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Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern
zur besten Projekt-Story 2002 im Drachental gewählt!

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Der Drachentöter von Sylvia

Seit Stunden wanderten sie nun schon bergaufwärts, aber ihr Ziel hatten sie noch immer nicht erreicht. Es dämmerte bereits, und Torwens Befürchtungen, daß sie es vor Anbruch der Nacht nicht schaffen würden, schienen sich langsam zu bewahrheiten.
"Wir können ebensogut gleich hier eine Rast einlegen", schlug er vor und drehte sich nach Trey um, die erschöpft hinter ihm hertrottete. "Die Höhle werden wir wohl nicht mehr erreichen."
Er betrachtete stirnrunzelnd die kahlen, grauen Felshänge und den geröllübersäten Pfad, auf dem sie sich in das Gebirge hinaufquälten. Nur Steine und Felsen und abgestorbene Bäume, so weit das Auge reichte. In dieser Höhe gab es kaum noch Vegetation, nur einige trostlose, graugrüne Flechten wucherten neben dem Weg und die Bäume sahen tot und leblos aus und reckten ihre dürren Äste wie gespenstische Skelettfinger gen Himmel.
Von Westen her blies ein kalter, scharfer Wind und trieb Regenwolken in ihre Richtung.

Torwen blieb stehen und deutete etwas abseits des Weges auf einen Felsüberhang, der einen natürlichen Unterstand bildete. Dort würden sie eine Weile unterkriechen und rasten können.
"Ich glaube, das hier wäre ein guter Platz. Falls es zu regnen anfängt, bleiben wir wenigstens trocken." Trey nickte. Ihr war alles recht, wenn sie nur endlich die schmerzenden Beine ausstrecken konnte. Sie waren beide zum Umfallen müde, denn die Überquerung des wild schäumenden Flusses und der mörderische Aufstieg auf diesen trostlosen Berg hatten bis zur Erschöpfung an ihren Kräften gezehrt.

Torwen beobachtete seine Tochter mit besorgtem Blick. Der alte Drachentöter ahnte, daß sie am Ende ihrer Kraft war, auch wenn sie das niemals zugegeben hätte. Den ganzen Aufstieg über war sie schweigsam gewesen, und vor einigen Meilen war ihr Geplapper dann ganz verstummt. Torwen kannte sie gut genug, um zu wissen, daß das kein gutes Zeichen war. Trey war ein mutiges Mädchen, das ihrem Vater in nichts nachstand, und als er sich vor dem Dorfrat angeboten hatte, den Drachen zu erlegen, war sie sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte es sich nicht ausreden lassen, ihn zu begleiten. Doch nun, da sie ihrem Ziel so nahe gekommen waren, konnte er Angst in ihren Augen entdecken.

Torwen stapfte zu dem steinernen Überhang hoch, lehnte die schwere Lanze gegen den Fels und brachte ihr spärliches Gepäck in der Nische unter, dann ließen sie sich abgekämpft auf die rauhen, kalten Steine fallen. Trey streckte ächzend die Beine von sich, während ihr Vater seinen Rucksack nach etwas Eßbarem durchsuchte. Alles, was er zutage förderte, war ein wenig Trockenobst. Hätten sie Treys Rucksack nicht im Fluß verloren, hätten sie genügend Proviant gehabt - so aber mußten sie sich mit dem begnügen, was ihnen geblieben war. Torwen teilte die Früchte auf und reichte seiner Tochter ihren Anteil. Schweigend kauten sie die Stücke, die sich zäh wie Schuhleder anfühlten, und hingen ihren Gedanken nach, während vor der Felsnische die ersten Regentropfen auf den kahlen Steinboden klatschten.

