrose Ausschau halten, muss meine letzte...", er zögerte, "...Amtshandlung erfolgreich gewesen sein". Die letzten Worte hatte Zurán beinahe verächtlich hervorgestoßen.
Entsetzt blickte Jass Zurán an. "Aber wenn die Blutrose vernichtet wurde, werden die Götter dann nicht...?"
"Nein, Jassinie", warf der König des Waldes besänftigend ein. "Eine neue Blutrose ist bereits erwacht und wird in Kürze in voller Blüte stehen."
"Woher wisst Ihr das, Gebieter?" fragte Jass unsicher.
"Woher weiß ER das?" entgegnete der König mit Bestimmtheit und schaute Zurán mit unverhohlener Neugier an. Sein eindringlicher Blick schien sich förmlich in den alten Mann zu bohren.
Jass blinzelte verwirrt. "Ich verstehe gar nichts mehr."
Das Einhorn nickte. "Es ist auch nicht einfach zu verstehen." Der König des Waldes bedachte Jass mit seinem gütigen Blick und wandte sich dann Zurán zu, der seinerseits wieder zu alter Sicherheit zurückgefunden hatte. "Und es ist ein wahres Mysterium, das diesen Mann umgibt. Ich habe noch nie gehört, dass der Finder einer Blutrose diese überlebte. Das ist außergewöhnlich und wirft viele Fragen auf."
"Wovon redest du?" fragte Zurán mit gefährlicher Schärfe. "Was weißt du über das Geheimnis der Blutrose? Sag es mir!"
"Ich weiß auch nicht viel mehr als du, alter Freund. Ich kenne weder die verborgene Macht einer Blutrose, noch den wahren Grund, warum die Hohen immer wieder danach suchen lassen."
Jass erbleichte, und Zurán erstarrte. "So gibt es einen weiteren Grund außer den Ruf der Götter, nach der Blutrose zu suchen?"
Das Einhorn warf seinen majestätischen Kopf zurück und wieherte laut. "Zurán, mehr als jeder andere Sterbliche solltest du inzwischen erkannt haben, dass den Göttern die Blutrose und das Schicksal ihres Finders gleichgültig sind!"
"Nein...!" Zurán fasste sich wie vom Blitz getroffen an den Kopf. "Du willst damit doch nicht andeuten, dass dies lediglich ein Spiel der Hohen ist?"
Das Einhorn reckte seinen schlanken Hals nach vorne und neigte seinen Kopf, bis seine seidigen Nüstern nur wenige Schritt von Zuráns Gesicht entfernt waren. "Ich kann dir auch dieses Mal den Weg zur Blutrose weisen, Zurán von Argonia, wenn du dich wirklich traust zu enträtseln, was sich hinter ihrem Geheimnis verbirgt."
Zurán hielt dem unergründlichen Blick des Einhorns stand. "Warum sagst du es mir nicht?", flüsterte er, den Tränen der Verzweiflung nahe.
"Ich sagte bereits, dass ich die magische Kraft der Blutrose nicht kenne, Zurán. Aber ich bin neugierig, es zu erfahren. Du hast die Macht, das Rätsel zu lösen!"
"Warum ich?" fragte Zurán nicht ohne Verbitterung.
"In dir ist eine Veränderung vorgegangen, die ich zwar nicht deuten kann, die mir aber auch nicht verborgen geblieben ist. Ich vermute, es hat etwas damit zu tun, dass du dich durch deine Tat vor sechs Jahren ein für alle Mal von jeglichen Banden an eine Blutrose befreit hast." Das Einhorn richtete sich wieder auf. Es bestand kein Zweifel, dass der König des Waldes nicht geneigt war, weitere Informationen preiszugeben.
"Hmm", meinte Zurán nachdenklich. "Das ändert einiges." Mehr an Jass als an das Einhorn gewandt, sagte er: "Ursprünglich hatte ich nur vor, aus reinem Stolz die Blutrose noch ein weiteres Mal zu finden. Nachdem ich einige Zeit ziellos umhergestreift war, hatte ich erkannt, dass ich dumm, impulsiv und unverantwortlich gehandelt hatte. Doch nach Argonia konnte ich nicht mehr zurückkehren, denn ich wäre nur ein Spielball der Machthungrigen geworden. Und auch jeder andere Ort war mir verwehrt, denn früher oder später wäre ich erkannt und das Ziel all derjenigen geworden, die der Blutrose hinterher jagen. Also entschloss ich mich, dem Spuk dadurch ein Ende zu bereiten, dass ich mich selber an der Suche beteiligte. Ich dachte, dass ich im Fall meines Erfolges entweder die Gunst der Götter wieder finden könnte, oder mich zumindest all der Abenteurer auf einen Schlag entledigen könnte. Doch nun hat sich eine neue Dimension in diesem Spiel eröffnet. Wenn es tatsächlich stimmen sollte, dass all dies nur ein Spiel der Hohen ist, dann werde ich mich daran beteiligen. Doch dieses Mal nicht als reines Bauernopfer!"
Die Augen des alten Mannes leuchteten mit unverhohlenem Feuer. Jass war von seinem Willen beeindruckt, und beugte demütig ihr Haupt. "Wenn du meine Hilfe benötigst, werde ich dich begleiten, Zurán."
"Danke, Jassinie. Ich nehme dein Angebot mit Freuden an!"
Das Einhorn schien beinahe verschmitzt zu lächeln. "Worauf warten wir dann noch, meine Freunde?"

Jassenie zögerte einen kurzen Augenblick, bevor sie durch die schwere Eichentür den Schankraum des Lustigen Hirschen betrat. Ein tiefer Atemzug, gefolgt von einem Zurechtrücken von Lederzeug und Waffengurt, dann war die Waldläuferin bereit. Als sie die Tür aufstieß und sich der gut gefüllte Raum vor ihr öffnete, verstummten die Gespräche und alle Gesichter wandten sich ihr zu. Jassenie konnte sich nie an diese Aufmerksamkeit gewöhnen, die ihr überall entgegen gebracht wurde, und am meisten in Gerasen, dem Ort, wo für sie alles angefangen hatte.
Leicht angedeutete Begrüßungen zu beiden Seiten verteilend, schritt Jass den langen Mittelgang entlang. Bekannte nickten ihr ehrfürchtig zu und fremde Gäste steckten ihre Köpfe zusammen, um zu beraten, ob sie die berühmte Waldläuferin Jassenie war, die angeblich aus dieser kleinen Ortschaft stammte. Ein junger Barde erhob sich, um eine Ruhmesballade anzustimmen, doch ein einziger, herrischer Blick ihrer grauen Augen genügte, um ihn zurückzuweisen. Noch eine Geschichte oder ein Lied zu ihren Ehren war einfach des Guten zuviel.
Als sie sich der vertrauten Theke näherte, blickte Jass in das grinsende Gesicht von Friedorn. Seine Gestalt war nach wie vor muskulös und beeindruckend, doch der unvermeintliche Wanst, den er vor sich herschob, legte Zeugnis über die Kochkünste seiner Ehefrau ab. Neben ihm auf dem Holztresen hockte mit herabbaumelnden Füßchen die zweijährige Tochter des Gastwirtes und spielte mit ernster Miene mit einem schmutzigen Küchentuch. Als sie Jassinie erblickte, erstrahlte ihr rosiges Gesichtchen.
