.
Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern
zur besten Projekt-Story 2003 im Drachental gewählt!

Feuer von Martha Wilhelm

"Unsere Ahnen haben oft erzählt, dass vor langer, langer Zeit hier ein verheerendes Feuer gewütet habe, das nichts in diesem Land so gelassen habe, wie es zuvor gewesen war. Dieses Feuer hat unseren Schwarzholzwald zu schwarzer Asche verbrannt und die Gesteine in den Vorbergen geschmolzen. Diese Geschichte ist nur wenigen bekannt und ihre ganze Wahrheit ist schrecklich. Soll ich sie euch trotzdem erzählen?", fragte der Da’ab mit dramatisch gesenkter Stimme. Die Kinder zu seinen Füßen sahen mit großen Augen zu ihm auf und drängten sich enger aneinander. Obwohl es ein lauer Sommertag war, schienen bei den Worten des Da’ab kalte Winde aufzufrischen und die wenigen Bäume auf der grünen Wiese stöhnten auf. Selbst die Sonne verschwand kurze Zeit hinter den düsteren Wolken.

Reaf, ein Junge von 12 Jahren und somit einer der ältesten, war tapfer genug, die seltsame Stille zu brechen. "Ja! Erzähl, Druide!", rief er und seine Stimme klang so laut, dass er erschrocken zusammenzuckte. Die anderen Kinder sahen ihn tadelnd an, aber sie wandten ihre Blicke fast sofort wieder dem alten Druiden zu, der seelenruhig auf einem Stein saß und seinen knorrigen Stab auf den Knien hielt.

"Wenn du unbedingt willst, Reaf. Aber ich warne euch, es ist keine Geschichte für schwache Nerven!" Da’ab schaffte es immer wieder, die Kinder zu ängstigen und bei seinen Worten verschwand der Trotz auch aus Reafs Gesicht. Er rutschte unruhig auf dem Gras hin und her. Der Druide verbarg ein belustigtes Lächeln. "Na gut, da ihr alle so mutig seid, erzähle ich euch die Geschichte von dem Feuerzauberer und dem großen Brand. Es fing alles an, als..." Doch er wurde unerwartet unterbrochen.

"Da’ab, verbreitest du mal wieder Schauermärchen?", erklang eine spöttische Stimme. Die Kinder und Da’ab erblickten eine junge Frau den Hang heraufkommen, an der Hand einen kleinen Jungen führend. Sie hatte rot-blondes, lockiges Haar und ein offenes, weiches Gesicht. Ihre grauen Augen funkelten schalkhaft.

"Kathalina!", rief der Druide überrascht und lächelte freundlich. "Und der kleine Ethan, wenn ich recht sehe! Das ist aber eine freudige Überraschung. Ich dachte, ihr beide hättet heute keine Zeit, sich unserem kleinen Kreis anzuschließen?" Kathalina winkte ab.

"Ach, was. Ethan war so zappelig, dass ich ihm kein vernünftiges Maß habe entnehmen können! Was kann ich schon dagegen tun, wenn er doch so gerne deinen Märchen lauscht?" Ethan, erst fünf Jahre alt, aber schon ziemlich flink, entzog seine Hand der seiner Mutter und lief auf die Gruppe zu, wo er fröhlich begrüßt wurde. Kathalina blieb weiter entfernt stehen und betrachtete die ganze Szene mit einem Stirnrunzeln, das eine senkrechte Falte in ihre Stirn trieb.

"Sag mal, du wolltest gerade nicht zufällig vom Brand erzählen?"

"Doch, wollte ich."

"Und welche Version?", erkundigte sie sich. Er sah sie fragend an.

"Die wahre natürlich."

"Ach, die, wo der Zauberer seine Magie nicht mehr kontrollieren konnte? Mit der hübschen Moral am Ende - Kinder, unterschätzt eure Zauberkraft nicht und widersteht der Verlockung des Bösen?" Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, das Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. Da’ab seufzte.

"Kathy, was für eine Version soll ich denn sonst noch erzählen?"

"Die volle Wahrheit, wie wär’s damit?", fragte sie aggressiv. Der Druide warf ihr einen mahnenden Blick zu, der besagen sollte: "Nicht vor den Kindern!" Sie schnaubte empört. "Na gut! Ethan, komm her. Du darfst heute nicht hier bleiben. Ich will nicht, dass dir Lügen aufgetischt werden!" Ethan sah seine Mutter flehend an, aber sie blieb unnachgiebig. "Komm, Ethan!" Ohne auch nur einen weiteren Augenblick abzuwarten, ging sie plötzlich los, folgte flussabwärts dem Ufer und zog ihren Sohn hinter sich her. Da’ab seufzte erneut, als er zusah, wie Kathalina raschen Schrittes herabstieg. Diese törichte Frau!

Kathalina Cynnethan besaß ein kleines Haus am Rande von Raven, wo sie allein mit Ethan wohnte. Es war groß genug für zwei Personen und hatte vier gemütliche Zimmer. Sie verdiente mit ihrem Nähgeschäft genug Geld, um sich und den Jungen zu ernähren und lebte eigentlich so glücklich wie noch nie zuvor, seit ihr Mann Gavriel gestorben und ihr Bruder fortgegangen war. Aber die Bitterkeit war immer noch vorhanden und machte ihr das Leben schwer. Die Bitterkeit, mit einer Lüge leben zu müssen.

