Mokesh und der Heiler von Manharrah

Mokesh lief so schnell er konnte über den schlammigen Boden vor dem Gasthaus. Es regnete in Strömen, und das schon seit zwei Wochen. Die Strassen waren aufgeweicht und für Wagen oder sogar Pferde völlig unpassierbar geworden. Doch diese Tatsache konnte selbst Mokesh nicht davon abhalten, wie immer um diese Zeit zum Gasthaus zu reisen. Dieses Gasthaus befand sich an der wichtigsten Strasse von Nord nach Süd zur Hauptstadt, daher war dies der richtige Ort um die Strasse, und vor allem die transportierten Güter zu überwachen. Jeden Sommer wurde Mokesh von seinem Herrn zu diesem Gasthaus geschickt, damit er darauf achtete, dass nichts ins Königreich gelangte, was nicht dort hin gehörte, zum Beispiel Sklaven. Der Wirt des Gasthauses war inzwischen Mokeshs Freund und Helfer und Mokesh war im Gasthaus ein gern gesehener Gast geworden.
Vor der Tür zum Schankraum blieb Mokesh stehen, schüttelte das Wasser von seinem schwarzen Umhang und versuchte den Schlamm des Weges von seinen Schuhen zu wischen. Ohne Erfolg. Schliesslich gab er es auf und trat in den Schankraum. Die Kapuze des Umhangs behielt er immer auf. Sicher ist sicher.
Es war, wie immer zu dieser Jahreszeit, sehr voll. Feis, der Wirt, stand hinter der Theke und grüsste Mokesh, als dieser vorbei ging. "Wieder gute Kundschaft heute?", fragte Mokesh. "Ja. Die meisten kamen schon vor zwei Wochen hier durch, wurden vom Regen überrascht und blieben hier stecken. Die Zimmer sind schon fast alle belegt, doch ständig kommen neue. Einige musste ich sogar schon abwimmeln, weil es keine Zimmer mehr für Gruppen gab."
Mokesh lächelte gewinnend. "Aber für mich hast du doch bestimmt noch ein Zimmer frei, nicht wahr, Feis, mein Freund?"
Feis grinste zurück. "Sicher. Für eine angemessene Bezahlung kriegst du das Zimmer in dem du sonst auch bist." Mokesh nickte anerkennend und liess sich von Nebra, der Kellnerin, den Schlüssel geben. Müde von seinem langen Marsch stapfte Mokesh durch den Flur hinter dem Schankraum und dann die Treppe hoch in den ersten Stock. Er kannte den Weg. Vor seiner Zimmertür angekommen, zog er erst mal seine verschmutzten Schuhe aus und stellte sie an die Wand. Dann schloss er auf. Drinnen war alles noch so wie immer. Das einfache Bett, der Schrank und der kleine Tisch, an dem zwei alte, klapprige Stühle standen. Doch das Wichtigste war natürlich das Fenster. Mokesh lief hin und öffnete es. Der Regen hatte nicht nachgelassen und durch den Schauer erkannte er gerade noch die Strasse. Gut. Von hier oben würde er alles im Blick haben. Er zog den Tisch und den einen Stuhl ans Fenster, schloss dieses wieder und machte sich daran, seine wenigen Habseligkeiten auszupacken. Aus seinem grossen Umhang zog er zwei lederne Hausschuhe und drei grosse und einen kleinen Beutel. Jeder der Grossen enthielt das Geld für eine Woche im Gasthof mit Verpflegung. Im anderen bewahrte er seine kleinen Gerätschaften auf. Ein Dietrich, ein Klappmesser und einen noch kleineren Beutel mit einem seltsamen Pulver darin. Er hatte alles, was er für seine Aufgabe brauchte, dabei.

Draussen dunkelte es bereits, als Mokesh sich auf den Weg in den Schankraum machte. Auf dem Flur war alles ruhig, doch je näher er dem Schankraum kam, desto lauter wurde das Gerede der Gäste.
Drinnen setzte er sich an einen Tisch nahe dem Fenster, in einer dunklen Ecke nahe dem Feuer. Der Wirt kam auf ihn zu und setzte sich. "Irgendwelche Neuigkeiten?", wollte Mokesh von ihm wissen. Der Wirt nickte bedächtig. "Gerade sind zwei Söldner des Königs angekommen. Sie trugen am Anfang ein Bündel mit sich, doch ich habe es bisher nicht mehr gesehen. Das könnte dich interessieren." Mokesh nickte und trug Feis auf, ihm Bescheid zu sagen, wenn die Söldner den Schankraum betraten, dann stand Feis auf und stellte sich wachsam hinter die Theke.