 "Sine! Sine!" rief die Kleine und durchbrach damit die andächtige Stille des Schankraums. Männer und Frauen wandten sich wieder ihren Getränken und ihren Tischgesprächen zu, und Friedorn begrüßte Jassinie mit einer herzlichen Umarmung über den Tresen hinweg.
"Na, auch mal wieder im Lande, Jass?"
Die Waldläuferin nickte und wehrte spielerisch die neugierigen Hände des kleinen Mädchens ab, die besitzergreifend nach ihr fassten.
"Du lieber Himmel, Aliana ist aber groß geworden!" stellte Jass unbeholfen fest.
Friedorn lachte mit dem ganzen Stolz des glücklichen Vaters. "Kein Wunder, es ist ja auch schon über ein Jahr her, dass du hier warst."
Entschuldigend hob Jass die Schultern. "Tut mir leid. Ich wünschte, wir wären öfters in der Gegend."
Friedorn lächelte verständnisvoll. "Wie lebt es sich denn so als Gefährtin einer lebenden Legende?"
Blitzschnell griff Jass nach dem Küchentuch in Alianas Hand und zielte damit neckend nach Friedorns Gesicht. "Du bist unmöglich, Frieder!"
"Und du hast viel zu selten Zeit für uns!" schalt eine weitere, bekannte Stimme hinter Jassinies Rücken.
"Tirian!" Jass drehte sich um und begrüßte ihre alte Freundin. Die beiden Frauen fielen sich in die Arme und umarmten sich herzlich. Jass hielt die Luft an, als Tirian sie mit ihren breiten Armen empfing, und sie registrierte verwundert, wie sich der gewölbte Bauch ihrer Freundin in ihren Unterleib presste. Lachend knuffte sie ihre Freundin, als sie sich wieder von ihr löste. "Tirian, ihr bekommt schon wieder Nachwuchs?"
Die schwangere Schankmaid lachte. "Ja, Frieder ist ein übler Wicht!"
"Aber ein liebevoller Wicht!" fügte Jass hinzu.
Tirian lächelte glücklich und warf ihrem Gatten, der seine Frau bewundernd anschaute, einen gehauchten Kuss zu. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Jass, und betrachtete ihre Freundin von Kopf bis Fuß.
"Und was ist mit dir? Wann dürfen wir dir gratulieren?"
Jass errötete. "Tirian..."
Die Schwangere warf ihre Arme in die Luft und verdrehte ihre Augen. "Ja, was? Du bist doch noch immer mit ihm zusammen, oder?"
Jass ließ ihre Schultern fallen und entgegnete schwächlich: "Ja, schon. Aber du weißt wie es ständig ist..."
"Ausreden, nichts als Ausreden! Wann setzt ihr euch endlich zur Ruhe? Wie lange seid ihr jetzt schon unterwegs? Vier Jahre, habe ich recht?"
"Fünf", flüsterte Jass bedrückt. "Du warst damals gerade mit Erik schwanger..."
"Tatsächlich!" Tirian schüttelte den Kopf. "Pass auf, dass es eines Tages nicht zu spät ist, Mädchen!" Besorgt sah die Schankmaid ihre Freundin an. "Wo ist er überhaupt?"
"Da wo ich ihn damals hingeführt habe. Du weißt schon, wo." Jass gab Tirian mit einem Augenzwinkern zu verstehen, dass dieses Wissen nicht für jedermanns Ohren bestimmt war. Tirian begriff und wechselte das Thema.
"Komm, Mädchen, jetzt isst du erst einmal etwas Herzhaftes!"
Tirian zog ihre Freundin hinüber zum Ende der Holztheke, wo sie in den anliegenden Versammlungsraum gingen. Doch kaum waren die beiden Frauen durch die Tür geschritten, kam ein hüfthohes Wollbündel um die Ecke geflogen, um sich vergnügt an Jassinies Bein zu klammern.
"Tante Jassy, du bist wieder da!" Glücklich lachte Erik, Tirians Erstgeborener, die Waldläuferin an, und von der Theke krähte Alian vergnügt: "Sine! Sine!"
Jass wuschelte Erik durch das strubbelige Haar und zog ihn behutsam von ihrem Bein fort. "Hallo, Erik. Du bist ja fast schon groß wie dein Vater!"
Erik machte sich lang und versuchte sich auf seinen Zehenspitzen aufzurichten. "Bald bin ich sogar größer als Papa!" Hinter ihnen brummte Frieder etwas, was wie "Im Traume nicht..." klang. Jass drehte sich um und schenkte ihm ein schelmisches Lächeln. Es war herrlich, mit diesen einfachen Menschen zusammenzusein.
Erik hatte sich wieder auf seine Fersen gestellt und zog an Jassinies Lederrock. "Tante Jassy, erzählst du mir von Onkel Zurán!"
"Erik!" rief Tirian zurechtweisend, "quäl Jass nicht schon wieder mit den alten Geschichten!" Sachte zog Tirian die Tür zum Schankraum zu.
"Aber ich höre so gerne, wie Tante Jassy und Onkel Zurán in den großen Tempel gegangen sind, und die bösen Hohepriester vertrieben haben. Und dann war da noch das Einhorn!" Erik schaute Jass mit kindlicher Unschuldsmiene an. "Tante Jassy, ich hab das Einhorn schon gesehen!"
Jass wunderte sich über gar nichts mehr. "Ist das wahr?"
Tirian nickte. "Wir waren kurz nach Frühlingsanfang zu Besuch bei Frieders Verwandten auf der anderen Seite des Berges. Es kam damals an den Waldrand, um die Kinder zu begrüßen." Verträumt dachte Tirian an die Begegnung zurück. "Es ist wunderschön."
"Er", erinnerte Jass ihre Freundin. "Er ist ein Hengst!"
"Und wenn schon." Tirian schmollte ein wenig, doch dann fügte sie schnell hinzu: "Es kommt jetzt immer öfters an den Waldrand, um die Menschen zu begrüßen."
Jass nickte verstehend. "Kein Wunder, jetzt wo seine Macht und die Magie des Grünhornwaldes gefestigt sind."
"Also, was ist, Tante Jassy. Erzählst du mir von dem großen Tempel?" bettelte Erik ungeduldig.
Jassinie zuckte mit den Schultern. Tirian wies der Waldläuferin einen Stuhl zu und fasste nach dem Türgriff. "Er wird keine Ruhe geben, bis du ihm nicht eine Geschichte erzählt hast. Ich werde dir in der Zwischenzeit eine warme Mahlzeit zukommen lassen. Anselm kocht heute mal wieder."
"Der alte Löffelschwinger hat sich noch immer nicht zur Ruhe gesetzt?" fragte Jass überrascht.
"Uns ist es recht" antwortete Tirian. "Ich bin zwar selber eine passable Köchin, aber Anselm hat einfach ein paar Jährchen Vorsprung."
"Na dann", meinte Jass belustigt und setzte sich auf ihren Stuhl. Erik hopste geschickt auf den Tisch und sah Jassinie erwartungsvoll an.
"Wo soll ich denn anfangen, mein Großer?