"Was glaubst du, wie er ist, dieser Drache?" fragte Trey nach einer Weile.
"Hmm, nach dem, was die Leute sich erzählen, muß es ein riesiges, blutrünstiges Biest sein", erwiderte Torwen kauend. "Ein großer Schwarzer. Drüben in Derwen soll er ganze Dörfer in Schutt und Asche gelegt haben. Aber du weißt ja, was die Leute reden", fügte er mit einem Blick auf Treys verschlossene Miene hinzu. "Es sind vielleicht nur Gerüchte. Die Dörfler erzählen viel, wenn der Tag lang ist."
Torwen wollte ihr nicht noch zusätzlich Angst einjagen. Er wußte ja selbst nicht genau, worauf er sich eingelassen hatte, als er so vorschnell zugestimmt hatte, hier herauf auf den Berg zu ziehen. Wenn er den Gerüchten trauen wollte, die abends im Wirtshaus bei Met und Wein kursierten, war der Drache, der sich hier oben auf dem kahlen Berg eingenistet hatte, die furchterregendste Bestie, die das Land je gesehen hatte - aber er wußte aus Erfahrung, daß die Leute meist schamlos übertrieben.

Tatsache war, daß dieser Drache eines Tages wie aus dem Nichts aufgetaucht war, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung. Seine Route schien ihn aus Westen herangeführt zu haben und man erzählte, er habe mit seinem Feueratem eine Schneise aus niedergebrannten Dörfern und zerstörten Höfen hinterlassen. Nun hatte er sich irgendwo oben auf der kahlen Bergkuppe niedergelassen und schien von dort aus das Land zu terrorisieren, und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis diese bösartige Kreatur ihre eigene Siedlung erreicht hatte - mit wahrscheinlich schrecklichen Folgen für alle Einwohner.

Als der Bote aus Derwen mit der Nachricht erschienen war, hatte sich sofort in aller Eile der Dorfrat versammelt und beratschlagt, wie man sich gegen die Bestie schützen könne. Doch niemand hatte Erfahrung mit Drachen oder wußte, was zu tun war, und so waren sie dann zwangsläufig auf Torwen gekommen. Torwen, den Drachentöter.

Torwen seufzte schwer und nahm einen Schluck aus seinem Wasserschlauch.
Drachentöter ... das Wort hinterließ einen bitteren Beigeschmack, der sich nicht hinunterspülen ließ. Viele Jahrzehnte war es her, daß er diesen einen Drachen erlegt hatte. Mehr durch ein dummes Mißgeschick als durch Absicht. Es war ja nicht einmal ein voll ausgewachsener Drache gewesen, ein Halbwüchsiger noch, der ihm durch Zufall direkt vor die Lanze gekommen war. Obwohl es schon eine Ewigkeit her zu sein schien, erinnerte sich Torwen noch genau daran, und den Blick des sterbenden Drachen hatte er niemals vergessen können. Anfangs hatte er noch versucht zu widersprechen, als die Dorfbewohner ihn einen Helden und Drachentöter hießen, aber sie ließen es sich nicht ausreden, ihn zu feiern und hochleben zu lassen - sie wollten ihren Helden haben und ließen ihn sich nicht wieder nehmen. Wie die Sache mit dem Drachen in Wirklichkeit abgelaufen war, hatte niemanden interessiert, sie weigerten sich hartnäckig, die Wahrheit zu akzeptieren. Schließlich hatte er es aufgegeben und nur noch heimlich schmunzelnd den Legenden zugehört, die sich um seine großartige Tat rankten. Und Torwen lebte über all die Jahre ganz gut damit.

