Die Königin der Elben von Christian Uhrig (Tendin)

Er hätte doch noch etwas essen sollen.
Nun war er schon seit sechzehn Stunden auf den Beinen und noch immer war keine gute Rastmöglichkeit in Sicht. Er war nun mal ein großer Kerl, und große Kerle brauchen regelmäßig ihre Mahlzeit, wenn sie nicht vom Fleisch fallen wollen.
Mandrake hatte sich auf die Reise gemacht, weil er es in seinem Heimatland Argum nicht mehr ausgehalten hatte. (Argum war eines der Barbarenländer.)
Er wollte die Welt sehen, Abenteuer erleben, Riesen erwürgen und mit Zwergen Bier trinken. Aber von den Abenteuern hatte er noch nicht viel zu spüren bekommen. Seitdem er in dem Nurnenwald war, war das aufregenste, das er zu Gesicht bekommen hatte, ein Hase und eine Kolkrabe, der ihm spöttisch hinterher krächzte.
Derart missgelaunt und brummelnd zog Mandrake also durch den Nurnenwald.

Er wusste nicht, wohin er gehen sollte, in seinem Dorf war alles noch so einfach erschienen. Er musste erst mal aus Argum raus und dann würde schon alles gut werden.
Und was war jetzt gut?
Nichts war gut. Mandrake hatte Hunger und außerdem hatte er eine gigantische Blase am Fuß.
Mandrake war sicherlich kein Weichling, er war sogar sehr tapfer, aber er war eben auch sehr jung und hatte keinerlei Vorstellungen vom Leben.
Er wanderte also knurrend und ganz in Gedanken versunken durch den Wald, als plötzlich unter seinem Fuß ein schmatzendes Geräusch erklang.
Angeekelt hob Mandrake sein Bein und betrachtete das, in was er getreten war.
"Trollkot! Na super, da wandert man kurz durch den Wald und schon tritt man in Trollkacke, bei meinem Glück treffe ich auch noch auf eine Horde von Waldtrollen", dachte er brummelnd.
Und tatsächlich. Von Weitem hörte er den grölenden Gesang von Trollen, der langsam näher kam. Mandrake war unwissentlich ganz in die Nähe eines Trolllagers geraten. Schnell versteckte er sich hinter einem Gebüsch, als die Trolle auch schon in sein Blickfeld kamen.
Es waren etwa fünf Trolle, die da schrecklich falsch singend durch den Wald stapften. Doch sie kamen nicht allein.
In ihrer Mitte führten sie einen riesigen Käfig mit. Und in dem Käfig war... Mandrake rieb sich verwundert die Augen. Konnte das sein? War das wirklich ein Greif, der da im Käfig saß? Ja, es musste wohl so sein.
Das einstmals stolze Geschöpf  saß traurig auf dem Käfigboden und wirkte durch und durch erbarmungswürdig.
Mandrake packte kalte Wut, wie er an den Greif dachte. Er war bestimmt einst ein stolzer und mutiger König der Lüfte gewesen. Ein so stolzes Geschöpf in einen Käfig zu sperren, das kam einer Beleidigung der Natur nahe.
Mit der Ungestümheit und Kampfeslust seiner Rasse stürzte Mandrake auf die Horde der Trolle zu. Die Trolle waren völlig überrascht.
Den ersten Troll enthauptete Mandrake mit einem Axthieb, als die Tolle endlich begriffen, dass sie angegriffen wurden. Es gelang Mandrake, zwei weitere Trolle mit seiner Breitaxt zu töten und einen weiteren mit einem gezielten Fausthieb in Tiefschlaf zu versetzen.
Der letzte Troll schien zu merken, dass er alleine nichts gegen den wütenden Barbaren ausrichten konnte und suchte sein Heil in der Flucht.
Nun hatte Mandrake endlich Zeit, sich dem Geschöpf im Käfig zuzuwenden. Mit einem Axthieb zerschlug er das Schloss des Käfigs und stieß die Türe auf, so dass der Greif ins Freie konnte. Mandrake trat respektvoll einen Schritt zurück, als das wundervolle Tier durch die Käfigtüre trat.
Es war wirklich herrlich. Der Greif hatte ein braunes Federkleid und seine Kopffedern waren weiß wie der Schnee. Das Geschöpf, das nun in Freiheit war drückte eine Eleganz und Kraft aus, die Mandrake nur als schön bezeichnen konnte.
Er konnte nicht anders und starrte den Greif mit offenem Mund an. So erschrak er, als der Greif ihn mit seinem Kopf sanft anstupste und ihm bedeutete, sich auf seinen breiten Rücken zu setzen.
Mandrake ließ sich dazu nicht zweimal bitten, schnell saß er auf dem Rücken des Geschöpfes, das sich dann mit sanftem Flügelschlag in die Luft erhob.
Keine Sekunde zu früh, wie Mandrake mit einem Blick nach unten gewahr wurde.
Der Troll, der geflüchtet war, hatte anscheinend Verstärkung geholt. Es wimmelte dort unten nur von gaffernden Waldtrollen, die Mandrake wütend mit ihren Keulen drohten. Einige versuchten sogar, den Greif mit Gegenständen zu treffen, was ihnen aber nicht gelang.
Der Greif segelte sanft durch die Lüfte und der Barbar betrachtete staunend die Gegend unter sich.
Er konnte den ganzen Nurnenwald überblicken und sogar sein Heimatland Argum war in weiter Ferne deutlich zu erkennen.
Mandrake genoss den Flug in vollen Zügen, bis der Greif einen merkwürdigen Felsen anflog. Aus der Nähe betrachtet stellte er fest, dass es sich um eine Art Felsenfestung handelte.
Der Greif landete direkt vor dieser "Felsenburg" und setzte Mandrake ab.