Erik sah sie mit großen Augen an, kratzte sich an der Nase und schob seine Unterlippe nachdenklich vor. "Als ihr am Tempel ankamt, Tante?"
"Also gut, beim Tempel..." Jass lehnte sich zurück und grub ihre Erinnerungen aus.

"Nachdem Onkel Zurán und ich dank den Anweisungen des Königs des Grünhornwaldes tatsächlich die neue Blutrose gefunden hatten, suchten wir einige Gefolgsleute Zuráns auf, die ihm nach wie vor treu zur Seite standen, und bereiteten uns darauf vor, die Blutrose zum großen Tempel der Hohen zu bringen. Als fahrende Händler verkleidet, reisten wir in die heilige Stadt, denn wie du dich vielleicht erinnerst, suchten viele Menschen nach Onkel Zurán und der Blutrose."
Erik nickte eifrig und blickte Jass aufmerksam mit weit aufgerissenen Augen an.
"Wir wurden von einem Gefolgsmann Zuráns begleitet, der uns sicher an den Wachen vorbei durch die Stadttore lotste und uns unerkannt zum großen Tempel begleitete. Ohne Zwischenfall erreichten wir das große Portal, wo uns der Gefolgsmann verließ, um seinen nächsten Auftrag durchzuführen. Zurán schaute mich an und fragte: Willst du das wirklich mit mir durchziehen, Jass? Du musst das nicht tun. Doch schon damals wusste ich, dass unsere Lebenswege sich nicht mehr trennen würden, und so antwortete ich: Du kannst versuchen, mich davon abzuhalten, alter Mann! Ich werde nie Zuráns Blick vergessen, den er mir daraufhin zuwarf. Zum ersten Mal sah ich Hoffnung in seinen dunklen Augen. Hoffnung auf eine Zukunft nach diesem Tag. Gemeinsam griffen wir nach dem schweren Holzschlegel, der neben einer Säule stand, und schlugen wie eine Hand den goldenen Gong am Tempeleingang.
Kurz darauf öffnete sich das prachtvolle Portal. Ein prunkvoll gekleideter Mann in kostbaren Gewändern erschien im Durchgang. Er fragte nach unserem Begehr, und Zurán antwortete mit verstellter Stimme: Wir bringen den Göttern ihr gefordertes Geschenk! Ich muss gestehen, die Gelassenheit des Priesters war bemerkenswert. Ohne ein Wimpernzucken fragte er, wer von uns beiden der Bote sei. Zurán antwortete ihm ebenso unbeeindruckt, dass wir beiden die Boten wären. Das wiederum schien den Priester zu irritieren, und verunsichert blickte er von Zurán auf mich und wieder zurück. Er forderte uns auf, ihm zu folgen und führte uns durch verzweigte Gänge, die mit allerlei kunstvollen Malereien, Verzierungen und Teppichen geschmückt waren. Noch nie zuvor hatte ich mit meinen eigenen Augen solch eine von Menschenhand geschaffene Pracht gesehen. Schließlich erreichten wir einen Pavillon, an dem der Priester uns gebot zu warten.
Mit klopfendem Herzen versuchte ich meine Furcht zu besänftigen, doch Zuráns unerschütterliche Zuversicht erfüllte auch mich mit Mut, und so warteten wir nur gespannt auf die nächsten Ereignisse. Einige Zeit später kehrte der Priester, der uns empfangen hatte, in Begleitung mehrerer seiner Glaubensbrüder und einiger Tempelkrieger zurück. Der Priester zeigte auf uns, woraufhin ein älterer Priester mit gemessenen Schritten auf uns zuging. Ihr behauptet, die Gabe für die Götter mit euch zu tragen. Könnt ihr sie uns zeigen? So lauteten seine Worte. Zurán und ich blickten uns an. Wie verabredet fasste ich in Zuráns Manteltasche und ergriff den Stängel der Blutrose, während Zurán seine Hand auf die meine legte. Mit einer fließenden Bewegung brachten wir die Blutrose zum Vorschein. Gemeinsam hielten wir sie in die Höhe.
Ein Raunen ging durch die versammelte Priesterschaft. Ihr Sprecher erklärte uns, dass wir tatsächlich das Geschenk für die Götter gefunden hatten. Er forderte uns auf, ihm zum Hohepriester zu folgen. Doch zuvor mussten wir uns unserer Waffen entledigen, denn in den heiligsten Hallen, die den Göttern geweiht waren, durfte niemand mit Waffen oder Rüstung wandeln. Gehorsam schnallte Zurán seinen Waffengurt ab, und sein Langschwert polterte links von ihm zu Boden. Ich legte meinen Holzstab ab und zog meinen Dolch aus der Scheide zu meiner Rechten. Doch noch immer hielten Zurán und ich gemeinsam den Stängel der Blutrose zwischen uns."
Jass unterbrach ihre Geschichte an diesem Punkt und räusperte sich. Aus der Küche drang der verführerische Duft eines leckeren Bratens und Jass nahm einen Schluck aus dem Wasserkrug, der in der Tischmitte stand. Erik beobachtete jeder ihrer Bewegung mit großen Augen. Der Junge wagte nicht sich zu bewegen, aus Angst seine Geschichtenerzählerin zu stören. Jass lächelte und fuhr mit ihrer Geschichte fort.
"Begleitet von den Priestern, die sich selber die Hohen nennen, und einigen Tempelwachen, wurden wir tiefer in das Tempelinnere geführt. Schnell verlor ich die Orientierung, was mir normalerweise nicht so schnell passiert, aber an Zuráns zuversichtlichem Blick erkannte ich, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Nach mehreren Ecken und Wendungen erreichten wir schließlich ein weiteres, prächtiges Portal. Entlang des Türbogens erkannte ich die Zeichen der Götter. Aber auch weitere, mir unbekannte Symbole verzierten den Durchgang und die Torflügel.
Der Sprecher wandte sich an uns. Nur noch dieser Raum trennt uns vom Heiligtum der Götter. Das Tor hinter diesem vermag nur der auserwählte Bote der Götter zu durchschreiten. Jedem anderen Sterblichen sind die Hallen dahinter verwehrt. Nur einer von euch kann der Auserwählte sein, der die Blutrose den Göttern übergibt und einen Platz an ihrer Seite einnimmt. Wer von euch soll derjenige sein?
Mein Mund war mit einem Mal von einer entsetzlichen Trockenheit erfüllt, die jeden Ton in meiner Kehle verbrannte. Hilflos blickte ich den Priester an, bis ich den sanften Druck von Zuráns Hand auf meiner spürte. Wir haben beide zusammen die Blutrose gefunden, wir werden beide zusammen die Blutrose den Göttern überbringen. Der Sprecher kniff für einen kurzen Augenblick seine Augen prüfend zusammen. Die Spannung wurde beinahe unerträglich, bis auf ein unsichtbares Zeichen hin das Tor geöffnet wurde. Wie ihr wollt. Mehr hatte der Sprecher der Hohen nicht mehr mitzuteilen, und führte uns in die Vorhalle der Götter hinein."
"Was geschah danach, Tante Jassy?" Erik konnte seine Ungeduld nicht mehr zügeln und fuchtelte aufgeregt mit seinen Kinderhänden. "Wie war es in der Halle der Götter?"