Nach einer halben Stunde öffnete sich die Türe des Schankraums und zwei Männer traten ein. Mokesh hatte nicht lange, um zu sehen, wer das war. Es waren unverkennbar zwei Söldner des Königs. Ihre lederne Uniform mit dem königlichen Wappen darauf wies sie unverkennbar als Söldner aus. Die beiden Männer sahen sich unsicher im vollen Schankraum um. Sofort kam Feis auf sie zu und dirigierte sie zu dem Tisch gleich neben Mokeshs. Feis drehte sich unauffällig zu ihm um und zwinkerte. Mokesh nickte unmerklich. Die Söldner musterten Mokesh von oben herab, doch Mokesh konnte auch dieses eitle Getue nicht aus der Fassung bringen. Er war einiges gewohnt.
Nebra kam an den Tisch und brachte den Männern das Essen. Sie drehte sich zu Mokesh um, doch der schüttelte den Kopf. Ihm war nun nicht nach essen zumute, schliesslich hatte er einen Auftrag zu erledigen.
Die beiden Söldner schienen sehr lustige Gesellen zu sein, und nach zwei Humpen Bier redeten sie so ausgelassen und laut, dass sich Mokesh nicht einmal mehr anstrengen musste, um sie zu verstehen.
"So ein Mist aber auch, dass wir hier feststecken. Was wollen wir in dieser Zeit mit dem Gefangenen machen? Wir können ihn ja nicht ewig im Zimmer versteckt halten und eigenhändig füttern." Er hickste.
"Ne, das ist nich’ gut.", antwortete der zweite, schon wesentlich beschwipster als der erste. Mokesh hatte genug gehört. Die beiden hatten einen Gefangenen. Der gehörte zweifellos zu den Gütern, die nicht ins Königreich gebracht werden durfte, vor allem wenn er aus den freien Ländern kam. Mokesh erhob sich und schlenderte unauffällig zur Theke. Feis beugte sich zu ihm hinüber. Mokesh zog einen der prall gefüllten Geldbeutel aus dem Umhang und gab ihn Feis. "Halt mir die beiden vom Hals so lange du kannst." Feis nickte. Mokesh wandte sich um und lief aus dem Schankraum hinaus zu seinem Zimmer. Dort angekommen holte er den Beutel mit seinen Werkzeugen und machte sich dann an der Tür am Ende des Ganges zu schaffen, die Feis ihm gewiesen hatte. Die Tür war schnell geknackt. Vorsichtig betrat Mokesh den dunklen Raum. Die Vorhänge waren zugezogen und nur ein kleiner Spalt Licht fiel zwischen den Bahnen ins Zimmer. Mokesh sah schnell was er suchte. Auf dem einzigen Bett lag ein zusammengeschnürtes Bündel, ungefähr so gross wie ein Mensch, und regte sich nicht.
Schnell ging Mokesh darauf zu, doch noch bevor er es erreicht hatte, öffnete sich die Tür hinter ihm unter lautem Gekreische noch weiter und die beiden Söldner traten ein. Sie waren genau so perplex wie Mokesh, doch Mokesh erholte sich schneller wieder aus seiner Erstarrung. Geistesgegenwärtig zog er den kleinen Beutel mit seinem Geheimpulver aus dem grossen Beutel, machte ihn auf und blies den beiden Söldnern eine Ladung davon ins Gesicht. Bevor diese sich rühren konnten, lagen sie schon schlafend auf dem Boden.
Ohne sich weiter um sie zu kümmern schnappte sich Mokesh das Bündel und trug es in seine Kammer. Dort angekommen legte er das Bündel sorgfältig aufs Bett und machte sich daran, es auszuwickeln. Zum Vorschein kam - ein Elb! Er trug das graue Gewand eines Heilers, das an der Schulter von einer kunstvoll verzierten Brosche zusammengehalten wurde. Er war ohnmächtig. Vorsichtig versuchte Mokesh ihn zu wecken, doch erst als er ihm einen Schwall kalten Wassers über den Kopf leerte, erwachte er. Mit grossen Augen sah er Mokesh an. "Wer bist du?", fragte er.
"Das tut nichts zur Sache. Wichtig ist, dass du wohlauf bist. Wer bist du?" "Mein Name ist Erlon. Ich komme aus den freien Königreichen." "Ja, das habe ich mir schon gedacht. Doch nun sprecht, Erlon. Warum wurdet ihr gefangen genommen?" "Nun, ich bin im Moment der einzige freie Heiler, den es in den freien Königreichen noch gibt. Ich finde keinen Nachfolger mehr. Eines Tages tauchten in meinem Dorf die beiden Söldner auf, zufällig belauschte ich eines Nachts ihre Unterhaltung. Sie hatten den Auftrag, einen Heiler zu suchen und ihn zum König zu bringen, mit dem Ziel, dass es in den freien Königreichen keinen Heiler mehr geben würde, und somit alle Kranken entweder sterben oder ins Königreich gehen müssen. Ich wollte fliehen, doch die beiden Söldner waren schneller. Auf dem Weg zum nächsten Dorf haben sie mich gefangen genommen." Eine Weile schwieg Mokesh. "Das erklärt aber immer noch nicht, warum der König will, dass Menschen aus den freien Königreichen zu ihm kommen sollten." "Auch das habe ich herausfinden können. Der König hat die Absicht, die freien Königreiche anzugreifen, um sie seiner Herrschaft zu unterwerfen. Seine Magier haben einen neuen Stoff gefunden, den sie den Einwanderern geben wollen, die kommen, um von mir geheilt zu werden. Damit können sie sie gefügig machen und sie für des Königs Heer rekrutieren." Mokesh nickte schwer. Das erklärte vieles. "Hör zu, Erlon. Geh zurück in dein Dorf und verbirg dich gut. Das Beste wäre, wenn du dein Wissen so schnell wie möglich weiter geben würdest. Es braucht mehr als einen Heiler in den freien Königreichen. Ich werde inzwischen meinen Herrn von der drohenden Gefahr in Kenntnis setzen. Erlon war einverstanden, sofort zu gehen. Er kaufte sich von dem Geld, das Mokesh ihm gab, ein Pferd und machte sich sogleich auf den Weg. Auch Mokesh wollte so schnell wie möglich aufbrechen, doch zuerst fesselte er die noch immer schlafenden Söldner zusammen und legte sie aufs Bett. Dann verschloss er die Tür hinter sich. Die beiden würde man nicht so schnell finden.

Im Morgengrauen des nächsten Tages preschte ein schwarzes Pferd mit einem schwarzen Reiter auf dem Rücken die Strasse entlang, die nach Süden führte. Noch immer war der Boden sumpfig, doch der Reiter lenkte sein Pferd geschickt am Wegesrand entlang. Mokesh war auf dem Weg zu seinem Meister...
 

© Manharrah
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