Das Opfer von Ayashi

Endlich war der Tag gekommen!
 In freudiger Erwartung stand Lysiana vor den geschlossenen Flügeln der prächtigen Tür, die in den Ballsaal ihres Vaters Burg führten. Durch die Tür konnte sie das Plaudern ihrer Gäste, umrahmt von den zarten Melodien, welche die Musiker ihren Instrumenten entlockten, vernehmen.
 Ihr Vater hatte extra einen berühmten Schneider aus der nahe gelegenen Stadt Peladon bestellt, der ihr ein Kleid für die Hochzeit nach ihren Wünschen kreieren sollte. Es dauerte noch einige Tage, bis der Schneider kam und als er endlich da war, beschrieb sie ihm wie ihr Kleid auszusehen hatte. Das Ergebnis war atemberaubend und Lysiana war hocherfreut und zufrieden gewesen, als man es ihr vorführte. Aus hellblauer Seide hatte der Schneider das Hochzeitskleid gezaubert. Silberne und verschiedene blaufarbene Fäden waren von emsigen Näherinnen zu einem prachtvollen Stickmuster vernäht worden und zur Verzierung hatte man an die bis zum Ellbogen reichenden Ärmel weiße Spitzen genäht.
 Nach der Anfertigung hatte sie ihr Brautkleid wohl verpackt in der Truhe am Fuße ihres Bettes aufbewahrt. Es war eine Qual für sie gewesen, das Kleid nicht anziehen zu können, und oft hatte sie es wieder herausgenommen um es zu bewundern, doch heute war es endlich soweit.
 Inzwischen ertönte kein Laut mehr von der anderen Seite der Tür. Lysiana erzitterte vor Aufregung und trippelte nervös auf der Stelle.
 Dann wurden endlich die beiden Flügel der Tür geöffnet und die Musik setzte wieder ein. Überglücklich trat sie in den Ballsaal ein, wo ihr Vater Sorian sie erwartete. Galant nahm sie seinen dargebotenen Arm und zusammen schritten sie langsam zum Priester und zum Bräutigam Vendryn, der die Braut bewundernd betrachtete, während ihr Kleid bei jedem Schritt, den sie tat, raschelte. Lysiana hatte nur Augen für Vendryn und dieser war von ihr bezaubert.
 Einen Moment lang bedauerte sie es, nicht in einer Kirche getraut zu werden, aber die Burg ihres Vaters besaß nur eine winzige Kapelle, so dass man beschlossen hatte, beide im Ballsaal der Burg zu vermählen, da nur dieser Raum groß genug für die Gäste war. Sie hätte auch in der Burg ihres zukünftigen, oder besser gesagt baldigen Gemahls heiraten können, aber wegen ihrem Vater, der seit seinem letzten Auftrag schwach und kränklich war, hatte sie abgelehnt. Sie wollte ihren Vater keinen unnötigen Gefahren und Anstrengungen aussetzen.
 Die Krankheit hatte ganz unerwartet zugeschlagen. Nachdem er seinen letzten Auftrag für den König ausgeführt hatte und den Kreis der Bluttrinker zerschlagen hatte, war er wieder nach Hause zurückgekehrt und alle waren überglücklich gewesen. Doch kurz danach fiel diese seltsame Krankheit ihn an und seitdem war er stets krank, schwächlich und verlor zusehends seine Lebenskraft. Niemand konnte ihm helfen, keiner der unzähligen Ärzte, die ihn untersucht hatten, wusste, woran das lag. Ihre Mutter war zutiefst besorgt und wich nicht mehr von der Seite ihres Mannes.
 Trotz seiner Gebrechen wollte er es sich nicht nehmen lassen, die Hochzeit seiner Tochter zu organisieren, und hatte sich mit Feuereifer in die Arbeit und Vorbereitungen gestürzt.
 "Es ist mir eine Freude, dass ihr euch heute hier..." Der Pfarrer riss sie aus ihren Erinnerungen und die Hochzeitszeremonie begann.

