Ashka öffnete das Geheimfach und holte
eine Nachricht raus. Schnell überflog sie die Notiz. Jemand hatte
einen Auftrag für sie. Diesmal sollte sie bei einem Priester einbrechen.
Eine ihrer leichtesten Übungen. Sie seufzte. Nie hatte jemand einen
wirklich schweren Auftrag für sie. Der Priester wohnte beim Tempel
des Drachengottes, also am anderen Ende der Stadt. Ashka holte ihr Werkzeug
und machte sich auf den Weg. Sie stapfte durch den Schnee, der in der Unterstadt
mittlerweile kniehoch stand. Es bestand wenig Hoffnung, dass die Strassen
geräumt werden würden. Nicht hier, wo die Leute lebten, die etwas
zu verbergen hatten, so wie sie. Ashka war nur ein Künstlername. In
Wahrheit hiess sie Darta è Koshroa í Nimsanae Ghisthroha
und war eine entfernte Verwandte der Königin von Helom. Dass sie nicht
am Hof wohnte hatte sie der Tatsache zu verdanken, dass sie verbannt worden
war.
"Götter, diese verdammte Kälte!"
fluchte Ashka. In Helom war es nie so kalt gewesen, aber hier, in den Nordländern,
dauerte der Sommer gerade mal einen Monat, und das bei Temperaturen, die
in Helom nur im Winter herrschten. Sie zog ihren Umhang fester um sich.
Nach etwa einer Stunde hatte sie den Tempel erreicht.
Er war hell erleuchtet, was aber nicht bedeutete,
dass jemand drinnen war. Sie spähte durch eines der kleinen Fenster.
Niemand war zu sehen. In dieser Art von Tempel wohnten die Priester in
einer Art Obergeschoss. Ashka sah hoch. Oben brannten keine Lichter. Wahrscheinlich
schliefen der Priester und die Novizen schon. Sie schlich sich zur Rückseite
des Tempels. Wie sie erwartet hatte, befand sich dort eine kleine, unauffällige
Türe. Mit einem Dietrich öffnete sie das einfache Schloss. Die
Tür schwang lautlos auf und Ashka huschte hinein. Sie stand einige
Sekunden still und wartete, bis sich ihre Augen an die vollkommene Dunkelheit
gewöhnt hatten, die in diesem Teil des Tempels herrschte. Sie erkannte
die Umrisse einer Treppe und hielt auf sie zu. Als sie die Treppe hochstieg,
achtete sie darauf, dass sie sich am Rand der Stufen hielt. Sie war schon
einmal erwischt worden, weil die Treppe geknarrt hatte. Am oberen Ende
der Treppe befand sich eine, unverschlossene, Türe. Ashka lächelte.
Es gab so viele dumme Leute. Am Ende des Flurs lag eine weitere Türe.
Das Zeichen des goldenen Drachen zeigte ihr, dass dies das von ihr gesuchte
Zimmer war. Sie zog ihren Dolch und drückte mit ihm die Klinke runter.
Die Türe öffnete sich, gleichzeitig schoss ein Stachel mit hässlich
aussehenden Widerhaken hoch. Ashka verzog ihr Gesicht, hätte sie nicht
den Trick mit dem Dolch angewandt, würde sie jetzt wahrscheinlich
festhängen.
Sie betrat das Zimmer hinter der Türe.
In einem Bett am hinteren Ende des Raumes lag eine schlafende Gestalt.
Auf einem Tisch unter einem Fenster stand ein kleiner Kasten. Das war ihr
Ziel. Langsam näherte sie sich dem Kasten. Vorsichtig tastete sie
den Kasten ab. Sie konnte keinerlei Fallen entdecken. Eigenartig, wenn
das Kästchen wertvoll genug war, um gestohlen zu werden. Aber um
so besser, dachte Ashka. Das Schloss war einfach genug zu knacken,
um leichte Besorgnis in Ashka zu wecken. Der Deckel sprang auf und gab
den Blick frei auf etwas, das Ashka schon lange nicht mehr gesehen hatte.
In dem Moment legte sich ein Arm um ihren Oberkörper und eine Hand
hielt ihr den Mund zu.
Sie strampelte mit den Beinen um frei zu kommen,
aber der Griff verstärkte sich nur.
"Sei ruhig, ich muss mit dir reden." zischte
die Person hinter ihr. Ashka gehorchte. Die Hand löste sich von ihrem
Mund und Ashka sog gierig Luft in ihre Lungen. Der Arm, der um ihren Oberkörper
lag, wurde jedoch nicht bewegt.