Jass lächelte. "Heh, immer eins nach dem anderen. Ich bin erst bei der Vorhalle, mein Großer!"
"Aber wann kommt endlich der Kampf mit den Hohen?" Wieso wollten Jungs immer von den Kämpfen hören, wunderte Jassinie sich. Die Wege der Götter sind unergründlich, und heranwachsende, übermütige Jungs sind einfach anders als hübsche, brave Mädchen. Jass schluckte. Und alte, sture Männer sind anders als junge, verliebte Frauen. Meistens. Nicht immer.
"Wann kommt der Kampf?" Der kleine Kerl ließ nicht locker.
"Warte noch ein Weilchen", beruhigte Jass ihren jungen Zuhörer. "Nur noch ein kleines Weilchen..." Jassinie holte tief Luft, und setzt ihre Geschichte fort.
"Die Vorhalle war der eindruckvollste Raum, den ich jemals betreten habe. Waren die vorherigen Hallen und Gänge prachtvoll gewesen, so gibt es für die große Vorhalle nur einen Ausdruck: Überwältigend. Goldener Glanz überall wo das Auge hinschaut. Juwelen und Edelsteine aller Farben, die sich rivalisierend um den schönsten Platz streiten. Kunstvolle Verzierungen, von kundiger Hand geschaffen. Beeindruckend. Beängstigend. Ehrerbietend gedachte ich all der Meister, die dieses Werk gestaltet hatten. Demütig bestaunte ich die Macht der Hohen, die diesen Ort der Pracht ermöglicht hatten. Überwältigt von all diesem Glanz gaben meine Beine nach und nur Zuráns unnachgiebiger Griff um meine Hand hielt mich auf den Beinen und gab mir Halt. Ich blickte in die Gesichter der uns umgebenden Priester und entdeckte selbstherrliche Arroganz und erwartungsvolle Ungeduld. In diesem Augenblick erkannte ich, dass die Hohen nicht für die Götter, sondern nur für sich selber diese Halle geschaffen hatten, um die Kleingeistigen mit ihrem Glanz zu blenden und vor Ehrfurcht erstarren zu lassen. Ich weiß nicht, ob der Hohepriester meine Erkenntnis von meinen Augen ablesen konnte; immerhin wählte er diesen Moment, um uns zu begrüßen.
Willkommen in der Vorhalle der Götter. Ich bin Nansal, der Hohepriester der Götter und Höchster der Hohen. Ihr seid die Boten der Götter, die Edelsten der Gläubigen, gekommen um den Platz an der Seite der Götter einzunehmen. Doch wie ich sehe, seid ihr zu zweit gekommen; es gibt aber nur einen Platz an der göttlichen Tafel.
Grimmig antwortete Zurán: Zu zweit haben wir die Blutrose gefunden, zusammen steht uns ein Platz an der göttlichen Tafel zu.
Der Hohepriester ließ sich nicht beirren. Nur einer von euch kann die Blutrose überbringen. Ihr mögt zwar zusammen das Geschenk an die Götter gefunden haben, aber nur einer kann es den Göttern darbieten. Die blauen Augen des Hohepriesters verengten lauernd sich zu schmalen Schlitzen. Wie ich sehe, hat die junge Frau ihre Hand auf dem Stängel der Rose, und nicht Ihr, alter Mann. Sie soll die Botin sein!
Ein kalter Schauer fuhr durch mein Rückgrat und schüttelte meinen Körper. Anstatt vor Freude zu jubilieren, von den Göttern erwählt worden zu sein, bekam ich panische Angst. Zurán spürte mein Zittern unter seiner Hand und entgegnete ungerührt: Woher nehmt ihr diese Gewissheit, Höchster der Hohen?
Der Hohepriester starrte Zurán verblüfft an. Ein Raunen glitt durch die Reihen seiner Begleiter. Ihr wagt es, den Willen der Götter anzuzweifeln?
Zuráns Stimme wurde schärfer. Der Wille der Götter, oder der Wille der Hohen? Das Raunen wurde lauter.
Hütet eure Zunge, alter Mann. Ihr befindet euch in den heiligsten Hallen der Götter. Wie könnte ihr es wagen, ihnen zu lästern? Die Gewänder der umstehenden Priester raschelten vor Unruhe und zorniges Gemurmel erfüllte die Halle. Doch auch davon ließ Zurán sich nicht beeindrucken.
Ich lästere nicht den Göttern, oh, Höchster der Hohen. Aber ich zweifle eure Allwissenheit an. Die Augen des Hohepriesters wurden größer und seine Wangen färbten sich rot vor Aufregung. Zurán setzte nach. Ihr glaubt alles zu Wissen? Wie kann es dann sein, dass ihr mich nicht erkennt, Nansal von Bethunia. Der Hohepriester keuchte auf, als Zurán ihn mit seinem Geburtsnamen anredete. Sprachlos starrte er Zurán an, als dieser die Kapuze seines Umhanges zurückwarf. Gebannt beobachtete ich sein Gesicht, auf welchem ungläubiges Erstaunen von ängstlichem Erkennen abgelöst wurde.
Ihr? Wie kann das sein?
Zurán blickte den Hohepriester herausfordernd an. Ja, ich! Zurán der Gesegnete. Zurán der Verfluchte. Einstmals verwehrten die Hohen mir meinen rechtmäßigen Platz. Nun bin ich wiedergekommen, um ihn noch einmal einzufordern.
Blinzelnd rang der Hohepriester nach Fassung. Es ist unmöglich. Ihr konntet es damals nicht sein. Ihr seid auch heute nicht dafür geeignet! Einige der Priester keuchten auf. Was hatten sie zu verbergen?"
"Tante Jassy, der Kampf!" Ungeduldig schubste Erik sie an der Schulter. Jass schreckte auf, als sie plötzlich und ungestüm aus ihren lebhaften Erinnerungen gerissen wurde. Erschrocken stellte sie fest, dass ihre Hände feucht waren vor Schweiß. Genauso wie damals, als Zurán die Hohen zur Rede stellte.
"Husch, Erik. Sei still!"
Der Junge zuckte zurück, als hätten die scharfen Worte Jassinies ihn wie eine Ohrfeige getroffen. Ungestört kehrte Jass wieder in die Vorhalle der Götter zurück.
"Es war offensichtlich, dass einige der Hohen nicht wollten, dass Nansal zuviel preisgab. Die besorgten Zurufe seiner Brüder machten den Hohepriester rechtzeitig darauf aufmerksam, bevor er weitersprach. Doch der Schaden war angerichtet. Zurán und ich sahen uns an. Die Priester verbargen tatsächlich ein Geheimnis, genauso, wie das Einhorn es angedeutet hatte.
Zurán zögerte, warum weiß ich bis heute nicht, deshalb ergriff ich nun das Wort. Es ist wie Zurán sagt. Euer Wissen ist nicht allumfassend, was umso erstaunlicher ist, als es sich um eine Angelegenheit handelt, die angeblich von größter Wichtigkeit für die Götter ist!
Zurán warf mir einen mahnenden Blick zu, aber ich hatte die Neugierde des Hohepriesters geweckt. Was meinst du damit, Mädchen? Zweifelst auch du am Willen der Götter?
