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Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern
zur zweitbesten Projekt-Story 2006 im Drachental gewählt!

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Ashka von Alandra

Ashka öffnete das Geheimfach und holte eine Nachricht raus. Schnell überflog sie die Notiz. Jemand hatte einen Auftrag für sie. Diesmal sollte sie bei einem Priester einbrechen. Eine ihrer leichtesten Übungen. Sie seufzte. Nie hatte jemand einen wirklich schweren Auftrag für sie. Der Priester wohnte beim Tempel des Drachengottes, also am anderen Ende der Stadt. Ashka holte ihr Werkzeug und machte sich auf den Weg. Sie stapfte durch den Schnee, der in der Unterstadt mittlerweile kniehoch stand. Es bestand wenig Hoffnung, dass die Strassen geräumt werden würden. Nicht hier, wo die Leute lebten, die etwas zu verbergen hatten, so wie sie. Ashka war nur ein Künstlername. In Wahrheit hiess sie Darta è Koshroa í Nimsanae Ghisthroha und war eine entfernte Verwandte der Königin von Helom. Dass sie nicht am Hof wohnte hatte sie der Tatsache zu verdanken, dass sie verbannt worden war.
"Götter, diese verdammte Kälte!" fluchte Ashka. In Helom war es nie so kalt gewesen, aber hier, in den Nordländern, dauerte der Sommer gerade mal einen Monat, und das bei Temperaturen, die in Helom nur im Winter herrschten. Sie zog ihren Umhang fester um sich. Nach etwa einer Stunde hatte sie den Tempel erreicht.
Er war hell erleuchtet, was aber nicht bedeutete, dass jemand drinnen war. Sie spähte durch eines der kleinen Fenster. Niemand war zu sehen. In dieser Art von Tempel wohnten die Priester in einer Art Obergeschoss. Ashka sah hoch. Oben brannten keine Lichter. Wahrscheinlich schliefen der Priester und die Novizen schon. Sie schlich sich zur Rückseite des Tempels. Wie sie erwartet hatte, befand sich dort eine kleine, unauffällige Türe. Mit einem Dietrich öffnete sie das einfache Schloss. Die Tür schwang lautlos auf und Ashka huschte hinein. Sie stand einige Sekunden still und wartete, bis sich ihre Augen an die vollkommene Dunkelheit gewöhnt hatten, die in diesem Teil des Tempels herrschte. Sie erkannte die Umrisse einer Treppe und hielt auf sie zu. Als sie die Treppe hochstieg, achtete sie darauf, dass sie sich am Rand der Stufen hielt. Sie war schon einmal erwischt worden, weil die Treppe geknarrt hatte. Am oberen Ende der Treppe befand sich eine, unverschlossene, Türe. Ashka lächelte. Es gab so viele dumme Leute. Am Ende des Flurs lag eine weitere Türe. Das Zeichen des goldenen Drachen zeigte ihr, dass dies das von ihr gesuchte Zimmer war. Sie zog ihren Dolch und drückte mit ihm die Klinke runter. Die Türe öffnete sich, gleichzeitig schoss ein Stachel mit hässlich aussehenden Widerhaken hoch. Ashka verzog ihr Gesicht, hätte sie nicht den Trick mit dem Dolch angewandt, würde sie jetzt wahrscheinlich festhängen.
Sie betrat das Zimmer hinter der Türe. In einem Bett am hinteren Ende des Raumes lag eine schlafende Gestalt. Auf einem Tisch unter einem Fenster stand ein kleiner Kasten. Das war ihr Ziel. Langsam näherte sie sich dem Kasten. Vorsichtig tastete sie den Kasten ab. Sie konnte keinerlei Fallen entdecken. Eigenartig, wenn das Kästchen wertvoll genug war, um gestohlen zu werden. Aber um so besser, dachte Ashka. Das Schloss war einfach genug zu knacken, um leichte Besorgnis in Ashka zu wecken. Der Deckel sprang auf und gab den Blick frei auf etwas, das Ashka schon lange nicht mehr gesehen hatte. In dem Moment legte sich ein Arm um ihren Oberkörper und eine Hand hielt ihr den Mund zu.
Sie strampelte mit den Beinen um frei zu kommen, aber der Griff verstärkte sich nur.