 "Ein Hoch auf das junge Glück!", rief einer der Gäste und trank seinen Becher Wein in einem Zuge leer und die anderen Gäste folgten grölend seinem Beispiel.
 Mittlerweile war der Abend schon weit vorangeschritten und alle feierten ausgiebig. Ihr Vater hatte sich diese Hochzeit etwas kosten lassen, denn sie war seine einzige Tochter und er hatte acht Kinder. Es gab nur gute Weine und die Köchinnen tischten herrlich duftende Braten, dampfende Kessel voller Suppen, knusprig gebratene Hähnchen und gefüllte Fasane auf. Alle Gäste waren in guter Stimmung nur noch überflügelt vom strahlenden Glück des jungen Paares. Musikanten, Barden und Gaukler trugen dazu bei, dass niemand sich langweilte.
 Nur eine Person ließ sich nicht von dieser Stimmung mitreißen. Diese Person beobachtete die frisch Verheirateten mit Adleraugen. Sie wartete. Bald würde ihre Zeit gekommen sein und dann gab es kein Zurück mehr. Sie musste es tun, heute Abend... bevor das Paar... es war ihre letzte Gelegenheit. Mit zitternden Händen nahm sie ihren Kelch und trank einen Schluck. Aber zuerst musste sie warten, die Feier war noch lange nicht beendet.

 "Nun, meine Liebste, seid ihr schon müde?" Vendryn strahlte Lysiana an, "sollen wir uns nun zurückziehen?"
 Die Angesprochene errötete. "Ich richte mich nach euch, mein Gemahl."
 "Dann kommt. Verabschieden wir uns von unseren Gästen." Er nahm sie am Arm und zusammen machten sie die Runde, um sich zu verabschieden. Dabei mussten sie sich einige wohlgemeinte Ratschläge für ihre Hochzeitsnacht anhören.
 Als Letzte kamen ihre Eltern an die Reihe. Ihr Vater weinte ein paar Tränen und umarmte beide ganz fest. Ihre Mutter Mirelia drückte zuerst ihren neuen Schwiegersohn an die Brust und dann ihre Tochter.
 "Alles Gute, mein Kind. Ich wünsche dir, dass ihr zusammen glücklich alt werdet." Dann wandte sie sich an Vendryn: "Mein Sohn, kann ich mir noch kurz deine Frau ausleihen? Ich will ihr nur noch ein paar Ratschläge geben, von Frau zu Frau." Lysianas Vater blickte seine Frau verwirrt an.
 "Gewiss, Mutter. Ich werde dann in unserem Zimmer auf sie warten. Beeilt euch!" Vendryn küsste seine Frau auf die Stirn, lächelte sie an und machte sich auf den Weg.
 "Komm, meine Tochter. Gehen wir irgendwohin, wo wir ungestört sind."
 "Wie ihr wünscht, Mutter."
 Beide verließen nun denn Ballsaal und Lysianas Mutter führte sie durch die Burg in einen leeren, dunklen Raum.
 "Setz dich auf den Stuhl, meine Tochter. Ich werde dir jetzt die Augen verbinden, denn ich habe eine Überraschung für dich."
 Lysiana tat wie ihr geheißen, obwohl ihr dabei nicht sehr wohl war. Ihre Mutter war seltsam. Seit der mysteriösen Krankheit ihres Vaters war sie seltsam. Was wollte ihre Mutter ihr nur zeigen? Warum hatte sie sie in diesen abgelegenen Raum geführt?
 Inzwischen hatte Marelia einen Gegenstand in die Hand genommen, wog ihn und seufzte. Es fiel ihr schwer, das zu tun, doch musste es getan werden. Sie hob ihn hoch und ließ ihn auf den Kopf ihrer Tochter sausen, welche ein Stöhnen von sich gab und langsam vom Stuhl zu Boden glitt.
 Marelia griff ihr unter die Arme und legte sie gerade auf den Boden. Dann verschloss sie die Tür und schob mit Mühe eine Truhe davor. Sie setzte sich darauf und sammelte sich. Sie musste es tun. Es gab keinen anderen Ausweg.
 Entschlossener stand sie wieder auf und nahm ein schweres Buch von einer Kommode. Sie blätterte darin, öffnete eine bestimmte Seite und las diese. Dann nahm sie ein Stück Kreide, das Buch in die andere Hand und zeichnete mit zitternden  Händen seltsame Zeichen, Formen und Symbole. Ab und zu warf sie dabei einen Blick ins Buch. Ihre Tochter legte sie daneben und zeichnete einen Kreis mit anderen Symbolen um sie herum. Dann löschte sie alle Kerzen im Raum und entzündete 5 neue, blutrote Kerzen, welche sie in regelmäßigen Abständen in dem Kreis verteilte, so dass sie an den Ecken eines unsichtbaren Pentagramms standen.
 Als sie fertig war, stellte sie sich vor beide Kreise, nahm das Buch dann in beide Hände und las unsicher die magische Formel. Langsam begannen die Kreise zu glühen und ein schwelender Geruch verbreitete sich im Raum.
 Es zischte, Dampf entstieg dem magischen Kreis und die Umrisse einer Gestalt zeichneten sich ab. Es dauerte eine Weile, bis die Kreatur, die Marelia beschworen hatte, ihre vollständige Form angenommen hatte.
 "Sprich, Menschlein, der du mich beschworen hast. Was willst du?" Der Dämon starrte sie an. Er war groß, er berührte fast die Decke ihrer Kammer. Auf seinem Rücken saßen Flügel, welche bis ans andere Ende der Kammer reichten, und auf seinem Kopf saßen große Hörner. An seinen Händen befanden sich lange Krallen, mit denen er sie leicht zerreißen könnte. Er versuchte nach ihr zu greifen, seine Krallen kamen ihrem Gesicht gefährlich nahe, doch die Barrieren hielten stand. Er brüllte und es schallte im Zimmer.
 Marelia war entsetzt. So groß hatte sie sich den Dämon nicht vorgestellt.
 "Eine Frau, eine Menschenfrau wagt es, mich, den Lord der Dämonen zu beschwören! Was willst du! Sprich!" Wutentbrannt blickte er sie an und seine Augen sprühten Feuer.

