Winterdämmerung von Caligula

Ihr Lied erscholl laut und durchdringend, weithin hörbar in dieser Nacht, in welcher der volle Mond sein Licht über Berge und Täler warf, dass selbst nackter Fels gar wundersam schimmerte und glänzte, als sei er aus reinem Perlmutt oder Silber.
Es berührte sein Herz, das Lied der Wölfin. So voll von Schweremut und Traurigkeit; einsame Klage auf der Höh’, dort, wo sie saß, die Schnauze nach dem Mond hin gehoben. Vergessen waren Kälte und Hunger, vergessen der lange, beschwerliche Weg den Pass hinauf; durch Wälder, unter Schnee begraben; eisige Schluchten und Schneeverwehungen. Hier und jetzt, an diesem Ort, weitab der Klauen des Winters, spürte Laird zum ersten Mal seit langer Zeit, wie ihm schien, sein Herz wieder schlagen. Und sei es, weil es sich so schmerzhaft zusammenzog unter der Berührung der Wölfin Klage. Laird spürte die Tränen auf seiner Wange. Er war angekommen. Er lebte. Als einziger ...
Er hatte den weißen Tod hinter sich gelassen.

"Ich werde ihn vermissen, unseren See."
Sie lächelte. Es war ein trauriges Lächeln, bar jeder Hoffnung. "Mein Leben lang hat mein Blick ihn gefunden, sooft ich des morgens erwachte ..."
"Ich weiß", nickte er, legte einen Arm um ihre Schultern. "Ich weiß, Sarah. Doch es ist Zeit. Nirmheim, Walden, selbst Bergstadt liegen unter Schnee und Eis begraben. Vor zwei Tagen fiel nur wenige Tagesritte von ihr entfernt der erste Schnee - im Sommer!"
"Ich bin mir dessen bewusst", sagte sie mit erstickter Stimme. "Und dennoch ... sieh es dir an. Sieh hinaus auf den See, Laird ..."
Er tat es. Erblickte flüssiges Gold. Die letzten Strahlen der sterbenden Sonne streiften die Wellen, zauberten auch einen schwachen, goldenen Glanz auf die wenigen Wolken am Himmel - Tanz der Feuergarben zwischen Himmel und Erde.
Wenige Wolken - noch. Von Süden her würden bald ganze Wolkenberge heranziehen.
Er lächelte matt und sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Der letzte Abend. Der letzte Blick auf den See. Ihren See. Noch im Morgengrauen des neuen Tages würden sie aufbrechen, gemeinsam mit so vielen anderen vor diesem unnatürlichen Winter flüchten. Womöglich war es bereits zu spät.
Langsam senkte sich Dunkelheit über den See.

"Schläft es sich gut, so zwischen Strauch und Stein?"
Seine Augen flogen auf, doch war sein Blick verschwommen. Es musste Tag sein ... und über ihm tanzten Schattengebilde. Wolken? Vögel vielleicht ...
Etwas Schweres, mit dem Geruch der Winde behaftet, legte sich auf seine Brust. Schwer und ... und seltsam und ...
Laird blinzelte, sein Kopf schien bersten zu wollen, die Zunge klebte ihm am Gaumen. Wann hatte er zuletzt frisches Wasser getrunken? Etwas zu sich genommen?
Er wusste es nicht mehr. Und warum nur lag er hier auf dem harten, kargen Boden, wo kaum genug Gras wuchs, um eine kleine Herde Ziehen zu sättigen?
Vage glaubte er, sich an eine Klage zu erinnern ... die Klage eines Tieres. Grau und alt und wunderschön. Sie hatte dem Mond ihr Lied dargebracht, mit all ihrer Würde.
Die Wölfin.
"Sieh da, er atmet noch", ertönte nun zum zweiten Male die tiefe, grollende Stimme, welche ihn zuvor aus dem Schlaf gerissen. Das Gewicht von seiner Brust schwand und endlich klärte sich auch sein Blick. Das schemenhafte Schattengebilde über ihm nahm Gestalt an.