"Was willst du?" fragte sie heiser.
Die Person hinter ihr zog einen Stuhl heran
und drückte Ashka darauf. Dann trat der Unbekannte hervor und setzte
sich ihr gegenüber auf einen anderen Stuhl. Soviel konnte Ashka erkennen,
dass ihr Gegenüber ein Elb oder etwas ähnliches war.
"Du bist der Priester, nicht?" fragte Ashka.
Der Elb nickte. "Mhm, aber das ist momentan
nicht wichtig. Der Auftrag kam von mir. Ich wusste nicht wie ich dich sonst
erreichen sollte." Ashka war kaum überrascht, von dem Augenblick,
als sie den Kasten geöffnet hatte, wusste sie, dass das kein gewöhnlicher
Auftrag war. "Vor einigen Tagen hatte ich eine... Vision, der Drachengott
erschien mir und erzählte mir, ich sollte dich holen und dir den Inhalt
dieses Kästchens dort zeigen."
Langsam dämmerte es Ashka. "Wie sah dieser
Gott aus?"
Der Priester starrte Ashka an, als wäre
sie verrückt. Dann beschrieb er ihr den Drachengott. "Er war... gross,
sehr gross und... und er strahlte ein helles Licht aus, er schien aus Licht
zu bestehen. Er -" Der Priester hielt inne, er hatte bemerkt wie
Ashkas Augen sich für den Bruchteil einer Sekunde geweitet hatten.
"Was ist?" fragte er misstrauisch.
"Nichts." winkte Ashka ab. In Wirklichkeit
war sie erschüttert. Dieser Gott, von dem der Priester gesprochen
hatte, war der helomische Hauptgott. Und das Siegel im Kästchen war
das der Königin von Helom. "Woher hast du den Kasten?" fragte sie,
so unverfänglich wie möglich.
"Er war eines Tages einfach da. Aber du solltest
jetzt gehen, das erste Gebet beginnt gleich. Und es wäre unpassend,
wenn man mich mit dir in meinem Zimmer finden würde." Der Priester
grinste.
"Ich muss aber mehr wissen." beharrte Ashka.
"Gut, wir treffen uns in drei Stunden am Platz
des Lichts. Und jetzt solltest du verschwinden." flüsterte er hektisch.
Ashka nickte und verschwand lautlos aus dem
Zimmer.
Drei Stunden später stand Ashka am Brunnen,
der auf dem Platz des Lichts stand. Sie hatte die Zeit genutzt, um sich
zu informieren. Sie wusste jetzt, dass der Priester Menior hiess und ein
Halbelf war, dessen Mutter Priesterin der Feshka gewesen war. Ausserdem
hatte sie herausgefunden, was in den letzten Jahren in Helom geschehen
war. Kurz nachdem Ashka verbannt worden war, war der Kronprinz bei einem
Steinschlag ums Leben gekommen. In seiner Nähe wurden verdächtige
Spuren gefunden, die auf einen Mord schliessen liessen. Die Täter
waren nie gefasst worden. Nacheinander waren so alle mit der Königin
auch nur entfernt verwandten Adeligen auf mysteriöse Weise gestorben.
Wenn die Königin jetzt starb, würde der Vizeregent, der, einem
uralten Gesetz entsprechend, niemals mit der Königin verwandt sein
durfte, zum König werden. Wenn nicht..., ja wenn nicht Ashka zurückkehrte
und ihren Anspruch auf den Thron geltend machen würde. Wenn es das
war, weswegen der Gott erschienen war, hatte er nur eine Kleinigkeit vergessen,
Ashka war verbannt worden. Voller Bitterkeit dachte Ashka an jenen Abend
zurück, an dem sie in den Palast gerufen wurde. Sie konnte die Königin
direkt vor sich sehen, wie sie Ashka, die damals noch Darta genannt wurde,
enttäuscht ansah. Auch wenn Ashka nur eine entfernte Verwandte der
Königin war, war sie immer am Hof willkommen gewesen.