 Inzwischen wartete Vendryn in ihrem Schlafgemach auf seine Frau. Er freute sich, darauf hatte er lange gewartet. Lysiana hatte sich geweigert, sich vor ihrer Ehe auf ihn einzulassen, ihre Mutter hatte sie streng erzogen und es hatte auch gewirkt.
 Die Kerze, die er angezündet hatte, war schon weit herunter gebrannt. Er begann, sich Sorgen zu machen. Soviel gab es einer frisch verheirateten Frau ja wohl nicht zu sagen, oder? Vielleicht war ihnen etwas passiert? Er beschloss runter zu gehen und nach ihnen zu suchen.
 Er stieg die Treppe herab und betrat wieder den Ballsaal.
 "Schon fertig? Hast du genug von deiner Frau?" Er musste sich lauter solcher Sprüche anhören, und sein Gesicht färbte sich immer röter, bis er endlich Lysianas Vater gefunden hatte.
 "Lysiana ist noch nicht zurück. Ich mache mir Sorgen." Flüsterte Vendryn ihm ins Ohr.
 "Was?" Ihr Vater war ganz erstaunt und drehte sich zu ihm um. "Was tun sie denn nur?"
 "Ich weiß es nicht. Ich gehe sie suchen. Wollt ihr mich nicht begleiten?"
 "Natürlich, schließlich kenne ich das Schloss besser als ihr." Lysianas Vater stand auf, und zusammen verließen sie den Saal und machten sich auf die Suche.

  "Ich bitte euch, ich flehe euch an: rettet meinen Mann vor dem Fluch, den einer eurer Anhänger ihm auferlegt hat!" Marelia kniete vor dem Dämon.
 "Törichte Frau, einen Fluch vermag niemand so ohne weiteres zu brechen. Wisst ihr, dass ihr dafür viel zu zahlen habt?"
 "Ja, ich bin bereit einen angemessenen Preis zu zahlen. Ich bitte euch, erlöst meinen Gemahl. Dafür werde ich euch folgen und eure Dienerin sein."
 "Ein ungewöhnliches Angebot, Menschenfrau. Ihr werdet auf ewig meine Sklavin sein... in der Hölle."
 "Ja, wenn das der Preis ist..."
 "Akzeptiert! Doch benötigt ein solcher Pakt eines besonderen Siegels. Was bietet ihr?"
 Marelia warf einen Blick auf ihre Tochter und stieß einen Seufzer aus. Bedächtig nickte sie mit dem Kopf.
 "Das Blut meiner Tochter, einer verheirateten Jungfrau... es ist bereit."
 Der Dämon sog zischend die Luft ein.
 "Das Blut einer verheirateten Jungfrau? Der Handel ist gültig. Lasst ihn uns besiegeln." Gier stach aus seinen Augen und zufrieden grinste er.
 "Ich werde es euch geben", antwortete Marelia. Sie ging zur Truhe und entnahm ihr einen Dolch. Von der Kommode nahm sie noch einen Kelch, dann kniete sie sich neben ihre Tochter und mit zitternden Händen und Tränen in den Augen, schnitt sie ihr die Pulsadern an der linken Hand auf.

