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Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern zur
zweitbesten Fantasy-Story 2006 im Drachental gewählt!

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Geschichten von Quatzkotl von W. H. Asmek
Lilly

Vor langer, langer Zeit, als die Wälder noch richtige Wälder und die Nächte noch dunkel waren, als es noch echte Ritter und Könige gab, das Bundesverdienstkreuz noch nicht an jeden verliehen wurde und Elfen, Hexen, Trolle und Drachen noch keine Sagengestalten waren, erstreckte sich südlich des kleinen Königreichs von König Richard ein ausgedehnter Wald, der selbst für die damalige Zeit so unheimlich, so groß und so dunkel war, dass man ihn den Finsterwald nannte.
Das Reich König Richards nahm in dieser Zeit eine sonderbare Stellung ein. Für die Menschen, die nördlich von ihm lebten, war das Gebiet um den Drachenfels der Endpunkt der zivilisierten Welt, denn hier begann die Welt, in der die Magie in ihrer ganzen Stärke noch lebendig war. Man erzählte sich seltsame Geschichten von Drachen, Magiern und anderen geheimnisvollen Wesen, die in Schloss Drachenburg ein- und ausgingen. Ja, man sagte sogar, dass König Richard mit diesen Wesen befreundet sei. Fragte man die Bewohner des Städtchens Königswinter, das sich an den Fuß des Drachenfelsens schmiegte, ob denn etwas Wahres an diesen Geschichten sei, so gaben diese schmunzelnd zurück, dass selbstverständlich jedes Wort stimme. Aber gerade dieses Schmunzeln war es, das die Geschichten noch geheimnisvoller machte. Konnte man den Städtern glauben? Oder bestätigten sie die Gerüchte nur, um Neugierige anzulocken? Denn geschäftstüchtig waren die Leute von Königswinter allemal. Eines konnte man den großen und sauberen Häusern nämlich ansehen: Not und Mangel herrschten hier nicht. Auch die ausgedehnte Bauernschaft, die sich auf der anderen Seite des Rheins befand, lebte in Wohlstand und Frieden: Die Äcker brachten reichlich Ernte ein. Das Vieh war fett - und seine Besitzer auch. Pausbäckig und rund schauten sie mit blitzenden Augen nach lohnenden Geschäften aus, die nie lange auf sich warten ließen, denn die Waren der Bauern waren begehrt und der Hafen von Königswinter ein stark frequentierter Umschlagplatz von Gütern aller Art.
Auf der anderen Seite war für die Menschen, die südlich des Königreichs lebten, das Gebiet König Richards das Ende der magischen Welt; denn vermischten sich hier nicht die neue und die alte Welt so miteinander, dass etwas Neues, völlig Andersartiges entstand? Ein unerträglicher, unverständlicher Mischmasch aus Magie, Technik und Geschäftemacherei? Nein, die Bewohner der Grafschaften, Herzogtümer und Königreiche in Umbra, Urach, Holledau und wie sie alle hießen, mieden den Kontakt mit König Richard und seinem Reich wie es nur eben ging. Und da der Finsterwald sich wie eine natürliche, undurchdringliche Barriere zwischen diese Welten drängte, war es kein Problem, diese Isolation aufrechtzuerhalten.
Doch so riesig der Finsterwald auch sein mochte, so war er doch nicht unüberwindlich. Immer wieder versuchten wagemutige Händler und Abenteurer, durch ihn hindurch zu stoßen, um zu den Reichen der alten Welt zu gelangen, von denen man sich unglaubliche Geschichten erzählte. Die Abenteurer suchten nach dem sagenhaften Reichtum des Großherzogtums Umbra, in dem das Gold an den Flussufern liegen sollte, wie am Rhein die Kiesel. Oder sie suchten nur den Kampf mit Trollen und Drachen, um des Kampfes und der Trophäen willen. Die Händler dagegen suchten nach neuen Möglichkeiten, Geschäfte zu machen. Geschäfte mit unbekannten Stoffen, Werkzeugen oder Kunstwerken. Ideen gab es da viele. Deren Umsetzung aber war sehr schwierig, denn zunächst galt es, den Finsterwald zu durchqueren - und das war alles andere als ein Zuckerschlecken. War doch der Finsterwald Lebensraum vieler seltsamer Wesen, die die Helligkeit des Tages und die Weite der freien Ebenen scheuten und sich darum hier im Schutz der ewigen Dämmerung des Waldes angesiedelt hatten.
In den Wipfeln der Bäume, deren Blätterdach so gut wie kein Sonnenlicht hindurch ließ, webten große Spinnen ihre klebrigen Fallen. Ihre Fangseile hingen bis auf den Boden hinab - und wehe dem, der mit Ihnen in Berührung kam! Er klebte unwiderruflich fest und wurde nach oben gezogen, wo ihn einer der rehgroßen Beutefänger mit starrem Blick erwartete, um ihn mit seinen krallenbewehrten Fangbeinen zu umarmen.
Dann waren da noch die Waldtrolle, die riesig und zottig herumstreiften und alles und jeden, der ihnen begegnete, totschlugen und auffraßen. So manche hoffnungsvoll begonnene Reise fand so unter der Keule eines Trolls ein vorschnelles Ende. Selbst die abgenagten Knochen der Unglücklichen fanden schnell ihre Liebhaber unter dem schleimigen Gewürm, das sich knisternd und raschelnd, versteckt im modernden Laub des Waldbodens fortbewegte. Immer auf der Suche nach Nahrung. Die Hexen und Magier, die auch hier lebten, waren eine weniger große Gefahr, denn diese hielten sich nur in den tiefsten Tiefen des Waldes auf, wo sie ihren lichtscheuen Geschäften ungestört nachgehen konnten.
So kam es, dass sich alle, die durch den Finsterwald reisen wollten, zu großen Reisegesellschaften zusammenschlossen; denn große, schwer bewaffnete Gruppen boten Sicherheit. Doch oftmals war es gerade ihre Größe, die eine andere Gefahr geradezu magisch anzog: Trolle, Spinnen und Hexen waren nicht der einzige Verdruss, der im Finsterwald lauerte. Die eigentlichen Herrscher des Waldes waren nämlich die Finsterwaldkobolde, deren Anführer der unvergleichliche Schwertkämpfer El Pitto Gnomo war. Die Kobolde bewachten den einzigen gangbaren Pfad, der durch den Wald führte und verlangten von jedem Reisenden einen Wegzoll, der auf der Stelle zu entrichten war. Selbst große Handelskarawanen konnten sich dieser Aufforderung nicht entziehen, denn die Kobolde waren zahlreich, gut bewaffnet und zähe Kämpfer, die vor keiner Gemeinheit zurückschreckten. Doch selbst, wenn die Gebühr entrichtet war, gab es keine Garantie für ein glückliches Durchkommen. Der Weg durch den Wald war lang und so manche Reisegesellschaft verschwand spurlos, ohne dass man je wieder von ihr hörte. Und selbst die, die es schafften, bekamen nie den erhofften Reichtum zu sehen, denn es gab ihn gar nicht. Die Menschen der alten Welt verweigerten den Fremden zwar nicht die Gastfreundschaft, wichen ihnen aber ansonsten aus. Sie wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Alle Bemühungen, einen Handel aufzubauen blieben zwecklos. Man war und blieb sich fremd. Den Neuweltlern blieb dadurch in der Regel nichts anderes übrig, als sich unverrichteter Dinge wieder auf den Rückweg zu machen. Doch war der Hinweg schon eine gefahrvolle Tortur, so war der Rückweg noch viel riskanter; denn es gab keinen Sammelpunkt, an dem man sich wieder zu einer größeren Gruppe zusammenfinden konnte. So war jeder gezwungen, den Rückmarsch für sich allein anzutreten. Ein hoffnungsloses Unterfangen, das nur den Mutigsten und Tollkühnsten, also einer verschwindend geringen Zahl von Leuten, gelang. Die meisten verschwanden in den Mägen der nimmersatten Trolle, kamen in den Netzen der Spinnen um oder landeten in den Kochtöpfen der Kobolde. El Pitto Gnomo hatte seinen Leuten zwar das Aufessen von Menschen strikt verboten, aber manche Koboldsippe war den alten Sitten so verbunden, dass sie sich über diese Anordnung hinwegsetzte. So mancher Reisende fand auf diese Weise seinen Weg in einen Koboldkochtopf, in dem er bei lebendigem Leib gesotten wurde. So kam es, dass die meisten Karawanen irgendwo verschwanden oder versickerten, aber die Gerüchte und Erzählungen in immer ausgeschmückteren Formen zahlreicher und zahlreicher wurden.