Nun war er alt geworden, das Haar grau und schütter und die Knochen ein wenig müde. Sein Blick wanderte zu Trey hinüber, die mit grübelndem Gesichtsausdruck und in offensichtlich ziemlich düsteren Gedanken versunken die Klinge ihres Schwerts polierte. Trey, seine Tochter war das einzige, das ihm noch geblieben war. Seine Frau war früh gestorben und Aron, sein Sohn, war ein übler Taugenichts gewesen, der eines Tages in die Welt hinaus gezogen und nie mehr zurückgekehrt war. Torwen wußte nicht einmal, ob er noch lebte. Trey hatte er notgedrungen alleine aufgezogen, und sie war durch das Fehlen der Mutter im Lauf der Jahre mehr nach einem Jungen als nach einem Mädchen geraten - und wild entschlossen, in die Fußstapfen ihres so unfreiwillig berühmt gewordenen Vaters zu treten. Drachentöter wollte sie werden ... dabei gab es kaum mehr welche von diesen einst so mächtigen Kreaturen. Nur noch selten hörte man von diesen geschuppten Wesen, die langsam aus ihrer Welt zu verschwinden schienen. Pech, daß ausgerechnet hier wieder einer auftauchen mußte.

Als der Rat Torwen gebeten hatte, den Drachen zu töten, der ihr Dorf bedrohte, hatte er erst abgelehnt. Sie boten ihm eine hohe Belohnung, falls es ihm gelingen sollte, den Drachen zu besiegen - einen Betrag, der ihm einen schönen Lebensabend und seiner Tochter noch genügend Reichtum beschert hätte, um ein angenehmes Leben zu führen. Doch zu lange war es her, seit er zum letzten Mal die Lanze gegen einen Feind oder gar einen Drachen ins Feld geführt hatte, doch die Dörfler - und allen voran seine eigene Tochter Trey - hatten ihn so lange gelöchert, bis er sich schließlich in seine Hütte zurückgezogen hatte, um gründlich darüber nachzudenken, wie er behauptete.
Dabei war ihm das Ergebnis seiner Überlegungen eigentlich schon von vorneherein klar und er wußte, daß er gar nicht darum herum kommen würde - allein schon seine Tochter hätte ihm vermutlich bis an sein Lebensende vorgehalten, wie feige er wäre. Also hatte er schließlich eingewilligt.

Und nun saß er hier an einem kahlen Berghang in einer offenen Höhle, deren feuchte, zugige Kälte seine alten Knochen malträtierte, auf halbem Weg zu dem Hort dieses Untiers, das es zu besiegen galt - und hatte keine Ahnung, wie er dies bewerkstelligen sollte. Was, wenn der Drache tatsächlich ein so riesiges, hinterhältiges Vieh war, wie die Leute behaupteten?

Nachdenklich ruhten seine Augen auf Trey. Ob ihm selbst etwas zustoßen würde, war Torwen gleichgültig, aber seiner Tochter ... der Gedanke behagte ihm gar nicht.
"Trey, hör mal, willst du nicht lieber umkehren? Ich würde das sicher auch ohne dich ..."
"Niemals!" fiel sie ihm ins Wort und Torwen fing ihren empörten, ja beinahe zornigen Blick auf. "Glaubst du etwa, ich würde dich allein lassen? Und glaubst du, ich würde mir diesen Drachen entgehen lassen? Du weißt genau, daß ich schon lange darauf warte, endlich einen zu Gesicht zu bekommen, die Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen. Ich werde mitkommen!"
"Ach, Trey", seufzte Torwen, "es kann sehr gefährlich werden. Ich gebe auch nichts auf das Geschwätz der Dörfler, aber wenn das Biest nun wirklich so riesig ist, wie sie sagen ... mit so einem Drachen ist nicht zu spaßen. Das ist etwas anderes, als im Schaukampf gegen Wickleys Jungs zu gewinnen."
"Ich weiß schon, was ich tue!" beharrte seine Tochter. "Mit Drachen kenne ich mich aus, du hast schließlich oft genug davon erzählt. Und ich will ein ebenso berühmter Drachentöter werden wie du. Du wirst sehen; Vater, ich kann es genauso schaffen, diese Kreatur zu besiegen."
"Das sind Geschichten - die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Warte, bis du ihn siehst ..."
"Ach, was", brummte sie unmutig. "Komm, wir ziehen weiter. Genug gerastet."