Ashka verdrängte diese Gedanken und hielt
nach dem Priester Ausschau. Da näherte er sich auch schon dem Brunnen,
an dem Ashka auf ihn wartete. Er trug braune Lederhosen, ein einfaches,
dunkelgrünes Hemd und einen gefütterten Mantel mit Pelz verbrämten
Saum. Zum ersten mal sah Ashka Menior bei gutem Licht. Er sah gut aus,
sehr gut sogar. Er trug sein dunkelblondes Haar länger als es Mode
war und seine saphirblauen Augen blitzten schalkhaft. Seinen schmalen Mund
hatte er zu einem kleinen, schiefen Lächeln verzogen. Seine scharf
geschnittene Gesichtszüge wurden nur durch seinen verschmitzten Gesichtsausdruck
gemildert. Er war schlank und hochgewachsen. Seine Ohren waren nur wenig
länger und spitzer als die Ashkas. Er blickte etwas verloren in die
Menge, dann entdeckte er Ashka und hielt auf sie zu. Augenscheinlich wusste
er ganz genau wie sie aussah. "Da bist du ja!" begrüsste er sie. Ashka
stand auf und sie liefen zusammen durch die Stadt. "Was willst du wissen?"
fragte Menior.
"Hat der Gott sonst irgend etwas gesagt?"
Menior runzelte die Stirn. "Nein, ich glaube
nicht... warte, er hat etwas über Vögel gesagt, ja: Die Sterne
sind untergegangen, nur der Morgenstern leuchtet noch über dem Land,
das von den Heuschrecken heimgesucht wird, doch es wird auch der letzte
Stern verlöschen und die Heuschrecken werden das Land kahlfressen.
Nur die Möwe, die aus dem Norden in ihre Heimat zurückkehrt und
den Stern des Nordhimmels mitbringt, wird die Heuschrecken vernichten können.
Das sagte er, aber was das heissen soll, weiss ich nicht."
Dafür wusste Ashka um so besser, was
das bedeuten sollte. Der Morgenstern war die Königin und die anderen
Sterne alle Thronanwärter. Es war klar, dass mit den Heuschrecken
der Vizeregent und seine Sippe waren. Und die Möwe... damit war sie
gemeint, oder vielmehr Darta è Koshroa í Nimsanae Ghisthroha.
So hatte der Kronprinz sie immer genannt, als sie noch kleiner gewesen
waren. Nur was es mit diesem Stern des Nordhimmels auf sich hatte, konnte
Ashka sich beim besten Willen nicht vorstellen. Aber anscheinend war es
an der Zeit, Lady Darta wiederauferstehen zu lassen. Doch was genau der
Gott damit bezwecken wollte, war Ashka ein Rätsel. Als Verbannte hatte
sie keinerlei Anrecht auf den Thron, ausser... Aber Ashka verdrängte
diesen Gedanken, diese Möglichkeit könnte ihr ganzes Leben zerstören,
und damit würde sie sich nie abfinden können. In den Jahren,
die sie in diesen verflucht kalten Ländern verbracht hatte, hatte
sie sich an ein freies Leben gewöhnt. Und da sie nicht damit gerechnet
hatte, wieder zurückzukehren, war ihr diese Stadt ans Herz gewachsen.
Sie seufzte schwermütig.
"Was hast du?" fragte der gutaussehende Priester.
"Nichts." Er war neugierig, fiel Ashka auf.
Natürlich, er wusste noch immer nichts und wartete auf eine Erklärung.
Irgendwann
wirst du dich entscheiden müssen und zurückkehren oder hierbleiben,
aber Menior hat ein Recht darauf, zu wissen, was die Nachricht seinen Gottes
bedeutet dachte Ashka. Sie würde ihm alles erklären, aber
nicht jetzt, vielleicht nicht einmal in den nächsten Tagen. Automatisch
war sie davon ausgegangen, dass Menior und sie aufbrechen würden,
denn sie hatte schon ausgerechnet, wie lange die Rückreise dauern
würde. Energisch schüttelte Ashka den Kopf, um sich vom Gedanken
an Aufbruch zu befreien. Sie würde nicht gehen, nur weil irgendein
Gott es verlangte.
Menior hob nur eine Augenbraue, anscheinend
hatte er sich, wenigstens momentan, damit abgefunden, nichts zu erfahren.
Sie hielten an einer kleinen Bäckerei in der Unterstadt. Menior kaufte
für jeden ein Brot und sie setzten sich auf die Stadtmauer, die in
Friedenszeiten für jedermann zugänglich war. Von hier aus konnte
man auf den Fluss hinab sehen, der sich ziemlich weit unter ihnen durch
eine Schlucht schlängelte. Die Stadt war oben auf die Klippen erbaut
worden, aus Gründen die heute niemand mehr kannte. Ein schmaler Weg
wand sich an der Felswand entlang von der Stadt bis zu dem kleinen Hafen,
der an einer flacheren Stelle des Flusses lag. Nur Fussgänger, Reiter
und kleinere Wagen konnten den Weg benutzen. Grössere Lasten wurden
über ein kompliziertes System von Flaschenzügen hochgezogen.
