Die Eiskönigin von der Lady des Blauen Mondes

Es war kalt. Zu kalt für diese Jahreszeit. Ich lief schon seit einigen Stunden durch einen Schneesturm und fragte mich, wie lange er noch anhalten würde. Der Winter blieb in diesem Jahr ungewöhnlich lange in unserem Land, aber das schienen die Menschen nicht zu bemerken. So sind die Menschen, solange Sie in ihren warmen Häusern sitzen können, interessieren sie sich nicht für das, was außerhalb ihrer vier Wände geschieht. So werden Wesen meiner Art als selbstverständlich hingenommen. Aber das akzeptiere ich mittlerweile, denn in all den Jahrhunderten, die ich erlebt habe, war es nicht anders. Früher als ich noch jung war, haben die Menschen sogar noch an die magischen Kräfte geglaubt, die diese Welt zusammenhalten, aber auch das ist ihnen inzwischen verloren gegangen.
Eine besonders starke Schneeböe riss mich aus meinen Gedanken und mir wurde klar, dass ich mir dringend einen Unterschlupf für die Nacht suchen musste. "Das ist eine heruntergekommene Gegend", dachte ich mir, hatte aber trotzdem Glück und fand eine unbewohnte Höhle.
Da ich keine Möglichkeit hatte ein Feuer zu machen, ging ich so weit wie möglich in die Höhle hinein. Aufgrund meines besonders guten Augenlichtes sah ich trotz der Dunkelheit hervorragend.
Nachdem ich einige Zeit in die Finsternis gelaufen war, sah ich plötzlich einen Lichtschein und hörte eine merkwürdige Stimme. Da ich von Natur aus neugierig bin, lenkte ich meine Schritte in diese Richtung. Als ich sah was mich dort erwartete stockte mir der Atem. Die Höhle, die ich erblickte, war riesig und erinnerte mich an die Halle eines Palastes. Ich stand auf einer Art Balkon und um einen besseren Überblick zu erhalten sprang ich auf das schmale Geländer. Unter mir ging es ungefähr drei Meter in die Tiefe. Von der Decke hingen Hunderte von Eiszapfen, die wie Säulen scheinbar bis auf den spiegelglatten Boden wuchsen. In der Höhle war es eiskalt, beinahe noch kälter als draußen im Schnee. Meine Aufmerksamkeit beanspruchte sofort der Thron, der mir gegenüber am anderen Ende der Halle stand. Er schien aus einem einzigen Eisblock zu bestehen, aber das faszinierendste war, dass auf ihm eine Frau saß. Eine Frau, deren Haut keine Farbe zu haben schien. Ähnlich weiß waren ihre Haare, wie die einer Greisin, doch sie hingen glänzend wie kostbare Seidenfäden von ihrem Haupt, bis zu ihrem schmalen Gürtel hinab. Sie trug ein bodenlanges, weißes Kleid, das wie der frisch gefallene Schnee glitzerte und ihre schlanke, hochgewachsene Gestalt verhüllte. Ihre Gesichtszüge waren schön, aber scharf geschnitten und der Blick aus ihren eisblauen Augen schien ins Leere zu gehen, in weit entfernte Welten. Doch plötzlich sah sie auf, als ein weiteres Wesen die Halle betrat und auf sie zulief.
"Wo warst du so lange?" brüllte sie das Wesen an, welches ich mittlerweile als einen Zwerg oder ähnliches identifizieren konnte.
"Ich wurde aufgehalten, meine Königin." Der Zwerg senkte ehrfürchtig das Haupt, welches nur aus braunen Haaren zu bestehen schien.
"Ich warte nicht gerne, aber Hauptsache ist, du hast ihn endlich gefunden." Ihre Stimme war eisig und mir stäubten sich die Nackenhaare. Der Zwerg bejahte und nickte eifrig. Bevor er noch irgendetwas tun konnte, klopfte es auch schon. Der Zwerg rannte so schnell ihn seine kurzen Beine tragen konnten wieder zu der Tür an der langen Seite der Halle, durch die er eben gekommen war, und öffnete sie.