"Sei ruhig, ich muss mit dir reden." zischte die Person hinter ihr. Ashka gehorchte. Die Hand löste sich von ihrem Mund und Ashka sog gierig Luft in ihre Lungen. Der Arm, der um ihren Oberkörper lag, wurde jedoch nicht bewegt.
"Was willst du?" fragte sie heiser.
Die Person hinter ihr zog einen Stuhl heran und drückte Ashka darauf. Dann trat der Unbekannte hervor und setzte sich ihr gegenüber auf einen anderen Stuhl. Soviel konnte Ashka erkennen, dass ihr Gegenüber ein Elb oder etwas ähnliches war.
"Du bist der Priester, nicht?" fragte Ashka.
Der Elb nickte. "Mhm, aber das ist momentan nicht wichtig. Der Auftrag kam von mir. Ich wusste nicht wie ich dich sonst erreichen sollte." Ashka war kaum überrascht, von dem Augenblick, als sie den Kasten geöffnet hatte, wusste sie, dass das kein gewöhnlicher Auftrag war. "Vor einigen Tagen hatte ich eine... Vision, der Drachengott erschien mir und erzählte mir, ich sollte dich holen und dir den Inhalt dieses Kästchens dort zeigen."
Langsam dämmerte es Ashka. "Wie sah dieser Gott aus?"
Der Priester starrte Ashka an, als wäre sie verrückt. Dann beschrieb er ihr den Drachengott. "Er war... gross, sehr gross und... und er strahlte ein helles Licht aus, er schien aus Licht zu bestehen. Er -" Der Priester hielt inne, er hatte bemerkt wie Ashkas Augen sich für den Bruchteil einer Sekunde geweitet hatten. "Was ist?" fragte er misstrauisch.
"Nichts." winkte Ashka ab. In Wirklichkeit war sie erschüttert. Dieser Gott, von dem der Priester gesprochen hatte, war der helomische Hauptgott. Und das Siegel im Kästchen war das der Königin von Helom. "Woher hast du den Kasten?" fragte sie, so unverfänglich wie möglich.
"Er war eines Tages einfach da. Aber du solltest jetzt gehen, das erste Gebet beginnt gleich. Und es wäre unpassend, wenn man mich mit dir in meinem Zimmer finden würde." Der Priester grinste.
"Ich muss aber mehr wissen." beharrte Ashka.
"Gut, wir treffen uns in drei Stunden am Platz des Lichts. Und jetzt solltest du verschwinden." flüsterte er hektisch.
Ashka nickte und verschwand lautlos aus dem Zimmer.

Drei Stunden später stand Ashka am Brunnen, der auf dem Platz des Lichts stand. Sie hatte die Zeit genutzt, um sich zu informieren. Sie wusste jetzt, dass der Priester Menior hiess und ein Halbelf war, dessen Mutter Priesterin der Feshka gewesen war. Ausserdem hatte sie herausgefunden, was in den letzten Jahren in Helom geschehen war. Kurz nachdem Ashka verbannt worden war, war der Kronprinz bei einem Steinschlag ums Leben gekommen. In seiner Nähe wurden verdächtige Spuren gefunden, die auf einen Mord schliessen liessen. Die Täter waren nie gefasst worden. Nacheinander waren so alle mit der Königin auch nur entfernt verwandten Adeligen auf mysteriöse Weise gestorben. Wenn die Königin jetzt starb, würde der Vizeregent, der, einem uralten Gesetz entsprechend, niemals mit der Königin verwandt sein durfte, zum König werden. Wenn nicht..., ja wenn nicht Ashka zurückkehrte und ihren Anspruch auf den Thron geltend machen würde. Wenn es das war, weswegen der Gott erschienen war, hatte er nur eine Kleinigkeit vergessen, Ashka war verbannt worden. Voller Bitterkeit dachte Ashka an jenen Abend zurück, an dem sie in den Palast gerufen wurde. Sie konnte die Königin direkt vor sich sehen, wie sie Ashka, die damals noch Darta genannt wurde, enttäuscht ansah. Auch wenn Ashka nur eine entfernte Verwandte der Königin war, war sie immer am Hof willkommen gewesen.