Sie wanderten noch eine ganze Weile weiter, hintereinander, in verbissenem Schweigen versunken. Der starke Wind, der ihnen von Westen her ins Gesicht geweht hatte, war mittlerweile verstummt. Kein Lüftchen regte sich, kein Regentropfen fiel, aber die Luft war auf einmal stickig und legte sich wie eine drückende Last auf ihre Lungen. Torwen musterte beunruhigt die Wolkenberge, die sich über ihnen am Abendhimmel zusammenballten.
"Sieht nach einem Gewitter aus", murmelte er. Torwen hatte die Worte kaum ausgesprochen, da zuckte bereits der erste Blitz über den Himmel.

"Wir sollten uns langsam nach einem Lagerplatz umsehen", entgegnete Trey und beschleunigte ihre Schritte. Torwen eilte ihr nach, während sie schon das erste Donnergrollen hören konnten.
Ein heftiger Windstoß ließ die toten Äste der Bäume erzittern und fegte den Berghang herauf. Rasend schnell kamen die Gewitterwolken näher, und sie wirkten so dunkel und massig, daß Trey beinahe glaubte, sie berühren zu können, wenn sie nur die Hand gen Himmel strecken würde.
Ihr Vater machte ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, verließ den ausgetretenen Pfad und kämpfte sich quer über das lose Geröll den steilen Hang hinauf, indem er seine Drachenlanze als Stab benutzte. Hier würden sie leichter einen Unterschlupf finden können - überall gab es vereinzelte Felsgruppen und Ritzen und Spalten dort am Berg, und Torwen hoffte, eine Höhle oder etwas ähnliches zu entdecken, in der sie vor dem Unwetter Schutz suchen konnten.

Die ersten dicken Regentropfen platschten herunter. Der Wind wurde stärker und stärker, fuhr durch die Äste und zerrte und rüttelte an den Baumkronen.
Der alte Drachentöter zog seinen schweren, wollenen Umhang fester um sich, stapfte verbissen voran und hielt nach einem Unterschlupf Ausschau, während Trey ihm in einigem Abstand folgte.
Binnen Minuten wurde es bitterkalt und der Wind blies so stark, daß sich die Bäume bogen und ächzten. Und dann öffnete mit einem Mal der Himmel seine Schleusen.

Sintflutartige Regenfälle prasselten auf sie nieder, und bevor sie wußten, wie ihnen geschah, waren sie bis auf die Haut durchnäßt. Trey begann zu laufen. Die Tropfen fielen in solch dichten Schauern, daß sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Mühsam kämpfte sie sich vorwärts und versuchte, dem kräftigen Schritt ihres Vaters zu folgen, während der Regen in ihr Gesicht peitschte und der Orkan an ihren Haaren zerrte. Der Donner war ohrenbetäubend und ließ den Boden unter den Stiefelsohlen erzittern. Blitze fegten in ununterbrochener Folge über den tiefschwarzen Himmel.

Sie verlor völlig die Orientierung. Die Wasserschwaden fielen wie eine undurchdringliche Wand, und sie konnte im grellweißen Licht der Blitze kaum die Baumstämme und Felsbrocken vor sich erkennen. 
Trey kämpfte gegen den Wind und drehte sich suchend nach Torwen um, konnte ihn aber nicht entdecken.
"Vater!" schrie sie mit aller Macht gegen den tosenden Regen an. "Vater, wo bist du?"
Sie drehte sich um ihre eigene Achse, aber alles was sie sehen konnte, waren massive Wassermassen, die vom Himmel stürzten. Die Tropfen wurden zu eisigen Hagelkörnern, die ihr schmerzhaft ins Gesicht und auf die Arme prasselten.