***

In dieser gnadenlosen Welt wuchs Lilly auf, die Tochter El Pitto Gnomos und seiner Frau Lisa, die einst als Roggenmuhme die Weiße Alraune bewacht hatte. Wie bereits erwähnt, war El Pitto Gnomo ein vorzüglicher Schwertkämpfer, an dem, wie er selbst zu sagen pflegte, "niemand vorbeikam". Das lag zum einen an seiner magischen Begabung und zum anderen an seinem magischen Schwert "Drachentöter", das ihm dereinst ein Ritter geschenkt hatte. Für El Pitto Gnomo war es ein schwerer Schicksalsschlag gewesen, als ihm eröffnet wurde, dass er Vater einer Tochter geworden war, denn er hatte sich nichts sehnlicher gewünscht als einen Sohn, den er selbstverständlich zu einem herausragenden Schwertkämpfer ausgebildet hätte. Er ließ sich seine Enttäuschung Lilly gegenüber natürlich nicht anmerken, denn er wollte ihr trotz allem ein guter Vater sein. Aber Lilly war nicht dumm und spürte die Verstimmung ihres Vaters natürlich.
"Warum mag Pappi mich nicht?" hatte sie darum, als sie noch klein war, ihre Mutter gefragt.
"Aber Lilly, natürlich mag dein Vater dich! Wie kommst du nur darauf, dass das nicht so sein könnte?" hatte ihr ihre Mutter zurückgegeben.
"Er spricht so gut wie nie mit mir, nimmt mich nie in Arm und wenn er nach Hause kommt, geht er gleich wieder weg."
Doch bei ihrer Mutter konnte Lilly kaum auf Unterstützung hoffen. Lisa war eine Fee und Feen sind nicht besonders klug. Eine Tatsache, die El Pitto Gnomo übrigens erst im Laufe seiner Ehe aufgefallen war, ihn aber weiter nicht sonderlich störte, denn wenn er von seinen Streifzügen nach Hause kehrte, hatte er weniger Interesse an einer geistvollen Unterhaltung, sondern suchte andere Zerstreuung. Lisa war nämlich, wie alle Feen, sehr schön und alterte nicht. Aus El Pitto Gnomos Sicht war dadurch ihr wenig ausgeprägter Verstand kein besonderer Makel. Koboldmänner haben nämlich ein noch stärkeres Bedürfnis nach Schönheit als Menschenmänner. Die Entwicklung der Kobolde hatte diesem Geschmack auch Rechnung getragen. Da sich die Koboldmänner immer nur die schönsten Koboldmädchen auswählten, gab es inzwischen durch diese natürliche Auslese nur noch ausgesprochen schöne Koboldinnen. Ihre Schönheit war selbst bei den Menschen sprichwörtlich. Ein Mann konnte einer Frau kein größeres Kompliment machen als ihr zu sagen, sie sei schön wie eine Koboldfrau.
Im Gegensatz dazu waren die Koboldmänner ausgesprochen hässlich. Klein und knorrig von Gestalt mit scharfen, faltigen Gesichtern und heimtückischen Augen sahen sie nur gemein und nicht gut aus. Seltsamerweise hatten Koboldmänner, die besser aussahen, keine Chance bei den Koboldmädchen. Im Laufe der Zeit war es deshalb so weit gekommen, dass die Hässlichkeit der Koboldmänner ebenso sprichwörtlich war, wie die Schönheit ihrer Frauen.
Da sich ihr Vater nicht so recht um sie kümmerte und ihre Mutter sich lieber in der Betrachtung schöner Dinge vergaß, blieb Lilly fast immer sich selbst überlassen. Weil sie ein sehr kluges und aktives Kind war, aber von niemandem zu sinnvollem Tun angeleitet wurde, tat sie das, was auch bei Menschenkindern in einer solchen Situation üblich ist: Sie vertrieb sich die Zeit mit allerlei Unsinn, wobei sie Erwachsene und Kinder gleichermaßen ärgerte. Dank ihrer Intelligenz fielen ihr die tollsten Dinge ein und je älter sie wurde, umso ausgefallener war ihr Schabernack.
Koboldkinder reifen sehr schnell heran. Viel schneller als Menschenkinder. Als Lilly fünf Jahre alt war, entsprach ihre geistige und körperliche Entwicklung der eines zehnjährigen Menschenkindes. Gleichzeitig war sie aber auch zum Schrecken ihrer Umwelt geworden. Jeder wich ihr aus, um nicht durch einen ihrer Streiche in Verlegenheit gebracht zu werden. Ausgegrenzt und isoliert steigerte sich ihr Unternehmungsgeist und ihre Streiche, die anfänglich aufgrund ihrer Originalität beschmunzelt wurden, waren bald aufgrund ihrer Boshaftigkeit gefürchtet.
Als Lilly gerade fünf Jahre alt geworden war, ging sie in ihrem Einfallsreichtum zu weit. Ihre Eltern hatten ihren Geburtstag vergessen, so dass Lilly sich selbst ein Geburtstagsgeschenk in Form eines besonderen Streiches machen wollte: Bei ihren einsamen Streifzügen hatte sie tief im Wald die Hütte einer Knusperhexe entdeckt. Knusperhexen sind extrem menschenscheu und darüber hinaus sehr eng mit ihrem Knusperhäuschen verbunden. Nichts in der Welt ist ihnen wichtiger als das. Sie pflegen und hegen es und erfinden immer neue Knabbereien, mit denen sie ihr Haus verschönern. Rings um ihre Behausung legen sie einen Bann, der insbesondere auf Menschenkinder wirkt und diese anlockt. Das Einzige, das Knusperhexen noch lieber ist als ihre Knusperhäuschen, sind frisch gebackene Menschkinder, ihre Lieblingsspeise. Nun verirren sich Menschenkinder sehr selten in den Finsterwald. Genau genommen verirren sie sich gar nicht dahin. Darum sind die Knusperhexen des Finsterwaldes die frustriertesten Knusperhexen der Welt und immer missgelaunt. Wer wäre das nicht in ihrer Lage?
Lilly verkleidete sich als Menschenmädchen und tat so, als würde sie durch den Bann der Hexe angezogen. Natürlich wirkte der Bann bei ihr nicht wirklich, denn sie war ja ein Koboldmädchen und kein Menschenmädchen. Sie war aber eine so gute Schauspielerin, dass dies der Hexe nicht auffiel. Halb verrückt vor Vorfreude hockte die Alte in ihrem Zuckerhäuschen und beobachtete das sich nähernde Kind. Lilly trat starren Blicks durch das Lebkuchentürchen des Lebkuchenzauns, der das Knusperhäuschen umgab. Anschließend ging sie schnurstracks auf das Haus zu und brach sich ein gutes Stück von Zuckerwerk des Daches ab.
"Knusper knusper knäuschen. Wer knuspert an meinem Häuschen?" rief die Hexe.
Lilly wusste nicht so recht, wie sie auf diese Frage antworten sollte. Sie war ja klar bei Verstand, so dass ihr die zaubergerechte Antwort nicht in den Sinn kam.
"Ein Kind, ein Kind, das kam geschwind!" antwortete sie darum auf gut Glück und brach sich noch ein Stück ab.
Die Hexe ihrerseits hatte schon so lange kein Kind mehr gefangen, dass sie selbst die richtige Antwort nicht mehr genau kannte. Außerdem war sie so blind vor Gier, dass ihr das sowieso egal war. Sie öffnete die Tür und schwankte so schnell es ihre alten Knochen zuließen heraus, um sich den leckeren Braten zu holen. Doch Lilly bereitete ihr einen Empfang, mit dem die Alte nicht gerechnet hatte. Kaum hatte sich die Hexe aus der Tür herausgeschoben, warf sie ihr einen kleinen Lederbeutel ins Gesicht. Der Behälter explodierte und versprühte dabei einen stinkenden, grünfarbenen Schleim, der sich überall festsetzte. Das Häuschen erbebte und brach durch die Wucht der Explosion stellenweise ein. Der ganze Stolz der Knusperhexe war mit einem Schlag eine staubige, stinkende und verklebte Ruine.
Lilly brach in ein wieherndes Gelächter aus.
"Nein!" lachte sie. "Hexe, dein Gesicht müsstest du sehen! Wie kann man nur so dämlich aussehen! Allerdings siehst du mit dem Schleim auf deiner Nase besser aus als ohne. Aber sei froh drum! Diese Verschönerung kostet dich keinen roten Heller. Das hast du von mir ganz umsonst bekommen!"
Lilly merkte in ihrem Vergnügen nicht, dass sich die Hexe bereits von ihrem ersten Schrecken erholt hatte und vor Wut blaurot anlief. Ihre wässrigen Augen bekamen einen merkwürdigen Glanz. Erst als die Alte die Arme hob, kam Lilly zu sich und merkte, dass sich nun Dinge anbahnten, mit denen sie nicht gerechnet hatte: Die Hexe dachte nämlich gar nicht daran, Lillys Streich einfach so hinzunehmen. Mit Hexen ist nicht gut Kirschen essen. Vor allem dann, wenn sie bis aufs Blut gereizt worden sind. Knusperhexen machen in diesem Punkt keine Ausnahme. Die kleine Koboldin nahm also die Beine in die Hand und flitzte, so schnell sie konnte davon. Die Angst verlieh ihr Flügel, doch zum Ausgleich verlieh die Wut der Hexe Kraft. Sie schleuderte Lilly einen gewaltigen Fluch hinterher, der sie auch voll traf. Lilly fühlte einen heftigen Schlag gegen den Kopf. Bevor sie das Bewusstsein verlor hörte sie noch dumpf die keifende Stimme der Alten:
"Lass dir das eine Lehre sein, Göre! Dieser Fluch wird dich Respekt vor anderen Wesen lehren! Mich wirst du für den Rest deines Lebens nicht mehr vergessen. Das garantiere ich dir!"
Als Lilly Stunden später ihr Bewusstsein wiedererlangte, bemerkte sie, dass die Knusperhexe nicht zu viel versprochen hatte: Lilly war blind. Der Fluch hatte ihr die Sehkraft genommen.

***

Wie sie den Rückweg nach Hause geschafft hatte, konnte sie später nicht erzählen. Es grenzte an ein Wunder, dass eine Fünfjährige blind und mutterseelenallein durch den Finsterwald nach Hause fand, ohne irgendeinem Untier in die Arme zu laufen. Zu allem Überfluss nahm ihr zunächst niemand ihre Verletzung ab. Alle, auch ihre Eltern, glaubten, dass sie sich wieder einmal einen ihrer berüchtigten Scherze erlaubte.
"Lilly, jetzt ist es aber gut!" sagte Lisa vorwurfsvoll, als ihre Tochter nicht aufhören wollte, zu weinen. "Du hast uns allen einen Schrecken eingejagt. Damit muss jetzt aber Schluss sein!"
Nur El Pitto Gnomo, der sonst scheinbar so wenig Verständnis für Lilly aufbrachte, sah sich die Bescherung aus der Nähe an.
"Lisa, komm doch bitte mal her," bat er. "Sieh’ dir mal die Augen an. Sie sind von einem milchigen Überzug bedeckt. Ich habe so etwas noch nie gesehen."
Lisa tat ihm den Gefallen. Zunächst unlustig, doch dann, als auch sie die undurchsichtige Schicht entdeckte, sehr interessiert.
"Oh! Das kenne ich!" rief sie erschreckt. "Das ist ein Blindfluch-Effekt. Jemand hat unsere Tochter verflucht."
Sie sah noch einmal genauer hin.
"Der Fluch hat unseren Schatz aber nicht von vorne getroffen. Sonst wäre der Belag nicht milchig sondern weiß."
"Ich kann aber trotzdem nichts mehr sehen!" schluchzte die sonst so freche Lilly verzweifelt. "Man muss doch was gegen diesen doofen Fluch tun können. Ich kann doch nicht für immer blind bleiben!"
Ihre Eltern versuchten daraufhin alles Mögliche, um ihr zu helfen. Lisa verstand als Fee einiges über die unterschiedlichsten Zauberkünste, konnte aber nur feststellen, dass sie gegen den Fluch der Knusperhexe nichts ausrichten konnte. Selbst Merling war ratlos.
"Nach allem, was ich feststellen kann," sagte er, als er um Rat gefragt wurde, "hat die Hexe die Verwünschung in berechtigtem Zorn ausgestoßen. Ich kenne kein Mittel, diesen Fluch aufzuheben. Das kann nur die Hexe selbst tun."
Natürlich machte sich El Pitto Gnomo höchstpersönlich daran, die Hexe aufzusuchen, um sie um Gnade für seine Tochter zu bitten. Doch er fand sie nicht. Die Alte hatte ihre Zelte abgebrochen und war fortgezogen. Wohin, das konnte niemand sagen, denn der Finsterwald war groß. So groß, dass El Pitto Gnomo für den Rest seines Lebens hätte nach ihr suchen können, ohne sie zu finden.
Schließlich gaben sie es auf. Lilly würde für immer blind bleiben.