Ethan brauchte nur einen Blick auf das Gesicht seiner Mutter zu werfen und verstand sofort, dass sie allein sein wollte. Er verschwand gleich in seinem Zimmer, wo er beschloss, weiter zu zeichnen und seine Umwelt sogleich vergaß. Kathalina blieb in dem Flur stehen und starrte die Wand an. An der Wand hing ein billiges, hässliches Gemälde, vor Jahren auf dem Trödelmarkt gekauft. Zögernd nahm sie es ab und fuhr mit der Hand über den schwarzen Brandfleck, den es verdeckte. Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Oh, grausame Vergangenheit, die in ihrem Herzen wohnte!

Sie hing das Bild wieder auf und wankte, immer noch mit Tränen in den Augen, durch das Gästezimmer auf eine versperrte Tür zu. Das verbotene Zimmer. So gut wie blind tastete sie nach dem Schlüssel in der Schublade und sperrte die Tür auf. Abgestandene Luft schlug ihr ins Gesicht, Luft, die nach Abwesenheit und Staub roch. Kathalina schloss die Tür hinter sich und ließ sich aufs Bett fallen, das unter dem ungewohnten Gewicht leise knarrte. Dunkelheit umgab sie, denn das Fenster war von außen versiegelt. Mit einer schwachen Geste ließ sie eine Kerze zu sich schweben und zündete sie an. Das helle Licht der Flamme durchschnitt wieder ihre Erinnerung, wie ein scharfes Messer, und eine Wunde brach auf, von der sie geglaubt hatte, sie sei verheilt.

Da’ab, wie konnte dieser Druide nur diese Lüge weitererzählen! Und auch noch an Kinder, die alles für bare Münze hielten! Alles drehte sich in ihr, als sie sich vorstellte, wie die Kinder später über diese Geschichte tuscheln würden und spotten. Wieso nur? Wieso? Fast gegen ihren Willen wurde sie in die unbarmherzige Vergangenheit gezerrt. Sie erinnerte sich nur zu gut...

"Kupferlocke, wozu hast du das getan?" Kath sah ihren Bruder wütend an. Als er nichts antwortete, deutete sie noch einmal auf den Rußfleck auf der Tapete. "Und was jetzt? Um neue Tapete zu kaufen, brauchen wir Geld, das wir nicht haben! Was denkst du eigentlich, wie ich das bezahlen soll?" Er sah auf und zwei graue Augenpaare trafen sich. Feuer traf auf Stein. Kath mochte es nicht, wenn er ihr gegenüber so verschlossen war und runzelte die Stirn.

"Es tut mir leid, Kat. Ich bin wohl noch ein bisschen aufgebracht", sagte er rau und fuhr sich durch die kurzen, roten Haare. Wie immer, wenn sie diese Geste sah, schmolz ihr Ärger dahin, wie Eis in der heißen Sommersonne. Sie sah ganz genau den Kummer in seinem Gesicht und Mitleid überflutete sie. Er ist nicht darüber hinweg, immer noch nicht.

"Ach, schon gut. Ich werde einfach etwas darüber hängen, dann merkt es keiner", sagte sie freundlich und lächelte ihn an. Er lächelte nicht zurück.

"Nein, ich habe die Beherrschung verloren. Das ist schlecht. Es war nur... eine Erinnerung, das ist alles. Ich darf bei solchen nebensächlichen Dingen nicht die Kontrolle verlieren."

"Hör auf damit! Hör auf damit an sie zu denken! Es ist vorbei, du hast richtig gehandelt! Ganz Raven ist dir dankbar, du hast die Stadt fast allein gerettet!" Sie musste ihn aufrütteln!

"Ich weiß. Ich weiß. Aber weißt du was - sie hat mir vertraut. Sie hat nicht gedacht, dass ich mich gegen sie und ihren Clan stelle, deshalb waren sie so unvorbereitet. Es war kein Kampf, es war... es war reines Abschlachten." Er verzog das Gesicht. Kath wusste, wie sehr er unfaire Kämpfe verabscheute.

"Hannes, hättest du nicht mitgekämpft, wäre Raven verloren gewesen. Ich würde nicht sagen, dass sie unvorbereitet waren", warf sie ein.

"Kann sein. Aber sie hat mich geliebt", sagte er und ein Schatten huschte über sein blasses Gesicht. Kath spürte seinen Schmerz in Wellen von ihm ausgehen, aber bevor sie etwas tröstendes hätte sagen können, wandte er sich abrupt um und ging in sein Zimmer. Die Tür schlug hinter ihm zu. Kath seufzte und strich über die verbrannte Stelle. Er konnte sich nicht einfach erholen. Er konnte es einfach nicht. Irgendetwas musste passieren, oder er würde für immer so bleiben. Sie tätschelte ihren umfangreichen Bauch und spürte eine Bewegung. Unfreiwillig lächelte sie. Nach der Geburt würde sie sich um Johannes kümmern. Wenn sie wieder Kraft hatte.

