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Der Fluss der Zeit von Philip Egge

Die Sonne erwärmte noch die letzten Flecken der geernteten Wiesen und Felder und die Kinder spielten fröhlich verstecken oder andere Streiche. Der Abend war sehr windstill gewesen, und was das bedeutete wusste Nìronandalan nur zu gut.
Es würde gewittern. Endlich, nach den viel zu warmen und trockenen Wochen der letzten Zeit würde endlich Regen kommen. Und mit ihm die mächtigen Gebrüder Blitz und Donner. Der Regen, der Donner oder der Wind interessierten den Magier aber nicht im geringsten. Einzig und allein die Blitze in der Nacht würde in dem alten Mann etwas ähnliches wie Gefühle hervorbringen.
Ein höhnisches Grinsen kam, aus reiner Gewohnheit, über seine Lippen als er sich an seine Gefühle erinnerte. Und an den Tag als sie ihm genommen wurden.
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Der Wind blies kalt von Nordosten und Nìronandalan war nicht der einzige, der trotz schwitziger Hände am ganzen Leib zitterte. Dabei war es doch so unnötig, nervös zu sein. Der junge Mann, in seine weißen Roben eingemummt, war sich sicher, dass keiner der Konkurrenten auch nur im Ansatz an seine Macht herankam. Sieben Jahre hatte er nun schon bei den Priestern und Mönchen verbracht, hatte jeden Spruch, jeden Handgriff und jeden Atmzug bis zur Perfektion geübt. Doch dann wollte der Meister ihm nichts Neues mehr beibringen. "Mein werter Lehrling," begann der alte Mann mit Vollbart, "mehr darf ich dir noch nicht zeigen. Ein solches Wissen könnte dich zu sehr in Versuchung führen. Aber wenn du erst die Prüfungen in zwei Wintern gemeistert hast, werde ich dir alles lehren was ich weiß." Der Schüler gab Verständnis und Reue wegen der Frage vor. Schließlich zog er sich in seine Hütte zurück, um gründlich darüber nachzudenken, wie er behauptete. Doch in dem kleinen Raum, wie er jedem Lehrling zur Verfügung gestellt wurde, begann etwas in dem jungen Herzen zu wachsen was da nie hätte sein dürfen. Hass!
Die Macht des Meisters reichte ihm nicht aus. Er wollte mehr, er wollte alles. "Ohne Rücksicht auf Verluste werde ich alles tun, um es diesem alten Narren zu zeigen." Schwor er sich zu der Stunde, als der Tag der Nacht wich.
Und so geschah es. An jedem Abend, während die anderen Lehrlinge und deren Meister dem stummen Studieren in der Bibliothek nachgingen, zog sich Nìronandalan in seine Hütte zurück, versperrte Tür und Zimmer mit Sprüchen, die er neulich von einer anderen Meisterin aufgeschnappt hatte, und widmete sich seinen eigenen Studien. Ohne Bücher, Geräte oder anderen Hilfsmittel. Die Grenzen, die für alle, und zwar wirklich alle, gedacht waren, überschritt er nach einigen Monaten. Raum oder Zeit waren für den noch unerfahrenen aber sehr talentierten Schüler nur eine unwichtige Begleiterscheinung des Lebens. Monster und Fabelwesen von unglaublicher Schönheit und Entsetzen beschwor er in seinem kleinem Domizil, oder reiste selbst durch die Zeit oder die Dimensionen.
Doch da er all diese Experimente ohne Anweisungen vollzog, gingen auch sehr viele davon nicht so erfolgreich aus. Unzählige Male kam er von Brandwunden und Knochenbrüchen entstellt zu den Unterrichtsstunden. Doch keinem fiel es durch einen sehr aufwendigen Schutzzauber auf.