 Sie konnten die beiden Frauen weder in der Bibliothek, noch in einem der Zimmer, die ihnen zur Verfügung standen, finden. Sie suchten eine ganze Weile, bis sie schließlich durch einen seltsamen Geruch in den hinteren, wenig benutzten Teil der Burg gelockt wurden. Sie folgten dem Geruch und standen bald vor einem verschlossenen Zimmer. Zudem konnten sie Stimmen vernehmen, eine davon war eindeutig weiblich, die andere unheimlich. Beide drückten sich an die Tür, pressten ein Ohr dagegen und lauschten dem Gespräch.
 Vendryn fuhr es eiskalt durch die Glieder. Er war sich todsicher, Marelia sagen zu hören, dass sie ihre Tochter opfern wollte. Doch wer war die andere Person, mit der sie gesprochen hatte?
 "Was hat er gesagt? Was hat sie gesagt?" Lyrianas Vater hörte nicht mehr so gut. "Was hat der Mann im Raum zu meiner Frau gesagt? Was hat sie geantwortet?"
 "Eure Frau will meine Gemahlin opfern! Schnell, wir müssen da rein! Liebste, haltet aus!"

 Lyrianas Blut rann in den Kelch. Marelia wartete, bis er gefüllt war, und reichte ihn dann dem Dämon. Dieser nahm gierig den Kelch und trank ihn leer. Das Blut verheirateter Jungfrauen war das wertvollste magische Mittel, das es für Dämonen gab. Damit würde seine Macht lange verstärkt sein.
 Er trank ihn bis auf den letzten Tropfen leer und ließ dann den Kelch fallen.
 "Es ist vollbracht. Folge mir nun, meine Sklavin."
 "Und der Fluch?"
 "Ich werde ihn zu gegebener Zeit brechen. Folgt mir nun!"
 "Aber..."
 "Zu spät, der Pakt ist besiegelt. Kommt nun, oder ich werde mir Zeit damit lassen, den Fluch zu brechen."
 Er reichte Marelia eine Hand. Zögernd nahm sie sie und mit einem letzten Gebet folgte sie dem Dämon in den Kreis. Inzwischen konnte sie hören, wie jemand versuchte, die Tür einzubrechen.
 "Rettet meine Tochter!" Das waren die letzten Worte Marelias, bevor sie zusammen mit dem Dämon verschwand, genauso wie die magischen Symbole, die sie auf den Boden gemalt hatte. Gerade in dem Augenblick gab die Tür nach und Vendryn und Lyrianas Vater stürzten in den Raum.
 "Nein! Lyriana, Liebste, was ist mit euch!" Vendryn sah seine Gemahlin auf dem Boden liegen. Ihr Arm lag in einer Blutlache. Er riss sich Stoff aus seiner teuren Kleidung und verband ihren Arm. Dann nahm er sie schluchzend in den Arm. 
 "Lyriana! Wo ist meine Frau? Weib, was hast du nur getan?" Lyrianas Vater stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
 Er wandte sich zu seiner Tochter und untersuchte sie. Ihr Zustand war kritisch und sie benötigte sofortige Behandlung, um zu überleben. Hektisch richtete er sich wieder auf und stolperte fast über das mittlerweile rot gefärbte Brautkleid und hetzte in den Flur.
 "Wachen! Einen Heiler. Schnell!" Ein Wachsoldat eilte herbei, doch Lyrianas Vater schrie ihn an: "Tölpel, du sollst einen Heiler holen, nicht herkommen!"
 Sofort machte dieser kehrt, um dem Befehl Folge zu leisten.
 Vor Wut rasend hielt Sorian sich am Türrahmen fest, ballte die andere Hand zur Faust und rief: "Weib, das werde ich euch nie verzeihen. Mögt ihr ewig für diese Gräueltat in der Hölle schmoren!" Wie Recht er hatte, wusste er jedoch nicht.

 "Liebste, wie fühlt ihr euch?" Vendryn kniete neben seiner Gemahlin und blickte sie voller Liebe an.
 "Gut, mein Gemahl. Ich hoffe nur, dass es bald soweit ist. Ich kann kaum die Geburt unseres Kindes erwarten!"
 Lyriana hatte zum Glück diesen schrecklichen Abend überlebt. Sie konnte sich an nichts erinnern, so dass niemand wusste, was Marelia getan hatte.
 Ihrem Vater ging es kurz nach der Hochzeit wieder besser und er erlangte seine alte Stärke wieder. Doch mittlerweile war sein Haar mit grauen Strähnen durchzogen und sein Gesicht drückte Verbitterung aus. Er hatte seiner Frau, die er abgöttisch geliebt hatte, nie verziehen, die Hochzeit ihrer Tochter verdorben zu haben, und hatte alle Erinnerungen an sie ausgelöscht. In seiner Burg gab es kein einziges Stück, was noch an sie erinnerte, alles war auf seinen Befehl hin verbrannt worden, während seine Frau, die sich für ihn geopfert hatte, auf ewig in die Hölle verbannt war.
 

© Ayashi
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