Gerade legte ein kleines Flussschiff an, das irgendwelche grossen Steinblöcke
geladen hatte.
"Was beschäftigt dich?" fragte Menior.
Ashka hatte abwesend den Hafen und die Schiffe
betrachtet und wandte jetzt langsam den Kopf. "Was soll schon sein?" antwortete
sie nicht sehr überzeugend.
Menior antwortete mit einem schwer zu deutenden
Blick. Dann sah er auf die Sonne und erschrak. "Verdammt! Ich habe das
Nachmittagsgebet verpasst! Ich muss sofort zurück!" Er war schon aufgesprungen,
als er sich nochmals umdrehte und zu Ashka zurücklief. "Treffen wir
uns morgen? Vielleicht... hat dann einer von uns mehr herausgefunden?"
Offensichtlich hatte der junge Priester noch andere Gründe, sie wieder
zusehen.
"Wenn ich etwas weiss, komme ich in den Tempel.
Ich sage, ich will dem Tempel etwas spenden, soweit ich weiss, kannst nur
du das regeln."
Menior nickte. Er reichte ihr die Hand und
sie verabschiedeten sich.
Langsam lief Ashka durch die Stadt, auf der
Suche nach, ja, nach was? Sie wusste es selber nicht so genau. Wahrscheinlich
suchte sie einen Rat. Noch immer wusste sie nicht, was sie tun sollte.
Sie konnte in der Stadt bleiben und weiter ein, mehr oder weniger, freies
Leben führen oder sie konnte nach Helom fahren, wo ein Leben auf sie
wartete, das sie sich sicher niemals gewünscht hatte. Seufzend machte
sie sich auf den Weg zu ihrer Bleibe in der Unterstadt. Die Bezeichnung
Unterstadt bezeichnete nicht so sehr die Lage dieses Stadtteils, der am
weitesten von den Klippen entfernt lag, sondern vielmehr den sozialen Stand
der Bewohner. Auf den leicht abfallenden Strassen lag immer mehr Schnee,
je näher sie sich dem Zentrum der Unterstadt näherte. Einige
Strassen von ihrer Wohnung entfernt stand ihr der Schnee schon beinahe
hüfthoch. Grummelnd kämpfte sie sich durch den Schnee, bis sie
schliesslich vor ihrer Türe stand. Mit zitternden Händen schloss
sie auf. Drinnen war es ebenso kalt wie draussen. Sie zündete ein
Feuer an und bald breitete sich wohlige Wärme im Zimmer aus. Ashka
zog ihren Umhang aus und warf ihn achtlos in eine Ecke. Mit einem zufriedenen
Seufzer liess sie sich auf ein schmales Bett fallen. Es war noch früh
am Tag, jedenfalls für ihre Verhältnisse und sie war hellwach,
wenigstens war sie das, als sie hereingekommen war. Doch das warme Feuer
und das weiche Bett schläferten sie ein. Kurz bevor sie ganz ins Land
der Träume versank, bemerkte sie einen ungewohnten, aber angenehmen
Geruch in der Wohnung.
Sie stand in einem hohen Raum, dessen Grenzen,
weder zu den Seiten noch nach oben, sie nicht wahrnehmen konnte. Trotzdem
wusste sie, dass sie sich in einem Raum befand. Überall in diesem
Raum befanden sich kleine Lichter, die um sie herum wirbelten und sie ab
und zu liebkosend an den Armen streiften.
"Willkommen" dröhnte eine Stimme in
ihrem Kopf. "Ich heisse dich willkommen, Darta è Koshroa í
Nimsanae Ghisthroha."
"Woher...?" fragte Ashka, obwohl sie die
Antwort schon kannte.
"Ich bin ein Gott, Darta von Ghisthroha. Auch
wenn ich nicht alles weiss, so kenne ich doch die Namen aller Menschen,
die auf dieser Erde je gelebt haben." Die Stimme des Gottes war klar
und doch wirkte sie verschwommen, wie die Lichter, die sich jetzt immer
dichter um Ashka sammelten.
"Was willst du von mir?" rief Ashka.