"Torwen!" Verzweifelt brüllte Trey wieder und wieder seinen Namen, während sie die Arme schützend über ihren Kopf legte, um den Hagel abzuhalten. Grimmig stapfte sie weiter, stemmte sich mit aller Kraft gegen den heulenden Wind und ihre Angst, und betete, daß sie ihren Vater wiederfinden würde, während der Sturm an Gewalt und Lautstärke noch zunahm. Dürres Holz und abgebrochene Äste sausten an ihrem Gesicht vorbei.
Ein ohrenbetäubendes Krachen schien plötzlich Treys Trommelfell zerreißen zu wollen und sie zuckte erschrocken zusammen, als zu ihrer Linken ein Blitz in einen der toten Bäume einschlug. Der knorrige Stamm explodierte in tausend Splitter, die ihr um die Ohren flogen, und das Licht war so grell, daß sie den Arm vor ihre Augen riß, um sich vor der blendenden Helligkeit zu schützen. "Vater, wo bist du?" brüllte sie verzweifelt gegen den Sturm, aber niemand antwortete ihr.

Ausgepumpt und benommen lehnte sich Trey an einen Felsen und schloß für einen Moment erschöpft die Augen. Sie war am Ende ihrer Kraft.
Dann schrie sie plötzlich auf vor Entsetzen, als sich starke Finger um ihr Handgelenk schlossen. Sie machte einen panischen Satz zur Seite, bis sie im Licht eines Blitzes Torwen erkannte.
"Bei allen Göttern!" schrie sie gegen den brüllenden Wind an, und ihre Knie gaben nach vor Erleichterung. "Wo warst du?"
Torwen rief etwas, das sie in all dem Lärm nicht verstand. Sie zuckte mit den Schultern und sah ihn verständnislos an, aber ihr Vater packte ohne ein weiteres Wort zu verlieren ihren Arm und zog sie mit sich. Seite an Seite kämpften sie sich durch den Wind und den tosenden Hagel.

Eine Sturmbö krallte nach Torwen und riß ihm die schwere Lanze aus der Hand. Sie wurde gegen einen Felsblock geschmettert und er mußte hilflos zusehen, wie der Schaft knirschend in zwei Teile zersplitterte. Mühsam kämpfte er sich zu der Stelle vor und hob die zerbrochene Lanze auf.
"Vater, komm ... hier!"
Trey deutete nach vorne, aber er konnte kaum etwas sehen. Erst als er praktisch direkt davor stand, erkannte er im Berghang den Eingang zu einer kleinen Höhle. Der Eingang war hoch und schmal und von verfilztem Gestrüpp überwuchert, und sie mußten sich dünn machen, um hinein zu gelangen. Die Höhle maß etwa zehn Schritte im Durchmesser und war gerade so hoch, daß sie aufrecht stehen konnten. 

Trey lehnte sich zitternd vor Kälte und Erschöpfung gegen den rauhen Fels. Ihre Kleidung triefte vor Nässe, und im Handumdrehen hatten sich um ihre Stiefel Pfützen gebildet. Eisiger Wind preßte sich heulend und pfeifend durch den schmalen Spalt und wirbelte das raschelnde Laub auf, das den Boden der Höhle bedeckte.
Einen Augenblick hielten sie völlig erschöpft inne und versuchten, wieder zu Atem zu kommen. Hier war es zwar nicht gerade gemütlich, aber sie würden es wohl bis zum Ende des Sturms aushalten können. Als Torwen die Augen wieder öffnete, bemerkte er in der hinteren Höhlenwand eine Art Durchgang.
"Sieh mal, da", machte er Trey aufmerksam. "Komm, wir wollen sehen, wohin dieser Durchgang führt – vielleicht bringt er uns an ein Plätzchen, an dem der Wind nicht so fürchterlich pfeift." Trey nickte, während sie so gut es ging versuchte, ihren Umhang auszuwringen, der sich mit Regenwasser so vollgesogen hatte, daß er schwer wie Blei wog. Torwen zog eine Pechfackel aus seinem Rucksack, dessen gefettetem Leder der Regen nicht viel ausgemacht hatte, und entzündete sie.
Die Fackel am ausgestreckten Arm vor sich haltend, tastete er sich in den schmalen Gang hinein. Seine Tochter folgte ihm, und bald wurde der Durchgang breiter und höher und endete in einem ganzen System von Höhlen, Grotten und Felsnischen. Schließlich fanden sie sich in einer Höhle wieder, die so riesig war, daß sie das gegenüberliegende Ende gar nicht sehen konnten, nicht einmal das Licht der Fackel reichte so weit. Es roch nicht sehr angenehm und außerhalb des Lichtkreises sahen sie kleine Tiere, wohl Ratten, umherhuschen - doch es war trocken und windgeschützt und sie konnten sich ausruhen.