Tage vergingen. Kath tat nichts anderes als zu Hause zu sitzen und zu nähen. Sie wollte, dass für ihr Kind schon von Anfang an genug Kleidung vorhanden war. Sie wusste nicht, was ihr lieber war - wenn es ein Mädchen oder ein Junge werden würde. Aber sie hatte sich schon Namen zurechtgelegt. Ein Mädchen würde sie Lianna nennen und einen Jungen Ethan.

Johannes verbrachte dagegen fast gar keine Zeit im Haus. Er wanderte herum, meistens im Schwarzholzwald, wie sie vermutete, und in dem Hochgebirge. Sie machte sich Sorgen, aber nur ein Teil von ihr. Der andere überlegte, ob es sich lohnte, ein Kleid mit Rüschchen zu nähen.

Eines Abends wurde ihre eintönige, aber ruhige Arbeit dadurch unterbrochen, dass ihr Bruder ins Haus stürzte und die Tür so heftig hinter sich zu schmiss, dass das ganze Haus erbebte.

"Kupferlocke, was ist denn los? Du wirkst so aufgeregt?", fragte sie. Aufgeregt war noch milde gesagt. Er zitterte fast vor mühsam zurückgehaltenem Aufruhr.

"Du wirst es nicht glauben, was ich gefunden habe, Kat!", rief er und seine Stimme brach. "In dem Wald – ich fasse es selbst kaum. Erinnerst du dich, wie ich dir erzählt habe, dass Eloises Clan ihren Hauptversammlungsort im Schwarzholzwald hatte?" Sie nickte, erstaunt, dass er ihren Namen aussprach. "Ich - ich habe ihn gefunden. Nein, nein, lass mich ausreden, das ist noch nicht alles! Es ist ein Haus, eine Hütte eher, und ich habe mich darin ein wenig umgesehen. Du wirst nie glauben, was sich darin befand. Eine offene Onulith-Brutstätte!"

"Onulith? Was ist das?"

"Kat, das musst du doch wissen! Onulith, das sind diese furchtbaren Bestien aus dem Ceela! Sie sind klein und können sich hervorragend tarnen, aber sie sind äußerst gefährlich, weil sie sich in die Körper von Menschen hineinbohren und sie von innen heraus aushöhlen. Eine gewisse Zeitlang können sie sogar den Körper befehligen und die Stelle des Menschen einnehmen!" Kath sah ihn mit schreckensweiten Augen an. Die Rüschchen-Frage war vergessen.

"Oh mein Gott. Das ist doch völlig unmöglich! Onulith kommen nie aus dem Ceela-Wald heraus, weil sie die offene Strecke nicht überqueren können... Johannes, bist du sicher?"

"Ja, hundertprozentig. Verdammt, ich habe sogar eins von den Dingern gesehen! Es hat mich nicht erwischt, aber es war knapp gewesen. Kathy, sie sind bereits im ganzen Wald verteilt! Vielleicht sogar schon unter den Bürgern. Wir müssen irgendetwas unternehmen und zwar dringend!" Sie atmete tief durch. Alles geschah zu schnell, sie war das nicht mehr gewöhnt.

"Als erstes informieren wir den Bürgermeister. Er muss eine Truppe organisieren, die den Wald bewacht, damit kein Onulith ihn verlassen kann. Dann untersuchen wir einzeln die Bürger." Er schüttelte den Kopf.

"Zu langwierig. Die Vieher hatten genug Zeit, um sich fortzupflanzen - es können inzwischen Tausende sein! Wie soll man sie daran hindern den Wald zu verlassen? Sie mit Steinen bewerfen? Sie werden sich die Bewacher schnappen und dann sind wir verloren. Nein, es muss einen schnelleren, gefahrloseren Weg geben." Johannes schritt hin und her; der Schein des Feuers aus dem Kamin spielte auf seinen roten Haaren und warf dunkle Schatten auf sein Gesicht. Als er plötzlich aufsah, sah sie nicht seine Augen, sondern nur schwarze, tiefe Löcher.

"Ich muss sie ausbrennen." Diese vier Worte schlugen in Kaths Magen ein, wie Panzerhiebe.

"Nein.", flüsterte sie, plötzlich kraftlos geworden.

"Das ist die einzige sichere Methode, die mir einfallen will. Damit können wir sicher sein, dass sie alle tot sind und nicht irgendwo Eier übrig geblieben sind. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie sich in Raven verbreiten!"

"Johannes, der Schwarzholzwald ist sehr groß. Wie willst du ihn ganz verbrennen?"
"Ich schaffe es schon. Du weißt doch, meine magische Kraft ist enorm. Ich verbrenne alles zu Asche, damit sie nicht den Funken einer Chance haben!", sagte er erregt. Kath fühlte, wie ihr Blut vom Gesicht wich und es weiß wie der Tod zurückließ. 
"Das ist Wahnsinn. Du traust dir zuviel zu. Wir haben bestimmt noch Zeit, Hannes! Bitte, setzte dein Leben nicht so leichtfertig aufs Spiel..."