Ashka verdrängte diese Gedanken und hielt nach dem Priester Ausschau. Da näherte er sich auch schon dem Brunnen, an dem Ashka auf ihn wartete. Er trug braune Lederhosen, ein einfaches, dunkelgrünes Hemd und einen gefütterten Mantel mit Pelz verbrämten Saum. Zum ersten mal sah Ashka Menior bei gutem Licht. Er sah gut aus, sehr gut sogar. Er trug sein dunkelblondes Haar länger als es Mode war und seine saphirblauen Augen blitzten schalkhaft. Seinen schmalen Mund hatte er zu einem kleinen, schiefen Lächeln verzogen. Seine scharf geschnittene Gesichtszüge wurden nur durch seinen verschmitzten Gesichtsausdruck gemildert. Er war schlank und hochgewachsen. Seine Ohren waren nur wenig länger und spitzer als die Ashkas. Er blickte etwas verloren in die Menge, dann entdeckte er Ashka und hielt auf sie zu. Augenscheinlich wusste er ganz genau wie sie aussah. "Da bist du ja!" begrüsste er sie. Ashka stand auf und sie liefen zusammen durch die Stadt. "Was willst du wissen?" fragte Menior.
"Hat der Gott sonst irgend etwas gesagt?"
Menior runzelte die Stirn. "Nein, ich glaube nicht... warte, er hat etwas über Vögel gesagt, ja: Die Sterne sind untergegangen, nur der Morgenstern leuchtet noch über dem Land, das von den Heuschrecken heimgesucht wird, doch es wird auch der letzte Stern verlöschen und die Heuschrecken werden das Land kahlfressen. Nur die Möwe, die aus dem Norden in ihre Heimat zurückkehrt und den Stern des Nordhimmels mitbringt, wird die Heuschrecken vernichten können. Das sagte er, aber was das heissen soll, weiss ich nicht."
Dafür wusste Ashka um so besser, was das bedeuten sollte. Der Morgenstern war die Königin und die anderen Sterne alle Thronanwärter. Es war klar, dass mit den Heuschrecken der Vizeregent und seine Sippe waren. Und die Möwe... damit war sie gemeint, oder vielmehr Darta è Koshroa í Nimsanae Ghisthroha. So hatte der Kronprinz sie immer genannt, als sie noch kleiner gewesen waren. Nur was es mit diesem Stern des Nordhimmels auf sich hatte, konnte Ashka sich beim besten Willen nicht vorstellen. Aber anscheinend war es an der Zeit, Lady Darta wiederauferstehen zu lassen. Doch was genau der Gott damit bezwecken wollte, war Ashka ein Rätsel. Als Verbannte hatte sie keinerlei Anrecht auf den Thron, ausser... Aber Ashka verdrängte diesen Gedanken, diese Möglichkeit könnte ihr ganzes Leben zerstören, und damit würde sie sich nie abfinden können. In den Jahren, die sie in diesen verflucht kalten Ländern verbracht hatte, hatte sie sich an ein freies Leben gewöhnt. Und da sie nicht damit gerechnet hatte, wieder zurückzukehren, war ihr diese Stadt ans Herz gewachsen. Sie seufzte schwermütig.
"Was hast du?" fragte der gutaussehende Priester.
"Nichts." Er war neugierig, fiel Ashka auf. Natürlich, er wusste noch immer nichts und wartete auf eine Erklärung. Irgendwann wirst du dich entscheiden müssen und zurückkehren oder hierbleiben, aber Menior hat ein Recht darauf, zu wissen, was die Nachricht seinen Gottes bedeutet dachte Ashka. Sie würde ihm alles erklären, aber nicht jetzt, vielleicht nicht einmal in den nächsten Tagen. Automatisch war sie davon ausgegangen, dass Menior und sie aufbrechen würden, denn sie hatte schon ausgerechnet, wie lange die Rückreise dauern würde. Energisch schüttelte Ashka den Kopf, um sich vom Gedanken an Aufbruch zu befreien. Sie würde nicht gehen, nur weil irgendein Gott es verlangte.