Torwen leuchtete umher und fand schließlich eine Stelle, die bequem genug aussah, um sich dort niederzulassen. Er klemmte die Fackel zwischen die losen Steine, die den Höhlenboden bedeckten, nahm den Rucksack von den schmerzenden Schultern und ließ sich erschöpft zu Boden sinken.
Mißmutig betrachtete er die zerbrochene Lanze. Es war ihre einzige Waffe, bis auf Treys Schwert, wobei dessen Klinge – so scharf und gut gepflegt sie auch war – gegen einen ausgewachsenen Drachen wohl nichts würde ausrichten können. Torwen versuchte, mit Hilfe der restlichen Pechfackeln und einem Strick notdürftig den Schaft zu schienen, wobei ihm seine Tochter mit zweifelnden Blicken zusah.
"Meinst du, das hält?"
Torwen zuckte mit den Schultern.
Fachgerecht mochte es nicht gerade sein, doch es würde seinen Zweck erfüllen, erfüllen müssen. Und wenn nicht? Das wagte er sich gar nicht vorzustellen...

Sie vertilgten den kümmerlichen Rest der Trockenfrüchte aus Torwens Rucksack, und Trey fielen vor Müdigkeit und Erschöpfung beinahe schon die Augen zu.
"Oh, ich hoffe, wir werden ihn bald sehen, diesen großen Schwarzen", sagte sie schläfrig. "Ich bin so gespannt auf dieses Biest. Möchte wissen, wie der aussieht ... bestimmt furchterregend ... solche Zähne ..." Sie zeigte mit ausgebreiteten Armen die Länge der Zähne - so wie sie sich das zumindest vorstellte. Torwen lächelte müde. "Möchte nur wissen, von wem du deine Fantasie geerbt hast, Mädchen. Solche Zähne hat kein Drache – du solltest das Ganze vielleicht etwas ernster nehmen."
"Wir werden sehen. Morgen ...", brummte sie, doch dann hielt sie inne und lauschte. "Was war das?"
Torwen sah sie fragend an. "Was?"
"Da war ein Geräusch", flüsterte Trey beunruhigt und horchte mit schiefgelegtem Kopf in die Dunkelheit der Höhle hinter sich, doch ihr Vater winkte ab. "Sicher nur die Ratten."

Aber er lauschte. Und auch er hörte das Geräusch. Doch es klang anders, als die trippelnden Füße kleiner Nagetiere. Der alte Drachentöter kannte es.
Es war ein Atmen.