***

Die Jahre vergingen und Lilly wurde ein anderer Mensch. Vorbei waren die Zeiten, in denen sie als Finsterwaldgöre für Schrecken unter seinen Bewohnern gesorgt hatte. In der ersten Zeit weinte sie tagaus tagein und litt furchtbar unter ihrer Blindheit. Doch dann kehrte Ruhe ein und Lilly bemühte sich, mit ihrem Schicksal zurecht zu kommen. Es zeigte sich aber auch, dass die Familienbande sich in der Not verstärkten. El Pitto Gnomo wurde häuslicher und kümmerte sich rührend um seine Tochter.
"Weißt du," sagte er ihr einmal, als sie wieder zusammen saßen und sich unterhielten. "Ich kann gar nicht mal sagen, dass ich damals wirklich enttäuscht war, als ich der Vater einer Tochter und nicht der eines Sohnes wurde. Aber ich kannte Frauen eigentlich immer nur als Frauen, wenn du weißt, was ich meine. Mit Mädchen, insbesondere mit Töchtern, hatte ich bisher nichts zu tun. Ich wusste einfach nicht, wie ich mit dir umgehen sollte."
"Dafür weißt du es mit Frauen aber umso besser!" warf Lisa kichernd ein.
Lilly schmunzelte auch, wurde dann aber wieder ernst.
"Du hättest mich einfach normal behandeln sollen. Von mir aus auch wie einen Jungen," gab sie zurück. "Wie gerne hätte ich gelernt, wie man mit einem Schwert umgeht oder auf die Jagd geht."
El Pitto Gnomo nickte.
"Ja! Jetzt weiß ich es besser. Aber was hilft uns das?"
Es half nichts.

***

Als Lilly kurz vor Vollendung ihres zehnten Lebensjahres stand, zeichnete sich eine Veränderung ihrer Blindheit ab: Die vollständige Dunkelheit wich einem dicken Nebel, der ihr zumindest die Fähigkeit gab, zwischen Helligkeit und Dunkelheit zu unterscheiden. Als sie Zehn wurde, konnte sie in einem Umkreis von einem Meter alles klar und deutlich, wenn auch ohne Farben erkennen. Die Freude aller war entsprechend groß, denn auch die, die ihr ehemals nur das Schlechteste gewünscht hatten, meinten, nun sei es gut mit der Strafe. Lilly habe genug gelitten und sei inzwischen eine verständige junge Dame geworden. Lisa und El Pitto Gnomo richteten ein großes Geburtstagsfest aus, zu dem auch König Richard mit seiner Familie und viele andere Freunde geladen waren.
Jannie, König Richards Tochter, hatte Lilly früher nicht ausstehen können. Aber Dank der Wandlung Lillys waren sie inzwischen gute Freundinnen geworden. Jannie war 21 Jahre alt und stand kurz vor ihrer Verlobung mit Hieronto Hatamoto, einem ausnehmend gut aussehenden Samurai, den sie vor zehn Jahren kennen gelernt hatte. Lilly war zwar erst zehn, aber durch die schnelle Reife der Kobolde in der körperlichen und geistigen Entwicklung auf der gleichen Stufe wie Jannie. Die beiden verstanden sich gut.
"Ich beneide dich!" gestand Lilly, als sie zusammen mit den anderen an einem großen Feuer saßen, über dem sich an einem Spieß die Reste eines halb verspeisten Rindes drehten. "Du bist schön und bekommst einen ganz tollen Mann. Aber mich will keiner haben, weil ich blind bin."
"Es muss einen Weg geben, dir zu helfen," meinte Jannie, die schon immer ein gutes Herz gehabt hatte. "Du bist nicht mehr mit dem unmöglichen Ding von vor fünf Jahren zu vergleichen. Wenn der Fluch seinerzeit auch eine berechtigte Strafe gewesen sein mag, so hat er sich doch inzwischen überlebt und müsste von dir genommen werden."
"Das sagst du so, Jannie," seufzte Lilly traurig. "Aber er wirkt noch immer."
"Er ist aber doch schon schwächer geworden!"
"Das stimmt, aber ich darf mir keine großen Hoffnungen machen, meint Mama. Das Nachlassen der Wirkung ist darauf zurückzuführen, dass mich der Fluch nicht ins Gesicht, sondern nur am Hinterkopf getroffen hat. Eine weitere Abschwächung ist nicht zu erwarten."
Jannie dachte einen Moment nach.
"Was sagt denn die Weiße Alraune?" fragte sie dann. "Ich wüsste nicht, dass du sie schon einmal befragt hast."
"Doch! Das habe ich. Sie sagte damals 'leiden ist reifen‚ allein bringt Hilfe'. Seitdem bin ich nicht mehr da gewesen."
"Wie lange ist das her?"
Lilly überlegte kurz.
"Ich glaube, das war vor vier Jahren."
"Hmm," meinte Jannie. "Das macht Sinn!"
"Was macht Sinn?" wollte Lilly wissen.
"Die Weissagungen der Weißen Alraune müssen richtig gedeutet werden. Ob wir einen Erwachsenen fragen sollen, was diese Worte aus heutiger Sicht bedeuten sollen?"
Lilly schüttelte den Kopf.
"Nein. Papa, dein Vater und Quatzkotl sind mit Sicherheit voll des guten Weines und unsere Mütter werden sich über deine Hochzeitsvorbereitungen unterhalten. Die sind also gut beschäftigt. Wir zwei sind erwachsen genug. Lass uns gemeinsam überlegen. Was denkst du?"
Jannie stand auf und ging auf und ab. Wenn sie auf und ab ging, konnte sie besser denken.
"Der erste Teil des Satzes lautet doch 'leiden ist reifen'. Das kann heißen, dass die Alraune deinen Fluch nicht als negativ ansieht."
"Was soll denn an Blindheit gut sein?" fragte Lilly erbost. "Ich kann das doch wohl am besten beurteilen. Und ich sehe nichts Gutes daran!"
Doch Jannie machte eine abwehrende Handbewegung.
"Nein, nein!" sagte sie. "Durch deine Blindheit bist du ein ganz anderer Mensch geworden. Reifer und erwachsener. Es stimmt, dass du sehr gelitten hast, aber deiner persönlichen Entwicklung hat es nicht geschadet. Das musst du selbst zugeben!"
Lilly wurde aufmerksam.
"Worauf willst du hinaus, Jannie?"
Jannie hatte sich in Eifer geredet. Sie fühlte, dass sie der Lösung des Problems ganz dicht auf der Spur war. Ihre Wangen röteten sich.
"Weiter!" sagte sie. "Wie bist du seinerzeit zur Alraune gekommen?"
"Mama und Papa haben mich gebracht. Wie sollte ich sonst hingekommen sein?"
Jannie blieb abrupt stehen und schnippte mit den Fingern.
"Das ist es!" rief sie so laut, dass Lilly erschreckt zusammenzuckte. Die anderen Geburtstagsgäste wurden auch aufmerksam. Urplötzlich verstummten die lauten Gespräche der Anwesenden. Alle schauten Jannie an.
"Wass’n losss?" grunzte El Pitto Gnomo, der am tiefsten ins Glas geschaut hatte.
"Ich habe die Lösung!" flüsterte Jannie.
"Was hast du, Kind?" fragte ihre Mutter.
"Ich habe die Lösung für Lillys Problem," antwortete Jannie so laut, dass es alle verstehen konnten. "'Leiden ist reifen' hat die Weiße Alraune gesagt. Damit meinte sie, dass Lilly erst eine gewisse Zeitlang leiden muss, um ihre Unarten abzulegen und zu einem reifen, vernünftigen Menschen zu werden. Das ist inzwischen geschehen. Lilly hat sich weiterentwickelt. Wir alle mögen sie, weil sie jetzt so vernünftig und nett ist."
Die Anwesenden schauten Jannie gebannt an. Das hörte sich gut an! Was würde sie als nächstes sagen?
Jannie fuhr fort.
"'Allein bringt Hilfe' hat die Weiße Alraune gesagt. Damit meinte sie, dass Lilly selbstständig genug sein muss, um alleine und ohne Begleitung ihrer Eltern zu ihr zu kommen, damit sie ihr helfen kann. Lilly ist zehn Jahre alt. Damit ist sie für Kobold-Begriffe heiratsfähig. Ihre Blindheit hat soweit nachgelassen, dass sie nicht mehr vollkommen hilflos ist oder doch zumindest in der Lage, alleine zur Weißen Alraune zu gehen, um sie um Rat zu fragen. Ich bin mir sicher, dass die Alraune Lilly jetzt helfen wird, wenn sie zu ihr geht."
Ihren Ausführungen folgte ein langes Schweigen. El Pitto Gnomo schaute sie mit offenem Mund an, als sei sie ein Wesen aus einer anderen Welt. Dann stand er auf, umarmte sie, so gut er konnte, was recht lustig aussah, da Jannie 1,70 m groß war und der Kobold-Häuptling ihr nur bis zum Bauch reichte. Er rief:
"Jannie, wenn ich dich nicht bereits lieben würde, wie mein eigenes Kind, dann würde ich es bestimmt jetzt tun!"
Dabei schwankte er merklich hin und her. Das lag nicht nur an seiner seelisch bedingten Rührung, sondern auch daran, dass er einiges getankt hatte. Wie übrigens Jannies Vater auch. Jannies Mutter und Lisa ihrerseits kümmerten sich um Lilly, der Tränen über die Wangen liefen. Sie drückten sie und flüsterten ihr aufmunternde Worte zu.
Für die Männer war das Thema damit erledigt. König Richard und El Pitto Gnomo hatten nun einen Zustand erreicht, in dem sie ihr Lieblingsspiel spielen konnten: Einer von ihnen verließ den Tisch, um sich im Wald zu verstecken, und der andere musste raten, wer von ihnen gegangen war.