"Das ist nicht leichtfertig. Ich könnte es tatsächlich schaffen, Kat! Du gehst zum Bürgermeister und sagst ihm, er soll die Bürger untersuchen lassen, während ich den Wald abbrenne."

"Nein! Das lasse ich nicht zu, Johannes!", rief sie und richtete sich auf, obwohl das Gewicht des Ungeborenen an ihr zerrte. "Ich werde dich nicht so einen Unsinn machen lassen, hörst du? Du willst dich doch nur selbst bestrafen, weil du Eloise getötet hast!" Stille. Das hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen, sie wusste es. Als er wieder sprach, krächzte seine Stimme.

"Kann sein. Aber es ist die einzige Möglichkeit, den Onulith wirksam Einhalt zu gebieten. Deine Weigerung ist Ravens Untergang, Kathalina." Sie zuckte zusammen, als er sie mit vollem Namen ansprach. Der Schmerz und die Herausforderung hinter diesen Worten waren unverkennbar.

"Mag sein. Aber ich will nicht, dass du dein Leben hingibst, für etwas, das man anders lösen kann", erwiderte sie dennoch ruhig.

"Wie kann man es lösen? Jede Minute, die wir Beide hier sprechen, kann ein weiterer Bürger Ravens von innen zerfressen werden! Sie sind eine Seuche, die man bei der Quelle ausrotten muss! Wenn man ihren Unterschlupf vernichtet und ihre Wirte, dann sind sie erledigt. Verstehst du, Kat? Es ist egal, ob es mir zufällig entgegen kommt, dass diese Aufgabe auf den Tod herausläuft. Es muss getan werden und ich bin der einzig dazu fähige." Kath fiel in den Sessel, wie ein nasser Kartoffelsack. Durch den plötzlichen Schleier vor ihren Augen konnte sie nur seine Gestalt sehen, die eine Hälfte vom Feuer beschienen, die andere dunkel. Feuer und Stein, dachte sie. In einer Gestalt. Er beugte sich zu ihr herab und hob ihr Kinn an.
"Kathy, bitte, weine doch nicht! Du kennst mich doch, ich bin immer für eine Überraschung gut. Bestimmt überlebe ich das Ganze."

"Ach, das glaubst du doch wohl selbst nicht!" Sie hasste es, wie weinerlich ihre Stimme klang.

"Doch. Ich will außerdem unbedingt meinen Neffen kennen lernen."

"Vielleicht Nichte", korrigierte sie automatisch. Dann schniefte sie und umarmte ihn impulsiv. "Ja, genau. Ich will, dass mein Kind dich kennen lernt. Also wage es ja nicht zu sterben, Kupferlocke!"

"Auf gar keinen Fall, Kathy." Sanft löste er sich von ihr und schaute sie noch einmal prüfend an. Ihm schien zu gefallen, was er sah, denn er küsste sie auf die Stirn und richtete sich dann auf. Sie merkte, dass er in Gedanken bereits durchging, wie er es anstellen sollte, und wischte sich die Tränen weg.

"Ich komme mit dir."

"Wieso?", fragte er verwundert.

"Erstens kann ich dich schützen, falls du angegriffen wirst, während du dich konzentrieren musst. Zweitens brauchst du jemanden, der ein Lied darüber dichtet, was du vorhast. Und drittens muss ich da sein, um dich zu verarzten und nach Hause zu holen."  Kath erhob sich entschlossen und wischte seine Einwände mit einer Handbewegung beiseite. "Ich bin deine Schwester, Kupferlocke, und habe die Sturheit ebenfalls geerbt. Nichts wird mich umstimmen." Er lachte auf und für einen Augenblick war es ganz gewöhnlicher Abend, nicht der möglicherweise letzte Abend, den sie mit ihrem Bruder erlebte. Für einen kurzen Augenblick war die Welt wieder in Ordnung. Aber es war ein sehr kurzer Augenblick.

Es war schon ziemlich dunkel draußen und die Sonne war fast völlig untergegangen. Nur noch ein dünner, feuriger Strich über dem Hochgebirge war zu sehen. Kath zog den Schal enger um sich und fror immer noch. Dabei war es nicht einmal besonders kalt, nur ein kühler Wind wehte von den Bergen her. Sie überlegte, dass es wahrscheinlich an der Schwangerschaft lag, dass sie so empfindlich war, und streichelte geistesabwesend ihren Bauch. Johannes ging ihr voraus und die letzten Sonnenstrahlen ließen sein Haar kupfern aufleuchten. Er war nicht bewaffnet und schritt deswegen leicht daher. Es war für sie nicht so einfach den langen, gewundenen Weg zum Schwarzholzwald zu gehen, aber sie zeigte ihre Müdigkeit nicht, um ihrem Bruder keinen Grund zu geben sie wieder nach Hause zu schicken.

Der Schwarzholzwald wuchs vor ihnen in die Höhe, mit seinen glatten, schwarzen Stämmen und scharfen, dunkel-grünen Blättern. Noch nie zuvor hatte Kath bei diesem vertrauten Anblick diese Furcht und Abneigung verspürt. Es war, als ob der Wald plötzlich ein bedrohliches Gefühl ausströmte, und obwohl sie wusste, dass dies nur an ihren angespannten Nerven lag, erschauderte sie kurz. Johannes schien keine Bedrohung zu fühlen oder vielleicht hatte er sich zu gut im Griff, um Angst zu zeigen. Er legte ohne zu zögern die letzten Meter Abstand zwischen sich und dem Wald zurück.