Bevor der verwunderte Mandrake etwas sagen konnte, hatte sich das mächtige Geschöpf  wieder in die Lüfte erhoben und nickte ihm ermunternd zu.
"Anscheinend will er, dass ich hier etwas tue, aber was?" fragte sich Mandrake und kratzte sich nachdenklich am Kopf.
Aus der Nähe betrachtet entpuppte sich das Gebilde als ein richtiges Schloss in den Wolken. Das Schloss besaß eine Vielzahl von Türmen und eine dicke Mauer, die es wohl vor Feinden schützen sollte. Doch es war niemand zu sehen und das Schlosstor stand weit offen.
Also dachte sich Mandrake "was soll’s" und trat durch das eiserne Tor.
Sobald er durch das Tor geschritten war, wurde er der ganzen Schönheit dieses Schlosses gewahr. Überall standen Brunnen und Wasserspeier herum. Es gab prächtige Gärten in dem Innenhof und riesige uralte Bäume.
Doch es war kein Lebewesen zu erblicken. Nirgendwo waren Diener, die geschäftig durch den Hof eilten, und auch der übliche Hofstaat fehlte, der zu einem solchen Schloss normalerweise gehören sollte, ja nicht einmal ein Vogel sang in den Kronen der mächtigen Bäume.
Das Wichtigste und Außergewöhnlichste aber hatte Mandrake die ganze Zeit übersehen.
In der Mitte des prächtigen Hofes stand ein versteinertes Einhorn und neben ihm drei steinerne Tafeln.
Das Einhorn sah trotz seiner Versteinerung noch so prächtig aus, dass Mandrake einen Moment innehielt und es staunend betrachten musste. Dann begann er die Tafeln zu lesen.