***

Lilly ging mit Jannies Schlussfolgerungen mit der für sie typischen schwungvollen Art und Weise um: Schon am nächsten Tag packte sie ihre Sachen zusammen, um sich auf den Weg zur Alraune zu machen. Lisa konnte sich mit Lillys Art, die Sache anzugehen, nicht anfreunden. Feen haben eine eigene Dynamik, die man nicht mit der anderer Wesen vergleichen kann.
"Kind, was hast du vor?" fragte sie, obwohl sie es eigentlich schon wusste.
"Ich gehe zur Alraune, Mutti! Allein!" gab Lilly mit gerunzelter Stirn zurück. Sie wusste, was jetzt kommen würde, bemühte sich aber, ihrer Mutter mit Geduld zu begegnen.
"Aber, Kind, du kannst doch nicht ganz alleine zur Alraune gehen! Der Weg ist viel zu lang und gefährlich für dich!" stieß Lisa erschüttert hervor.
Lilly wandte den Blick von ihrem fast fertig geschnürten Bündel ab und drehte sich zu ihrer Mutter um.
"Mutti, ich habe fünf Jahre lang unnütz herumgesessen und mit dem Schicksal gehadert. Das passt nicht zu mir! Ich bin es leid! Jannie hat mir wieder eine Perspektive gegeben. Ich werde zur Alraune gehen. Allein, wie Jannie gesagt hat. Ich halte es nicht mehr aus!"
"Aber Kind! Dir könnte etwas passieren! Du bist mein einziges Kind. Wenn dir ein Unglück widerfahren würde, könnte ich das nicht ertragen."
Lisa war den Tränen nahe.
Lilly sah ein, dass ihre Mutter wirklich mit ihren Nerven am Ende war. Sie mochte lebensuntüchtig sein und wie alle Feen mit den Erfordernissen des harten Lebensalltags nicht zurechtkommen. Aber dennoch war sie ihre Mutter. Auch sie brauchte Hilfe. Da ihr Vater wieder einmal auf einem Raubzug war, war es ihre Pflicht als Tochter, ihrer Mutter helfen.
"Nun, so schlimm ist es nun auch wieder nicht," sagte sie besänftigend. "Der Weg führt zum überwiegenden Teil durch das Königreich von Richard. Das Land ist befriedet. Mir wird nichts geschehen."
Sie konnte sich aber nicht verkneifen, einen kleinen Nachsatz anzufügen:
"Außerdem habt ihr euch jahrelang nicht besonders intensiv um mich gekümmert."
Lisa horchte auf.
"Was meinst du damit?"
Lilly wunderte sich über die unbekannte Schärfe in der Stimme ihrer Mutter und erwiderte:
"Ist doch wahr! Seit ich zurückdenken kann, ist Papa unterwegs und hat sich kaum mit mir befasst. Du sitzt bei deinen Damenkränzchen und schwatzt. Ich bin mir immer selbst überlassen gewesen. Als ich fünf Jahre alt wurde, habt ihr sogar meinen Geburtstag vergessen. Meinst du nicht, dass es jetzt ein bisschen spät ist, mit der Elternliebe anzufangen?"
"Wenn ich dich richtig verstanden habe, Lilly, dann bist du wirklich der Meinung, dass wir dich all die Jahre über vernachlässigt haben?"
Lilly wunderte sich erneut über die Reaktion Lisas. Ihre Stimme war von einer ungewohnten Festigkeit. Sie schaltete einen Gang zurück.
"Meinst du etwa nicht?" fragte sie zurück. "Warum meinst du, habe ich früher den Leuten so gerne Streiche gespielt? Doch wohl nur, weil sich niemand um mich gekümmert hat. Ich hatte Langeweile!"
Lisas Blick wurde lauernd.
"Und jetzt bist du erwachsen, meinst du?"
Lillys Unsicherheit wuchs. So kannte sie ihre Mutter nicht. Trotzdem sagte sie fest:
"Ja. Ich bin jetzt zehn Jahre alt und im heiratsfähigen Alter. Ich bin erwachsen und bereit, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen!"
Lisa gebot ihrer Tochter, sich zu setzen und nahm neben ihr Platz.
"Mein Kind," sagte sie sanft. "Das Erreichen eines bestimmten Lebensalters ist kein hinreichender Grund, sich 'erwachsen' zu nennen. Das Erwachsenwerden ist in der Regel ein langer und steiniger Weg, den viele Kobolde nie zu Ende bringen."
Sie schmunzelte.
"Bei den Menschen ist das übrigens ebenso. Erwachsen sein bedeutet, Toleranz anders Denkenden gegenüber zu zeigen, Mitgefühl für die Probleme anderer zu entwickeln, verantwortungsvoll zu handeln und vieles mehr. Das Allerwichtigste ist allerdings, sich selbst nicht als das Maß aller Dinge anzusehen. Wenn du erkennst, dass du selbst für diese Welt völlig unwichtig bist, hast du bereits einen wichtigen Meilenstein erreicht. Bei dir kann ich diese Entwicklung aber bis heute nicht erkennen."
Lilly konnte dies natürlich nicht auf sich sitzen lassen.
"Warum habt ihr mich nicht entsprechend angeleitet? Wenn Papa nicht immer unterwegs gewesen wäre und ich kein Mädchen, sondern ein Junge, dann hätte er sich bestimmt mehr um mich gekümmert."
Lisa seufzte.
"Ach ja! Jetzt sind wieder einmal die Eltern Schuld! Weißt du, Lilly, Eltern machen selbstverständlich auch nicht immer alles richtig. Das können sie auch gar nicht. Schließlich sind sie auch nur Kobolde, Feen, Menschen oder was auch immer. Sie haben Fehler und machen Fehler. Wie jeder andere auch. Meinst du etwa, dein Vater könnte sich nichts Schöneres vorstellen, als Trecks zu überfallen und Leute zu töten, die sich weigern, die Passage durch den Finsterwald zu bezahlen? Was soll er denn sonst machen? Bauer werden? Hier im Finsterwald wächst nichts, das sich lohnen würde, anzubauen. Der Boden ist karg und das Licht schwach. Nutzpflanzen wachsen hier nicht. Kaufmann? Womit und mit wem soll er handeln? Nein! Die Kobolde können nur von dem leben, was sie anderen wegnehmen. Das geht nicht ohne Kampf ab und ich bin immer wieder froh, wenn dein Vater gesund zurückkehrt."
"Papa ist der beste Schwertkämpfer der Welt," gab Lilly mit Stolz zurück. "Was soll ihm schon passieren?"
Lisa schüttelte den Kopf.
"Und ich dachte immer, nur wir Feen seien naiv! Was kann ein Schwertkämpfer gegen Pfeile, Wurfäxte oder Speere tun? Ein Pfeil aus dem Hinterhalt abgeschossen tötet auch den besten Schwertkämpfer. Dein Vater ist nicht unverwundbar. Seine Arbeit ist lebensgefährlich. Außerdem ist er der Häuptling aller Finsterwaldkobolde und damit so eine Art Übervater für alle. Er muss sich auch um sie kümmern. Da bleibt nicht mehr viele Zeit für seine unmittelbare Familie. Leider!"
"Aber du hättest dich doch wenigstens mehr mit mir befassen können." Lilly war schon merklich kleinlauter geworden.
"Ich gebe zu, dass ich meine Mutterpflichten vielleicht vernachlässigt habe. Ich bin eine Fee und mehr den schönen Dingen des Lebens zugetan als dem harten Alltag in einem Koboldhaushalt. Vielleicht hätte ich mehr mit dir sprechen sollen. Vielleicht hättest du dich aber auch mehr an mich wenden und nicht passiv darauf warten sollen, dass ich etwas tue. Du bist aktiver und realistischer als ich. Siehst du: Es gibt so viele 'Vielleichts' und 'man hätte' und 'man könnte' auf der Welt. Aber wenn man nichts tut, nicht miteinander spricht und nur wartet und beleidigt ist, dann passiert gar nichts. Man hebt nur Gräben aus und schichtet Mauern auf. Und wenn man dann zurückblickt, erkennt man, dass all diese Gräben und Mauern unnötig sind und nur die Sicht auf das Wesentlich im Leben behindern."
"Und was ist das Wesentliche?" fragte Lilly leise.
"Das Wesentliche ist, dass wir trotz allem eine Familie sind und zusammenhalten müssen. Wenn wir das nicht tun, sind wir verloren, denn als Einzelpersonen sind wir nur deshalb wichtig, weil wir füreinander wichtig sind!"
Mutter und Tochter schauten sich lange in die Augen.
"Aber meinen Geburtstag habt ihr damals vergessen!" flüsterte Lilly.
Lisa blickte Lilly ernst an, wobei die den Arm um sie legte.
"Ach ja, dein Geburtstag! Da muss ich dir etwas zeigen," sagte sie. "Komm doch bitte mal mit vor die Tür!"
Mutter und Tochter erhoben sich. Sie verließen die Hütte. Die bescheidenen Lebensumstände der Kobolde des Finsterwaldes drückten sich auch in der Bauweise ihrer Hütten aus: Die Unterkünfte der Kobolde bestanden in erster Linie aus entlaubten Ästen, die gegen Bäume gelegt wurden. Da sich die Kobolde dabei auf lange und stabile Äste konzentrierten und sich darüber hinaus auch möglichst starke Bäume als Stütze aussuchten, entstanden auf diese Weise recht geräumige Behausungen, die zwar nur aus einem Raum bestanden, aber ihren Bewohnern ausreichenden Platz boten. Trotz der herausgehobenen Stellung, die El Pitto Gnomo und seine Familie in der Hierarchie der Finsterwaldkobolde innehatten, unterschied sich ihr Haus in keiner Weise von einer Standardhütte.
Lilly folgte Lisa. Da sie aufgrund ihrer Sehbehinderung nur einen sehr eingeschränkten Gesichtskreis hatte, bewegte sie sich vorsichtig. Trotzdem prallte sie überrascht zurück, als sie plötzlich ein großes, haariges Etwas vor sich stehen sah.
"Ein Pferd!" rief sie überrascht. Sie hätte nie daran gedacht, ausgerechnet hier und jetzt auf ein Pferd zu stoßen, denn diese Tiere waren im Finsterwald nicht anzutreffen. Pferde sind Tiere der freien Ebenen und nicht des Waldes. Sie brauchen Licht und Weite und beides war im Finsterwald nicht zu finden. Die durchziehenden Trecks der Glücksucher mussten wohl einen Teil ihrer Reittiere als Passiergeld bei den Kobolden abliefern, aber nicht, weil die Kobolde Pferde züchten wollten. Für die Kobolde waren Pferde zum Essen da. Nicht zum Reiten.
"Ja, in der Tat, ein Pferd," bestätige Lisa. "Es ist zwar nach menschlichen Wertmaßstäben eher ein Pony, aber für deine Größe genau richtig. Es heißt Palo."
"Ist das wirklich für mich?" fragte Lilly eifrig.
"Ja. Du solltest es eigentlich schon vor fünf Jahren bekommen. Aber dein Vater und ich wussten nicht, ob es richtig gewesen wäre, dir das Tier zu geben. Du warst ja vollkommen blind. Wir wollten dich in diesem Zustand nicht so gerne reiten lassen."
"Vor fünf Jahren?" murmelte Lilly nachdenklich.
"Ja, mein Kind! Palo sollte vor fünf Jahren dein Geburtstagsgeschenk werden. Dein Vater hatte es kurze Zeit vor deinem Geburtstag einem Durchreisenden abgenommen und für einige Wochen bei Richard untergestellt. Er hatte es für deinen Geburtstag wieder abgeholt, sich aber unterwegs verspätet. Er kehrte nicht, wie geplant, schon im Laufe des Morgens zurück, sondern erst am Nachmittag. Leider war das Unglück da schon geschehen."