Groß. Schuppig. Schmale, glänzende Augen aus Obsidian.
Laird saß mit einem Mal aufrecht, kerzengerade sogar. Starrte mit in den Nacken gelegten Kopf zu dem Besitzer jenes Kopfes hinauf. Seine Lippen bebten.
"Dr ... Dr ... Draaa ..."
"Dra mich nicht an, ja?", schnaubte das Ungetüm, indem es sich an Ort und Stelle mit einem gewaltigen Rumms zu Boden fallen ließ, dass da Staub ungeahnter Mengen gen Himmel stob. "Mit deiner Artikulation ist es nicht sehr weit her, wie? Nun gut, von euch Menschen habe ich auch selten etwas anderes erwartet. Der letzte nur annähernd intelligente Vertreter deiner Art ist mir vor ... hm, gut zweihundert Jahren untergekommen, wenn ich nicht irre."
Laird starrte ihn offenen Mundes an. Ihn. Sie. Es.
"Drache!", fand endlich der entsetzte, recht panisch angehauchte Ausruf den Weg über seine aufgesprungenen Lippen. "Du ... Drache!"
"Tatsächlich?" Der Drache - denn es war einer - verzog das lange Maul ... das eines Reptils? ... zu etwas, das ein Grinsen sein mochte.
Ein überaus mokantes Grinsen und irgendwie ein kleines Bisschen bösartig.
Letzteres wohl bedingt durch die zwei Reihen langer, scharfer Zähne, die da so possierlich aufblitzten. Laird kroch unwillkürlich zurück.
"Langsam, langsam, der junge Herr!", lachte der Drache da auf und eine gewaltige Pranke schob sich um Laird herum, dass er nicht länger flüchten konnte. "Ich beiße nicht - zumindest nicht unüberlegt. Und schon gar keine Menschen. Deinesgleichen schmeckt grauenhaft, wie ich persönlich finde. Ich frage mich, weshalb so viele meiner Artgenossen da anderer Meinung sind ..."
Über Laird kam eine gnädige Ohnmacht.

Der Baum erschien ihm unwirklich. Inmitten der weiten, unendlich weiten Ebene aus Schnee, dem immerweißen Meere, erhob sich dies dürre, kahle Bäumlein, zeichnete sich schwarz gegen den grauen Himmel ab, die Äste von Frost überzogen.
Wohl eher gefangen genommen.
Er fiel auf die Knie, ungeachtet der Kälte unter ihm. Er spürte sie schon lange nicht mehr. Sie war ein Teil von ihm ... von ihnen allen. Waren sie nicht längst tot?
"Laird. Laird, steht auf ... ich bitte dich, Laird!"
Ihre Stimme. Sarahs Stimme. Leise, kaum mehr, denn ein Windhauch im Tosen der Winterstürme. Doch heute war es still, totenstill. Er vernahm ihren schwachen, aus Verzweiflung geborenen Ruf, wandte sich nach ihr um. Sie war neben ihm zu Boden gesunken. Wie auch die Äste jenes Baumes waren die Strähnen ihres braunen Haares von Frost überzogen, die glitzernden Diamanten des Todes zierten auch ihre Brauen, die Wimpern um die tief eingesunkenen Augen. Ihr Gesicht war eingefallen, bleich ... tot.
"Laird ..."
"Wir ziehen weiter", brachte er mühsam hervor, ein jedes Wort schmerzte in seiner Kehle. "Wir ... es sind nurmehr wenige Tage bis zu den Ausläufern ... der Pass ..."
"Zu weit." Nur ein Seufzen. Sie ließ sich zur Seite sinken, ins weiße Bett. Dunkles Haar breitete sich aus, ein Kranz um ihr Haupt. Sie schloss die Augen. "Zu weit, Laird. Sie sind tot. Sie sind alle ... tot."
Es begann zu schneien.

