Seit Stunden wanderten sie nun schon bergaufwärts, aber ihr
Ziel hatten sie noch immer nicht erreicht. Es dämmerte bereits, und
Torwens Befürchtungen, daß sie es vor Anbruch der Nacht nicht
schaffen würden, schienen sich langsam zu bewahrheiten.
"Wir können ebensogut gleich hier eine Rast einlegen", schlug
er vor und drehte sich nach Trey um, die erschöpft hinter ihm hertrottete.
"Die Höhle werden wir wohl nicht mehr erreichen."
Er betrachtete stirnrunzelnd die kahlen, grauen Felshänge und
den geröllübersäten Pfad, auf dem sie sich in das Gebirge
hinaufquälten. Nur Steine und Felsen und abgestorbene Bäume,
so weit das Auge reichte. In dieser Höhe gab es kaum noch Vegetation,
nur einige trostlose, graugrüne Flechten wucherten neben dem Weg und
die Bäume sahen tot und leblos aus und reckten ihre dürren Äste
wie gespenstische Skelettfinger gen Himmel.
Von Westen her blies ein kalter, scharfer Wind und trieb Regenwolken
in ihre Richtung.
Torwen blieb stehen und deutete etwas abseits des Weges auf einen
Felsüberhang, der einen natürlichen Unterstand bildete. Dort
würden sie eine Weile unterkriechen und rasten können.
"Ich glaube, das hier wäre ein guter Platz. Falls es zu regnen
anfängt, bleiben wir wenigstens trocken." Trey nickte. Ihr war alles
recht, wenn sie nur endlich die schmerzenden Beine ausstrecken konnte.
Sie waren beide zum Umfallen müde, denn die Überquerung des wild
schäumenden Flusses und der mörderische Aufstieg auf diesen trostlosen
Berg hatten bis zur Erschöpfung an ihren Kräften gezehrt.
Torwen beobachtete seine Tochter mit besorgtem Blick. Der alte Drachentöter
ahnte, daß sie am Ende ihrer Kraft war, auch wenn sie das niemals
zugegeben hätte. Den ganzen Aufstieg über war sie schweigsam
gewesen, und vor einigen Meilen war ihr Geplapper dann ganz verstummt.
Torwen kannte sie gut genug, um zu wissen, daß das kein gutes Zeichen
war. Trey war ein mutiges Mädchen, das ihrem Vater in nichts nachstand,
und als er sich vor dem Dorfrat angeboten hatte, den Drachen zu erlegen,
war sie sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte es sich nicht ausreden
lassen, ihn zu begleiten. Doch nun, da sie ihrem Ziel so nahe gekommen
waren, konnte er Angst in ihren Augen entdecken.
Torwen stapfte zu dem steinernen Überhang hoch, lehnte die schwere
Lanze gegen den Fels und brachte ihr spärliches Gepäck in der
Nische unter, dann ließen sie sich abgekämpft auf die rauhen,
kalten Steine fallen. Trey streckte ächzend die Beine von sich, während
ihr Vater seinen Rucksack nach etwas Eßbarem durchsuchte. Alles,
was er zutage förderte, war ein wenig Trockenobst. Hätten sie
Treys Rucksack nicht im Fluß verloren, hätten sie genügend
Proviant gehabt - so aber mußten sie sich mit dem begnügen,
was ihnen geblieben war. Torwen teilte die Früchte auf und reichte
seiner Tochter ihren Anteil. Schweigend kauten sie die Stücke, die
sich zäh wie Schuhleder anfühlten, und hingen ihren Gedanken
nach, während vor der Felsnische die ersten Regentropfen auf den kahlen
Steinboden klatschten.
"Was glaubst du, wie er ist, dieser Drache?" fragte Trey nach einer
Weile.
"Hmm, nach dem, was die Leute sich erzählen, muß es ein
riesiges, blutrünstiges Biest sein", erwiderte Torwen kauend. "Ein
großer Schwarzer. Drüben in Derwen soll er ganze Dörfer
in Schutt und Asche gelegt haben. Aber du weißt ja, was die Leute
reden", fügte er mit einem Blick auf Treys verschlossene Miene hinzu.