Bedächtig schüttelte ich meinen Kopf. Nein. Ich zweifle weder am Willen noch am Wort der Götter. Doch ich bezweifle, dass IHR mit der Zunge der Götter sprecht!
Die Priester schrieen auf. Einige forderten unseren sofortigen Tod, andere verlangten nach einem Gottesurteil. Mit einem Mal befürchtete ich, dass ich zu übermütig gesprochen hatte, und zuckte vor ihrer Wut zurück. Doch wieder blieb Zurán standhaft und behielt die Übersicht. Ihr schreit und jammert wie keifende Teppichhändler, die sich um ihr Geschäft betrogen fühlen. Ich sehe, auch meine Begleiterin hat euer Spiel durchschaut!
Der Hohepriester fasste sich als erster wieder. Die Tatsache, dass Ihr einst eine Blutrose fandet, schützt euch dieses Mal nicht vor dem Zorn der Götter, Zurán! Ich weiß, dass Ihr die alte Blutrose, die Ihr hattet, vernichtet habt. Ihr habt keine Bedeutung mehr für uns.
Ich erbleichte, doch Zurán hakte nach. Und ihr irrt euch, wenn ihr glaubt, dass ihr richtig geurteilt habt. Ihr wollt meine Begleiterin als Boten? Nun, dann hört mir gut zu, Ihr Allwissenden und Mächtigen. Ich, Zurán, habe diese Blutrose gepflückt! Ich bin der rechtmäßige Bote der Götter, und nicht diejenige, die ihr erwählt habt! Ist dies die Weisheit der Götter oder der Irrglaube ihrer Götzenanbeter?
Die Priester stöhnten auf. Alle Farbe wich aus dem Gesicht des Hohepriesters. Was redet Ihr da? flüsterte er, sichtlich geschockt von dieser Neuigkeit. Das ist unmöglich! Das ist entsetzlich! Ihr lügt uns an! Ein alter Mann kann nicht - darf nicht! - die Bande des Blutes tragen! Fragend schaute ich Zurán an. Wovon redete Nansal? Doch zum ersten Mal am heutigen Tag wusste Zurán keinen Rat. Der Hohepriester wandte sich von uns ab und ging mit unsicheren Schritten zu den übrigen Priestern. Zurán und ich verfolgten wachsam ihre Beratung. Seine Hand lag noch immer beruhigend auf meiner. Ohne seine Kraft und Zuversicht wäre ich schon längst davongelaufen oder vor Angst gestorben.
Nach einer endlos lang erscheinenden Wartezeit wandte sich der Hohepriester wieder uns zu. Folge mir, Zurán. Mit wiedererlangtem Befehlston zeigte er auf mich. Das Mädchen bleibt hier! Besorgt schaute ich Zurán an. Unsere Augen trafen sich. Er gab mir Mut. Sein Blick senkte sich für einen Bruchteil eines Atemzugs auf seine linke Hand. Vier Finger waren langgestreckt. Vier Minuten sollte ich ihm Zeit geben. Er drückte meine Hand und ich lächelte. Er griff mit Daumen und Zeigefinger den Blütenstil und entließ mich aus unserem gemeinsamen Griff. Ich trat einen Schritt zurück. Der Hohepriester drehte sich um. Zurán folgte ihm, ebenso wie ein Teil der übrigen Priester. Ein nicht sichtbarer Gong wurde geschlagen, und das Tor auf der anderen Seite der Halle schwang auf. Ich versuchte, einen Blick auf den dahinterliegenden Raum zu erhaschen, doch ich sah nur schummriges Zwielicht. Dies sollte die Halle der Götter sein? Dann verstellten mir die verbliebenen Priester die Sicht. Drei von ihnen wandten sich mir mit verschränkten Armen zu, zwei weitere folgten der Prozession ein Stück und bauten sich in dem Durchgang auf. Ein weiterer Gong wurde geschlagen, als Zurán im Gefolge des Hohepriesters und seiner Begleiter durch das Tor trat und schlagartig aus meinem Blickfeld verschwand."
Jass genehmigte sich eine Pause, um einen Schluck Wasser zu trinken. Ein kurzer Blick verriet ihr, dass ihr kleiner Zuhörer vor Ungeduld beinahe platzte.
"Nachdem Zurán verschwunden war, trat ich unruhig auf der Stelle herum, während ich innerlich die Sekunden herabzählte. Nach zwei Minuten vergrub ich meine Hände, wie ein sich langweilender Straßenjunge, in den Hosentaschen. Ich schaute mich in der Vorhalle um und studierte die Wanddekorationen. Nach drei Minuten drehte ich mich langsam um, mit großen Augen und ehrfürchtig staunendem Mund. Ohne dass es die Priester merkten, tastete ich nach der zerbrechlichen Phiole in meiner linken Hosentasche. Als ich bis auf zwanzig herunter gezählt hatte, schlossen sich meine Finger um das dünne Glas. Zehn! Noch immer hatte ich nichts aus der Halle der Götter gehört. Wie es wohl Zurán erging? Fünf! Mein Atem wurde schneller, mein Herz pochte wie wild. Ich spannte meine Muskeln an und machte mich bereit. Drei, zwei, eins... Jetzt!
Ich wirbelte zu den Priestern herum, zog die Phiole aus meiner Hosentasche und schleuderte sie direkt vor ihren Füßen auf die marmornen Fliesen. Die Phiole zerbrach klirrend, und ein gelber Dampf erhob sich zischend aus ihren Überresten. Das Betäubungsgift wirkte sofort - wie Zuráns Gefolgsleute es versprochen hatten - und die drei Priester sanken wenige Sekunden später bewusstlos zu Boden. Doch zuvor hatte ich schon das verborgene Wurfmesser aus meinem Stiefelschaft gezogen und es in Richtung eines der beiden Priester beim Durchgang geworfen. Wenn ich jemals einen perfekten Wurf benötigte, dann jetzt. Und die Götter standen mir bei! Das Wurfmesser bohrte sich in den Hals des Priesters, der noch verdutzt seine Mitbrüder zu Boden sinken sah. Röchelnd fasste er sich an den Hals. Ich sah nicht wie er stürzte, sondern war schon auf dem Weg in Richtung des letzten verbliebenen Priesters. Geschützt durch ein Gegengift, welches Zurán und ich vor dem Betreten des großen Tempels eingenommen hatten, durchquerte ich die stinkende, gelbe Wolke, ignorierte die niedersinkenden Priester, und war in wenigen Sätzen bei meinem letzten Gegner.
Der Priester begriff endlich, dass er angegriffen wurde und erhob seine Hände, um einen Fluch oder einen Zauberspruch auf mich zu schleudern. Doch ich war schneller. Mit einem verzweifelten Sprung rammte ich ihn, so dass er umfiel. Die Zauberworte des Priesters erstarben auf seinen Lippen. Wir stürzten zu Boden. Wieder war ich schneller. Ich richtete mich auf und schlug ihm mit aller Kraft einmal, zweimal ins Gesicht. Ich griff nach seinem Kopf, packte ihn an den Haaren und schmetterte ihn auf den Marmorboden. Seine Augen wurden glasig. Ich hatte sie alle besiegt! Ich, die kleine Waldläuferin aus Gerasen, hatte soeben fünf der Hohen überwunden. Wenn ich noch einen Beweis benötigt hätte, dass die Hohen nicht mit dem Willen der Götter handelten, so hatte ich ihn jetzt!"