Nur langsam erwachte Laird, fand sich jedoch schneller zurecht, als das letzte Mal. Er fühlte nicht länger harten Boden unter sich. Nicht Kälte, noch beißende Winde. Der Geruch von Moos, feuchten Laubs und Erde stieg ihm in die Nase ... und noch etwas, etwas wohl Vertrautes, doch verloren Geglaubtes ...
Feuer.
"Anwar (Anm.: arabischer, männlicher Vorname, "Licht" - sagt firstname.de ^^), dein Gast weilt nun auch geistig wieder unter uns!"
Die plärrende Stimme ließ Laird zusammen fahren. Zwar, ein jeder Muskel, Nerv und Knochen schmerzte ihn heftig, als er sich aufrichtete, doch presste er die Kiefer aufeinander, zwang seine müden Augen, sich nach der ihn weckenden Stimme zu richten.
Und einmal mehr erstarrte er.
Eine Höhle. Groß genug, dass wohl eine ganze Sippe Menschen sich hier hätte niederlassen und hausen können; der Boden mit einer dicken Schicht Laub, Flechten und Moos gepolstert. Direkt neben ihm: Ein Feuer. Ohne Abgrenzung, Graben, Steinkreis - geschweige denn irgendeines Anzeichens für Brennmaterial. Wohl dosierte Flammen schlugen matt um sich, nur wenige Zoll über dem Boden schwebend. Magisches Feuer. Seine Wärme flutete Lairds Geist und sein Licht meißelte Schatten in der Höhlendecke heraus, Wurzeln und den schwach glänzenden Film von Feuchtigkeit.
Das Feuer allein - ein Wunder.
Sein Gastgeber dahingegen - mehr als das. Weitaus mehr.
Der Drache ruhte unweit des Feuers, die Schwingen eng an den Körper gelegt, die gewaltigen Pranken übereinander gelegt. Obgleich die Höhlendecke Laird nicht eben niedrig erschien, hielt das wundersame Flugwesen den langen, biegsamen Hals gesenkt und ebenso das Haupt. Ein schmales, in die Länge gezogenes Haupt, dem einer Echse nicht unähnlich - und doch gänzlich anders. Laird vermochte es nicht zu benennen. In Worte zu kleiden. Dafür andere Einzelheiten, von atemberaubender Schönheit, die sich allesamt in sein Hirn brannten, als hätte er zu lange zur Sonne aufgeblickt und trage nun ihr Abbild unter geschlossenen Liedern. Da waren die anmutig geschwungenen, im Feuerschein wie Perlmutt schimmernden Hörner; das nur mäßig dunklere Schuppenkleid, hie und da in zarten Farbvariationen von kaum zu erahnendem Rot und Violett; die schaurig schön aufblitzenden Zähne und Klauen - und schließlich die Augen, diese dem restlichen Farbmuster kontrastierenden, alles Licht aufsaugenden Augen, schwarze Seen, Manifestationen der vollkommenen Dunkelheit.
Laird starrte in sie hinein. Der gesamte Leib des Drachen schillerte und leuchtete, eindeutig aus eigener Kraft, doch auch des Feuers wegen.
In seinen Augen spiegelte es sich nicht.
"Du bist also wach", grollte der Drache, erheitert, wie Laird schien.
Oder hoffte. Er schüttelte sich, rieb sich die Augen, blinzelte, starrte das Geschöpf an. Nur langsam gewahrte er die andere Gestalt. Sie hockte auf einer Tatze des Drachen. Klein, unvorstellbar klein. Eine Frau ... bar jeder Kleidung, von einem Schleier nachtschwarzer Haare umspielt. Augen, klar und strahlend wie die Sterne selbst. Fragile, transzulente Libellenflügel zierten ihren Rücken.
Eine Elfe. Sie grinste und entblößte eine Reihe nadelspitzer Zähne.
"Er fürchtete sich", zirpte sie und ihre Stimme riss Laird aus seiner stummen Bewunderung. Sie war misstönend, quäkend und schrill zugleich, vor Hohn triefend. "Ich würde zu gerne sein Blut kosten, Anwar."