"Das weißt du doch schon. Du sollst
nach Helom zurückkehren und dort dein dir bestimmtes Schicksal erfüllen."
Noch
immer klang die Stimme sanft, doch eine Spur von... Ungeduld war heraus
zuhören.
"Und was ist, wenn ich nicht will? Wenn
ich selber bestimmen will, was ich tue?" Herausfordernd blickte Ashka,
mangels eines sichtbaren Gesprächspartners, ein besonders vorwitziges
Lichtlein an, das sich gerade anschickte, sich auf Ashkas Nase niederzulassen.
"Das kannst du nicht, du denkst vielleicht,
deine Flucht, denn nur so kann man das nennen, was du vor Jahren getan
hast, du denkst vielleicht, deine Flucht hätte dich vor deinem Schicksal
bewahrt, aber dem ist nicht so." Die Wut, die in diesem einen Satz lag,
war jetzt unüberhörbar.
"Zeig dich!" verlangte Ashka. Sie hatte
keine Reaktion erwartet, doch auf einmal zogen sich die Lichter zusammen
und bildeten einen leuchtenden Umriss. Ganz eindeutig war dieser Umriss
ein Drache, der Drachengott dieser Stadt und der Hauptgott Heloms. "Festhnisàl."
flüsterte Ashka.
"Der bin ich. Und du bist die Möwe. Du
musst zurück kehren und das tun, was dir prophezeit war."
"Aber ich will nicht." wollte Ashka antworten,
doch in dem Moment schlug sie die Augen auf.
Sie blinzelte verwundert. Sicher war das nur
ein gewöhnlicher Traum gewesen, oder etwa doch nicht? Verärgert
über ihre eigene Abergläubigkeit schüttelte sie den Kopf.
Ashka stand auf und zog sich den Umhang an. Ziellos wanderte sie durch
die Strassen und wunderte sich, als sie plötzlich vor dem Tempel des
Drachen stand. Sie beschloss, dass sie nun genau so gut hineingehen konnte.
Das Innere des Tempels war reich geschmückt
mit Bildern der Gottheit, die jedoch nicht ganz der Wirklichkeit entsprachen.
Keines fing das unberechenbare Temperament des Gottes ein, das sich während
Ashkas Traumes gezeigt hatte. In den Ecken wurden Kräuter verbrannt,
die Visionen fördern sollten. Der Geruch kam Ashka entfernt bekannt
vor, doch sie konnte ihn nicht einordnen. Eine junge Novizin hatte sie
bemerkt und fragte sie nach ihrem Begehren. Als Ashka antwortete, sie würde
gerne etwas spenden, bat die Novizin sie freundlich, kurz zu warten und
verschwand hinter einem Vorhang. Kurze Zeit darauf kam sie zurück,
in Begleitung Meniors. "Danke, Mira. Du kannst uns jetzt alleine lassen."
Das Mädchen verbeugte sich und kehrte zurück hinter den Vorhang.
"Weißt du mehr?" fragte Menior leise.
Ashka nickte. "Aber können wir das nicht
wo anders besprechen?"
Diesmal war es an Menior, zu nicken. Er führte
sie einen Gang entlang und durch eine Türe nach draussen. Ashka bemerkte,
dass das die Türe war, durch die sie gestern Abend eingebrochen war.
"Was weißt du neues?" fragte Menior begierig.
Ashka rang innerlich mit sich selber. Wenn
sie ihm von ihrem Traum erzählte, würde sie ihm auch von ihrer
Verbannung erzählen müssen.
"Was ist?" fragte Menior leicht beunruhigt.
"Komm mit. Ich muss ein wenig laufen."
Achselzuckend folgte er ihr.
"Ich heisse nicht Ashka und ich komme auch
nicht von hier." begann sie. "Mein Name ist Darta è Koshroa í
Nimsanae Ghisthroha. Ich stamme aus Helom und bin wegen Verrates verbannt
worden." Sie machte eine Pause. "Vor einigen Jahren führte Helom Krieg
gegen ein Nachbarland. Irgend jemand hat der Königin gesagt, ich würde
mit dem Feinde zusammenarbeiten. Sie durchsuchten mein Haus und fanden
einige kompromittierende Dokumente... unter meiner Matratze. Es war ein
Schock für die Königin, immerhin bin ich eine entfernte Verwandte
von ihr. Niemand glaubte mir, als ich sagte ich sei unschuldig. Nicht nachdem
ich schon öfters... Dummheiten angestellt hatte. Ich wurde verbannt,
nur die Königin selber kann mich wieder aufnehmen. Aber ich bezweifle,
dass sie es tun wird."