Torwen erstarrte. Eine plötzliche Furcht kroch wie eine eisige Hand sein Rückgrat hinauf.
Aus den Augenwinkeln sah er, daß auch Trey bewegungslos und mit versteinertem Gesicht dasaß, alle Sinne nach hinten in die Dunkelheit gerichtet.
"Was ist das, Vater?" zischte sie kaum hörbar hinter zusammengepreßten Lippen.
Er wagte kaum, sich umzudrehen. Plötzlich fühlte er sich schutzlos inmitten dieser riesigen, schwarzen Höhle und das Licht der Fackel erschien ihm geradezu winzig. Das Regenwasser, das aus seinem Haar und dem grauen Bart rann und auf die nackten Felsen tropfte, verursachte ein Geräusch, das sich in seinen Ohren wie Donnerschläge anhörte.
"Der Drache ..."
Sie lauschten beide.
Hinter ihrem Rücken rauher Atem. Leises Schnauben.
Torwen nahm all seinen Mut zusammen und erhob sich langsam, während er mit der Linken nach der Fackel und mit der Rechten nach der geschienten Lanze griff, die neben ihm auf dem Felsboden lag. Trey sah unsicher zu ihm hoch.
"Was nun? Was tun wir?"
Ihr Vater antwortete nicht. Er hörte ihre Frage gar nicht, so konzentriert war er auf dieses Geräusch. Er drehte sich um, ging langsam voran, Schritt für Schritt. Der Lichtkreis seiner Fackel schob sich Elle um Elle weiter in die Dunkelheit hinein. Kroch über Steine, erfaßte eine schwarze, schuppige Klaue. 
Hinter sich hörte Torwen, wie seine Tochter entsetzt die Luft einsog bei diesem Anblick.
Zitternd hielt er inne, wartete darauf, daß sich die Klaue bewegen würde.
Nichts geschah.
In seinem Rücken spürte er die Nähe Treys, die lautlos herangekommen war. Mit einem leisen Klirren zog sie ihr Schwert aus der Scheide.
Torwen ging weiter, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend.
Mit bebenden Fingern hob er die Fackel, so daß der Lichtkreis das Ungetüm vollends erfaßte.
Die Augen des Drachentöters weiteten sich.
Unzählige dieser Bestien hatte er in seinem langen Leben schon zu Gesicht bekommen, große und kleinere, geflügelte, feuerspeiende, junge, alte und sehr alte ... doch dieser hier sah aus, als hätte er schon tausende von Jahren auf dem Buckel.
Der Drache lag halb auf der Seite, die Augen geschlossen. Eine zerbrochene Lanze ragte aus einer von schwärzlichem Blut verkrusteten Wunde in seiner Brust und sein Atem ging leise und röchelnd. Er regte sich kaum, nur sein riesiger Leib hob und senkte sich kaum sichtbar mit jedem Atemzug.
Ein Laut des Erstaunens entrang sich Treys Kehle, als sie den Drachen betrachtete.
"Bei allen Göttern", seufzte sie.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine erbärmlichere Kreatur gesehen. Der Körper des Drachen war knochig und ausgemergelt, ja beinahe dürr, die schwarzen Schuppen glanzlos und stumpf, teilweise ausgefallen, andere wiederum abgebrochen, gesplittert. Die ledrige Haut an seinem Hals war von unzähligen, tiefen Narben übersät. Zerfetzte Schwingen hingen kraftlos an seiner Seite. Uralt sah er aus, uralt und schwach. Eine arme, bemitleidenswerte Kreatur, die ihren Todeskampf ausfocht. 
Trey war enttäuscht. Bitter enttäuscht.
"Das soll nun ein stolzer Drache sein?" fuhr sie auf und in ihrer Stimme klang Wut und Zorn. "Der ist es ja nicht einmal mehr wert, daß man sein Schwert gegen ihn erhebt."
Torwen starrte den jämmerlich zugerichteten, schuppigen Körper an. Mitleid regte sich in seinem Herz - Mitleid mit einem Wesen, das seinen letzten Kampf zu bestehen hatte.
"Oh, warum bin ich nur mit auf diesen verdammten Berg gekommen"; knurrte Trey ungehalten. "Ich dachte, wir hätten hier einen Kampf auszufechten, und was finden wir? Einen lächerlichen, altersschwachen Haufen vergammelter Schuppen!"
"Schweig still", fuhr Torwen sie zornfunkelnd an. "Siehst du nicht, daß es seine letzten Stunden sind?"
Es ging ihm nahe, das Tier so zu sehen - vielleicht weil er wußte, daß auch seine Zeit bald gekommen war. Aber Trey war außer sich. Wütend steckte sie ihr Schwert zurück und baute sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten vor ihrem Vater auf.
"War das auch so einer, gegen den du gekämpft hast? Du bist mir ein schöner Held ... mein Vater, der Drachentöter!" Ihre Stimme troff vor Hohn.
Der Drache regte sich leise. Pfeifend entwich der Atem seinen Nüstern.
Torwen fuhr herum.
Und auch Trey starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen zu ihm hinüber und hatte schon die nächste Gemeinheit auf den Lippen, als der Geschuppte die Augen öffnete.
Torwens Lanze schepperte hohl auf dem Fels, als er sie fallen ließ.
Der Drache sah sie an.