Der Drache schnaubte und eine Wolke silbernen Dampfs stieg aus seinen Nüstern empor. Und Laird begriff: Er lachte.
"Nimm ihr die Worte nicht übel, Mensch", sprach er ihn sanft an, doch ließ das Grollen seiner Stimme Lairds Körper erbeben. Er fühlte sich furchtbar, ganz furchtbar klein, angesichts dessen, was ihm gegenüber ruhte. "Meine kleine Freundin kann sehr garstig werden und sie mag deine Rasse nicht leiden."
"Ich mag ihr Blut", korrigierte ihn das Elfending und kicherte voll Malice. "Ihr Blut und ihr Fleisch. Es schmeckt gut."
"Nein, oh nein, meine Liebe!" Der Drache - Anwar, rief sich Laird ins Gedächtnis, dieses Wesen hieß Anwar - schüttelte anmutig das Haupt. Eine seltsam menschliche Geste. "Menschen schmecken grässlich."
Wie beruhigend. Laird schluckte. Wo nur war er da hinein geraten?
Das Elfenwesen schenkte ihm noch einmal ein überaus biestiges Lächeln, dann erhob es sich mit surrenden Flügelschlägen - der Laut erinnerte tatsächlich an den einer umher fliegenden Stechmücke! - und entschwebte. Wohin auch immer. Es geschah zu schnell, als dass Laird ihr mit seinem Blick hätte folgen können. Sie war irgendwo hinter ihm verschwunden.
"Sorge dich nicht wegen ihr", ergriff Anwar wieder das Wort. Er senkte den Kopf auf seine Pranken und ließ seine Obsidianaugen auf Laird ruhen. "Sie wird dich nicht anrühren, solange ich es ihr verbiete."
"Dan-Danke", keuchte Laird mühsam. Seine Kehle fühlte sich wund an. "Vielen Dank ... für alles ... aber ..." Er hielt inne und schüttelte ungläubig den Kopf. "Ich ... sitze in einer Höhle ... mit einem magischen Feuer und ... und einem Drachen und einer Elfe ..."
"Eine Elfe, soso." Anwar bleckte die Zähne, dass Laird unwillkürlich schauderte. "Verzeih, aber sie ist alles andere, als das. Freilich, es mag ähnlich bösartige und von euch Menschen zehrende Elfen geben. Gerade solche, die euch in Gestalt und Sprache so ähnlich sind ... sie aber zählt nicht zu diesen Wesen."
"Aber was ..."
"Es spielt keine Rolle. Sie ist allgemein von bösartiger Natur, meist hungrig und ausgesprochen wankelmütig in ihren Launen. Hüte dich vor ihr."
Und positiv sollten Sie den Tag beginnen ...

Laird starrte den Drachen an. Anwar musterte ihn.
Dann: "Mein Name lautet Anwar. Zumindest jener Name, der den meisten geläufig ist ... wenn du verstehst."
Natürlich. Die Macht des wahren Namen. Nur ein wahrhaft närrischer, wenn nicht ganz und gar dämlicher Vertreter magischer Wesen würde jemals freiwillig seinen wahren Namen Preis geben.
"Ich ... mein Name ist Laird", hustete Laird. "Ich komme aus den Ebenen nördlich der Berge."
"Ich weiß", brummte Anwar und zum ersten Mal schien alle Heiterkeit aus seiner Stimme gebannt. Das Feuer flackerte stumm zwischen ihnen. "Du trägst diesen Geruch ... nach Winter und Kälte und Tod."
Laird schüttelte sich im Griff nicht vorhandener Kälte. Bloße Erinnerung. In sein Fleisch, seine Muskeln, Nerven, Adern und Knochen getrieben nach Wochen und Wochen in der weißen Hölle.