Herein kam, zu meiner Überraschung, ein Mensch, der sich in einen langen, grauen Fellmantel gehüllt hatte. Er war für seine Rasse sehr groß, hatte schulterlange blonde Haare und seine Haut sah wettergegerbt aus, wie es für einen Soldaten üblich ist. Um seine Hüften trug er einen ledernen Schwertgürtel, an dem eine glänzende Klinge hing. Er ging mit hoch erhobenen Kopf in Richtung Thron und kniete vor der Königin nieder.
"Erhebe dich, Cepheus, Krieger des Nordens." Er stand auf und schaute der Frau, die sich inzwischen von ihrem Thron erhoben hatte, in die Augen:
"Königin Aldebarana..." Bei diesem Namen streifte eine uralte Erinnerung mein Gehirn. Aber ich hatte keine Zeit, näher darüber nachzudenken.
"Ich habe meine Diener lange nach dir suchen lassen, Cepheus. Wie du weißt brauche ich deine Hilfe." Sie suchte seine dunklen Augen, doch er wich ihrem Blick aus. Trotzdem hörte ich in seiner Antwort nichts, als bloße Verachtung:
"Wozu braucht die große Eiskönigin die Hilfe eines Menschen?"
"Du kennst meinen Plan und du weißt, dass ich ihn nicht alleine durchführen kann." Sie hatte begonnen in der Halle auf und ab zu gehen.
"Ja, aber ich habe dir bereits gesagt, dass ich nicht gegen den Willen der Göttin handeln werde." Sie blieb vor dem Krieger stehen:
"Wenn du mir nicht freiwillig helfen willst, dann muss ich dich eben zwingen!"
"Ach wirklich?" Ein ironisches Lächeln huschte über die Lippen des Mannes, doch es verschwand so schnell, wie es gekommen war.
"Du machst dich über mich lustig!" schrie Aldebarana und ihre Stimme schwoll zu einem eiskalten Orkan an: "Niemand macht sich über mich lustig, schon gar kein Mensch, wie du es bist." Sie machte eine Handbewegung und wie aus dem Nichts erschien ein Nebel. Diese Nebelwolke hüllte Cepheus vollständig ein, und als meine Augen ihn wieder erkennen konnten, war er zu einem Eisblock gefroren. Er bewegte sich noch, jedoch sehr langsam und ich wusste, dass er nur noch wenige Minuten zu leben hatte, bevor er endgültig erfror.
"So gefällst du mir schon viel besser, mein Lieber." Aus ihrer Kehle ertönte ein Lachen, das mir das Blut in den Adern erstarren ließ.
Königin Aldebarana setzte sich wieder auf ihren Thron und wandte sich an den Zwerg, der sich hinter einem Eiszapfen versteckt hatte: "Hol’ mir meine magische Kristallkugel!"
Als sie das letzte Wort gesprochen hatte, meldete sich bei mir mein vertrauter Instinkt. Es gibt bis heute nur eine Kristallkugel mit positiver magischer Energie und diese wird von mir und dem Drachen Asimi bewacht. Ich ließ mich vom Balkongeländer fallen, landete elegant auf meinen Beinen und versteckte mich blitzschnell hinter einem breiten Eiszapfen. So lief ich, ohne dass die Königin mich sah, von einer Eissäule zu nächsten und näherte mich ihr. Der Zwerg kam mit einer riesigen eisblauen Kristallkugel wieder, die in seinen Händen schwach leuchtete. Er übergab sie seiner Herrin und verschwand so schnell er konnte. Ich war noch etwa fünfzig Fuß entfernt, aber ich spürte schon jetzt die gewaltige dunkle Magie, die von dieser Kugel ausging.
Ich beobachtete Aldebarana dabei wie sie einige komplizierte Muster mit ihren Fingerspitzen auf die Kugel malte und dabei einige Worte in einer uralten Sprache murmelte, die ich nur undeutlich verstehen konnte, aber mir war klar, dass sie nichts Gutes zu bedeuten hatten. Ich trat entschlossen hinter der Eissäule hervor:
"Nicht so eilig, Eiskönigin!" Sie schaute mich überrascht an und für ein paar Sekunden glaubte ich schon sie wollte mich allein mit ihrem Blick töten: "Wer bist du denn?" fragte sie mit vor Spott triefender Stimme.