Menior hob nur eine Augenbraue, anscheinend hatte er sich, wenigstens momentan, damit abgefunden, nichts zu erfahren. Sie hielten an einer kleinen Bäckerei in der Unterstadt. Menior kaufte für jeden ein Brot und sie setzten sich auf die Stadtmauer, die in Friedenszeiten für jedermann zugänglich war. Von hier aus konnte man auf den Fluss hinab sehen, der sich ziemlich weit unter ihnen durch eine Schlucht schlängelte. Die Stadt war oben auf die Klippen erbaut worden, aus Gründen die heute niemand mehr kannte. Ein schmaler Weg wand sich an der Felswand entlang von der Stadt bis zu dem kleinen Hafen, der an einer flacheren Stelle des Flusses lag. Nur Fussgänger, Reiter und kleinere Wagen konnten den Weg benutzen. Grössere Lasten wurden über ein kompliziertes System von Flaschenzügen hochgezogen. Gerade legte ein kleines Flussschiff an, das irgendwelche grossen Steinblöcke geladen hatte.
"Was beschäftigt dich?" fragte Menior.
Ashka hatte abwesend den Hafen und die Schiffe betrachtet und wandte jetzt langsam den Kopf. "Was soll schon sein?" antwortete sie nicht sehr überzeugend.
Menior antwortete mit einem schwer zu deutenden Blick. Dann sah er auf die Sonne und erschrak. "Verdammt! Ich habe das Nachmittagsgebet verpasst! Ich muss sofort zurück!" Er war schon aufgesprungen, als er sich nochmals umdrehte und zu Ashka zurücklief. "Treffen wir uns morgen? Vielleicht... hat dann einer von uns mehr herausgefunden?" Offensichtlich hatte der junge Priester noch andere Gründe, sie wieder zusehen.
"Wenn ich etwas weiss, komme ich in den Tempel. Ich sage, ich will dem Tempel etwas spenden, soweit ich weiss, kannst nur du das regeln."
Menior nickte. Er reichte ihr die Hand und sie verabschiedeten sich. 

Langsam lief Ashka durch die Stadt, auf der Suche nach, ja, nach was? Sie wusste es selber nicht so genau. Wahrscheinlich suchte sie einen Rat. Noch immer wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie konnte in der Stadt bleiben und weiter ein, mehr oder weniger, freies Leben führen oder sie konnte nach Helom fahren, wo ein Leben auf sie wartete, das sie sich sicher niemals gewünscht hatte. Seufzend machte sie sich auf den Weg zu ihrer Bleibe in der Unterstadt. Die Bezeichnung Unterstadt bezeichnete nicht so sehr die Lage dieses Stadtteils, der am weitesten von den Klippen entfernt lag, sondern vielmehr den sozialen Stand der Bewohner. Auf den leicht abfallenden Strassen lag immer mehr Schnee, je näher sie sich dem Zentrum der Unterstadt näherte. Einige Strassen von ihrer Wohnung entfernt stand ihr der Schnee schon beinahe hüfthoch. Grummelnd kämpfte sie sich durch den Schnee, bis sie schliesslich vor ihrer Türe stand. Mit zitternden Händen schloss sie auf. Drinnen war es ebenso kalt wie draussen. Sie zündete ein Feuer an und bald breitete sich wohlige Wärme im Zimmer aus. Ashka zog ihren Umhang aus und warf ihn achtlos in eine Ecke. Mit einem zufriedenen Seufzer liess sie sich auf ein schmales Bett fallen. Es war noch früh am Tag, jedenfalls für ihre Verhältnisse und sie war hellwach, wenigstens war sie das, als sie hereingekommen war. Doch das warme Feuer und das weiche Bett schläferten sie ein. Kurz bevor sie ganz ins Land der Träume versank, bemerkte sie einen ungewohnten, aber angenehmen Geruch in der Wohnung.
Sie stand in einem hohen Raum, dessen Grenzen, weder zu den Seiten noch nach oben, sie nicht wahrnehmen konnte. Trotzdem wusste sie, dass sie sich in einem Raum befand. Überall in diesem Raum befanden sich kleine Lichter, die um sie herum wirbelten und sie ab und zu liebkosend an den Armen streiften.
"Willkommen" dröhnte eine Stimme in ihrem Kopf. "Ich heisse dich willkommen, Darta è Koshroa í Nimsanae Ghisthroha."
"Woher...?" fragte Ashka, obwohl sie die Antwort schon kannte.
"Ich bin ein Gott, Darta von Ghisthroha. Auch wenn ich nicht alles weiss, so kenne ich doch die Namen aller Menschen, die auf dieser Erde je gelebt haben." Die Stimme des Gottes war klar und doch wirkte sie verschwommen, wie die Lichter, die sich jetzt immer dichter um Ashka sammelten.
"Was willst du von mir?" rief Ashka.
