Die Glutwolke von Tamara Eisenköck |
Ein dumpfes Grollen riss Nord aus dem unruhigen Schlaf, in den er gefallen war. Er hob seinen Kopf und starrte in den Himmel hinauf. Es war eine jener seltenen und schönen Nächte, in denen das Verlassene Land nicht von der üblichen aschgrauen Wolkendecke überzogen war, die schon fast ebenso zum Landschaftsbild dieser Gegend gehörte wie die schroffen Felsen und Hänge, auf denen Nord aufgewachsen war. Die Sterne blinkten hell am Firmament und hinter dem scharfkantigen Gipfel des Vulkans begann die Sichel eines der Monde emporzusteigen. Der junge Drache beobachtete fasziniert wie sich die leuchtende Sichel majestätisch über dem Vulkan erhob. Ein erneutes Grollen lenkte Nords Aufmerksamkeit auf den Vulkan selbst, denn das Geräusch schien direkt aus dem schwarzen Gestein unter Nords Pranken zu kommen. Unsicher fixierte er den Boden und versuchte auf die Beine zu kommen, aber sie knickten kraftlos unter ihm weg. Das Rauschen mächtiger Schwingen erklang hinter ihm und er wandte sich um. Ein mattsilber glänzender Nebeldrache setzte auf dem kleinen Plateau auf, das Nord als sein notdürftiges Schlaflager auserkoren hatte. "Ich glaube, er hat nicht vor, uns an seinen Hängen zu dulden, Mutter", meinte Nord und blickte hoch zum Gipfel des Vulkans, aus dem nun Rauchschwaden aufstiegen. "Kein Ort in diesem Land wird uns dulden. Wir dürften nicht hier sein, aber es lässt sich leider nicht vermeiden. Wie fühlst du dich? Kannst du aufstehen?" Seine Mutter war an den jungen Drachen heran getreten und berührte ihn sanft mit der Schnauze. "Nur wenige Schwingenschläge von hier entfernt gibt es einen kleinen Fluss. Sein Wasser ist verseucht, aber wenigstens ist es dort unten kühl und der Vulkan beruhigt sich vielleicht, wenn wir seine Hänge hinter uns lassen." Nord las in den Augen seiner Mutter Sorge, die aber nicht nur ihm, sondern auch eindeutig ihrer Umgebung galt. Anstatt einer Antwort versuchte er sich ein weiteres Mal hochzustemmen, aber er sank mit einem Seufzen zurück. Als ob der Vulkan ihn antreiben wollte von hier zu verschwinden, gab er ein weiteres, tiefes Grollen von sich und weiter oben lösten sich ein paar Felsbrocken. Nord barg seinen Kopf unter den Pranken, um dem Hagel aus scharfkantigen Steinsplittern und Geröll zu entgehen. Muray blickte besorgt den Hang hinauf. "Wir können hier nicht bleiben. Das war eindeutig eine Warnung. Du musst dich zusammenreißen, Nord, es ist nicht weit." "Wie soll ich fliegen, wenn ich es nicht einmal schaffe aufzustehen?", erwiderte der junge Drache mutlos. Das Drachenweibchen bog seinen Hals und stemmte sich mit aller Kraft gegen ihren Sohn. "Ich helfe dir, aber du musst auch mitmachen!", zischte sie und Nord schaffte es mit Hilfe seiner Mutter wieder auf die Beine zu kommen. Sein Atem ging rasselnd und er zitterte am ganzen Körper, aber er stand. "Und jetzt nach vorn, zum Rand des Plateaus!", befahl Muray. Tapfer setzte Nord eine Pranke vor die andere, aber bereits nach dem zweiten Schritt strauchelte er und fiel wieder auf den Boden zurück. "Steh auf, Nord!", befahl seine Mutter scharf, aber der junge Drache reagierte nicht mehr. "Du sollst aufstehen! Kämpf dagegen an!" Verzweifelt stupste sie ihn mit der Schnauze, zuerst sanft und dann etwas härter an, doch Nord rührte sich nicht. Von einer fürchterlichen Ahnung gepackt hielt das Drachenweibchen inne und beobachtete Nord ganz genau. Nach einer Weile seufzte sie erleichtert. Er atmete noch, also war er der Krankheit noch nicht ganz erlegen. Niedergeschlagen ließ sie sich neben ihrem Sohn nieder und legte eine ihrer Schwingen um seinen ausgemergelten Körper. In Gedanken bat sie den Vulkan um Zeit, aber sie bezweifelte, dass er ihnen noch mehr davon geben würde. Stunden vergingen und schließlich schlief auch Muray ein. "Sieh nur, es schneit", murmelte Nord, als sich seine Mutter neben ihm zu bewegen begann. Er hatte sie nicht wecken wollen, denn er wusste, dass sie den Schlaf fast ebenso dringend benötigt hatte wie er. Sie hob den Kopf und blickte verwundert in den Himmel. Nord hatte Recht. Feine, hellgraue Flocken tanzten vom Himmel herab und der Boden um sie herum und auch sie selbst waren bereits bedeckt davon. "Das ist Asche", stellte Muray fest und stand ruckartig auf. "Es regnet Asche." Sie schüttelte sich und war für Sekunden in eine graue, wirbelnde Wolke eingehüllt. Ihr Blick wanderte den Hang hinauf zum Gipfel des Berges. Ein unheimliches, rotes Glühen verriet, dass sich ihre Schonfrist dem Ende zuneigte. "Wir müssen weg, Nord, schnell! Der Vulkan ist dabei