Und nun war der Moment gekommen, an dem er sein Können beweisen konnte. Auf diese paar Stunden hatte er sich so lange vorbereitet. Wie ironisch das klingt! dachte er, als er sich an die Reisen durch die Zeit erinnerte. Als er sich an wunderbare Orte befand, noch lange bevor die Götter die Welt erschufen, und noch lange nach ihrem Untergang. "Da interessiert mich doch nicht, wie viel Zeit ich hier verschwende." sagte er aus Versehen flüsternd und bemerkte den verunsicherten Blick des Halb-Elfen neben ihm.
Sie hatten sich alle in einem Rechteck aufstellen müssen und warteten nun darauf, dass der Erzmagier dieses Zeitalters, so lautete sein offizieller Titel, die Tests beginnen ließ. Gerade in dem Moment als der junge Mensch darüber nachdachte, wieviel seines Wissens er wohl preisgeben wollte, betrat ein Mann in braunen Roben das Podest vor den Lehrlingen. Die braunen Roben sollten seine Unabhängigkeit und die unglaubliche Zeit, die der Mensch schon mit der Magie verbrachte, würdigen. Doch Nìronandalan dachte nur grinsend darüber nach, ihn zu den anderen Bäumen um ihn herum zu stellen. Denn dort befanden sie sich. Mitten in einem leblosen uralten Wald, auf dessen einziger Lichtung dieses Podest stand.

"Unser Nachwuchs!" begann der Erzmagier mit seiner tiefen, bedachten Stimme. "Der wollt ihr werden. Gebt euer Bestes und vertraut nichts und niemandem für die Zeit der Prüfung, nicht einmal euch selbt. Vertraut nur der Magie, und ihr werdet lebendig wieder an dieser Lichtung stehen."
Und auf einmal war alles weg. Nur Dunkelheit und Einsamkeit. Aber da, hinter ihm, da war doch was. Dieser Duft, diese Geräusche, diese Häuser. Dort, hinter dem Hügel, auf dem das braune Kaninchen saß, war etwas. Und was wusste er genau. Sein Heimatdorf Wiltorca. Hier war er nun seit dem beginn der Magierlehre nicht mehr gewesen und hatte sich oft danach gesehnt. Einzig und allein auf den Reisen der Zeit hatte er diesen Ort besucht. Nìronandalan ging also auf den Hügel zu. Nach wenigen Minuten erreichte er ihn und sah sich voll Glück um. Dabei bemerkte er jedoch nicht die Person in den schwarzen, offensichtlich angebrannten Roben, die direkt neben ihm stand. "Ein netter Ort, nicht wahr?" sagte die Person, von dem man nichts sehen konnte ausser den Roben. Aber in dieser war etwas, das ungewöhnlich war. Eine solche... Leere. Kein Ausdruck, keine Gefühle oder Betonungen. Das einzige, was von dieser Person ausging, war eine unfassbare Aura der Macht. "Du bist doch ein wahrer Magus. Also für Menschenverhältnisse wohl auch intelligent." redete er weiter, was aber mehr wirkte, als spreche er mit sich selber statt mit dem jungen Zauberer in weißen Roben. "Also schlage ich dir einen Handel vor. Du darfst deine Macht und all dein Wissen behalten. Du darfst deine Erinnerungen und dein Leben behalten, und auch deine Freiheit sei dir gewährt. Nichts werde ich dir nehmen, wenn du mir dafür etwas gibst." Verwirrt versuchte der junge Mann ein Gesicht unter der Kapuze auszumachen. Allerdings ohne Erfolg. Nach dieser kurzen Suche versuchte er, die Kontrolle über sich selber wieder zu finden. "Soll das ein Witz sein?" fragte Nìronandalan, der dachte, die Erzmagier wollten einen Scherz mit ihm treiben. Er konnte ja nicht wissen, dass nicht seine Prüfer ihn an diesen Ort geschickt hatten. Er konnte ja nicht wissen, dass das alles real war.

Aber die einzige Antwort, die die große vermummte Gestalt von sich gab, war ein Ärmel der Kutten, der sich hob und langsam auf den Magen des sich sicher fühlenden Magiers zu bewegte. Doch als die Hand immer näher kam, faltete Nìronandalan die Wort des Schutzzaubers so schnell in seinen Gedanken, dass er schon wirkte bevor, die Spitze des Ärmels ihn berührte. Aber dann dieser Schmerz! Diese unglaublichen Qualen und Leiden, als der junge Mann fühlte, wie sein Herz stehen blieb. Nur um kurz darauf wieder das schmerzhaft heiße Blut erneut durch die Adern zu beförden. Nur durch seine Konzentration, die ans Übermenschlich grenzte, konnte er bei Bewusstsein bleiben. So schnell der Schmerz jedoch kam, ging er auch wieder. Und der dunkle Gesprächspartner des Magiers sah aus, als er hätte er sich seit Jahrhunderten nicht  bewegt. "Gut... was wi... willst du von mir?" keuchte der Zauberlehrlig hervor, während er sich durch einige Zauber selbst regenerierte. "Das Dorf." sagte diese hohle Stimme so gefühllos wie die Male zuvor. "Das Dorf und alle diese Leben. All ihren Besitz und alles was sie je erschaffen haben."