"Sie sind alle tot", flüsterte er, spürte die Tränen, die sich in seinen Augen sammelten. "Alle. Meine Freunde, meine Familie ... meine Frau. Alle!"
Anwar schnaubte leise. "Es muss schmerzhaft sein. Für dich. Alles verloren zu haben."
"Ich lebe noch, nicht wahr?" Er fuhr sich über die Augen, lachte kurz. Trocken, scharf. "Ich lebe noch. Ich habe, verdammt noch mal überlebt. Irgendwie."
"Und du wirst weiter leben", sagte Anwar. "Hier bist du sicher. Vorerst. Bis der Winter über die Berge zieht."
"Kann ... kann er das?"
Bitte nicht! Bitte lass ihn nicht auch hierher finden! Bitte ...
Der Blick aus unendlicher Finsternis fand ihn, fesselte ihn.
"Er ist nicht natürlich. Ebenso wenig, wie die Barriere in den Bergen. Vor Urzeiten wurde sie geschaffen - ich kann dir nicht sagen, von wem - und noch scheitert er an ihr. Doch nicht ewig. Bald wird er sie zerschmettern. Und auch diese Länder mit Schnee und Eis überziehen."
"Warum?", entfuhr es Laird, er bewegte sich ruckartig nach dem Drachen hin, hielt aber in einem Ansturm von Schmerzen inne und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab. "Warum?"
Anwar hob den Kopf, neigte ihn zur Seite, als dächte er nach.
"Darauf weiß ich keine Antwort. Niemand weiß es. Viele andere Flieger und ich selbst auch haben die winterlichen Stürme untersucht, ihre Ränder abgeflogen, Sichtungen vorgenommen ... andere Wesen ebenso. Niemand weiß, woher genau es kommt. Wo sein Ursprung liegt. Weshalb es existiert. Nur, dass es den Tod bringt. Über alles und jeden."
"Selbst ... selbst über jene wie ... dich?"
Schweigen. Alles erdrückende Stille. Dann ließ Anwar den Kopf wieder sinken.
"Ja. Auch über jene wie mich."
Laird sank zurück. Vor ihm lag ein Drache. Ein Wesen der Träume. Der Legenden. Der Geschichten. Aus seinem eigenen Munde hatte er vernommen, dass es auch andere Wesen wie ihn gab ... andere Drachen und mehr, viel mehr. Wesen voller Magie. Oder das, was Menschen für Magie hielten.
Und selbst diese märchenhafte, leuchtende Flugechse konnte von dem, was jenseits der Gebirgskette lauerte, getötet werden.
Erschreckend. Mehr als das. Es überstieg Lairds Fassungsvermögen. Hinter seinen Schläfen pulsierte es schmerzhaft. Doch konnte er den Blick nicht von dem Drachen nehmen. Diesem letzten, allerletzten Hoffnungsschimmer.
"Wirst du auch fliehen?", wagte er zu fragen. "Vor dem Winter?"
Anwar blinzelte. Zum ersten Mal. "Wenn die Zeit gekommen ist ... du hast dem Lied der Wölfin gelauscht, vergangene Nacht, nicht wahr? Es war das Lied ihres Abschieds. Ihr Rudel zieht fort. Sie wittern den Tod."
"Du kannst fliegen", murmelte Laird. "Wohin du willst. Für dich gibt es keine Hindernisse."
"Nein. Doch die Welt ist nicht grenzenlos. Und wenn das, was hinter den Bergen lauert, niemals Halt machte - dann wird der Tag kommen, an dem auch ich nicht länger vor ihm fliehen kann. Die Welt wird unter Schnee und Eis begraben sein. Und dann werde ich ganz allmählich sterben."
Ja. Genau wie alle anderen auch.
Laird senkte den Kopf. "Ich will nicht sterben", ächzte er. "Ich habe um mein Leben gekämpft. Und ich bin noch immer nicht gewillt, es aufzugeben."
Sie sind alle tot.
