Willenskraft von Dragon Whelp

Es war schon längst dunkel, als sich Siwa, die Herrin der Burg, vor ihren Spiegel setzte. Leise flüsterte sie die Worte, die den Spiegelgeist erscheinen ließen. Das Mondlicht fiel durchs Fenster herein und strahlte direkt auf den Spiegel. Die gläserne Oberfläche verschwamm und kurz darauf blickte sie in das körperlose Gesicht des Legibbs, wie man die Spiegelgeister nannte. In ihrem Kopf hörte sie ein Summen und sie versank in den Augen des Legibbs, durch die man unendlich weit blicken konnte. Sie sah Bilder von fremden Ländern und Völkern, bunte Feste, weite Meere und schließlich ihre eigene Burg.
Doch was war das? Ein dunkelgekleideter Bursche kletterte die Mauer empor! Siwa bat den Geist, ihr diesen Mann deutlicher zu zeigen, doch als sie sein Gesicht vor sich sah, schrie sie laut auf. Da verschwand das Bild, die Oberfläche des Spiegels erstarrte.
Es war ein grausames Gesicht gewesen, vernarbt und der Ausdruck seiner Augen war eiskalt. Ihr lief ein Schauer über den Rücken.
Ninn, der in dieser Nacht auf dem Flur seiner Herrin Wache gehalten hatte, stürzte ins Zimmer. "Herrin! Was ist mit Euch?"
Siwa, die geschworen hatte, nichts von dem Legibb zu erzählen, sagte: "Ich habe geträumt. Ein Mann kletterte die Mauer hoch. Ich habe so schreckliche Angst!"
"Soll ich nachschauen gehen, Herrin?"
"Nein! Lasst mich bloß nicht hier allein!" schrie sie erschrocken auf.
Ninn hasste es, seine Herrin so verschreckt zu sehen. Konnte es denn wahr sein, was sie erzählte? Er hatte schon viel über Wahrträume und dergleichen gehört, doch er wusste nicht, ob er es glauben sollte.
Plötzlich krachte etwas durchs Fenster, das Glas zersplitterte und Siwa kreischte vor Angst. Das etwas war ein Stein, der mit brennendem Pech beschmiert war. Schon fing das Bett Feuer. Ein weiterer dieser Steine flog heran und steckte die Vorhänge in Brand. Dicker schwarzer Rauch stieg auf.
"Wir müssen hier raus! Kommt, Herrin!" schrie Ninn.
"Der Spiegel, ich muss ihn holen!"
Doch Ninn zog sie gerade rechtzeitig noch zurück, bevor ein weiterer Feuerball den Spiegel zerschmetterte.
"Neeiiin!"
Er nahm ihre Hand und zerrte sie nach draußen. Der Rauch trieb ihnen die Tränen in die Augen.
Halbblind stolperten sie durch die Gänge ins Freie, auf den Burghof.
"Ninn! Was ist passiert?" schrie Dwegon.
Ninn sah seinen langjährigen Freund an und hustete "Brandstiftung" heraus.
"Ein Eindringling?" rief Dwegon entsetzt. "Wir sitzen in der Falle! Es hat niemand anderer überlebt! Alles brennt!"
Plötzlich trat eine Gestalt aus den Schatten. Im Schein des Feuers waren die Narben in seinem Gesicht deutlich zu erkennen. Blitzschnell zog er seinen Dolch und stach Dwegon in die Brust. Dieser fiel zu Boden und blieb reglos liegen.
Dann wandte er sich Ninn zu. Ninn hatte sein Schwert gezogen und griff an. Doch der Mann in schwarz wich geschickt zur Seite aus, streifte seinerseits jedoch Ninns Arm. Vor Schmerzen ließ dieser sein Schwert fallen und fiel auf die Leiche seines Freundes. Keuchend blieb er dort liegen.
"Herrin, welch eine Ehre!" Spöttisch verbeugte sich der Mörder vor Siwa.
"Was wollt Ihr von mir?"
Mit einem grausamen Lächeln auf den Lippen antwortete er:
"Durch Spiegel zu sehen, die Wahrheit verstehen.
Doch selber zu sehen, die Macht bleibt bestehen.
Welchen Weg wirst du gehen?

Ihr wisst vermutlich gar nicht, wie wertvoll Ihr seid. Ihr habt große Macht und die will ich!"
"Ihr habt den Spiegel selbst zerbrochen, ich habe nichts mehr!" schrie sie ihm ins Gesicht.
Da grinste er bloß. "Wie dumm Ihr doch seid! Ein Legibb ist nur die Projektion eures Geistes auf eine Fläche! Es gibt keine Geister, doch es gibt Magie! Wenn Ihr es erst gelernt habt, sie einzusetzen, werdet Ihr mir großen Reichtum verschaffen und ich werde König sein!"
"Niemals! Ich werde Euch nie dienen!"
"Sagt niemals nie, denn ich weiß eine Möglichkeit, Euren Willen zu brechen."
Entsetzt wich sie vor ihm zurück bis sie mit dem Rücken zur Burgmauer stand. Er kam immer näher. Unaufhaltsam. Sie suchte einen Fluchtweg, doch sie sah nur die brennende Burg. Schließlich hatte er sie erreicht und sah ihr tief in die Augen. Sofort versank sie darin. Eine Stimme flüsterte ihr in Gedanken zu, sie konnte nicht mehr klar denken, alles verschwamm vor ihren Augen, außer dem starren Blick des Mörders.
Jedoch bei dem Gedanken an ihn als einen gemeinen Mörder wurde ihr Geist wieder klar. Sie zwang sich weiter daran zu denken. Das Narbengesicht bemerkte ihren Widerstand und setzte wieder dieses gehässige, überlegene Lächeln auf. Wieder verlor sie die Kontrolle über ihren Geist. Es fühlte sich an, als würde ihr Verstand in Ketten gelegt. Bald war es soweit, dann hätte er gewonnen. Bald.
Sie wollte keine Macht und erst recht nicht, dass er sie ausnutzte. Sie wollte nicht, dass er alles, was sie im Spiegel gesehen hatte, zerstörte und versklavte. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, einmal dorthin zu gelangen. Die Wunder mit ihren eigenen Augen zu sehen. Wie friedlich es dort sein musste! Sie versuchte die Ketten zu sprengen. Ihr Kopf begann zu schmerzen.
Nicht aufgeben, nur nicht aufgeben! Du willst keine Macht, du willst einfach leben! sagte sie sich in Gedanken.
Plötzlich fielen die Ketten von ihr ab. Ihr Geist war frei!
Verdutzt blickte sie der Mann an. Dann fiel er vorne über. Blut tropfte aus einer Wunde am Rücken.
Da sah sie, dass Ninn den Mörder von hinten erstochen hatte. Gerettet!
Voller Erleichterung lächelte er sie an. Es war nicht das grausame Lächeln des Mördes sondern eines, das Wärme ausstrahlte.
"Wir sollten von hier fort", sagte Ninn.
Sie nickte.
Da nahm er ihre Hand und führte sie davon, bereit, die Wunder zu erleben.
 

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