"Dies ist die Geschichte von Andariel, der Elbenkönigin.
Einst lebte in einem Schloss im Nurnenwald eine weise und bewunderte Elbenkönigin. Von weit her kamen die verschiedensten Völker und Rassen, um ihren Rat zu erbitten oder einfach nur ihre wunderbare Stimme zu vernehmen.
Doch Andariel hatte nicht nur Freunde.
Sie war einer alten bösen Hexe, die im Nurnenwald hauste, schon seit langer Zeit ein Dorn im Auge.
Es begab sich, dass Andariel, die sich in ein Einhorn verwandeln konnte, einen Ritt durch ihren geliebten Wald machte. Die Bäume flogen im Galopp nur so an ihr vorbei und immer, wenn sie ein Geschöpf des Waldes sah, hatte sie ein freundliches Wort für es übrig.
Die böse Hexe aber war ihr gefolgt und versteckte sich hinter einem Strauch, wo sie Andariel beobachtete. Als Andariel einem Rehkitz begegnete und mit demselben sprach, dachte die Hexe, dass ihre Zeit gekommen sei. Sie sprang aus dem Gebüsch und verfluchte die arme Andariel, auf dass sie zu Stein würde.
Die völlig überraschte Königin fand nicht die Zeit, einen Gegenzauber zu finden, und verwandelte sich in Stein. Die Hexe ging vergnügt durch die Früchte ihrer Schandtat in ihre Hütte.
Am nächsten Tage wurde die versteinerte Königin gefunden und in das Schloss gebracht. Am Hofe herrschte große Trauer und ein Bewohner nach dem anderen zog aus, da sie den Anblick ihrer geliebten Herrscherin nicht ertragen konnten.
Ich war der letzte, der geblieben ist, doch ich bin alt und mein Tod nahe.

Ich harrte in der Hoffnung aus, dass einst ein Erlöser unserer Königin kommen würde.
Die Prophezeiung besagt, dass nur ein Mann von reinem Herzen und reiner Seele, mit Riesenkräften und der Freundschaft des Königs der Lüfte den Bann zerbrechen könne.
Mir scheint, meine Hoffnung war vergebens.
Hochachtungsvoll, Rogarim Murni,r der Siegelbewahrer der Königin Andariel."

Mandrake kratze sich am Kopf und fasste dann einen Entschluss. Schnell war er an die Statue getreten, schwang seine Axt und Hieb auf die Figur des Einhorns ein.
Der Schwung war gewaltig doch zuerst glaubte Mandrake er hätte nichts bewirkt, doch dann breitete sich ein feines Netz aus Rissen aus und schließlich zerplatzte der Stein ganz.
Ein helles Licht schien von dem Einhorn auszugehen dass sich nun bewegte, so dass Mandrake geblendet die Augen schließen musste.
Als er sie wieder öffnete sah er das schönste weibliche Wesen, das ihm je begegnet war.
Andariel war erlöst.
Ehrfurchtsvoll sank Mandrake auf die Knie. Doch die Elbe sprach mit sanfter Stimme die ihm wie Glockenklingen erschien: "Erhebt euch, edeler Recke. Ihr seid mein Erlöser, mich dünkt, dass ich euch nun ewig zu Dank verpflichtet sein werde. Mein Herz springt vor Freude, wieder sehen zu können und mein geliebtes Schloss wieder zu erblicken. Doch es ist still geworden in den Mauern Nurnemors, kein Vogel singt. Doch ich werde es wiederbeleben, auf dass bald wieder Lachen und Singen erklingen wird. Nun aber zu euch, mein Retter, ich bin euch wohl zu Dank verpflichtet, sprecht, was ihr begehret, und ich werde euren Wunsch zu erfüllen wissen."
Mandrake stotterte: "Euch lebend zu sehen ist Belohnung genug, meine Königin."
"Ihr seid fürwahr edel und großmutig. Nun denn dann werde ich euch etwas schenken", sprach sie und stieß einen Pfiff aus. Sofort kam der Greif angeflogen und setze sich neben die Elbe. "An eurer Kleidung erkenne ich, dass ihr ein Krieger seid, lasst mich euch meinen Greif Luvak schenken. Er hat all die Jahre ausgeharrt, um mich zu erlösen, und war die ganze Zeit in diesem Land. Behaltet ihn und fliegt mit ihm durch die Welt, er wird euch ein treuer Gefährte sein. Und keine Widerrede."
 

© Christian Uhrig (Tendin)
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