"Ich bin Aspos. Hüterin der Magie und Beschützerin des Drachen Asimi, dem ewigen Wächter des Kristalls."
Sie sah mich überrascht und ungläubig an:
"Du? Du bist die Beschützerin des großen Drachen? Das glaube ich nicht!"
"Ich muss dich daran erinnern, wer du bist!" antwortete ich ihr entschlossen, denn inzwischen sah ich die Erinnerung wieder deutlich vor mir, "Du bist eine der 'Großen Vier'."
"Ach, halt den Mund!" sagte sie grob und mit einer einzigen Handbewegung hatte sie mich ebenfalls in einem Eisblock gefangen. Ich spürte wie die Kälte langsam von meinem Körper Besitzt ergriff. "Weißt du überhaupt, was das bedeutet, eine 'der Vier' zu sein?" Sie stand auf und umrundete mich, mit ihrer Kugel in der Hand. Unfähig zu sprechen schaffte ich es irgendwie, jedoch mehr in einer vagen Andeutung, den Kopf zu schütteln.
"Das dachte ich mir," zufrieden nickte sie, "als Eiskönigin darf ich nur im Winter regieren. Das heißt meine Kinder, die Schneeflocken über diese Welt schicken, die Flüsse und Meere mit herrlichem Eis segnen und jedes Lebewesen vor Ehrfurcht vor mir zittern lassen." Sie lächelte glücklich bei dieser Erinnerung. "Aber im Frühling, wenn die Herrschaft der Blütenkönigin beginnt, muss ich mitansehen, wie meine Kinder sterben und für immer zu Wasser werden." Ich hörte tiefe Trauer in ihren Worten. "Wenn der Winter vorbei ist werde ich in den Erdschatten verbannt, in die kleinen Länder, im Norden, in denen ewiger Winter herrscht. Ich will, dass meine Kinder ewig leben, das ganze Jahr über, auf der ganzen Welt, und du, winziges Geschöpf, wagst es mich daran hindern zu wollen?" Nun musste ich mir wieder ihr eisiges Lachen anhören und überlegte fieberhaft, was ich tun konnte. Dank meiner Magie war ich noch nicht vollkommen erfroren, im Gegensatz zu Cepheus der sich nun nicht mehr bewegte.
Die einzige Möglichkeit, die ich sah um mich zu befreien, war, Asimi zu rufen.

Asimi ist zwar schon seit einigen Jahrhunderten eine silberne Statue, aber in solchen Situationen durfte und musste ich ihn wieder erwecken. Ich konzentrierte meine gesamte Magie auf die Worte, die ich in Gedanken immerzu wiederholen musste um ihn zu rufen. Aldebarana war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt um dies zu merken und so hatte ich mein Ritual schnell vollzogen und aus einer riesigen Wolke Sternenstaub erschien der Silberdrache Asimi. In einer seiner Pranken hielt er den mächtigsten Kristall, den Zauberer je erschaffen hatten und der die gesamte positive Magie der Welt enthielt. Sein eleganter, schuppiger Körper glänzte und seine Flügel hatte er weit ausgebreitet, sodass er die gesamte Halle füllte. Die Eiskönigin stieß einen spitzen Schrei hervor und schien aufgrund der mächtigen Magie in eine Starre fallen.

Sobald Asimi mich erblickt hatte öffnete er sein Maul, um mit einem kleinen Feuerball meinen Eiskäfig zu schmelzen. Die wohltuende Wärme belebte meinen steifen Körper schnell wieder. "Ich danke dir, mein Freund." sagte ich und schmiegte mich an die Flanke des Drachen, während er Cepheus ebenfalls befreite und mit seinem magischen Feuer wiederbelebte. Ich beeilte mich Asimi die Situation zu erklären, noch bevor Aldebarana sich von ihrem Schrecken erholt hatte. Asimi ging langsam auf sie zu, wobei er ausversehen mit seinen Flügeln ein paar Eissäulen zertrümmerte, und betrachtete die Kristallkugel in ihrer Hand. Die Eiskönigin erwachte allmählich aus ihrer Betäubung und ließ sich vor Asimis riesiger Pranke auf den Boden fallen: "Oh, großer Asimi! Ihr seid es wirklich! Jeder in der magischen Welt kennt Eure Geschichte."