"Okay, Kath, ich halte wirklich nichts von Abschiedsreden und..." Sie unterbrach ihn scharf.

"Was soll denn das? Du hast mir versprochen zu überleben und das tust du auch gefälligst, klar?"

"Natürlich. Hab ich vergessen, tut mir leid. Dann kann es ja losgehen." Er stellte sich breitbeinig hin und schloss die Augen - nur um sich besser konzentrieren zu können, wie sie wusste. Feuer erschien auf seinen Handflächen. Wie immer, wenn sie ihren Bruder bei der Anwendung seiner Magie sah, spürte sie den Drang wegzulaufen. Das Feuer war das am schwersten zu kontrollierende Element und in ganz Cinhyal gab es nur ein halbes Dutzend Feuerzauberer, wobei jedes Jahr Viele versuchten, einer von ihnen zu werden. Sie selbst hatte niemals diesen Wunsch gehabt und war zufrieden mit ihrer bescheidenen Zauberkraft, die keiner der elementaren Magie angehörte, sondern eine abgespaltene Ausnahme war. Mit ihr errichtete sie nun so etwas wie einen Schutzschild um Johannes, damit ihn die Onulith nicht angreifen konnten. Er war grau und fast unsichtbar, aber er zerrte stark an ihrer Kraft, stärker als das Ungeborene es je vermocht hätte.

Er war der einzige Grund, warum das Messer sich nicht direkt in Johannes’ Herz bohrte.

Kath spürte den Luftzug an der Wange, aber sie sah die scharfe Klinge erst, als diese am Schutzschild abprallte und mit einem leisen Dsing auf dem Boden landete. Sie drehte sich erschrocken um und sah einen bekannten Mann auf sich zukommen, das vertraute Gesicht seltsam ausdruckslos.

"Bürgermeister Koal?", fragte sie erstaunt. Er beachtete sie nicht, sondern ging weiterhin auf Johannes zu. Als er an ihr vorbeiging, spürte sie eine Art Verwesungsgeruch von ihm ausgehen und hätte sich am liebsten auf der Stelle übergeben. Er war von den Onulith besessen!

"Hannes...", versuchte sie zu schreien, aber das Entsetzen hatte ihr die Sprache verschlagen. Ob er sie gehört hatte oder Koal selbst wahrgenommen hatte, blieb ungewiss, aber Johannes öffnete die Augen und begegnete dem leeren Blick des Bürgermeisters. Ohne zu warten und mit einem vollkommen ruhigen Gesichtsausdruck streckte er die Hand aus und Feuer griff auf Koal über.

Der ehemalige Bürgermeister schrie nicht. Sein Gesichtsausdruck blieb weiterhin unbewegt, während die Flammen immer höher schlugen und sein gesamter Körper loderte wie eine lebende Fackel. Unter Kaths entsetztem Blick riss seine Haut wie Papier und offenbarte kleine, schwarze Leiber, die sich unter dem Feuer krümmten und wanden. Das Feuer war unnatürlich. Es verbrannte die Körperhülle zu feiner, schwarzer Asche und ebenso die Onulith, die ohne einen Körper so gut wie bewegungsunfähig waren. Schneller, als sie sich fangen konnte, war es vorbei. Der Verwesungsgeruch war verschwunden, es roch nur noch nach Verbranntem. Johannes schenkte dem Aschenhaufen keine Beachtung und wandte sich wieder dem Schwarzholzwald zu.

Er breitete die Arme aus, als wolle er den Wald umarmen, und an seinen Armen liefen Flammen entlang. Obwohl er nichts sichtbares tat, fühlte Kath seine Anspannung. Die Sonne verschwand entgültig und das einzige Licht war jetzt das Feuer ihres Bruders, das ihn ganz umhüllte. Eine gespenstische Stille senkte sich über den Wald. Plötzlich tauchten kleine Flammen am Rand des Waldes auf, die sich ringsum rasch ausbreiteten und ihn schließlich nach wenigen Augenblicken komplett umschlossen. Der drohende Feuerring erstarrte, eine Armee, die auf den Befehl des Kommandeurs wartete. Und der Befehl kam.

Johannes machte wieder nicht sichtbares, aber diesmal war es Kath, als könne sie sehen, wie er die Flammen losließ. Die Aura des Lichts um ihn verblasste, als seine Kraft in das entfesselte Feuer floss.

Das Feuer fraß sich regelrecht in den Schwarzholzwald hinein und machte vor nichts halt. Es war nicht überall gleichzeitig, es war einfach nur ein Feuerring, der sich vom Rand des Waldes in seine Mitte bewegte und dabei nur Asche hinter sich zurückließ. Mit widerwilliger Faszination beobachtete Kath wie schnell das Feuer vorrückte und wie gründlich es dabei vorging. Keine verkohlten Baumstämme blieben zurück, nur ein schwarzes Feld voll Asche. Mehrmals glaubte sie schrille Schreie zu hören, aber das Tosen der Flammen verschluckte die meisten Geräusche, so dass sie sich nicht sicher war.