***

Im Laufe ihres Ritts zur Alraune stellte sich heraus, dass Palo ein sanftes, trittsicheres Tier war, mit dem auch ein unerfahrener Reiter gut zurechtkommen konnte. Lilly war in ihrer Kindheit häufig auf König Richards Schloss gewesen und war da regelmäßig mit Pferden in Kontakt gekommen. Sie konnte sich also recht gut in einem Sattel halten, wenn sie auch etwas aus der Übung gekommen war. Leider war das Wetter umgeschlagen und der vordem so angenehme Frühsommer hatte zwischenzeitlich einem finsteren Tief Platz gemacht, das wie ein graues Ungeheuer mit Kälte und Regen über das Land herfiel.
Lilly war es gewohnt, den Launen der Natur ausgeliefert zu sein. Sie ließ sich daher durch das nasskalte Nieseln nicht beirren, sondern zog lediglich den Kragen ihres Reitmantels hoch. Das half nicht viel, denn das stetige Tröpfeln durchnässte ihr langes, schwarzes Haar völlig und schließlich lief das Wasser ihren Nacken hinunter. So durchdrang es die Kleidung von innen, bis sie schließlich durch und durch nass war. Palo trottete unverdrossen durch die Kälte. Ihm machte das gar nichts. Lilly hing unterdessen ihren Gedanken nach, denn die Eröffnung ihrer Mutter machte ihr doch sehr zu schaffen. Dass Eltern, ebenso wie Kinder, ihre eigenen Bedürfnisse hatten, hatte sie noch nie bedacht. Sie und ihre eigenen persönlichen Probleme hatten bisher immer im Vordergrund gestanden. Nie war es ihr in den Sinn gekommen, ihre Eltern als ganz normale Menschen und nicht als nur "ihre Eltern" zu sehen. Bei Licht betrachtet hätte sie sich viel Kummer und Leid ersparen können, wenn sie, statt beleidigt zu sein, mehr mit ihnen geredet hätte. Aber letztendlich war sie nur ein Kind, das ein Recht darauf hatte, von seinen Eltern auch Elternliebe und Aufmerksamkeit abzufordern. Niemand konnte von ihr verlangen, dass sie Probleme mit dem Verstand einer Erwachsenen anging. Lillys Gedankengang stockte. Sie wollte doch so gerne erwachsen oder doch zumindest wie eine Erwachsene behandelt sein. War sie nun Kind oder Erwachsene? Sie seufzte so laut, dass Palo die Ohren nach hinten drehte, um festzustellen, ob seine Reiterin mit ihm sprach oder nicht. Als aber nichts mehr kam, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Weg nach vorne und trottete weiter.
Wer vom Finsterwald zur Alraune wollte, musste sich auf eine Reise von zwölf Tagen einrichten, wenn er denn beritten war. Als man seinerzeit einen Ableger der Alraune umgesiedelt hatte, hatte man diesen in einer Höhle in König Richards Reich untergebracht. Auf diese Weise war die Alraune sicher - und nicht so weit von Schloss Drachenburg entfernt. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil, denn die weisen Ratschläge der Pflanze hatten König Richard und seinen Freunden schon oft geholfen. Die Höhle lag gut versteckt und war bewacht, damit sie vor Schaden sicher war. Aufgrund ihrer Fastblindheit war es für Lilly natürlich sehr schwierig, ihr Ziel zu finden. Doch Lisa hatte Kraft ihrer Fähigkeiten geholfen: Als Fee konnte sie zaubern und hatte Lilly einen Feenkompass mit auf die Reise gegeben. Der Feenkompass war ein Gänseblümchen, das sich frisch hielt, solange Lilly die richtige Richtung beibehielt, aber sofort welkte, wenn sie vom rechten Weg abkam. Lilly hatte die kleine Blume nicht aus den Augen gelassen, wurde nach Ablauf der erwähnte zwölf Tage aber doch unsicher, weil sie schon befürchtete, ihr Ziel trotz allem verfehlt zu haben.
"Halt! Wer da? Freund oder Feind!" dröhnte plötzlich eine tiefe Stimme aus dem Nebel, der Lilly ständig umgab.
Lilly war erleichtert. Diese Stimme kannte sie! Sie gehörte Knurps, dem Troll, der die Alraune bewachte und sowohl Freund als auch Feind anzuhalten pflegte. Feind, um diesem den Zutritt zur Alraunenhöhle zu verwehren und Freund, um ihm zu demonstrieren, dass er seinen Job ernst nahm.
"Freund, natürlich!" antwortete Lilly.
Knurps kannte die kleine Koboldin selbstverständlich und winkte ihr mit einer seiner behaarten Bratpfannenhände zu, um ihr zu zeigen, dass sie eintreten könne. Knurps war erheblich größer als ein großer Menschenmann und noch viel stärker, als er größer war. Neben der kleinen Lilly wirkte er wie ein klobiger Fleischberg, der sie mit einem Haps aufessen konnte. In der Tat fraßen Trolle für ihr Leben gerne Menschen - vor allem kleine Mädchen, wie Lilly von den Trollen des Finsterwaldes wusste. Aber Knurps war bei Merling, dem Zauberer, aufgewachsen, daher halb zahm und richtete sich nach den Benimmregeln der menschlichen Zivilisation, die besagten, dass Menschen im Allgemeinen und kleine Mädchen im Besonderen nicht zum Aufessen da waren. Trotzdem konnte man sich bei Knurps trotz seiner guten Erziehung und allgemein anerkannter Gutmütigkeit nie wirklich sicher sein, denn Knurps war, wie alle Trolle, unvorstellbar dumm. Wer wollte garantieren, dass er wider seine gute Erziehung doch auf einmal begann, Menschen zu fressen? Ganz einfach aus Versehen?
Lilly bemühte sich, nicht an diese Gefahr zu denken. Sie grüßte den ungeschlachte Riesen freundlich, band Palo an und huschte schnell in die Höhle.
"Es freut mich, Lilly, Tochter El Pitto Gnomos und Lisas, dass du nach all den Jahren zu mir gekommen bist. Ich erwarte dich schon seit geraumer Zeit," wurde sie von der Alraune empfangen.
"Ich habe erst durch Jannie erfahren, wie deine Weissagung interpretiert werden muss. Du weißt, dass deine Worte für deine Besucher nicht immer leicht zu verstehen sind," entschuldigte Lilly sich.
Die Antwort der Alraune klang amüsiert.
"Ich werde versuchen, diesmal klarer zu antworten. Ich möchte nicht, dass du wieder Jahre warten musst, bis dir geholfen wird."
Lilly horchte auf.
"Du meinst, mir kann geholfen werden? Du meinst, ich werde wieder sehen können?"
"Stelle deine Frage!" forderte die Alraune sie auf, ohne weiter auf ihre Worte einzugehen. "Stelle sie präzise. Du hast nur diese eine Frage!"
Lilly atmete tief ein. Jetzt kam es drauf an!
"Ich möchte nicht länger blind sein und wieder sehen können. Was muss ich tun?"
Die Antwort der Alraune kam schnell und fast eindeutig.
"Gehe nach Umbra. Allein. Vorsicht! Sie sind hohl!"
"Wer ist hohl?" fragte Lilly.
"Das ist eine zweite Frage und diese werde ich dir nicht beantworten," gab die Alraune zurück. "Ich beantworte immer nur eine! Eine Hilfestellung gebe ich dir aber noch. Ich habe den Zauber deines Elfenkompasses umgewandelt. Die Blume wird dich nun wieder nach Hause führen."
Lilly zögerte.
"Geht es vielleicht noch, dass sie mir zuerst den Weg zu Schloss Drachenburg zeigt?" Ich möchte noch einmal mit Jannie sprechen."
"Diese Bitte erfülle ich dir," gab die Alraune großzügig zurück.
Bevor Lilly ging, bedankte sie sich noch artig, wie es sich gehörte, denn sie war gut bedient worden. Vor dem Höhleneingang wechselte sie noch ein paar freundschaftliche Worte mit Knurps, der, seinem Intelligenzquotienten gemäß, knapp gegrunzte Antworten gab. Als den Umgangsformen Genüge getan worden war, bestieg die Koboldin wieder ihr Pferdchen und machte sich auf den Weg nach Hause, wobei sie noch den beabsichtigten Schlenker zum Schloss König Richards machte.