"Wirklich?" fragte er spöttisch und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, den nur ich als ein Lächeln identifizieren konnte.
"Natürlich! Bitte verzeiht mir meinen überstürzten Plan und verschont mein Leben, oh edler Drache!" bettelte Aldebarana.
"Steh auf, Eiskönigen!" befahl Asimi sanft, jedoch bestimmt. Sie tat es und schaute ihn aus großen Augen an.
"Aldebarana, du weißt, dass die große Göttin vier Herrscherinnen über die Jahreszeiten bestimmt hat, die 'großen Vier'. Du bist eine von ihnen und nun willst du die einzige sein. Dabei weißt du ganz genau, dass ein Gleichgewicht zwischen euren Kräften herrschen muss. Die Welt kann nicht in ewigem Winter leben, genauso wenig kann ewig Frühling sein. Ich glaube aber, dass du trotz allem unschuldig bist, da dies eine schwarzmagische Kugel ist, die ihre eigenen Zwecke verfolgt und dich dafür benutzt hat."
Er umfasste die Kugel mit seiner Pranke und zerbrach sie, genauso wie die Menschen ein Blatt Pergament zerdrücken würden. Der Kristall zersprang in tausend Splitter, die sich auflösten, noch bevor sie den Fußboden berührten.
Die Königin stieß wieder einen Schrei hervor und brach zusammen. Ich ging zu ihr und stellte fest, dass sie nur ohnmächtig geworden war. Neben mir erschien auch Cepheus, der sich inzwischen wieder erholt hatte.
"Aldebarana, bitte wach auf!" Er nahm sie in seine Arme und drückte sie an sich.
Sie erwachte: "Cepheus! Was ist passiert?" Ihr Blick glitt verwirrt durch die Halle und blieb auf Asimi haften: "Asimi!" Sie starrte ihn an und ich glaubte, sie würde wieder ohnmächtig werden, was sie jedoch nicht tat.
Asimi legte seine Flügel eng an seinen Körper, damit die Halle nicht noch mehr zu Schaden kam, und erklärte: "Du standest unter dem Einfluss eines schwarzmagischen Zaubers und wolltest, dass es ewig Winter wird. Doch der Göttin sei Dank hat Aspos dich noch rechzeitig aufgehalten." Er nickte in meine Richtung. Man konnte förmlich sehen wie sie versuchte sich zu erinnern, aber es schien ihr nicht so recht zu gelingen. Schließlich schaute sie Cepheus fragend an: "Was machst du hier? Ich dachte, du hättest mich verlassen."
"Du wolltest, dass ich dir dabei helfe, die Menschen davon zu überzeugen, dass der Winter die einzige 'richtige' Jahreszeit ist, ich hätte sogar diejenigen töten sollen, die nicht deiner Meinung waren. Aber auch ich diene der großen Göttin, die jedes Leben schützt, und hätte dies nie verantworten können. Deshalb floh ich in die warmen Länder im Osten, nachdem du von mir das Unmögliche verlangtest." Sie umarmte ihn:
"Oh, Cepheus, es tut mir so leid." Sie brach in Tränen aus, doch aus ihren Augen fielen nur kleine Eiskristalle, die klirrend auf den gefrorenen Fußboden fielen. Er tröstete sie und die Königin beruhigte sich nach einigen Minuten wieder.
Asimi richtete sich wieder auf: "Meine Aufgabe hier ist beendet. Ich muss wieder zurück an meinen Platz." Er sah mich an und wortlos verabschiedeten wir uns. Er schloss seine Augen, im selben Moment erschien die Sternenstaubwolke und Asimi verschwand darin.
Cepheus nahm mich auf seine starken Arme, um mir in meine bernsteinfarbenen Augen sehen zu können: "Du hast mich gerettet. Ich danke dir." Er schenkt mir ein Lächeln, bei dem ich mir beinahe wünschte von seiner Art zu sein. Aldebarana trat neben uns und streichelte über mein schneeweißes Fell: "Ja, Aspos ist wirklich eine ganz besondere Katze."
 

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