Feuer... Ja, in dieser Nacht bekam sie eine Vorstellung davon, was für ein gewaltiges Element es war. Das Brüllen füllte ihre Ohren, der Feuerschein warf tanzende Schatten auf die Umgebung, der Rauch trieb ihr Tränen ins Gesicht und der Geruch setzte sich in ihrer Kleidung und den Haaren fest. Sie vergaß nie wieder, welch Schrecken diese ungezügelte Kraft hervorrief.

Die letzte Flamme erstarb und ließ sie in der Dunkelheit zurück. Kath wusste nicht, wie lange sie auf das furchtbare Schaubild gestarrt hatte, aber ihre Augen schmerzten und sie hatte keine Kraft mehr. Nur der Gedanke an Johannes gab ihr genug Kraft, um sich zu bewegen.

Er lag bewegungslos auf dem Boden, immer noch glühend, immer noch heiß. In dem Licht, das von ihm ausging, sah sie sein bleiches Gesicht und ihr Herz verkrampfte sich vor Angst. Für einen Moment fühlte sie sich zurückversetzt in ein Zimmer vor einem halben Jahr. Auf dem Bett lag eine Leiche - ihr Mann Gavriel. Als man ihr gesagt hatte, dass es eines Wunders bedurft hätte, um diesen Bergsturz zu überleben, hatte sie keine Kraft mehr gehabt, um etwas zu erwidern, zu erschöpft war sie vom vielen Weinen. Und sein Gesicht war so blass gewesen, so schrecklich blass...

Sie holte sich in die Gegenwart zurück und kniete sich neben ihrem Bruder hin. Trotz der Hitze, die von ihm aufstieg, berührte sie sanft seine Wange und hielt mit Mühe die Tränen zurück. Mein armer Kupferlocke... Ich hätte es dir doch noch ausreden müssen... Jetzt habe ich dich verloren, genauso wie Gavriel... Vorsichtig überprüfte sie seinen Körper.

Und stellte überrascht fest, dass er noch lebte.

Es war fast ein Schock und ließ sie erstarren. Dann fühlte sie noch einmal eilig den Puls und spürte ihn ganz langsam schlagen. Er lebte! Freude stieg in ihr auf, so starke Freude, dass sie sie berauschte. Er hatte sein Versprechen gehalten!

Sofort trat die Freude zurück. Er hatte sein Versprechen gehalten, so weit er konnte, aber jetzt musste sie sich um ihn kümmern, damit er nicht doch noch starb. Kath überlegte gerade, was sie tun konnte, um ihn ins Haus zu bringen, als sie die ersten Stimmen hörte. Fackeln tauchten auf dem Pfad auf und sie sah eine große Menge hinaufstürmen. Natürlich war dieser gigantischer Brand nicht unbemerkt geschehen. Fast die halbe Stadt drängte sich auf dem engen Platz vor dem schwarzen Plateau und die Gespräche verstummten erschrocken. Kath wollte keine Aufmerksamkeit auf sich und Johannes ziehen und sprach einen alten Bekannten an, er möge ihr bitte helfen ihren Bruder zur Hütte zu tragen. Hasath stellte keine Fragen und half ihr, aber die ganze Zeit spähte er zu den Überresten des Schwarzholzwaldes hinauf und sie wusste, dass er viel lieber dort gewesen wäre. Deswegen schickte sie ihn gleich weg, als sie Johannes in das Haus getragen hatten. Kath war unglaublich müde und wusste, dass sie sich nicht zuviel anstrengen durfte, aber sie konnte nicht schlafen gehen. Sie musste ihrem Bruder helfen. Und so machte sie sich an die Arbeit.

Es war zwei Tage später, als Johannes aufwachte.

Sie war gerade im Sessel eingeschlummert, aber sie spürte seine Bewegung und wachte sofort auf. Schnell ging sie zu seinem Bett rüber und sah ihm ins Gesicht. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und er war immer noch furchtbar bleich, aber sein Blick war klar.

"Kat... Siehst du, ich lebe ja noch", flüsterte er.

"Und das ist ein Wunder, das kannst du mir glauben! Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich denken, die Götter haben dich beschützt!" Es fiel ihr schwer, nicht wieder zu weinen. In letzter Zeit neigte sie sehr zu dieser Angewohnheit. Sie drückte ihn fest an sich und fühlte Erleichterung in sich aufsteigen. In den letzten Tagen war sie so gut wie gar nicht von seiner Seite gewichen, weder am Tag noch in der Nacht. Natürlich wusste sie – schließlich hatte man es ihr oft genug gesagt – dass es schlecht war, wenn sie sich so verausgabte, aber sie bezweifelte, dass ihr Kind solch ein Schwächling war, dass es dieses Bisschen Anstrengung nicht verkraftete.

"Es hat doch funktioniert oder? ...", fragte er sie und hustete.