"Es sind vielleicht nur Gerüchte. Die Dörfler erzählen viel,
wenn der Tag lang ist."
Torwen wollte ihr nicht noch zusätzlich Angst einjagen. Er
wußte ja selbst nicht genau, worauf er sich eingelassen hatte, als
er so vorschnell zugestimmt hatte, hier herauf auf den Berg zu ziehen.
Wenn er den Gerüchten trauen wollte, die abends im Wirtshaus bei Met
und Wein kursierten, war der Drache, der sich hier oben auf dem kahlen
Berg eingenistet hatte, die furchterregendste Bestie, die das Land je gesehen
hatte - aber er wußte aus Erfahrung, daß die Leute meist schamlos
übertrieben.
Tatsache war, daß dieser Drache eines Tages wie aus dem Nichts
aufgetaucht war, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung. Seine Route schien
ihn aus Westen herangeführt zu haben und man erzählte, er habe
mit seinem Feueratem eine Schneise aus niedergebrannten Dörfern und
zerstörten Höfen hinterlassen. Nun hatte er sich irgendwo oben
auf der kahlen Bergkuppe niedergelassen und schien von dort aus das Land
zu terrorisieren, und es würde wohl nicht mehr
lange dauern, bis diese bösartige Kreatur ihre eigene Siedlung erreicht
hatte - mit wahrscheinlich schrecklichen Folgen für alle Einwohner.
Als der Bote aus Derwen mit der Nachricht erschienen war, hatte sich
sofort in aller Eile der Dorfrat versammelt und beratschlagt, wie man sich
gegen die Bestie schützen könne. Doch niemand hatte Erfahrung
mit Drachen oder wußte, was zu tun war, und so waren sie dann zwangsläufig
auf Torwen gekommen. Torwen, den Drachentöter.
Torwen seufzte schwer und nahm einen Schluck aus seinem Wasserschlauch.
Drachentöter ... das Wort hinterließ einen bitteren Beigeschmack,
der sich nicht hinunterspülen ließ. Viele Jahrzehnte war es
her, daß er diesen einen Drachen erlegt hatte. Mehr durch ein dummes
Mißgeschick als durch Absicht. Es war ja nicht einmal ein voll ausgewachsener
Drache gewesen, ein Halbwüchsiger noch, der ihm durch Zufall direkt
vor die Lanze gekommen war. Obwohl es schon eine Ewigkeit her zu sein schien,
erinnerte sich Torwen noch genau daran, und den Blick des sterbenden Drachen
hatte er niemals vergessen können. Anfangs hatte er noch versucht
zu widersprechen, als die Dorfbewohner ihn einen Helden und Drachentöter
hießen, aber sie ließen es sich nicht ausreden, ihn zu feiern
und hochleben zu lassen - sie wollten ihren Helden haben und ließen
ihn sich nicht wieder nehmen. Wie die Sache mit dem Drachen in Wirklichkeit
abgelaufen war, hatte niemanden interessiert, sie weigerten sich hartnäckig,
die Wahrheit zu akzeptieren. Schließlich hatte er es aufgegeben und
nur noch heimlich schmunzelnd den Legenden zugehört, die sich um seine
großartige Tat rankten. Und Torwen lebte über all die Jahre
ganz gut damit.
Nun war er alt geworden, das Haar grau und schütter und die
Knochen ein wenig müde. Sein Blick wanderte zu Trey hinüber,
die mit grübelndem Gesichtsausdruck und in offensichtlich ziemlich
düsteren Gedanken versunken die Klinge ihres Schwerts polierte. Trey,
seine Tochter war das einzige, das ihm noch geblieben war. Seine Frau war
früh gestorben und Aron, sein Sohn, war ein übler Taugenichts
gewesen, der eines Tages in die Welt hinaus gezogen und nie mehr zurückgekehrt
war. Torwen wußte nicht einmal, ob er noch lebte. Trey hatte er notgedrungen
alleine aufgezogen, und sie war durch das Fehlen der Mutter im Lauf der
Jahre mehr nach einem Jungen als nach einem Mädchen geraten - und
wild entschlossen, in die Fußstapfen ihres so unfreiwillig berühmt
gewordenen Vaters zu treten. Drachentöter wollte sie werden ... dabei
gab es kaum mehr welche von diesen einst so mächtigen Kreaturen. Nur
noch selten hörte man von diesen geschuppten Wesen, die langsam aus
ihrer Welt zu verschwinden schienen. Pech, daß ausgerechnet hier
wieder einer auftauchen mußte.
