Eidbrecher
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Auch an diesem Tag schaffte es die helle Flammenscheibe nicht durch die finstere Front der Stürme. Wie eine schwere, dunkle Decke legten sich die Gewitterwolken über das Land. Die zarte Stille des neuen Tages wurde nur von fernem Grollen gestört. Feine Nebelfetzen zogen über die blanken Seen, die wie Silber funkelten. Und dann trat wie ein Geist das Tier aus der Unsichtbarkeit der besiegten Nacht. Zwei braune Ohren bewegten sich aufmerksam in jede Richtung. Langsam schwenkte der Hirsch das schwere Geweih Richtung Wasser und nahm einen tiefen Zug des kühlen Nass. Ein Donnerschlag ließ ihn aufschrecken. Die schwarzen Knopfaugen sahen am kohlefarbenen Horizont gerade noch das Leuchten des ersten Blitzes. Dann herrschte wieder Stille. Nach anfänglichem Zögern kehrte das Tier den ruhigen Seen den Rücken und machte sich auf den Weg in seine tiefen, grünen Wälder. Zwielicht warf seine Schatten auf den Boden und unter den Hufen knisterte das tote Laub des letzten Herbstes. Langsam öffneten sich die Stämme vor ihm und der Hirsch blieb am Rande des großen Feldes stehen. Ein kalter Wind rüttelte an den Zweigen und ließ das Fell des Tieres flattern. Grauer Staub trieb in Wolken über den kahlen Boden, aus dem die bleichen Knochen der Toten hervor standen. Tausende Seelen waren an diesem Ort gegangen und noch immer hing ihre Anwesenheit zwischen den verrosteten Schilden, zwischen den dreckigen Speeren und den zerbeulten Helmen. Langsam setzte sich der Bock in Bewegung, mitten hindurch. Und allmählich kehrte alles wieder zurück. Der Lärm, die Schreie und die Kämpfer. Gestalten wehten über das Schlachtfeld und die Musik des Leides kehrte zurück. Zwischen erbitterten Feinden zog das Tier entlang, den Kopf ermattet hängend, die schwarzen Knopfaugen feucht schimmernd. Er konnte nichts für sie tun. Seine Hufe wirbelten den Dreck auf und in der Ferne grollte der Donner. Die Schritte der Kameraden und ihre Schatten begleiteten ihn wie stumme Wächter, den Eidbrecher. Jäh frischte eine Böe auf und wehte die Erinnerungen davon. Eine schwarze Gestalt thronte allein inmitten der Gräber und blickte, ohne Augen, dem Bock hinterher. Er spürte den kalten Blick im Nacken, sah aber nicht hin. Der Tod hatte keine Macht über ihn. Müde schleppte sich das Tier weiter, dem Horizont entgegen. In der Ferne war kein grüner Wald mehr zu sehen, kahle Äste und dürre Bäume reckten sich statt seiner. Dunkle Gewitterwolken zogen darüber hinweg, ein Blitzschlag wie ein Peitschenhieb und alles war wieder still. Mit letzter Kraft erklomm der Hirsch den steilen, grauen Fels und hob den Kopf mit dem schweren Geweih. Und vor ihm breitete sich eine endlose Fläche flüssiges Quecksilber aus. Eine frische Brise umspielte die langen Beine und schwarze Knopfaugen blickten hinaus, auf die Weite der Unendlichkeit. Wellen brandeten gegen die Klippen und sangen ihr ewiges Lied von Vergänglichkeit. Der Hirsch blickte nicht zurück. Letzten Endes hatte er sich richtig entschieden, dachte das Tier und lächelte ungesehen in sich hinein. Und plötzlich riss die tiefe, schwarze Wolkendecke auf und ein einziger Sonnenstrahl traf das Wasser des Meeres und verwandelte das Panorama in ein Märchen. Viele Augenblicke lang war das Tor zur Sonne offen, dann schob sich wieder dicker Brodem zornig vor das Licht und es wurde erneut dunkel. Der Hirsch lag bewegungslos auf der Klippe. Seine Seele aber war schon lange nicht mehr dort. © Déces
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