Ein leises Aufkeuchen unterbrach Jassinie, die mit fiebrigem Blick ihre Erzählung vorgetragen hatte. Erik starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sein kindlicher Blick hing förmlich an ihren Lippen. Hinter ihm war Tirian aus der Küche gekommen, und presste ihre Hand vor ihren Mund, während Bratensoße ihr von dem schräg gehaltenen Teller in der anderen Hand tropfte. Hinter der schwangeren Frau, bemerkte Jass ihren Schwiegervater Anselm, der ebenfalls die letzten Passagen mitgehört hatte.
Verschämt schluckte Jass. Wieder einmal hatte sie sich von dem Erlebten davontragen lassen. Sie rieb ihre schwitzenden Hände an ihrer Lederhose, räusperte sich, und fragte: "Soll ich weitererzählen?"
Erik nickte mehrfach mit seinem flachsblonden Kopf, während Tirian endlich bemerkte, dass sie die halbe Soße über den Boden verschüttet hatte. Viel mehr gab es ohnehin nicht mehr zu erzählen, an dieser Stelle wäre es Zuráns Part gewesen, die Geschichte weiterzuführen. Jass hatte sich von dem letzten Priester erhoben, und sich in Richtung des Durchgangs in die Halle der Götter bewegt, ohne zu wissen, wie es Zurán wohl ergangen war.
"Ich kann leider nicht genau beschreiben, was sich in der Zwischenzeit in der letzten Halle zugetragen hatte..." erhob Jass gerade ihre Stimme, als sie sofort wieder unterbrochen wurde.
"...deswegen werde ich unserem kleinen Helden hier erzählen, was in der Halle der Götter passierte, nachdem Jass und ich voneinander getrennt worden waren."
Jass fuhr herum.
"Zurán!"
Jassinies Gefährte, der Mann um den sich Legenden rankten, und der die Hohen von ihrem Thron gestürzt hatte, stand in der Tür zum Schankraum. Hinter ihm grinste Friedorn fröhlich, während er seine kleine Tochter auf den Armen trug. "Sine, Sine! Uán, Uán!"
Die grauen Augen der Waldläuferin leuchteten vor Freude. "Ich habe dich nicht so schnell erwartet." Sie erhob sich von ihrem Stuhl, um dem Mann, der ihr Leben so nachhaltig verändert hatte, entgegen zu gehen. Doch sie wurde daran gehindert. Erik zupfte ungehalten an ihrem Lederrock und schaute sie bettelnd an. "Tante Jassy, ich mag die Geschichte zu Ende hören. Bitte, bitte! Es ist gerade so spannend!"
Zurán bedeutete ihr mit einer knappen Handbewegung, sich zu setzen. Sich in ihr Schicksal fügend, ließ Jass sich wieder nieder, während Tirian endlich den Teller auf dem Tisch abstellte und wieder in die Küche eilte, um noch einen zweiten Teller für den Neuankömmling zu holen. Zurán dankte Friedorn für dessen Verschwiegenheit, was dieser mit einem zufriedenen Brummen quittierte. Der zweifache Träger der Blutrose ging festen Schrittes auf den kleinen Kerl zu, der ihn mit ebenso erwartungsvollen Augen ansah wie zuvor Jassinie.
"Du willst also hören, was sich in der Halle der Götter ereignet hat, kleiner Mann?" Zurán strich dem Jungen liebevoll durch das strubbelige Haar.
Erik nickte enthusiastisch.
"Aber es ist nicht wirklich etwas für kleine Jungs, weißt du?"
Die Augen des Vierjährigen bettelten unnachgiebig. "Bitte, Onkel Zurán. Nie darf ich die Geschichte zuende hören. Aber ich weiß doch schon, dass du den bösen Hohepriester vertrieben und den armen Beolf erlöst hast!"
"Du bist ganz schön neugierig, weißt du?" Zurán lächelte, doch sein Lächeln galt weniger Erik als der jungen Frau auf dem Stuhl neben ihm.
"In der Tat, das ist er. Ganz wie seine Mutter!" Jass erwiderte das Lächeln und zog einen zweiten Stuhl unter dem Tisch hervor. "Und nun setz dich, und erfüll unserem jungen Helden seinen Wunsch, sonst kommen wir nie zu einer warmen Mahlzeit."
Zurán wusste, wann es sich nicht lohnte, mit Jass zu diskutieren. Mit einer höfischen Geste nahm er den dargebotenen Stuhl entgegen, ließ sich darauf nieder und übernahm die Geschichte dort, wo Jassinie aufgehört hatte.

"Der Hohepriester hatte mich überrascht, als er uns offenbarte, dass er mich in die Halle der Götter führen wollte. Endlich! Endlich würde ich den Göttern gegenüber treten können. Aber ich war vorsichtig. Erst nachdem ich Jass wie verabredet das Zeichen gegeben hatte, folgte ich bereitwillig dem Hohepriester, die Blutrose fest in meiner rechten Hand haltend. Ich hatte mir nie vorgestellt, was ich in der Halle der Götter vorfinden würde, dennoch war ich zunächst erschrocken, dass der Raum von einem diffusen Zwielicht erfüllt wurde. Es bestand keine Spur von Ähnlichkeit mit der prunkvollen Vorhalle. Gewaltige, feucht glänzende Säulen aus schwarzem Basalt trugen die Kuppel einer Halle von wahrhaft zyklopischen Ausmaßen. Der Geruch von Fäulnis lag in der Luft und eine unheimliche Kälte kroch in meine Glieder. Die ganze Atmosphäre wirkte auf mich wie in einem finsteren Kerker. Gemessenen Schrittes ging der Hohepriester voran. Seine Brüder flankierten mich. Was ich schließlich sah, ließ mein Blut gefrieren. In der Mitte des Raumes befanden sich vier mit Runen versehene, schwarze Säulen. Sie bildeten ein Quadrat, in dessen Zentrum ein Altar stand, verblüffend ähnlich dem, auf dem dereinst in meinem Schloss die erste Blutrose ausgestellt worden war. Hinter dem Altar stand ein steinerner Tisch, der mit eisernen Ketten versehen war. Auf diesem Tisch, den ich in dem Halbdunkel nur vage erkennen konnte, lag ein ausgezehrter, von Alter und Schwäche gezeichneter Mann. Viele Jahre waren vergangen, doch ich erkannte Beolf sofort. Das war also der Platz an der Seite der Götter!
Der Hohepriester spürte mein Entsetzen und drehte sich zu mir um. Willst du noch immer den Platz an der Seite der Götter einnehmen? Selbstgefällig sah er mir in die Augen.
Mein Hass schnürte mir förmlich die Kehle zu. Ich konnte meine Wut kaum zügeln. Warum tut ihr das den Menschen an?
Nansal zeigte auf den Altar. Sieh genau hin. Erkennst du es?