Als der Rat Torwen gebeten hatte, den Drachen zu töten, der
ihr Dorf bedrohte, hatte er erst abgelehnt. Sie boten ihm eine hohe Belohnung,
falls es ihm gelingen sollte, den Drachen zu besiegen - einen Betrag, der
ihm einen schönen Lebensabend und seiner Tochter noch genügend
Reichtum beschert hätte, um ein angenehmes Leben zu führen. Doch
zu lange war es her, seit er zum letzten Mal die Lanze gegen einen Feind
oder gar einen Drachen ins Feld geführt hatte, doch die Dörfler
- und allen voran seine eigene Tochter Trey - hatten ihn so lange gelöchert,
bis
er sich schließlich in seine Hütte zurückgezogen hatte,
um gründlich darüber nachzudenken, wie er behauptete.
Dabei war ihm das Ergebnis seiner Überlegungen eigentlich schon
von vorneherein klar und er wußte, daß er gar nicht darum herum
kommen würde - allein schon seine Tochter hätte ihm vermutlich
bis an sein Lebensende vorgehalten, wie feige er wäre. Also hatte
er schließlich eingewilligt.
Und nun saß er hier an einem kahlen Berghang in einer offenen
Höhle, deren feuchte, zugige Kälte seine alten Knochen malträtierte,
auf halbem Weg zu dem Hort dieses Untiers, das es zu besiegen galt - und
hatte keine Ahnung, wie er dies bewerkstelligen sollte. Was, wenn der Drache
tatsächlich ein so riesiges, hinterhältiges Vieh war, wie die
Leute behaupteten?
Nachdenklich ruhten seine Augen auf Trey. Ob ihm selbst etwas zustoßen
würde, war Torwen gleichgültig, aber seiner Tochter ... der Gedanke
behagte ihm gar nicht.
"Trey, hör mal, willst du nicht lieber umkehren? Ich würde
das sicher auch ohne dich ..."
"Niemals!" fiel sie ihm ins Wort und Torwen fing ihren empörten,
ja beinahe zornigen Blick auf. "Glaubst du etwa, ich würde dich allein
lassen? Und glaubst du, ich würde mir diesen Drachen entgehen lassen?
Du weißt genau, daß ich schon lange darauf warte, endlich einen
zu Gesicht zu bekommen, die Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen. Ich
werde mitkommen!"
"Ach, Trey", seufzte Torwen, "es kann sehr gefährlich werden.
Ich gebe auch nichts auf das Geschwätz der Dörfler, aber wenn
das Biest nun wirklich so riesig ist, wie sie sagen ... mit so einem Drachen
ist nicht zu spaßen. Das ist etwas anderes, als im Schaukampf gegen
Wickleys Jungs zu gewinnen."
"Ich weiß schon, was ich tue!" beharrte seine Tochter. "Mit
Drachen kenne ich mich aus, du hast schließlich oft genug davon erzählt.
Und ich will ein ebenso berühmter Drachentöter werden wie du.
Du wirst sehen; Vater, ich kann es genauso schaffen, diese Kreatur zu besiegen."
"Das sind Geschichten - die Wirklichkeit sieht ganz anders aus.
Warte, bis du ihn siehst ..."
"Ach, was", brummte sie unmutig. "Komm, wir ziehen weiter. Genug
gerastet."