Goldene Augen, in denen feurige Funken tanzten, hielten die ihren fest und schienen bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken, als bestünde sie aus Glas.
Vergessen waren die glanzlosen Schuppen, die kraftlosen Flügel.
Trey schaute in golden leuchtende Seen, in denen tausende und abertausende Jahre Weisheit und Wissen lagen, das Schimmern einer Magie, die älter war als die Welt.
Wie ein eiserner Ring legte sich des Drachen Blick um ihr Herz und zwang sie in die Knie, wie gebannt war sie von diamantengleich funkelnden Augen.
Voll Scham neigte sie ihr Haupt, voll Ehrfurcht vor einer unvergleichlichen Schönheit und Wahrheit, die älter schien als alle Zeit.
Lange verharrte sie so, bis der Drache seine Stimme erhob, ein dunkles, leises Grollen, das von den Felswänden widertönte.
"Nun tut auch, weshalb ihr heraufgekommen seid auf den Kahlen Berg", verlangte er mit brüchiger Stimme. Sein Atem rasselte dumpf die Kehle herauf.
Trey antwortete nicht. Sie kniete auf dem kalten Felsboden. Tränen liefen über ihr Gesicht, Tränen der Erkenntnis. Die Erkenntnis, daß ein Wesen sterben mußte, das so weise und herrlich und edel war, wie sie noch nie zuvor eines erblickt hatte. Ein Wesen, das alles Wissen der Welt in sich vereinte.
"Tut es", flüsterte der Drache. "Erweist mir diese Ehre. Sterben werde ich ohnehin, es ist nur noch eine Frage von Stunden, vielleicht von Minuten. Tut es, und Ihr werdet der Drachentöter sein, der Ihr sein wolltet. Ein gefeierter Held, so wie Ihr es Euch immer erträumt habt."
"Nein ..."
Verzweifelt schüttelte Trey den Kopf. 
"Doch, Ihr werdet es tun."
Der alte, müde Körper des Drachen krümmte sich in heftigem Schmerz zusammen.
"Ihr werdet es tun. Ihr werdet meine Schuppen nehmen, meine Hörner, meine Zähne, und mit diesen Trophäen werdet Ihr zurück in Euer Dorf gehen und als Helden gefeiert werden, Ihr werdet Ruhm und Ehre und unermeßlichen Reichtum erlangen - genau das, was Ihr wolltet. Genau das, weswegen Ihr hier seid, Drachentöter. Und ich werde ruhen können. Endlich ruhen." Das Gold seiner Augen verdunkelte sich, als würde sich ein Schleier darüber legen.
"Hilf ihm", sagte Torwen leise und reichte Trey die Lanze.

"Da sind sie wieder! Da sind sie!"
Eine Horde Kinder lief ihnen schon schreiend und johlend entgegen, als sie in ihr Dorf zurückkehrten.
"Habt ihr ihn besiegt?" schrien sie. "Habt ihr den Drachen getötet? Der Dorfrat wartet schon mit eurer Belohnung! Eine ganze Kiste voller Gold!"
Torwen ging schweigend weiter, während die Kinder lachend und freudig um ihn herumtanzten.
Ein kleiner Junge mit dreckigen Kleidern und strubbeligen Haaren zupfte Trey am Wams. "Habt ihr ihn denn nicht gefunden, den bösen Drachen?"
"Nein", sagte Trey leise. "Da war kein Drache."
Aber ihre Finger umklammerten fast zärtlich eine schwarze, glanzlose Schuppe.