"Das weißt du doch schon. Du sollst nach Helom zurückkehren und dort dein dir bestimmtes Schicksal erfüllen." Noch immer klang die Stimme sanft, doch eine Spur von... Ungeduld war heraus zuhören.
"Und was ist, wenn ich nicht will? Wenn ich selber bestimmen will, was ich tue?" Herausfordernd blickte Ashka, mangels eines sichtbaren Gesprächspartners, ein besonders vorwitziges Lichtlein an, das sich gerade anschickte, sich auf Ashkas Nase niederzulassen.
"Das kannst du nicht, du denkst vielleicht, deine Flucht, denn nur so kann man das nennen, was du vor Jahren getan hast, du denkst vielleicht, deine Flucht hätte dich vor deinem Schicksal bewahrt, aber dem ist nicht so." Die Wut, die in diesem einen Satz lag, war jetzt unüberhörbar.
"Zeig dich!" verlangte Ashka. Sie hatte keine Reaktion erwartet, doch auf einmal zogen sich die Lichter zusammen und bildeten einen leuchtenden Umriss. Ganz eindeutig war dieser Umriss ein Drache, der Drachengott dieser Stadt und der Hauptgott Heloms. "Festhnisàl." flüsterte Ashka.
"Der bin ich. Und du bist die Möwe. Du musst zurück kehren und das tun, was dir prophezeit war."
"Aber ich will nicht." wollte Ashka antworten, doch in dem Moment schlug sie die Augen auf.

Sie blinzelte verwundert. Sicher war das nur ein gewöhnlicher Traum gewesen, oder etwa doch nicht? Verärgert über ihre eigene Abergläubigkeit schüttelte sie den Kopf. Ashka stand auf und zog sich den Umhang an. Ziellos wanderte sie durch die Strassen und wunderte sich, als sie plötzlich vor dem Tempel des Drachen stand. Sie beschloss, dass sie nun genau so gut hineingehen konnte.
Das Innere des Tempels war reich geschmückt mit Bildern der Gottheit, die jedoch nicht ganz der Wirklichkeit entsprachen. Keines fing das unberechenbare Temperament des Gottes ein, das sich während Ashkas Traumes gezeigt hatte. In den Ecken wurden Kräuter verbrannt, die Visionen fördern sollten. Der Geruch kam Ashka entfernt bekannt vor, doch sie konnte ihn nicht einordnen. Eine junge Novizin hatte sie bemerkt und fragte sie nach ihrem Begehren. Als Ashka antwortete, sie würde gerne etwas spenden, bat die Novizin sie freundlich, kurz zu warten und verschwand hinter einem Vorhang. Kurze Zeit darauf kam sie zurück, in Begleitung Meniors. "Danke, Mira. Du kannst uns jetzt alleine lassen." Das Mädchen verbeugte sich und kehrte zurück hinter den Vorhang.
"Weißt du mehr?" fragte Menior leise.
Ashka nickte. "Aber können wir das nicht wo anders besprechen?"
Diesmal war es an Menior, zu nicken. Er führte sie einen Gang entlang und durch eine Türe nach draussen. Ashka bemerkte, dass das die Türe war, durch die sie gestern Abend eingebrochen war. "Was weißt du neues?" fragte Menior begierig.
Ashka rang innerlich mit sich selber. Wenn sie ihm von ihrem Traum erzählte, würde sie ihm auch von ihrer Verbannung erzählen müssen.
"Was ist?" fragte Menior leicht beunruhigt.
"Komm mit. Ich muss ein wenig laufen."
Achselzuckend folgte er ihr.
"Ich heisse nicht Ashka und ich komme auch nicht von hier." begann sie. "Mein Name ist Darta è Koshroa í Nimsanae Ghisthroha. Ich stamme aus Helom und bin wegen Verrates verbannt worden." Sie machte eine Pause. "Vor einigen Jahren führte Helom Krieg gegen ein Nachbarland. Irgend jemand hat der Königin gesagt, ich würde mit dem Feinde zusammenarbeiten. Sie durchsuchten mein Haus und fanden einige kompromittierende Dokumente... unter meiner Matratze. Es war ein Schock für die Königin, immerhin bin ich eine entfernte Verwandte von ihr. Niemand glaubte mir, als ich sagte ich sei unschuldig. Nicht nachdem ich schon öfters... Dummheiten angestellt hatte. Ich wurde verbannt, nur die Königin selber kann mich wieder aufnehmen. Aber ich bezweifle, dass sie es tun wird."