Sie wanderten noch eine ganze Weile weiter, hintereinander, in verbissenem
Schweigen versunken. Der starke Wind, der ihnen von Westen her ins Gesicht
geweht hatte, war mittlerweile verstummt. Kein Lüftchen regte sich,
kein Regentropfen fiel, aber die Luft war auf einmal stickig und legte
sich wie eine drückende Last auf ihre Lungen. Torwen musterte beunruhigt
die Wolkenberge, die sich über ihnen am Abendhimmel zusammenballten.
"Sieht nach einem Gewitter aus", murmelte er. Torwen hatte die Worte
kaum ausgesprochen, da zuckte bereits der erste Blitz über den Himmel.
"Wir sollten uns langsam nach einem Lagerplatz umsehen", entgegnete
Trey und beschleunigte ihre Schritte. Torwen eilte ihr nach, während
sie schon das erste Donnergrollen hören konnten.
Ein heftiger Windstoß ließ die toten Äste der Bäume
erzittern und fegte den Berghang herauf. Rasend schnell kamen die Gewitterwolken
näher, und sie wirkten so dunkel und massig, daß Trey beinahe
glaubte, sie berühren zu können, wenn sie nur die Hand gen Himmel
strecken würde.
Ihr Vater machte ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, verließ den
ausgetretenen Pfad und kämpfte sich quer über das lose Geröll
den steilen Hang hinauf, indem er seine Drachenlanze als Stab benutzte.
Hier würden sie leichter einen Unterschlupf finden können - überall
gab es vereinzelte Felsgruppen und Ritzen und Spalten dort am Berg, und
Torwen hoffte, eine Höhle oder etwas ähnliches zu entdecken,
in der sie vor dem Unwetter Schutz suchen konnten.
Die ersten dicken Regentropfen platschten herunter. Der Wind wurde
stärker und stärker, fuhr durch die Äste und zerrte und
rüttelte an den Baumkronen.
Der alte Drachentöter zog seinen schweren, wollenen Umhang
fester um sich, stapfte verbissen voran und hielt nach einem Unterschlupf
Ausschau, während Trey ihm in einigem Abstand folgte.
Binnen Minuten wurde es bitterkalt und der Wind blies so stark,
daß sich die Bäume bogen und ächzten. Und dann öffnete
mit einem Mal der Himmel seine Schleusen.
Sintflutartige Regenfälle prasselten auf sie nieder, und bevor
sie wußten, wie ihnen geschah, waren sie bis auf die Haut durchnäßt.
Trey begann zu laufen. Die Tropfen fielen in solch dichten Schauern, daß
sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Mühsam kämpfte sie
sich vorwärts und versuchte, dem kräftigen Schritt ihres Vaters
zu folgen, während der Regen in ihr Gesicht peitschte und der Orkan
an ihren Haaren zerrte. Der Donner war ohrenbetäubend und ließ
den Boden unter den Stiefelsohlen erzittern. Blitze fegten in ununterbrochener
Folge über den tiefschwarzen Himmel.
Sie verlor völlig die Orientierung. Die Wasserschwaden fielen
wie eine undurchdringliche Wand, und sie konnte im grellweißen Licht
der Blitze kaum die Baumstämme und Felsbrocken vor sich erkennen.
Trey kämpfte gegen den Wind und drehte sich suchend nach Torwen
um, konnte ihn aber nicht entdecken.
"Vater!" schrie sie mit aller Macht gegen den tosenden Regen an.
"Vater, wo bist du?"
Sie drehte sich um ihre eigene Achse, aber alles was sie sehen konnte,
waren massive Wassermassen, die vom Himmel stürzten. Die Tropfen wurden
zu eisigen Hagelkörnern, die ihr schmerzhaft ins Gesicht und auf die
Arme prasselten.
"Torwen!" Verzweifelt brüllte Trey wieder und wieder seinen
Namen, während sie die Arme schützend über ihren Kopf legte,
um den Hagel abzuhalten. Grimmig stapfte sie weiter, stemmte sich mit aller
Kraft gegen den heulenden Wind und ihre Angst, und betete, daß sie
ihren Vater wiederfinden würde, während der Sturm an Gewalt und
Lautstärke noch zunahm. Dürres Holz und abgebrochene Äste
sausten an ihrem Gesicht vorbei.