***

Im Hof von Schloss Drachenburg herrschte ein wüstes Durcheinander. Tische und Bänke wurden herangeschleppt, hin und her geschoben und wieder verrückt. Jannies Mutter stand mit hochrotem Kopf inmitten des Getümmels und dirigierte die Dienstboten, dass es eine Art hatte. Lilly sah das alles natürlich nicht, konnte sich aber aufgrund der Lärmglocke, die über allem hing, ein gutes Bild von dem Gewusel machen.
Jannie, die Lilly gleich bei ihrer Ankunft in Empfang genommen hatte, kicherte:
"So geht das schon den ganzen Tag. Ich weiß im Moment nicht, wer verzweifelter ist: Meine Mutter, die die Organisation nicht in den Griff bekommt, oder das Gesinde, das die ganzen Sachen schleppen muss."
"Worum geht es eigentlich?" fragte Lilly. Dieses Schloss ist doch sonst immer ein Hort der Sauberkeit und Ordnung. Und jetzt dieses Chaos?"
"Wir feiern doch bald meine Verlobung mit Hieronto. Jetzt muss erst einmal alles geprobt werden. Ich glaube, meine Eltern sind nervöser als ich."
"Warum seid ihr denn nervös? Ihr beiden kennt euch doch schon seit zehn Jahren und seit drei Jahren steht fest, dass ihr heiraten werdet."
"Ach was! Warte erst einmal ab, wenn du dich mit dem Mann deines Lebens verloben wirst. Dann wirst auch du aufgeregt sein. Und deine Eltern auch."
"Sag bloß, dein Vater dreht auch so durch, wie deine Mutter!"
Jannie schüttelte lachend die blonde Mähne.
"Das will ich nicht sagen. Ich habe aber festgestellt, dass er heute den Weinkrug öfter zum Munde führt als sonst. Wenn er so weitermacht, wird unser Weinkeller nach der Feier leer sein. Wie gut, dass auch Hüppes kommen wird. Du weißt, das ist der Kapitän, der Quetzi und mich nach Atlantis gebracht hat. Hüppes versorgt uns mit den besten Weinen der neuen Welt."
Jannie wechselte nun das Thema.
"Was führt dich her, Lilly? Es ist Jahre her, dass du mich zuletzt besucht hast."
"Ich war bei der Alraune, ganz so, wie du es mir geraten hast."
"Erzähl!" forderte Jannie ihre Freundin auf. "Ich bin ganz gespannt. Hat sie dir geholfen?"
Lilly nickte.
"Sie hat. Sie sagte, ich solle nach Umbra gehen. Allein. Außerdem sagte sie: 'Vorsicht, sie sind hohl!'"
Jannies Mund klappte auf.
"Wer ist hohl?"
"Das verstehe ich auch nicht," gab Lilly zu. "Die Alraune wollte mir dazu nichts sagen. Es scheint aber wichtig zu sein. Sonst hätte sie das nicht gesagt."
Die beiden Mädchen überlegten noch lange, was diese Worte wohl für eine Bedeutung haben konnten, kamen aber zu keinem Ergebnis. Schließlich brach Lilly wieder auf. Sie wünschte Jannie viel Glück für ihre Verlobungsfeier.
"Bitte verstehe, dass ich nicht dabei sein kann," sagte sie, als sie sich auf Palo schwang. "Ich bin des Blindseins müde. Ich will diesen Fluch von mir haben. Wenn ich wieder heil zurückkommen sollte, werden wir uns ja wieder sehen."
"Warum solltest du nicht heil zurückkommen?" sprach Jannie ihr Mut zu. "Du bist im Finsterwald aufgewachsen, der gefährlichsten Gegend der Welt. Da sollst du wohl nach Umbra kommen können. Pass aber bitte trotzdem gut auf dich auf. In Königswinter hat sich eine große Gruppe von Reisenden zusammengefunden, die in die alte Welt wollen. Wie ich gehört habe, sind sehr viele Bewaffnete dabei. Gib also bitte Acht, dass du ihnen nicht über den Weg läufst!"
Sie überlegte kurz.
"Möchtest du nicht über mein Haar streichen? Du weißt: Schaden kann es nicht."
Lilly folgte dieser Aufforderung nur zu gern, denn Jannies Haar brachte dem, der es streichelte Glück - und eine Portion Glück konnte sie jetzt gut gebrauchen.
Lilly dankte Jannie herzlich und trieb dann Palo an. Sie verließ das Schloss, wobei sie sich, wie vorher auch, auf ihren Feenkompass konzentrierte, damit sie den Weg nach Hause fand. Während ihres Rittes dachte sie oft an Jannie und Hieronto. Ein seltsames Paar, die beiden. Jannie war zweifellos ein schönes Mädchen. Selbst für Koboldbegriffe. Aber Hieronto? Lilly sah in vor sich: Einen schlanken, hoch gewachsenen Mann mit schmalem Gesicht, hohen Wangenknochen und schwarzen Mandelaugen. Trotz seiner breiten Schultern war er kein Muskelprotz, sondern sehnig und geschmeidig wie eine Katze. Dazu war er freundlich und klug. Er war somit die Freude aller menschlichen Schwiegermütter und Mädchen. Lilly schüttelte den Kopf. Wie konnte Jannie nur einen derart unansehnlichen Mann lieben? Sie als Koboldin stellt da schon höhere Ansprüche!

***

Ganz in Gedanken versunken ritt Lilly dahin. Es gingen ihr so viele Dinge durch den Kopf, dass sie gar nicht bemerkte, dass sie sich einer breiten Spur näherte, die genau auf ihr eigenes Ziel zulief: Den Finsterwald. Erst als sie die Ausläufer des Waldes erreicht hatte, die sich ihr wie eine massive Wand aus dicht belaubten Baumriesen entgegenstellte, nahm sie die Spuren wahr. Es brauchte einige Minuten, bis sie akzeptierte, was sie da sah. Schließlich saß sie auf dem Rücken eines Pferdes. Normalerweise durfte sie den Weg unter sich gar nicht sehen können. Ihr Blickfeld besaß ja nur einen Umfang von einem Meter. Trotz Palos geringer Größe befand sie sich aber höher als einen Meter über dem Boden. Die Spuren sah sie aber trotzdem! Ihr Blickfeld musste sich mindestens verdoppelt haben! Sollte allein die Tatsache, dass sie ihren Weg nach Umbra angetreten hatte, schon ausreichen, ihr Sehen zu verbessern? Das war kaum vorstellbar! Lilly schüttelte diese Gedanken ab. Sie lenkten sie nur unnötig ab. Letztendlich waren die Gründe für die Erweiterung ihres Blickfeldes unwichtig. Allein die Tatsache, dass es so war, zählte. Was weiter zählte, das waren die Spuren. Sie musste sie unbedingt untersuchen, denn es war immer wichtig, zu wissen, wen man vor sich hatte, wenn man allein unterwegs war. Ihr Leben konnte davon abhängen. Lilly stieg also ab und machte sich daran, die Spuren so gewissenhaft zu lesen, wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte.
Hier war eine große Schar von Reitern vorbeigekommen. Der Boden war aufgewühlt, als hätte die Gruppe hier Halt gemacht, um sich vor dem Eindringen in den Finsterwald zu beraten. Hier konnte sie nicht viel erkennen. Die Spuren waren unklar und verwischt. Lilly bestieg ihr Pferd wieder, um einige hundert Meter auf der Spur zurück zu reiten. Bald fand sie eine Stelle, an der der Tross noch geordnet daher gezogen war. Wiederum stieg sie ab. Jetzt konnte sie die Spur lesen. Sie zählte 105 Pferde, die vor etwa einer Stunde hier vorüber gezogen waren. 20 von diesen waren schwer beladene Packpferde gewesen, die mit ruhigem, gleichmäßigem Schritt gegangen waren. Fünf ledige Ersatztiere waren auch dabei. Auf den restlichen 80 Tieren hatten Reiter gesessen. Jannie hatte von einer großen Truppe gesprochen, die sich in Königswinter gesammelt hatte. Offenbar war sie bereits aufgebrochen. Sie hatte Glück gehabt, dass sie nicht mit diesen Reitern zusammengetroffen war. Gehandicapt durch ihre Sehschwäche hätte sie kaum eine Chance gehabt, dieser Meute zu entkommen. Wer weiß, was man ihr angetan hätte! Kobolde waren bei den Menschen nicht sonderlich beliebt. Erst recht keine Kobolde, die man in der Nähe des Finsterwaldes traf. Wusste man doch um den zum Teil unverschämt hohen Wegzoll, den sie für die Passage durch den Wald forderten. Entweder hätte man sie gleich umgebracht oder zunächst als Geisel mitgenommen, um freien Durchzug zu erpressen.
Die Reiter hatten einen Vorsprung von einer Stunde. Das war gemessen an der Größe der Gruppe und des schwierigen, unbekannten Weges nicht viel. Sie würden nicht schnell vorankommen. Lilly dagegen war im Finsterwald zu Hause und kannte sich ausgezeichnet aus. Sie würde keine Probleme haben, abseits des sich umständlich windenden Weges ein schnelleres Tempo vorzulegen und so ihre Eltern rechtzeitig zu warnen. Sie stieg wieder auf und presste Palo die Fersen in die Weichen. Sehschwäche oder nicht: Jetzt kam es drauf an! Ross und Reiterin jagten im gestreckten Galopp auf den Wald zu und tauchten dort unter. Der Wettlauf mit der Zeit hatte begonnen.