Ich ließ meinen Blick von seinem zufriedenen Gesicht auf den Mittelpunkt des Saales gleiten. Ja, da war etwas. Eine wogende, kaum sichtbare Präsenz, die wie eine kleine Windhose unmittelbar über der Blutrose tanzte. Was ist das? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese Kreatur ein Gott sein sollte.
Dies ist die Quelle unserer Macht, Zurán. Du hast richtig geraten. Wir, die Hohen, sprechen nicht mit der Zunge der Götter. Vielleicht taten unsere Vorgänger dies noch vor langer, langer Zeit, doch inzwischen haben wir uns unsere eigene Machtbasis geschaffen. Hast du die Götter jemals wirken gesehen? Würden die Götter ein Schicksal wie das deine zulassen? Ich glaube, dass sich die Götter längst von uns abgewendet haben. Denn ließen sie nicht zu, dass wir in ihrem Namen die Macht an uns rissen, um die Geschicke der Menschen nach unseren Vorstellungen zu formen?
So phantastisch diese Geschichte klang, ich glaubte dem Hohepriester. Es passte alles zu gut zusammen. Es gab nur noch eine Sache, die mich interessierte. Was hat die Blutrose damit zu tun?
Der Hohepriester drehte sich zu mir um. Triumph und Boshaftigkeit stand in seinen Augen. Das, mein Lieber, ist der Schlüssel unserer Macht. Die Blutrose bindet den Daimonion an diesen Ort. Der Daimonion wiederum bindet den Grossteil der Magie dieser Welt in sich. Da er aber an die Butrose gebunden ist, können wir seine unermessliche Kraft für unsere Zwecke nutzen. Es gibt nur ein Problem dabei. Eine Blutrose ist immer an die Lebenskraft desjenigen gebunden, der sie gepflückt hat. Solange der Finder lebt, blüht die Blutrose.
Ich verstand. Deshalb wurde ich damals abgewiesen: Beolf war einfach jünger als ich. Aber jetzt habe ich euch mit euren eigenen Waffen geschlagen. Ich nütze euch heute nicht mehr als damals, aber ich habe auch die nächste Blutrose gefunden. Ich fühlte meinen Triumph nahen, sehnte mich danach ihn auszukosten, doch die Zuversicht des Hohepriesters irritierte mich. Ich machte mich bereit.
Das ist in der Tat ein Problem, allerdings nur ein Kleineres. Es ist äußerst günstig, dass du eine junge Gefährtin mitgebracht hat, die ebenfalls schon mit der Blutrose in Berührung kam. Ich spürte ihre Verbundenheit mit der Rose. Hast du mich vielleicht gar belogen? Der Hohepriester gab ein Zeichen und auf sein Kommando packten mich die vier Priester hinter mir und hielten mich fest. Ich versuchte mich loszureißen und schrie vor Zorn und Sorge um Jass. Mir fiel ein, dass sie jetzt gerade wohl vor einer ähnlichen Situation stand. Ob sie es schaffen würde? Der Hohepriester stand plötzlich direkt vor mir und rang mir die Blutrose aus der Hand. Ja, Zurán. Beinahe hättest du über uns triumphiert, aber nun hast du uns doch den Schlüssel zur Erhaltung unserer Macht gegeben. Es gibt ein Ritual, mit der wir das Blutband von dir auf das Mädchen übertragen können, wenn du wirklich die Blutrose gepflückt haben solltest. Nur leider wirst du das nicht mehr erleben können. Bindet ihn und holt das Mädchen!
Die Zeit des Handelns war gekommen. Mit einer wuchtigen Vorwärtsbewegung stieß ich meinen Kopf in das Gesicht des Hohepriesters. Seine Nasenknochen brachen und er stürzte schreiend zu Boden. In der Rückwärtsbewegung zerschmetterte ich mit meinem Hinterkopf das Gesicht des hinter mir stehenden Priesters, der mich erschrocken losließ. Ich riss mich von den drei übrigen Priestern los. Überrascht schauten sie mich an. Sie hatten einen alten, gebrechlichen Greis erwartet, und keinen Mann, der sich mit der Kraft und der Schnelligkeit eines Dreißigjährigen bewegte.
Ich trat dem nächsten Priester mit meinem Stiefel zwischen die Beine und er brach stöhnend zusammen. Mit einer einzigen Bewegung zog ich mein Wurfmesser, das ich wie Jass in meinem Stiefel versteckt hatte. Die Priester erholten sich von ihrem Schock und sprangen auf mich zu. Da vier weitere Priester ebenfalls noch in der Halle waren, und ich nicht wusste, ob Jass mit den anderen Priestern draußen fertig werden würde, blieb mir nur noch ein verzweifelter Ausweg. Ich wirbelte auf meinem Absatz herum, wandte den Priestern den Rücken zu und schleuderte mein Wurfmesser auf das einzige Ziel, das von Bedeutung war. Während ich ein Stoßgebet an die Götter schickte, wo immer sie auch sein mochten, schrie der Hohepriester auf. Nein! Es war zu spät. Mein Wurfmesser grub sich in Beolfs Brust. Die Klinge bohrte sich direkt in Beolfs schwaches Herz und erlöste den armen Mann von seinem grausamen Schicksal.
Ein Heulen erschütterte den Saal. Der Wirbel in der Mitte des Säulenvierecks begann zu pulsieren. Immer schneller tanzte die verzerrte Luft um den Altar. Vor unseren ungläubigen Augen zerfiel die Rosenblüte auf dem Altar zu Staub, und der Bannkreis des Daimonions, der Jahrhunderte überdauert hatte, wurde durchbrochen. Die magische Kreatur hatte nur eines im Sinn: Rache! Wie ein Pfeil stieß sie auf Nansal, den Höchsten der Hohen, herab. Sein Kreischen gesellte sich zu dem übernatürlichen Heulen des Daimonions. Noch bevor es verstummte, war die Kreatur zum nächsten Hohen gesprungen und saugte auch ihm die Lebensenergie aus. Gebannt verfolgte ich, wie ein Priester nach dem anderen von dem Daimonion ausgelöscht wurde. Ich wusste, ich würde das nächste Opfer sein. Dann sah ich Jass im Eingangstor stehen."
Übergangslos setzte Jassinie die Erzählung fort.
"Ich lief durch das Tor hindurch und wurde von einem schrecklichen Heulen empfangen. Vor mir breitete sich eine Szenerie des Entsetzens aus. Der letzte Priester sackte leblos zu Boden, und ich sah nur noch Zurán auf den Beinen. Ich wollte ihm zu Hilfe eilen, doch mit einer gebieterischen Handbewegung hielt er mich zurück. Ich sah, wie er sich dem wirbelnden Etwas zuwendete.
Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Ich fühlte, wie die Dinge um mich herum erblassten, als würden sie aufhören zu existieren. Mein Atem wurde langsamer und langsamer, bis ich meinen Atem nicht mehr wahrnehmen konnte. Es war, als würde ich mich mit Zurán und dieser Kreatur in einem Kokon befinden, in dem der Lauf der Zeit angehalten war. Fasziniert beobachtete ich, wie mit der Verlangsamung der Zeit auch der Daimonion immer körperlicher wurde. Ich kann nicht beschreiben, ob es ein Geschöpf des Schreckens oder des Lichts war. Meine Erinnerung an ihn ist längst verblasst, wie die Halle der Götter um uns herum, als dieser zeitlose Raum entstanden war. Zurán und der Daimonion schienen miteinander zu kommunizieren.