Ein ohrenbetäubendes Krachen schien plötzlich Treys Trommelfell
zerreißen zu wollen und sie zuckte erschrocken zusammen, als zu ihrer
Linken ein Blitz in einen der toten Bäume einschlug. Der knorrige
Stamm explodierte in tausend Splitter, die ihr um die Ohren flogen, und
das Licht war so grell, daß sie den Arm vor ihre Augen riß,
um sich vor der blendenden Helligkeit zu schützen. "Vater, wo bist
du?" brüllte sie verzweifelt gegen den Sturm, aber niemand antwortete
ihr.
Ausgepumpt und benommen lehnte sich Trey an einen Felsen und schloß
für einen Moment erschöpft die Augen. Sie war am Ende ihrer Kraft.
Dann schrie sie plötzlich auf vor Entsetzen, als sich starke
Finger um ihr Handgelenk schlossen. Sie machte einen panischen Satz zur
Seite, bis sie im Licht eines Blitzes Torwen erkannte.
"Bei allen Göttern!" schrie sie gegen den brüllenden Wind
an, und ihre Knie gaben nach vor Erleichterung. "Wo warst du?"
Torwen rief etwas, das sie in all dem Lärm nicht verstand.
Sie zuckte mit den Schultern und sah ihn verständnislos an, aber ihr
Vater packte ohne ein weiteres Wort zu verlieren ihren Arm und zog sie
mit sich. Seite an Seite kämpften sie sich durch den Wind und den
tosenden Hagel.
Eine Sturmbö krallte nach Torwen und riß ihm die schwere
Lanze aus der Hand. Sie wurde gegen einen Felsblock geschmettert und er
mußte hilflos zusehen, wie der Schaft knirschend in zwei Teile zersplitterte.
Mühsam kämpfte er sich zu der Stelle vor und hob die zerbrochene
Lanze auf.
"Vater, komm ... hier!"
Trey deutete nach vorne, aber er konnte kaum etwas sehen. Erst als
er praktisch direkt davor stand, erkannte er im Berghang den Eingang zu
einer kleinen Höhle. Der Eingang war hoch und schmal und von verfilztem
Gestrüpp überwuchert, und sie mußten sich dünn machen,
um hinein zu gelangen. Die Höhle maß etwa zehn Schritte im Durchmesser
und war gerade so hoch, daß sie aufrecht stehen konnten.
Trey lehnte sich zitternd vor Kälte und Erschöpfung gegen
den rauhen Fels. Ihre Kleidung triefte vor Nässe, und im Handumdrehen
hatten sich um ihre Stiefel Pfützen gebildet. Eisiger Wind preßte
sich heulend und pfeifend durch den schmalen Spalt und wirbelte das raschelnde
Laub auf, das den Boden der Höhle bedeckte.
Einen Augenblick hielten sie völlig erschöpft inne und
versuchten, wieder zu Atem zu kommen. Hier war es zwar nicht gerade gemütlich,
aber sie würden es wohl bis zum Ende des Sturms aushalten können.
Als Torwen die Augen wieder öffnete, bemerkte er in der hinteren Höhlenwand
eine Art Durchgang.
"Sieh mal, da", machte er Trey aufmerksam. "Komm, wir wollen sehen,
wohin dieser Durchgang führt – vielleicht bringt er uns an ein Plätzchen,
an dem der Wind nicht so fürchterlich pfeift." Trey nickte, während
sie so gut es ging versuchte, ihren Umhang auszuwringen, der sich mit Regenwasser
so vollgesogen hatte, daß er schwer wie Blei wog. Torwen zog eine
Pechfackel aus seinem Rucksack, dessen gefettetem Leder der Regen nicht
viel ausgemacht hatte, und entzündete sie.