***

Schon kurz nach dem Eindringen in den Wald musste Lilly einsehen, dass sie trotz der drohenden Gefahr mit Umsicht an die Sache herangehen musste. Sie nahm Palo ein wenig zurück, so dass dieser in Schritt verfiel. Es brachte überhaupt nichts, wenn sie ihrem inneren Drängen nachgab und mit Volldampf zum Dorf der Kobolde ritt. Die Gefahr, dass sie selbst oder ihr Pferd sich verletzten, war einfach zu groß, der Wald zu dicht. Außerdem musste sie auf Spinnen, Trolle und sonstiges Ungetier achten, das sich hier herumtrieb. Nein! Sie zwang sich zur Vernunft und legte nun eine den Umständen nach noch gerade zulässige Eile an den Tag. Aufmerksam beobachtete sie mit all ihren Sinnen die Umgebung. Nur so konnte sie sicher sein, auch wirklich zu Hause anzukommen und nicht im Magen eines Ungeheuers zu landen. Trotz ihrer Eile brauchte sie zwei Tage, um in ihr Dorf zu kommen, das etwas abseits des Weges lag, der durch den Wald führte. Voller Triumph und freudiger Erwartung ritt sie auf die Ansiedlung zu. Hier kam Lilly, die Retterin ihrer Koboldsippe. Sie, der ehemalige Schrecken der Gemeinschaft, war jetzt, kaum, dass sie sich entschlossen hatte, sich wie ein erwachsener Mensch zu benehmen, sogleich zur Retterin ihrer Art geworden! Oh, wie würde man sie feiern! Sie würde eine Heldin sein! Eine Heldin, die ihr Volk vor einem gewaltigen Heer von Feinden gerettet hatte. Ihr Vater würde ein Fest für sie geben und sie in die Reihen der Krieger aufnehmen. Man stelle sich vor: Sie als erstes Mädchen der Kobolde in den Reihen der Krieger. Man würde ihr erlauben müssen, ein Langschwert zu tragen. – Und ihr Vater würde sie im Schwertkampf unterrichten! Lilly platzte fast vor Stolz! Sie gab Palo die Sporen und trieb ihn zwischen die Hütten.
"Alarm!" rief sie. "Alarm! Hundert Reiter durchqueren den Wald! Alarm!"
Eine sanfte Hand fasste sie am Arm.
"Ruhig Blut, mein Kind!" sagte eine freundliche Stimme. "Wir wissen, dass die hundert Reiter kommen. Du brauchst also nicht den ganzen Wald in Aufruhr zu bringen."
Lilly war wie vor den Kopf geschlagen.
"Aber Mutter! Diese Leute sind eine große Gefahr für uns alle. Wir müssen uns doch verteidigen!" Sie sah sich besorgt um. "Wo sind denn alle unsere Männer hin? Ich sehe niemanden. Wer soll denn nun kämpfen?"
"Nun beruhige dich erst einmal, Lilly, und komme mit in die Hütte. Da können wir alles in Ruhe besprechen. Steige bitte ab!"
Betäubt und völlig durcheinander tat Lilly, wie ihr ihre Mutter geheißen. Eine herbeieilende alte Koboldin nahm sich des Ponys an. Für Palo war also gesorgt.
In der Hütte bot Lisa ihrer Tochter etwas zu essen und zu trinken an. Mit der für Erwachsene typischen Überlegenheit erklärte sie ihr, dass ihre ganze Aufregung umsonst gewesen war.
"Wir wissen schon seit einigen Wochen davon, dass sich in Königswinter eine große Gruppe von Reisenden sammelt, die geschlossen durch den Finsterwald brechen will, um ohne Wegzoll zu zahlen in die alte Welt zu kommen."
"Woher wisst ihr das? Königswinter ist doch viele Tagesreisen weit entfernt!" rief Lilly aus.
"Ach Kind," antwortete Lisa. "So etwas zu wissen gehört doch zum Geschäft. Dein Vater unterhält Spione in Königwinter, die ihn über alle wichtigen Ereignisse auf dem Laufenden halten. Die jetzige Reisegesellschaft besteht aus 80 schwer bewaffneten heimatlosen Rittern, 20 Packpferden und fünf ledigen Ersatztieren. Insgesamt also aus 80 Menschen und 105 Tieren. Dein Vater wird sie abfangen und den üblichen Tribut verlangen."
"Aber das ist doch gefährlich!" rief Lilly aus. "Was ist, wenn sie nicht zahlen wollen und sich wehren? 80 bewaffnete Ritter sind doch kein Pappenstiel!"
"Wie ich schon sagte, meine Tochter," erwiderte Lisa ungerührt. "Das ist business as usual. So etwas erlebt dein Vater Tag für Tag. Es hat schon größere Gruppen gegeben, die nicht zahlen wollten. Daran, dass dein Vater noch lebt, kannst du sehen, wie die Geschichten bis jetzt immer ausgegangen sind."
Lilly wusste nicht, ob sie über diese Informationen glücklich oder enttäuscht sein sollte. Auf der einen Seite war sie natürlich erleichtert darüber, dass El Pitto Gnomo gut vorbereitet war und die Sache wie eine reine Routineangelegenheit abwickeln würde. Auf der anderen Seite fühlte sie sich auch um ihren verdienten Lohn geprellt. Ruhm, Lob und Ehre waren ihr nicht gegönnt. Im Gegenteil! Sie stand da wie eine dumme Gans, über deren Naivität die Erwachsenen nur schmunzeln konnten. So ein Ärger! Erwachsene waren schrecklich.
Für Lisa war das Gespräch aber noch nicht beendet.
"Wie war es denn nun bei der Alraune. Erzähle mal!" bat sie ihre Tochter.
Lilly berichtet lustlos, was sich bei der Alraune zugetragen hatte und verschwieg auch nicht, dass sich ihre Sehweite deutlich verbessert und sie innerhalb der Hütte völlig freie Sicht hatte.
"Das ist schön!" freute sich Lisa. "Mir ist nur nicht klar, warum du ausgerechnet nach Umbra gehen sollst. Erzherzog Gerold von Umbra gilt als strenger aber gerechter Herrscher, der seine Untertanen nicht schlecht behandelt. Sein Reich bietet nichts Besonderes. Auch in medizinischer oder magischer Hinsicht ist an diesem Land nichts Bemerkenswertes."
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf und seufzte.
"Na ja! Die Alraune wird schon wissen, was sie tut! Immerhin hat sie dafür gesorgt, dass sich der Fluch weiter abgeschwächt hat. Unsere Hütte ist recht groß. Wenn du sie völlig überblicken kannst, kannst du dir schon ganz gut helfen. Wann willst du aufbrechen?"
"So schnell wie möglich. Ich möchte noch mitbekommen, wie Papa mit den Rittern fertig wird."
Lisa konnte die Neugier ihrer Tochter gut verstehen, wenn sie auch Bedenken hatte. Sie wusste nur zu gut, wie grausam die Kämpfe zwischen den Kobolden und den Durchreisenden verlaufen konnten. Sie machte sich selbst große Sorgen, denn die 80 Ritter waren eine beachtliche Streitmacht. Vielleicht zahlten sie aber auch den Wegzoll.
Lillys Gepäck war schnell zusammengesucht und auf dem Rücken Palos verstaut. Trotz der bevorstehenden langen Reise brauchte sie nicht viel: Ein kleines Lederzelt, das ihr bei schlechtem Wetter Schutz bieten würde, eine warme Decke, in die sie sich zur Not einmummeln konnte, Kleidung aus widerstandsfähigem Troll-Leder, eine ausreichende Menge an Dörrfleisch und Dörrobst als Wegzehrung und, nicht zu vergessen, ein Kurzschwert sowie einen Dolch zur Verteidigung und als Werkzeug. Ein paar Schlingen für die Kaninchenjagd, sowie ein paar Münzen, die in der alten Welt als Zahlungsmittel akzeptiert wurden, wanderten auch noch ins Gepäck.
Zum Schluss übergab Lisa Lilly noch einen neu kalibrierten Elfenkompass.
"Er wird dir sicher den Weg nach Umbra weisen," erläuterte sie. "Ich hoffe, dass sich deine Sehkraft während deiner Reise weiter verstärkt. Die Alraune würde dich nicht losschicken, wenn du keine Aussicht auf Erfolg hättest. Niemand kennt sie besser als ich."
Lilly nickte, wobei sie hoffte, dass diese Worte nicht der Auftakt zu einer längeren Erzählung waren. In der Regel konnte ihre Mutter sich nicht mehr zurückhalten, wenn sie erst einmal damit begonnen hatte, von der Alraune zu erzählen. Schließlich hatte sie die Mutterpflanze viele Jahre lang auf Geheiß Xusias in der Pergotzkatl-Höhle bewacht, bis sie endlich El Pitto Gnomo kennen gelernt und sich in ihn verliebt hatte. Zum Glück aber hatte Lisa heute Verständnis für die Ungeduld ihrer Tochter. Beide verabschiedeten sich herzlich voneinander. Kurze Zeit später saß Lilly wieder auf Palo und machte sich auf den Weg nach Umbra. Zwangsläufig würde sie so auf ihren Vater stoßen, der den Tross der Reisenden aufhalten würde.