"Nimm es dir." sagte Nìronandalan als er wieder auf den Füßen stand. "Du kannst sie alle haben. Nimm dir, was du willst, aber warum fragst du mich überhaupt?" sprach er weiter, während er sich die seltsam verbrannte Stelle seiner Roben berührte. Doch die Gestalt regte sich nicht. Sie stand nur stumm da, als hinter dem Hügel riesige Wolkenflächen am Himmel auftauchten, die so schwarz waren wie der Fremde selber. Scheinbar genau über dessen Kopf blieb die dunkle, unheilverkündende Wolkendecke stehen und rührte sich nicht mehr. Dann ging der große Mann an Nìronandalan vorbei und mit ihm die Wolken. Der Magier wusste ganz genau, es würde nicht mehr lange dauern, bis der unheilbringende Fremde seine Siedlung erreicht hatte - mit wahrscheinlich schrecklichen Folgen für alle Einwohner. Noch lange blieb er dort stehen und sah zu, wie unglaubliche Blitze auf das Dorf einschlugen, während weder Regen noch Wind genügten, um die Flammen zu löschen.

In dieser ganzen Zeit rührte sich der Schüler der weißen Roben nicht ein einziges Mal. Und als alles ruhig war, keine Krähe mehr kreischte, kein Kind mehr lachte, als kein Schmied mehr den Ofen schürte und kein Händler mehr seine Waren lobpreiste, begann sich ein anderes Szenario um den jungen Mann zu materialisieren. Vier alte Leute standen um ihn, ein Mann in weißen Roben der guten und rechtschaffenen Magie, eine Frau mittleren Alters in den neutralen roten Roben, ein weißhaariger, faltiger Mann in den schwarzen Gewändern des Bösen und der ehrwürdige Erzmagier in den braunen Roben. Keiner von ihnen sprach ein Wort, aber Nìronandalan wusste genau, um was es ging. Sie hatten alles sehen können, alles hören können, obwohl er nicht bei den anderen Lehrlingen war.
Er wurde nach vielen Wochen harter Behandlung und schmerzhaften Verhörmethoden dem Gericht der Magus vorgeführt. Auch dort zeigte er wie in den Wochen zuvor keine Gefühlsregung. Keine Reue und keine Angst. Nur Schmerz.
Die Vorsitzinden verurteilten ihn zu ewiger Verbannung der Magierkollektiven, bezeichneten ihn als 'Abtrünnigen' und nahmen ihm in einer langen und sehr schmerzhaften magischen Prozession die Eigenschaft zu fühlen. Von diesem Tag an würde er genauso sein wie er sich die ganze Zeit gegeben hatte. Erst dachte Nìronandalan, dass diese Strafe übertrieben schlimm gemacht wurde, aber nach Jahren des ewig tristen Lebens war er an Geist und Seele so zerfressen, dass er niemals wieder ein Wort sprach. Es heißt bei den Magiern, dass er sich die Sprache selber genommen hätte, um das stumme Wirken von Zaubern besser zu lernen.

Aber in all diesen Jahren widmete er sich fast ununterbrochen den Studien der Magie. Nach vielen riskanten Tests, die unzähligen unschuldigen Menschen das Leben kosteten, gelang es ihm endlich, der Zeit so Herr zu werden, dass er bestimmen konnte, für wen sie weiter fließt und für wen nicht. Doch inzwischen war er ein alter Mann geworden. Das viele Experimentieren und die ewige geistliche Pein ließen ihn um Jahre schneller altern.
 

Und da saß er jetzt. Gemütlich auf seinem Stuhl vor dem Fenster, an dem er täglich viele Stunden schweigend verbringt, und wartete auf das Gewitter. Er wartete auf den Sturm, den Regen, den Donner und allen voran den Blitz. Denn er hatte herausgefunden, dass diese dunkle Kapuzengestalt an diesem schlicksalshaften Tag niemand geringerer war als die Göttliche Macht des Blitzes, die Gestalt annahm und den mächtigsten Magier der damaligen Zeit aufsuchte, um ihn zu einem gebrochenen Mann zu machen.
Plötzlich stand Nìronandalan von seinem Stuhl auf und ging langsam und besinnlich in sein Labor herüber. Dort lag alles, was er selber je aufgezeichnet hatte, verteilt auf den Tischen und verdeutlichten jeden Schritt seiner mächtigen Zeitmagie. Er hatte allein in diesem Raum die Zeit zum stehen gebracht und war der einzige, der sich trotzdem in ihm bewegen konnte. So war er sicher gegangen, dass sein verhasster Gegner seinen Plan auf keinen Fall durchschauen konnte. Fachgerecht mochte das nicht gerade sein, doch es würde seinen Zweck erfüllen, erfüllen müssen. Und wenn nicht? Das wagte er sich gar nicht vorzustellen.