Menior hatte bis jetzt schweigend zugehört und stellte nun eine Frage. "Was hat das mit meiner... Vision zu tun?"
"Nun, dazu komme ich gleich. In der Zwischenzeit sind alle Verwandten der Königin gestorben, ausser mir natürlich. Der letzte Stern ist die Königin. Die Heuschrecken sind der Vizeregent und seine Familie. Ich wette, sie stecken hinter den Morden an den Thronfolgern. Also, die Möwe bin ich. Und der Stern... ich weiss nicht. Was ich dir sagen wollte, ist, dass ich heute Nachmittag eine Vision oder so etwas hatte." Ashka beschrieb ihm die Vision und Menior hörte ruhig zu. Ab und zu warf er eine Frage ein. Als Ashka endete, blickte er sinnend zu Boden.
"Ich würde gehen." sagte er schliesslich.
Ashka schwieg, sie hatte befürchtet, Menior würde dieser Meinung sein. Eigentlich wollte sie ja zurück, aber etwas hielt sie davon ab. Sie wusste nicht, ob es Trotz war oder ob sie sich nicht dazu aufraffen konnte, ihr freies Leben aufzugeben, zum Wohle ihres Landes. Nein, falsch, zum Wohle des Landes, das sie ausgestossen hatte. Sie seufzte. "Meinst du wir kriegen ein Schiff, das direkt nach Helom fährt?" fragte sie Menior.
"Ich denke schon, wir könnten gleich fragen gehen und zwei Passagen buchen."
Als sie zum Hafen liefen, erwähnte Ashka nicht, dass Menior in der Mehrzahl gesprochen hatte. Sie hätte ihn ohnehin gefragt, ob er sie begleiten würde. Sie mochte ihn, sehr sogar. Bis jetzt hatte sie sich das nicht eingestehen wollen, doch jetzt, als sie nebeneinander herliefen und er ihr vom Leben im Tempel erzählte, wurde ihr klar, dass das, was sie für ihn empfand, mehr als blosse Freundschaft war. Sie wurde rot und Menior unterbrach sich. Sein Blick ruhte auf ihr, dann wandte er sich abrupt ab und kaufte sich einen Apfel.
"Willst du auch einen?" fragte er. Ashka schüttelte den Kopf.
Bis zum Hafen sprachen sie kein Wort mehr miteinander. Während Menior mit einem Kapitän verhandelte, sah sie sich um und dachte darüber nach, was sich in Helom wohl alles verändert hatte, seit ihrer Verbannung. Sie dachte auch darüber nach, wie die Königin sie... begrüssen würde.
Jemand klopfte ihr auf die Schulter. Ashka wirbelte herum, ihren Dolch in der Hand. Vor ihr stand ein erschrockener Menior, der jetzt langsam einen Schritt zurücktrat.
Hastig steckte Ashka ihren Dolch wieder ein. "Tut mir Leid... Ich wollte dich nicht..." stammelte sie entschuldigend.
"Ist schon gut. Ich wollte dir sagen, dass ich jemanden gefunden habe, der uns nach Helom bringt. Die Rabenfeder legt noch heute ab. Hast du alles dabei was du brauchst?" fragte Menior.
Ashka überlegte kurz und nickte dann, sie würde nichts brauchen, was sie Zuhause gelassen hatte.

Etwa eine Stunde später legte die Feder ab. Ashka stand im Bug und blickte dem Fluss entlang. Menior trat zu ihr und legte seinen Arm um ihre Schulter. Langsam drehte Ashka ihren Kopf und lächelte ihn an. Was sie in Helom erwartete, wusste sie nicht, aber Menior war bei ihr und sie vertraute ihm. Er würde ihr helfen.

Nun Darta è Koshroa, du willst dein Schicksal erfüllen. Aber nicht alleine, das ist gut... dachte der Drachengott und beschloss ein wachsames Auge auf Ashka zu haben, auch wenn er schon wusste, was geschehen würde. Manchmal war es frustrierend, die Zukunft zu kennen und nichts machen zu können, ausser dafür zu Sorgen, dass jeder sich an das ihm vorgeschriebene Schicksal hielt.
 

© Alandra
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