Eine halbe Ewigkeit verstrich, ohne dass irgendetwas Erkennbares passierte. Schließlich bog sich die unirdische Gestalt in Andeutung einer Verbeugung vor Zurán. Schlagartig kehrten wir in die Halle der Götter zurück. Erdrückende Stille empfing uns. Der Daimonion war verschwunden. Und das grausame Spiel der Hohen mit den Geschicken der Menschen war endlich vorbei."

Stille umgab auch die Zuhörer im Versammlungsraum des Lustigen Hirschen, nachdem Jassinie die Geschichte beendet hatte. Jeder der Anwesenden hing seinen eigenen Gedanken nach, entweder in Erinnerungen tauchend oder sich fragend, wie der Weltenlauf weitergegangen wäre, hätten Zurán und Jass das perfide Spiel der Hohen nicht enträtselt und aufgedeckt.
"Sind die Hohen jetzt alle tot, Onkel Zurán?" Eine leichte Verunsicherung sprach aus der Stimme des Jungen, aber sein kindlicher Wissensdurst siegte über seinen Respekt.
"Nein, Erik. Die Hohen sind nicht tot. Zumindest nicht alle von ihnen. Ihre Macht ist zwar geschwächt, und die Magie, die sie all die Jahre gebündelt hatten, ergießt sich wieder über die Welt, wovon wir alle profitieren. Aber noch immer sind sie sehr mächtig und versuchen, die Menschen weiterhin zu ihren Gunsten zu manipulieren."
"Hmm", meinte Erik verwirrt. "Warum machen die Hohen das?"
Zurán schaute den Jungen ernsthaft an. "Die Menschen sind nun einmal so. Der Wille und die Gier des Menschen sind sein Himmelreich. Nur die wenigsten Menschen geben sich mit wenig zufrieden. Die anderen trachten stets danach, ihren Besitz und ihre Macht zu mehren."
"Ich bin zufrieden mit dem was ich hab. Außer dass Papa mir kein neues Holzpferd schnitzen will." Unsicher blickte Erik von Zurán auf Jass und wieder zurück. "Ist das schlimm?"
Zurán lachte vergnügt. "Nein, Erik. Es ist nicht schlimm, sich immer neue Ziele zu setzen. Man sollte es nur nicht übertreiben und maßlos werden!"
Der blonde Junge war erleichtert. Die Küchentür ging auf und Tirian brachte zwei neue Teller herein. "So, jetzt esst ihr beiden mal in Ruhe. Ich habe auch Jass eine neue Portion gebracht. Die erste ist ja inzwischen ganz kalt."
Jass und Zurán setzten sich an den Tisch wie zwei brave Kinder, die auf ihre Mahlzeit warteten. Tirian stellte vor jeden von ihnen einen Teller, von dem herrlicher Bratenduft in ihre Nasen stieg. Aus dem Schankraum brachte Friedorn zwei Krüge frisch gezapften Bieres. Jass und Zurán aßen mit Heißhunger. Tirian schaute ihnen zufrieden zu. "Liebe geht durch den Magen", dachte sie, und blickte durch die halb geöffnete Zwischentür glücklich zu ihrem Ehemann, der wieder seinen Platz hinter dem Tresen eingenommen hatte.
"Für einen fast Achtzigjährigen hast du einen guten Appetit", bemerkte Tirian mit einem schelmischen Lächeln.
Zurán wischte sich die Finger an einem Küchentuch ab, nachdem er seinen letzten Bissen genießerisch in seinen Magen befördert hatte. "Ach, es geht doch nichts über einen guten Braten von Vater Anselm."
Jass grinste. Zurán hätte selber Anselms Vater sein können. Tirian dachte wohl das Gleiche. "Habt ihr inzwischen herausgefunden, wieso du all die Jahre nicht gealtert bist, Zurán?"
Zurán strich über seinen grauen Bart. "Nun, es ist nicht völlig richtig, dass ich nicht gealtert wäre. Äußerlich haben die Jahre ihre Spuren an mir hinterlassen. Nur meine Stärke, meine Geschicklichkeit und meine Ausdauer sind mir erhalten geblieben."
"Was ich durchaus zu schätzen weiß", fügte Jass neckisch hinzu und löste ein gemeinschaftliches Gelächter aus. Zurán schaute sie liebevoll an und warf ihr eine Kusshand zu, bevor er sich wieder Tirian zuwendete.
"Ich war gestern im Grünhornwald und habe mich mit dem König des Waldes unterhalten. Sein Verständnis vom Wirken der Magie ist einzigartig, ist er doch selber ein magisches Geschöpf. Wir vermuten, dass die erste Blutrose, während sie in meinem Schloss blühte, aber nicht mit einem Daimonion verbunden war, die Kraft, die sie aus dem Band des Blutes gewann, auf mich zurückgab. Deshalb wurde mein Alterungsprozess hinausgezögert. Das ist zumindest unsere gegenwärtige Theorie."
Tirian nickte, obwohl sie nur die Hälfte von dem begriff, was Zurán ihr erklärte. "Was habt ihr jetzt vor? Wie lange werdet ihr noch durch die Gegend ziehen?"
Zurán war aufgestanden und bot Jass seine Hand. "Das weiß ich nicht. Die Menschen werden lange brauchen, um sich von den Fesseln der Lügen zu befreien, mit denen die Hohen sie über Generationen hinweg geknechtet haben."
Jass hatte Zuráns Hand ergriffen und sich ebenfalls erhoben. "Zurán meint, dass wir vielleicht einfach einige Zeit nur beobachten sollten, wie die Dinge sich entwickeln."
Tirian freute sich. "Das klingt ja hervorragend. Ihr habt eine Pause verdient, will ich meinen!" Sie ging zu ihrem Sohn und legte ihm mütterlich eine Hand auf den Arm. "Eine Frage habe ich noch, wenn ihr sie mir gestattet."
Jass und Zurán warteten neugierig. "Bitte. Ohne dich würden wir möglicherweise heute nicht hier zusammen stehen. Du kannst uns jederzeit fragen, was du möchtest, Tirian."
"Also gut." Tirian holte tief Luft und nahm all ihren Mut zusammen. "Wenn ich es richtig verstanden habe, blüht ja auch die zweite Blutrose noch immer, ohne dass ihre Kraft von irgendeinem magischen Wesen, uhm, benutzt wird."
"Stimmt." Zurán betrachtete Jass mit leuchtenden Augen und die junge Waldläuferin erwiderte seinen Blick mit Liebe und Zuneigung. Tirians Wangen glühten, doch sie war die Mutter zweier wilder Kinder und ein drittes war auch schon auf dem Weg. So leicht konnte sie nichts mehr erschrecken.
"Dann frage ich euch, wer hat denn nun die zweite Blutrose wirklich gepflückt?"
Jass kicherte wie ein junges Mädchen und Zuráns kräftige Finger umschlungen die feingliedrigen Finger seiner Gefährtin. "Kannst du es dir nicht denken, Tirian?"
Dann drehten die beiden sich um und verließen Hand in Hand den Versammlungsraum.
 

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