"Darum habe ich dich zu mir gebracht", grollte Anwar leise. "Als ich dich fand, konnte ich den Überlebenswillen in deinem Herzen lesen. Du hast alles verloren. Alles. Außer dein Leben. Du bist nicht bereit, es aufzugeben."
Laird war, als vibriere der Boden unter ihm und er sah zaghaft auf. Der Drache hatte die Zähne gebleckte, unter dem schillernden Schuppenkleid spannten sich kräftige Muskeln und ein Grollen, zornig und entschlossen, drang aus den Tiefen seiner Brust. Laird hielt den Atem an.
"Ebenso wenig wie ich!", donnerten seine nächsten Worte durch die Höhle, dass Erde von der Decke herab regnete. "Ich habe geschworen, dem weißen Tod auf den Grund zu gehen. Ihn zu bekämpfen. Darum bin ich noch hier. Darum werde ich erst dann fliehen, wenn es keinen anderen Weg mehr gibt, wenn ich mein Leben retten muss, um nach einer Möglichkeit zu suchen, dem ein Ende zu bereiten."
Er schüttelte sich, schnaubte noch ein Mal und meinte dann ruhiger: "Du bist nur ein Mensch. Doch einer, der diesen unnatürlichen Winter überlebt hat. Ihn und das Gebirge. Ihn und alle Verluste. Also frage ich dich: Wärest du bereit, dich mir anzuschließen? Mich zu begleiten?"
Laird wusste darauf nichts zu antworten. Wie auch? Ein Drache bat ihn um seine Begleitung.
Ein Drache! Ein Wesen von womöglich nicht zu greifender Macht.
Er vermochte es nicht zu begreifen. Er wollte es auch nicht. Dieser Drache, Anwar, war seine letzte Hoffnung. Definitiv. Er bot ihm Schutz. Kraft.
Hatte er überhaupt eine Wahl?
Ja. Zwischen dem Kältetod und dem Beginn einer ungewissen Zweckgemeinschaft.
Ungewiss und seltsam und ... unnatürlich.
Drache und Mensch.
Laird atmete tief durch. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal ...
"Ich weiß nicht, inwieweit ich dir von Nutzen sein könnte", sagte er schließlich langsam. "Aber ich ... ich lege keinen allzu großen Wert darauf, alleine weiter zu ziehen. Es ist alles furchtbar ... verwirrend, so unglaublich, ich ..." Er hielt kurz inne, sammelte sich. "Ich komme mit dir. Und diesem ... Ding, sofern es mit dir reist."
"Ihr Name ist Nisse." Anwar blinzelte träge und schien mit einem Mal sehr zufrieden. Diese Empfindung hüllte ihn geradezu ein, Laird ließ sich von ihr ergreifen und beruhigen. Es wirkte. Sein Herz schlug langsamer. Er begann zu akzeptieren. "Und ja, sie ist meine Begleiterin. Von heute an auch die deine."
Er lachte dumpf und grinste sein Drachengrinsen. "Es freut mich, dass du mit uns kommst. Es wird mit Sicherheit ... interessant."
Interessant. Oh ja. Eine Gemeinschaft mit einem Drachen und einer blutrünstigen, kleinen fliegenden Frau. Ich kann es kaum erwarten.
Laird schloss die Augen und spürte die ersten Wogen des Schlafes über sich hinweg gleiten. Seine Gedankenstränge dröselten sich auf, fanden keinen Halt. Es war Zeit, zu ruhen. Er war sicher.
Sich um die Zukunft zu sorgen hatte er noch Zeit genug. Sobald er das nächste Mal die Augen aufschlagen würde.
Aus unbestimmter Ferne drang das Grollen des Drachen an seine Ohren.
"Es ist nicht so, als würde ich den Winter hassen, nicht wahr? Ich bin ein Kind der Kälte, wenn ich auch befähigt bin, wärmendes Feuer zu schaffen ... verstehst du?"
Nein. Nein, ich verstehe überhaupt nichts.
Und dann wurde es dunkel.
 

© Caligula
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