"Natürlich hat es funktioniert, Hannes. Das hast du gut gemacht..." Sie konnte nicht weiter sprechen, ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie schluckte, aber es half nicht. Sie konnte es einfach nicht sagen! Er merkte, dass etwas nicht in Ordnung war.

"Kat, was ist los? Irgendetwas stimmt doch nicht?" Er musterte sie prüfend.

"Es ist nichts, wirklich..." Aber seinen grauen Augen entging nichts.

"Das glaube ich dir nicht. Was ist los?" Sie atmete tief durch und senkte den Blick.

"Die Leute in der Stadt... Sie glauben nicht, dass es hier jemals Onulith gegeben hat... Sie denken... sie denken, dass du wahnsinnig geworden bist oder so etwas und deswegen den Wald verbrannt hast. Sie glauben, dass sich Bürgermeister Koal dir in den Weg gestellt hat und du ihn deswegen getötet hast..."

"Was? Wieso sollte ich denn verrückt werden und den Wald abfackeln? Denken die, ich hätte nichts besseres zu tun?" Er bemerkte die Angespanntheit in ihrem Gesicht. "Haben sie dir was getan, Kathy?"

"Nein. Aber draußen vor der Hütte stehen Wachen und ich darf es nicht verlassen. Sie wollen, dass ich dich zum Rat bringe, sobald du wieder auf den Beinen stehst..." Johannes fluchte.

"Das ist doch... Na gut, ich kann jetzt auf den Beinen stehen! Sag den Wachen, dass ich den Rat sprechen will." Kath warf ihm einen besorgten Blick zu, kapitulierte aber vor der Entschlossenheit in seinem Gesicht. Schnell ging sie nach draußen und sagte den Wachleuten Bescheid. Als sie mit ihnen herein kam, war Johannes schon auf den Füßen. Stolz und blass ging er vor den Wachen her und sein Gesichtsausdruck war stur, wie sie ihn von früher kannte. Kath wollte ihm folgen, aber zu ihrer Überraschung wurde sie zurückgehalten.

"Was soll das? Ich möchte meinen Bruder begleiten!", rief sie empört. Einer der Wachmänner folgte Johannes, während der andere den Kopf schüttelte.
"Der Rat will alleine mit Johannes Cynnethan sprechen."

"Er ist noch schwach! Ich muss mich um ihn kümmern." Ihre Einwände wurden erst gar nicht zur Kenntnis genommen. Nach der Drohung, man würde sie einsperren, wenn sie weiterhin darauf bestünde mitzukommen, ließ sie sich in einen Sessel fallen und starrte aus dem Fenster. Ihr kamen wieder die Tränen, als sie mit ansah, wie die Wachen ihren Johannes abführten. Wie einen Verbrecher!, dachte sie. Das Kind regte sich in ihr, wie um sie abzulenken, aber jetzt war Kath nicht danach zumute, sich Gedanken darüber zu machen, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde. Mit blinden Augen sah sie zur Burg des Rates herauf. Sie war grau und gut befestigt. Die Steinmauern waren sehr alt, aber noch sehr fest. Voller Macht ragte die Burg auf und blickte überlegen auf Raven nieder. Umgeben war sie von Büschen und Gestein, und nur ein schmaler Pfad führte hinauf. Diesen Pfad schritten Johannes und die Wachen entlang. Kath konnte nicht anders, als ihnen hinterher zu sehen, bis sie ihren blicken entschwanden.

Sie wartete lange. Es wurde Abend und er kam immer noch nicht zurück. Außer sich vor Sorge fragte sie sich ob sie ihn möglicherweise folterten oder schon hingerichtet hatten. Aber er hatte nichts getan! Verzweifelt ging sie hin und her. Johannes, Bruder! Komm heil zu mir zurück, bitte. Und er kam. Die Wachen begleiteten ihn wieder wachsam, aber er sah nicht aus, wie jemand, der an einen Fluchtversuch dachte. Kath erblickte ihren Bruder zum ersten Mal als gebrochenen Mann.

"Kupferlocke, was ist mit dir? Haben sie dir etwas angetan? Was ist passiert?", fragte sie sofort nachdem die Wachen gegangen waren. Er schüttelte schwach den Kopf.

"Sie haben mir nichts getan."

"Was dann? Was ist passiert?"

"Sie denken, dass ich verrückt geworden bin. Dass ich nicht fähig war, das Feuerelement zu beherrschen und deswegen den Wald verbrannte. Aber sie wollen mich nicht hinrichten, weil ich soviel gutes für Raven getan habe. Deswegen... deswegen haben sie mich verbannt." Seine Stimme war ausdruckslos, aber bei dem letzten Wort klammerten sich seine Hände so fest um die Stuhllehne, dass die Knöchel weiß hervortraten. Kath konnte nicht so ruhig bleiben.

"Verbannt? Ja, sind sie noch ganz beieinander, diese Ratsherren?! Ich gehe jetzt zu ihnen in diese jämmerliche Burg und werde mich beschweren! Ich werde ihnen bestätigen, was du getan hast! Ich werde ihnen von den Onulith erzählen! Ich werde nicht zulassen, dass du verbannt wirst, Johannes!"