Die Fackel am ausgestreckten Arm vor sich haltend, tastete er sich
in den schmalen Gang hinein. Seine Tochter folgte ihm, und bald wurde der
Durchgang breiter und höher und endete in einem ganzen System von
Höhlen, Grotten und Felsnischen. Schließlich fanden sie sich
in einer Höhle wieder, die so riesig war, daß sie das gegenüberliegende
Ende gar nicht sehen konnten, nicht einmal das Licht der Fackel reichte
so weit. Es roch nicht sehr angenehm und außerhalb des Lichtkreises
sahen sie kleine Tiere, wohl Ratten, umherhuschen - doch es war trocken
und windgeschützt und sie konnten sich ausruhen.
Torwen leuchtete umher und fand schließlich eine Stelle, die
bequem genug aussah, um sich dort niederzulassen. Er klemmte die Fackel
zwischen die losen Steine, die den Höhlenboden bedeckten, nahm den
Rucksack von den schmerzenden Schultern und ließ sich erschöpft
zu Boden sinken.
Mißmutig betrachtete er die zerbrochene Lanze. Es war ihre
einzige Waffe, bis auf Treys Schwert, wobei dessen Klinge – so scharf und
gut gepflegt sie auch war – gegen einen ausgewachsenen Drachen wohl nichts
würde ausrichten können. Torwen versuchte, mit Hilfe der restlichen
Pechfackeln und einem Strick notdürftig den Schaft zu schienen, wobei
ihm seine Tochter mit zweifelnden Blicken zusah.
"Meinst du, das hält?"
Torwen zuckte mit den Schultern.
Fachgerecht mochte es nicht gerade sein, doch
es würde seinen Zweck erfüllen, erfüllen müssen.
Und wenn nicht? Das wagte er sich gar nicht vorzustellen...
Sie vertilgten den kümmerlichen Rest der Trockenfrüchte
aus Torwens Rucksack, und Trey fielen vor Müdigkeit und Erschöpfung
beinahe schon die Augen zu.
"Oh, ich hoffe, wir werden ihn bald sehen, diesen großen Schwarzen",
sagte sie schläfrig. "Ich bin so gespannt auf dieses Biest. Möchte
wissen, wie der aussieht ... bestimmt furchterregend ... solche Zähne
..." Sie zeigte mit ausgebreiteten Armen die Länge der Zähne
- so wie sie sich das zumindest vorstellte. Torwen lächelte müde.
"Möchte nur wissen, von wem du deine Fantasie geerbt hast, Mädchen.
Solche Zähne hat kein Drache – du solltest das Ganze vielleicht etwas
ernster nehmen."
"Wir werden sehen. Morgen ...", brummte sie, doch dann hielt sie
inne und lauschte. "Was war das?"
Torwen sah sie fragend an. "Was?"
"Da war ein Geräusch", flüsterte Trey beunruhigt und horchte
mit schiefgelegtem Kopf in die Dunkelheit der Höhle hinter sich, doch
ihr Vater winkte ab. "Sicher nur die Ratten."
Aber er lauschte. Und auch er hörte das Geräusch. Doch
es klang anders, als die trippelnden Füße kleiner Nagetiere.
Der alte Drachentöter kannte es.
Es war ein Atmen.
Torwen erstarrte. Eine plötzliche Furcht kroch wie eine eisige
Hand sein Rückgrat hinauf.
Aus den Augenwinkeln sah er, daß auch Trey bewegungslos und
mit versteinertem Gesicht dasaß, alle Sinne nach hinten in die Dunkelheit
gerichtet.
"Was ist das, Vater?" zischte sie kaum hörbar hinter zusammengepreßten
Lippen.
Er wagte kaum, sich umzudrehen. Plötzlich fühlte er sich
schutzlos inmitten dieser riesigen, schwarzen Höhle und das Licht
der Fackel erschien ihm geradezu winzig. Das Regenwasser, das aus seinem
Haar und dem grauen Bart rann und auf die nackten Felsen tropfte, verursachte
ein Geräusch, das sich in seinen Ohren wie Donnerschläge anhörte.
"Der Drache ..."
Sie lauschten beide.
Hinter ihrem Rücken rauher Atem. Leises Schnauben.