Menior hatte bis jetzt schweigend zugehört
und stellte nun eine Frage. "Was hat das mit meiner... Vision zu tun?"
"Nun, dazu komme ich gleich. In der Zwischenzeit
sind alle Verwandten der Königin gestorben, ausser mir natürlich.
Der letzte Stern ist die Königin. Die Heuschrecken sind der Vizeregent
und seine Familie. Ich wette, sie stecken hinter den Morden an den Thronfolgern.
Also, die Möwe bin ich. Und der Stern... ich weiss nicht. Was ich
dir sagen wollte, ist, dass ich heute Nachmittag eine Vision oder so etwas
hatte." Ashka beschrieb ihm die Vision und Menior hörte ruhig zu.
Ab und zu warf er eine Frage ein. Als Ashka endete, blickte er sinnend
zu Boden.
"Ich würde gehen." sagte er schliesslich.
Ashka schwieg, sie hatte befürchtet,
Menior würde dieser Meinung sein. Eigentlich wollte sie ja
zurück, aber etwas hielt sie davon ab. Sie wusste nicht, ob es Trotz
war oder ob sie sich nicht dazu aufraffen konnte, ihr freies Leben aufzugeben,
zum Wohle ihres Landes. Nein, falsch, zum Wohle des Landes, das sie ausgestossen
hatte. Sie seufzte. "Meinst du wir kriegen ein Schiff, das direkt nach
Helom fährt?" fragte sie Menior.
"Ich denke schon, wir könnten gleich
fragen gehen und zwei Passagen buchen."
Als sie zum Hafen liefen, erwähnte Ashka
nicht, dass Menior in der Mehrzahl gesprochen hatte. Sie hätte ihn
ohnehin gefragt, ob er sie begleiten würde. Sie mochte ihn, sehr sogar.
Bis jetzt hatte sie sich das nicht eingestehen wollen, doch jetzt, als
sie nebeneinander herliefen und er ihr vom Leben im Tempel erzählte,
wurde ihr klar, dass das, was sie für ihn empfand, mehr als blosse
Freundschaft war. Sie wurde rot und Menior unterbrach sich. Sein Blick
ruhte auf ihr, dann wandte er sich abrupt ab und kaufte sich einen Apfel.
"Willst du auch einen?" fragte er. Ashka schüttelte
den Kopf.
Bis zum Hafen sprachen sie kein Wort mehr
miteinander. Während Menior mit einem Kapitän verhandelte, sah
sie sich um und dachte darüber nach, was sich in Helom wohl alles
verändert hatte, seit ihrer Verbannung. Sie dachte auch darüber
nach, wie die Königin sie... begrüssen würde.
Jemand klopfte ihr auf die Schulter. Ashka
wirbelte herum, ihren Dolch in der Hand. Vor ihr stand ein erschrockener
Menior, der jetzt langsam einen Schritt zurücktrat.
Hastig steckte Ashka ihren Dolch wieder ein.
"Tut mir Leid... Ich wollte dich nicht..." stammelte sie entschuldigend.
"Ist schon gut. Ich wollte dir sagen, dass
ich jemanden gefunden habe, der uns nach Helom bringt. Die Rabenfeder
legt noch heute ab. Hast du alles dabei was du brauchst?" fragte Menior.
Ashka überlegte kurz und nickte dann,
sie würde nichts brauchen, was sie Zuhause gelassen hatte.
Etwa eine Stunde später legte die Feder
ab. Ashka stand im Bug und blickte dem Fluss entlang. Menior trat zu ihr
und legte seinen Arm um ihre Schulter. Langsam drehte Ashka ihren Kopf
und lächelte ihn an. Was sie in Helom erwartete, wusste sie nicht,
aber Menior war bei ihr und sie vertraute ihm. Er würde ihr helfen.
Nun Darta è Koshroa, du willst dein
Schicksal erfüllen. Aber nicht alleine, das ist gut... dachte
der Drachengott und beschloss ein wachsames Auge auf Ashka zu haben, auch
wenn er schon wusste, was geschehen würde. Manchmal war es frustrierend,
die Zukunft zu kennen und nichts machen zu können, ausser dafür
zu Sorgen, dass jeder sich an das ihm vorgeschriebene Schicksal hielt.
© Alandra
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