"Das ist sinnlos, Kathie", sagte er weich. "Sie haben das Papier unterschrieben, das mich als Verbannten kennzeichnet, und werden es morgen aushängen. Ich muss noch heute Nacht die Stadt verlassen." Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen, schreckensgefüllten Augen an. Ihr kam es vor, als würde der Himmel über sie einstürzen.

"Nein... Das können sie doch nicht machen...", krächzte sie. Kraftlos sank sie in den Sessel zurück.

"Doch, das können sie. Sie sind schließlich das Gesetz. Ich werde bald aufbrechen, Kat. Ich... ich will über das Gebirge ins Tal. Irgendwo finde ich schon Unterschlupf, keine Sorge. Von uns Feuermagiern gibt es nicht so viele, dass man einen abweisen würde. Vielleicht gehe ich nach Sunaj, zum Königsschloss. Es soll dort sehr schön sein. Es ist eigentlich gar nicht mal so schlimm... ich wollte doch schon immer reisen..." Aber sie hörte ihm nicht richtig zu. Der Schock lähmte sie. Sie sollte ihn verlieren, genauso wie Gavriel. Johannes, der ihre einzige Stütze in der Zeit nach Gavriels Tod gewesen war. Johannes, der in der Stadt so geschätzt und verehrt wurde. Johannes, der die Stadt wieder gerettet hatte. Johannes, mit dem sie immer stritt. Johannes, ihren geliebten Bruder.

"Nein! Was soll ich denn ohne dich machen? Bald kommt mein Kind zur Welt und wer soll für uns sorgen? Soll es niemals seinen Onkel kennen lernen? Soll es mit den Geschichten von deinem angeblichen Wahnsinn aufwachsen? Wir werden kämpfen, Hannes! Man achtet uns... Ich gebe nicht so einfach auf..." Sie kämpfte wieder mit den Tränen. Er sah sie zärtlich an.

"Du bist stark, Kat. Du schaffst es schon ohne mich, ich weiß es. Du ziehst dein Kind groß und stark auf, und erzählst ihm die Wahrheit. Und eines Tages komme ich zurück, um es kennen zulernen, versprochen."

"Du denkst wirklich daran, Raven zu verlassen? Um diese Jahreszeit? Wie willst du über die Berge kommen ohne zu erfrieren?"

"Na ja, Feuer habe ich doch immer mit mir."

"Du... du... das ist nicht fair! Ich habe dir gesagt, wir hätten warten sollen, ich habe dir gesagt, es gibt einen anderen Weg, nein, du wolltest nicht auf mich hören..."

"Genau. Ich tat, was ich für richtig hielt und ich bereue es nicht. Aber es hat eine andere Möglichkeit gegeben, nur habe ich sie nicht gewählt. Das ist mein Preis dafür." Darauf wusste sie nichts zu erwidern. Gab es überhaupt etwas zu erwidern?

Spät in der Nacht brach er auf. Kath stand lange in der Tür und sah ihm hinterher. Auf der Wange spürte sie immer noch seinen Abschiedskuss, vermischt mit ihren eigenen Tränen. Er hatte auch Tränen in den Augen gehabt. Es war eine Neumondnacht und Johannes verschwand bald in der Dunkelheit. Das letzte was sie von ihm sah war ein Aufflackern auf seinen roten Haaren, einer verirrten Flamme gleich.

Kathalina starrte in die Flamme der Kerze und sah ihr beim Ersterben zu. Der Geruch des Rauches haftete an ihrer Kleidung und an den Haaren, aber es kümmerte sie nicht. Die Erinnerung an Johannes brachte wieder die alte Bitterkeit hoch, aber mit ihr etwas anderes, das sie vergessen hatte. "Du ziehst dein Kind groß und stark auf, und erzählst ihm die Wahrheit", hatte er gesagt. Aber sie hatte es bisher nicht getan, weil sie vergessen wollte. Sie wollte vergessen, was für ein Unrecht es auf der Welt gab und, dass in dem Hochgebirge Royala auf irgendeinem Gipfel die Knochen ihres Bruders weiß schimmern könnten. Könnten.

Kathalina wischte sich die Tränen ab und ging aus dem Zimmer. Als sie es wieder zusperrte, war es eine große Erleichterung. Einen Augenblick lang war sie unschlüssig, aber dann stärkte sie sich und durchquerte das Gästezimmer. Ethan zeichnete versessen ein buntes Bild. Viel Rot war darauf, Rot, wie das Feuer oder wie Blut.

"Ethan. Komm her." Er sah sie mürrisch an, weil er es nicht mochte bei "der Arbeit" gestört zu werden, aber seine Mutter konnte streng sein und so ging er zu ihr. Die beiden setzten sich ins Gästezimmer. Kathalina holte tief Luft.

"Ethan, ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Die wahre Geschichte über den Brand im Schwarzholzwald. Alles begann mit einem jungen, tapferen Mann in Raven. Sein Name war Johannes..."

Und weit von Raven entfernt, in einem vom Wald umgebenen Städtchen namens N’hoa, begegnete im selben Augenblick Johannes Cynnethan Gaya Asearien und damit seinem Schicksal.
 

© Martha Wilhelm
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
 
.
www.drachental.de