Torwen nahm all seinen Mut zusammen und erhob sich langsam, während
er mit der Linken nach der Fackel und mit der Rechten nach der geschienten
Lanze griff, die neben ihm auf dem Felsboden lag. Trey sah unsicher zu
ihm hoch.
"Was nun? Was tun wir?"
Ihr Vater antwortete nicht. Er hörte ihre Frage gar nicht,
so konzentriert war er auf dieses Geräusch. Er drehte sich um, ging
langsam voran, Schritt für Schritt. Der Lichtkreis seiner Fackel schob
sich Elle um Elle weiter in die Dunkelheit hinein. Kroch über Steine,
erfaßte eine schwarze, schuppige Klaue.
Hinter sich hörte Torwen, wie seine Tochter entsetzt die Luft
einsog bei diesem Anblick.
Zitternd hielt er inne, wartete darauf, daß sich die Klaue
bewegen würde.
Nichts geschah.
In seinem Rücken spürte er die Nähe Treys, die lautlos
herangekommen war. Mit einem leisen Klirren zog sie ihr Schwert aus der
Scheide.
Torwen ging weiter, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend.
Mit bebenden Fingern hob er die Fackel, so daß der Lichtkreis
das Ungetüm vollends erfaßte.
Die Augen des Drachentöters weiteten sich.
Unzählige dieser Bestien hatte er in seinem langen Leben schon
zu Gesicht bekommen, große und kleinere, geflügelte, feuerspeiende,
junge, alte und sehr alte ... doch dieser hier sah aus, als hätte
er schon tausende von Jahren auf dem Buckel.
Der Drache lag halb auf der Seite, die Augen geschlossen. Eine zerbrochene
Lanze ragte aus einer von schwärzlichem Blut verkrusteten Wunde in
seiner Brust und sein Atem ging leise und röchelnd. Er regte sich
kaum, nur sein riesiger Leib hob und senkte sich kaum sichtbar mit jedem
Atemzug.
Ein Laut des Erstaunens entrang sich Treys Kehle, als sie den Drachen
betrachtete.
"Bei allen Göttern", seufzte sie.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine erbärmlichere Kreatur
gesehen. Der Körper des Drachen war knochig und ausgemergelt, ja beinahe
dürr, die schwarzen Schuppen glanzlos und stumpf, teilweise ausgefallen,
andere wiederum abgebrochen, gesplittert. Die ledrige Haut an seinem Hals
war von unzähligen, tiefen Narben übersät. Zerfetzte Schwingen
hingen kraftlos an seiner Seite. Uralt sah er aus, uralt und schwach. Eine
arme, bemitleidenswerte Kreatur, die ihren Todeskampf ausfocht.
Trey war enttäuscht. Bitter enttäuscht.
"Das soll nun ein stolzer Drache sein?" fuhr sie auf und in ihrer
Stimme klang Wut und Zorn. "Der ist es ja nicht einmal mehr wert, daß
man sein Schwert gegen ihn erhebt."
Torwen starrte den jämmerlich zugerichteten, schuppigen Körper
an. Mitleid regte sich in seinem Herz - Mitleid mit einem Wesen, das seinen
letzten Kampf zu bestehen hatte.
"Oh, warum bin ich nur mit auf diesen verdammten Berg gekommen";
knurrte Trey ungehalten. "Ich dachte, wir hätten hier einen Kampf
auszufechten, und was finden wir? Einen lächerlichen, altersschwachen
Haufen vergammelter Schuppen!"
"Schweig still", fuhr Torwen sie zornfunkelnd an. "Siehst du nicht,
daß es seine letzten Stunden sind?"
Es ging ihm nahe, das Tier so zu sehen - vielleicht weil er wußte,
daß auch seine Zeit bald gekommen war. Aber Trey war außer
sich. Wütend steckte sie ihr Schwert zurück und baute sich mit
in die Hüften gestemmten Fäusten vor ihrem Vater auf.
"War das auch so einer, gegen den du gekämpft hast? Du bist
mir ein schöner Held ... mein Vater, der Drachentöter!" Ihre
Stimme troff vor Hohn.