auszubrechen. Wir haben seinen Zorn heraufbeschworen." Wieder musste sie ihm helfen aufzustehen, aber sie bemerkte sofort, dass der Schlaf ihm gutgetan hatte, denn Nord stand wesentlich sicherer als die Nacht zuvor und er zitterte nur leicht. Ein Krachen und Bersten ertönte von der Bergspitze und als sich die beiden Drachen umwandten, stellten sie mit Entsetzen fest, dass sich der Südhang des Vulkans gelöst hatte und in Form einer gewaltigen Steinlawine zu Tal rasten. Der ganze Berg bebte wie unter Schmerzen und es schien als würde er Luft holen. "Schneller, Nord, zum Rand des Plateaus!", schrie Muray und starrte dabei unentwegt auf den Gipfel des Vulkans, der nun Geröll und glühende Felsbrocken dutzende Meter hoch in die Luft schleuderte. Gleich neben ihr klatschte etwas, das aussah wie eine rot-schwarz schimmernde Luftblase, auf das harte Gestein und spritzte auseinander. Einige der Spritzer trafen Muray und brannten kleine, schwarze Löcher in ihren silbernen Panzer. Sie brüllte vor Angst und Schmerz und flatterte mit ihren Schwingen, um abzuheben, aber die Liebe zu ihrem Sohn hielt sie zurück. "Beeil dich!", keuchte sie und gab ihrem Sohn einen Stupser mit der Pranke. Nord mühte sich vorwärts. Ihm schien als würde sich der Rand des Plateaus eher von ihm entfernen, als näher zu kommen, obwohl er all seine Kraft aufwand, um vorwärts zu kriechen. Hilfesuchend blickte er zu seiner Mutter zurück und sah gerade im richtigen Moment hin, um zu sehen, wie die Spitze des Vulkans mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte und eine glühende Wolke mehrere Kilometer hoch in den Himmel jagte. Das Gefühl einer absolut tödlichen Bedrohung, die von dieser Erscheinung ausging, lähmte ihn einige Augenblicke lang, bevor es ihn zu einer Geschwindigkeit antrieb, die ihn in Sekundenschnelle an den Rand des Plateaus brachte. Er blickte noch einmal zurück und sah seine Mutter, die wie erstarrt stehengeblieben war und mit vor Entsetzen geweiteten Augen das Phänomen anstarrte, das sich hinter ihnen abspielte. "Mutter! Komm!", schrie Nord und breitete seine Flügel aus. Muray reagierte nur langsam. Die Wolke begann zurück zur Erde zu sinken und es sah aus als würde sie ein Eigenleben entwickeln. Sie begann wie eine Flüssigkeit den Hang hinunter zu laufen und damit auf Nord und seine Mutter zu. Ohne einen weiteren Blick darauf zu verschwenden stieß sich Nord ab und schwang sich in die Luft. Er spürte, dass seine Mutter ihm folgte und sah sich zu ihr um. Die Wolke donnerte den Hang hinab und holte sie ein. Nord sah, wie seine Mutter von ihr eingehüllt wurde und Sekunden später umfing sie auch ihn. Aber was wie eine einfache, glühende Wolke ausgesehen hatte, stellte sich als ein Gemisch aus Gasen, Asche, Lava und Felsbrocken heraus. Nord hatte das Gefühl, Feuer zu atmen, und seine Muskeln waren mit einem Mal gelähmt. Er spürte, dass er von mehreren harten Gegenständen getroffen wurde, aber alles, was er fühlte, war diese unerträgliche Hitze um ihn herum und in ihm drin. Ohne es zu merken, wurde er durch die Luft gewirbelt und raste dem Boden entgegen. Mit einem Mal war er aus der Wolke heraus und sah den Erdboden auf sich zukommen, unfähig etwas dagegen zu unternehmen. Ein grauer Schemen huschte an ihm vorbei und war plötzlich unter ihm. Etwas fing seinen Sturz auf und Nord schlug instinktiv mit den Schwingen, um wieder an Höhe zu gewinnen. Wie durch ein Wunder gelang es ihm und der Boden unter ihm wich wieder zurück. In der Ferne konnte er ein glitzerndes Band ausmachen und hielt darauf zu. "Dort ist der Fluss. Dort sind wir sicher!", hörte er seine Mutter unter sich und er sah sich nach ihr um. Sie flog schräg unter ihm und er sah sofort, dass sie schwer verwundet war. Viele ihrer Schuppen hatten sich schwarz gefärbt, teilweise waren sie auch ganz fort und an ihrer Stelle klafften blutende Wunden. Je näher sie dem Fluss kamen, desto mehr verlor Nord an Höhe, ohne etwas dagegen tun zu können. Seine Kräfte verließen ihn nun sehr rasch und als er den Fluss erreichte, kam er sehr hart auf und blieb halbtot vor Erschöpfung liegen. Er nahm noch den Schatten seiner Mutter wahr, die neben ihm aufsetzte, bevor er ganz das Bewusstsein verlor. Zwei gelbe, kugelrunde Lichter starrten ihm entgegen, als er die
Augen aufschlug und er riss erschrocken seinen Kopf hoch. Er sah eine winzige,
dunkle Gestalt davonhuschen. Die Dornenbüsche, in die sich das Wesen
flüchtete raschelten und schwankten sanft, dann war nichts mehr von
dem Fremden zu sehen.
© Tamara
Eisenköck
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