Er sah alles ganz genau durch, überprüfte jedes noch so kleine Detail. Denn trotz dessen, dass er wohl der einzige Mann auf diesem Planeten war, der die Zeit so gut beherrschen konnte, wollte er sich keine Fehler erlauben. Er würde seinen Plan vollziehen und dann der Zeit für immer entkommen. Als er das Zimmer wieder verließ, stellte er sich an das selbe Fenster, vor dem er zuvor saß, und sammelte all seine Konzentration, als er plötzlich den ersten Regentropfen gegen das lupenrein gepflegte Glas schlagen sah. Nun war es soweit. Es war nur ein Atemzug, ein kleines Wort, das alles entscheiden konnte, und da kam er auch schon, der erste Donner. Nìronandalan vertiefte sich immer mehr in sein anstrengendes Ritual und konzentrierte sich trotzdem auf die gesamte Umwelt. Da! Jetzt!

Alles wurde still. Der Zeitmagier atmete aus und sah aus dem Fenster. Genau neben zwei Blitzen, die auf dem Hügel vor seinem Haus einschlugen, stand eine große Gestalt in schwarze, angesengten Kutten und die Öffnung der Kapuze spähte genau in die Richtung des Magiers. Dieser ging nun langsam und gemächlich, in dem Wissen, dass momentan das gesamte Universum sich nicht rührte, auf den verhassten Feind zu. Er studierte die Gestalt noch, bevor auch ihn die Zeit wieder erfassen sollte, und stellte fest, dass die Roben zwar leer war, aber eine fast greifbare Aura sich im Innern befand. Dann sammelte er wieder seine gesamte Fassung, und sammelte sich trotz der vorherigen Leistung erstaunlich gut. Jetzt ließ er auch für seinen Gegenüber die Zeit weiterlaufen. Dieser stand kurze Zeit nur still da, sagte dann aber "So. Ich habe dich nicht so früh erwartet." mit dem selben ruhigen und kühlen Ton wie beim ersten Treffen. "Aber was willst du nun tun, Sterblicher? Mich töten?" "Ja." hörte der Zwillingsbruder auf einmal in seinen Gedanken widerhallen. Und er wusste, dass das nur bei Leuten möglich war, die mindestens so mächtig waren wie er selber. "Wie willst du das anstellen?" fragte er, nun auf dem gleichen Weg. Die Antwort Nìronandalans war ebenso ruhig, wie der Ton seines Gegners, als er ihm die genaue Schilderung über Gedankenweg mitteilte.
"Genau dann, wenn ich dieses Gespräch beende, werde ich die Zeit wieder anhalten. Sobald das geschieht, bin ich das einzige, was vergänglich ist. Aber während einer Zeitreise ist es immer die größte Gefahr mit keinem anderen Lebewesen zusammen zu stoßen. Denn wenn das geschieht, vermischen sich beide Lebenskräfte, beide Seelen, und die Kraft der Götter selbst wird frei gesetzt. Dadurch entseht ein Riss in unserer Existenzebene, der beide verschmolzene Körper, mit allem anderen, an einen anderen Ort versetzt. Und genau das werde ich heraufbeschwören, damit dein Untergang besiegelt ist."

Und genauso geschah es. Der wohl einzige Magier aller Zeiten, der das Element als solches so perfekt beherrschte, wurde mit der dunklen uralten Gestalt, die keine materielle Form hatte, aus dieser Welt gerissen.
Niemand sah etwas davon, hörte etwas oder kümmerte sich je um diese Geschichte. Die einzige Person, die von diesem Ereignis wusste, war ein junger Lehrling in weißen Roben, der sich nach dem Geschehenen in seine kleine Hütte zurückzog, um seine erste Zeitreise zu vermerken.
 

© Philip Egge
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