Der Drache regte sich leise. Pfeifend entwich der Atem seinen Nüstern.
Torwen fuhr herum.
Und auch Trey starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen zu ihm hinüber
und hatte schon die nächste Gemeinheit auf den Lippen, als der Geschuppte
die Augen öffnete.
Torwens Lanze schepperte hohl auf dem Fels, als er sie fallen ließ.
Der Drache sah sie an.
Goldene Augen, in denen feurige Funken tanzten, hielten die ihren
fest und schienen bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken, als bestünde
sie aus Glas.
Vergessen waren die glanzlosen Schuppen, die kraftlosen Flügel.
Trey schaute in golden leuchtende Seen, in denen tausende und abertausende
Jahre Weisheit und Wissen lagen, das Schimmern einer Magie, die älter
war als die Welt.
Wie ein eiserner Ring legte sich des Drachen Blick um ihr Herz und
zwang sie in die Knie, wie gebannt war sie von diamantengleich funkelnden
Augen.
Voll Scham neigte sie ihr Haupt, voll Ehrfurcht vor einer unvergleichlichen
Schönheit und Wahrheit, die älter schien als alle Zeit.
Lange verharrte sie so, bis der Drache seine Stimme erhob, ein dunkles,
leises Grollen, das von den Felswänden widertönte.
"Nun tut auch, weshalb ihr heraufgekommen seid auf den Kahlen Berg",
verlangte er mit brüchiger Stimme. Sein Atem rasselte dumpf die Kehle
herauf.
Trey antwortete nicht. Sie kniete auf dem kalten Felsboden. Tränen
liefen über ihr Gesicht, Tränen der Erkenntnis. Die Erkenntnis,
daß ein Wesen sterben mußte, das so weise und herrlich und
edel war, wie sie noch nie zuvor eines erblickt hatte. Ein Wesen, das alles
Wissen der Welt in sich vereinte.
"Tut es", flüsterte der Drache. "Erweist mir diese Ehre. Sterben
werde ich ohnehin, es ist nur noch eine Frage von Stunden, vielleicht von
Minuten. Tut es, und Ihr werdet der Drachentöter sein, der Ihr sein
wolltet. Ein gefeierter Held, so wie Ihr es Euch immer erträumt habt."
"Nein ..."
Verzweifelt schüttelte Trey den Kopf.
"Doch, Ihr werdet es tun."
Der alte, müde Körper des Drachen krümmte sich in
heftigem Schmerz zusammen.
"Ihr werdet es tun. Ihr werdet meine Schuppen nehmen, meine Hörner,
meine Zähne, und mit diesen Trophäen werdet Ihr zurück in
Euer Dorf gehen und als Helden gefeiert werden, Ihr werdet Ruhm und Ehre
und unermeßlichen Reichtum erlangen - genau das, was Ihr wolltet.
Genau das, weswegen Ihr hier seid, Drachentöter. Und ich werde ruhen
können. Endlich ruhen." Das Gold seiner Augen verdunkelte sich, als
würde sich ein Schleier darüber legen.
"Hilf ihm", sagte Torwen leise und reichte Trey die Lanze.
"Da sind sie wieder! Da sind sie!"
Eine Horde Kinder lief ihnen schon schreiend und johlend entgegen,
als sie in ihr Dorf zurückkehrten.
"Habt ihr ihn besiegt?" schrien sie. "Habt ihr den Drachen getötet?
Der Dorfrat wartet schon mit eurer Belohnung! Eine ganze Kiste voller Gold!"
Torwen ging schweigend weiter, während die Kinder lachend und
freudig um ihn herumtanzten.
Ein kleiner Junge mit dreckigen Kleidern und strubbeligen Haaren
zupfte Trey am Wams. "Habt ihr ihn denn nicht gefunden, den bösen
Drachen?"
"Nein", sagte Trey leise. "Da war kein Drache."
Aber ihre Finger umklammerten fast zärtlich eine schwarze,
glanzlose Schuppe.
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