***

Selbst für die Kobolde, die im Finsterwald zu Hause waren, war dieser voller Gefahren. Auch sie mussten ihren Weg mit aller Sorgfalt und Aufmerksamkeit wählen, wenn sie nicht umkommen wollten. Um wie viel schwieriger und langwieriger musste da erst der Ritt für die unerfahrenen Ritter sein, die sich ihren Weg durch den Forst bahnten. Der allgemein benutzte Pfad, der sich durch den Wald wand, wuchs immer wieder zu, so dass er wohl ganz gut zu erkennen war, aber doch auch immer wieder frei geschlagen werden musste, wenn man mit Sack und Pack durchkommen wollte. Für die 80 Ritter war das eine mühselige, kraft- und zeitraubende Tätigkeit, die sie nur langsam vorankommen ließ.
Lilly hatte somit keine Schwierigkeiten, den Trupp rechtzeitig einzuholen, wenn sie auch immer wieder sorgsam ihre Umgegend beobachten musste, um den allseits vorhandenen Fangseilen und Netzen der Riesenspinnen auszuweichen. Inmitten des Dickichts konnte kein Mensch weiter als wenige Meter sehen, so dass ihre Sehschwäche hier nicht ins Gewicht fiel. Sie kam gut zurecht. Immer aber legte sie äußersten Wert darauf, möglichst lautlos voranzukommen. Die umherstreifenden Trolle sahen zwar nicht besser als sie selbst, besaßen aber ein unglaublich feines Gehör. Was sie nicht sahen oder witterten, das hörten sie bestimmt. Die Gefahr, von ihnen schon jetzt, inmitten des Herrschaftsbereichs der Kobolde angegriffen zu werden, war aber relativ gering. Doch je weiter sie sich von zu Hause entfernen würde, umso größer würde die Gefahr werden und umso vorsichtiger würde sie selbst sein müssen. Im Moment aber musste sie in erster Linie Obacht geben, dass sie nicht zufällig einem Ritter in die Arme lief, der sich vielleicht von der Hauptgruppe getrennt hatte, um die Umgebung zu erkunden. Doch selbst wenn das passieren würde, würde sie sich zu helfen wissen. Sie würde ihn einfach in die Nähe eines Spinnenhorstes bringen. In seiner Unerfahrenheit würde er gewiss an einem der klebrigen Fangseile hängen bleiben. Den Rest würde die Spinne erledigen.
Obwohl Lilly wusste, dass sie sich der Abfangstelle der Kobolde bereits sehr genähert hatte und in jedem Moment auf die Truppe ihres Vaters treffen musste, war sie mächtig erschreckt, als eine knochige Hand aus dem Gestrüpp fuhr, sie am Arm packte und in die Büsche zog. Im Nu lag sie auf dem Boden. Auf ihr hockte ein Koboldmann und grinste sie unverschämt an.
"Ach! Schau an, Lilly, der Schrecken der Landstraße ist da! Was führt dich den her, mein Täubchen?"
Statt einer Antwort bekam der Kerl eine satte Ohrfeige, die ihn auf den Boden warf. Koboldfrauen wissen sich zu wehren. Lilly machte da keine Ausnahme.
Dem Kobold machte dies nichts aus. Koboldsche Umgangsformen waren ihm bekannt. Er rappelte sich schnell wieder auf.
"Psst!" flüsterte er. "Die Ritter sind schon ganz nah. Ich muss wieder auf meinen Platz."
Lilly war nahe daran, zu bedauern, dass er schon wieder verschwand, denn mit seinem kantigen, übergroßen Schädel, den gewaltigen Segelohren und kleinen Schielaugen war er ein wirklich schicker Bursche. Neugierig kroch sie ihm nach. Dabei stellte sie fest, dass der Wald um sie herum voller Kobolde steckte. Jedes Gestrüpp, jeder Busch beherbergte ein ganzes Knäuel der kleinen Kerle. Die Ritter würden sich wundern! Es dauerte einige Zeit, bis sie "ihren" Kobold wieder erreicht hatte. Seine spitze, mehrfach gebrochene Nase richtete sich auf sie.
"Ach, willst du mal sehen, wie wir die Kerle fertig machen werden?" zischte er, wobei er seinen langen Dolch fest umklammerte.
Lilly konnte den Weg gut erkennen. Das Gebüsch befand sich in unmittelbarer Nähe ihres Vaters, der, auf sein Langeschwert gestützt, den Pfad versperrte. Klirrend näherte sich der Trupp der Ritter. Er wurde von einem breitschultrigen, großen und brutal aussehenden Reiter angeführt.
"Halt!" rief da die unverkennbare Stimme El Pitto Gnomos. "Von hier an geht’s nicht mehr weiter. Erst ist der Wegzoll zu entrichten."
"Was für ein Wegzoll?" erwiderte der Anführer. "Nimm deine krummen Beine in die Hand und scher dich weg, du hässlicher Wicht, oder ich werde dir den Kopf von den Schultern holen!"
El Pitto Gnomo nahm sowohl das Kompliment als auch die Drohung mit Würde hin.
"Der Wegzoll beträgt für euch 20 Pferde 20 Schwerter und 20 Säcke Mehl!" erläuterte er ruhig. "Und mach dir keine falschen Hoffnungen. An mir kommt keiner vorbei!"
Die Ritter hatten natürlich von den Kobolden gehört und wussten, dass die Entrichtung des Wegzolls im Prinzip unvermeidlich war, wenn sie unbehelligt weiterreisen wollten. Zudem verfehlte El Pitto Gnomos selbstsichere Ruhe ihre Wirkung nicht. Dennoch waren sie über die Höhe der Forderung überrascht. Allein die 20 Pferde waren ein Vermögen wert.
"Was wollt ihr Kobolde hier im Finsterwald mit so vielen Pferden?" rief der Brutale höhnisch. "Ihr Kobolde seit viel zu klein, um sie zu reiten!"
"Wer spricht von reiten?" gab El Pitto Gnomo zurück. "Wir werden sie essen!"
Diese Antwort war für die Ritter ein Schlag ins Gesicht. Ihre wertvollen Schlachtrösser sollten geschlachtet und gebraten werden wie gemeine Ochsen? Unruhe entstand unter ihnen. Nach kurzer Beratung wandte sich der Anführer der Gruppe wieder an El Pitto Gnomo.
"Ich mache dir einen Vorschlag. Wir beide kämpfen miteinander. Mann gegen Mann. Wenn du gewinnst, dann gehen wir auf deine Forderung ein. Verlierst du, haben wir freien Abzug. Was hältst du davon?"
"Wir können gerne gegeneinander antreten," kam die Antwort. "Ich schlage nur eine Änderung vor: Wenn du verlierst, gehört uns die Hälfte all dessen, das ihr mit euch führt. Ihr könnt jetzt schon anfangen auszupacken!"
Der Sprecher der Ritter grinste überlegen. Offensichtlich hatte er noch nie von El Pitto Gnomo gehört, denn sonst hätte er dankend auf einen Zweikampf verzichtet. Er stieg von seinem Pferd, vertrat sich kurz die Beine, um locker zu werden und trat dann mit gezogenem Schwert auf den Kobold zu.
"Damit du es weißt, ich bin Graf Ottfried von Neuffen und bisher noch nie im Schwertkampf bezwungen worden. Wir kämpfen bis zum Tod. Genieße die letzten Atemzüge deines Lebens!"
Obwohl Lilly wusste, dass ihr Vater ein unvergleichlicher Schwertkämpfer war, bekam sie es doch ein wenig mit der Angst zu tun. Der Graf war mehr als doppelt so groß wie sein Gegner und sehr stark. Hoffentlich ging alles gut!
"Und ich bin El Pitto Gnomo, der Häuptling der Finsterwaldkobolde!" kam die Entgegnung.
Der Graf wollte die Sache wohl schnell hinter sich bringen und drang ungestüm auf seinen kleinen Gegner ein. Er hob sein Schwert und ließ es mit Wucht hinuntersausen. Der Schlag hätte den Kobold mit Sicherheit in zwei Hälften geteilt, wenn er sein Ziel erreicht hätte. Doch der Zweihänder El Pitto Gnomos fing den Hieb ab. Lilly hatte ihren Vater schon oft im Zweikampf gesehen und erwartet, dass dieser sich wie üblich zunächst nur spielerisch wehren würde, um erst dann seine ganzen Fähigkeiten einzusetzen. Doch sie hatte sich getäuscht. Dies hier war kein Schaukampf, sondern bitterer Ernst. Die Einforderung des Wegzolls war unmittelbarer Bestandteil des Überlebenskampfes der Kobolde. Nachgiebigkeit konnten sie sich nicht leisten. Noch im Abfangen des Angriffs des Ritters drehte El Pitto Gnomo sein Schwert leicht nach rechts, stieß es vor, zog die Klinge nach oben und trennte mit dieser unnachahmlich geschmeidig ausgeführten Bewegungsfolge den Schwertarm seines Gegners von dessen Körper ab. Graf Ottfried starrte ungläubig auf seinen am Boden liegen Arm. Dann folgte ein dumpfer Blick auf den blutenden Stumpf, an dem eben noch sein Arm gewesen war. Im nächsten Moment stieß El Pitto Gnomo ihm das Schwert tief in die Brust. Der Kampf war beendet, kaum dass er begonnen hatte.
Die Ritter stießen ein lautes Wutgeheul aus. Alle griffen zu den Waffen. Es war klar, dass sie sich nicht an die Abmachung halten wollten.
"Nieder mit dem Kobold. Erschlagt ihn!" riefen sie und machten sich daran, ihn anzugreifen.
Doch wiederum hatten Sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der entsetzliche Schlachtruf der Kobolde des Finsterwaldes brandete auf. Mit ohrenbetäubendem Brüllen sprangen die Kämpfer El Pitto Gnomos wie wahnsinnige Teufel aus dem Dickicht. 200 hässliche Gestalten stachen, hackten und schlugen von allen Seiten zugleich auf die Ritter ein. Und das mit einer Kraft und Verbissenheit, die niemand den kleinen Kerlen zugetraut hätte. Kobolde kennen keine Regeln. Sie sind klein und gemein. Die Ritter hatten keine Chance. Sie hatten ihre Gelegenheit bekommen, die Passage zu erkaufen. Sie wollten nicht? Nun gut. Innerhalb weniger Augenblicke hatten die Kobolde alle ihre Gegner bis auf einen, den sie entkommen ließen, erschlagen. Die Toten und Schwerverletzten schleppte man in die Büsche, wo sie später vom Gewürm und den Ungeheuern des Finsterwaldes gefressen wurden. Das Leben im Finsterwald war hart - und das Sterben auch.

***

Die Beute wurde gerecht unter den beteiligten Sippen verteilt. Selbst El Pitto Gnomo, der doch der unumstrittene Anführer der Kobolde war, nahm sich nicht mehr als alle anderen, denn die Gemeinschaft konnte nur dann überleben, wenn sich alle einig waren. Es durfte keinen Grund für Eifersüchteleien geben.
Lilly fand nun endlich Zeit, mit ihrem Vater über ihre Reise zu sprechen.
"Fast hätte ich Angst um dich gehabt, als der Ritter auf dich zustürmte," bekannte sie leise, um ihren Vater vor seiner Truppe nicht in Verlegenheit zu bringen.
Doch der lachte nur amüsiert auf.
"Ach der!" meinte er. "Graf Ottfried war ein recht bekannter Haudegen, der mit dem Schwert aber nicht so gut umgehen konnte, wie man es von einem Mann seines Standes eigentlich hätte erwarten sollen. Mir wäre es trotz allem lieber gewesen, wenn er auf unsere Forderung eingegangen wäre. Es macht keinen Spaß, Menschen zu töten."
"Aber ihr habt es getan!" entgegnete Lilly mit leichtem Vorwurf in der Stimme. "Du hättest die Leute einfach ziehen lassen können."
"Nein! Das ging eben nicht!" widersprach ihr Vater. "Es ist unser gutes Recht, unseren Wegzoll zu verlangen. Wenn sich herumspricht, dass wir mal von ihm Gebrauch machen und mal wieder nicht, dann verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit. Die Kämpfe würden zunehmen und letztendlich mehr Menschen ihr Leben verlieren, als wenn wir konsequent auf unserem Recht beharren. Da habe ich auch gar kein schlechtes Gewissen. Wir lassen in der Regel immer ein Mitglied der Gruppe entkommen. Wie auch heute. So wird sich dieser Vorfall herumsprechen und anderen eine Lehre sein."
Lilly zuckte aufgrund dieser haarsträubenden Logik mit den Schultern. Sie konnte sowieso nichts an den Sitten der Kobolde ändern. Außerdem hatte sie andere Sorgen. Sie erklärte El Pitto Gnomo kurz, dass sie bei der Alraune gewesen war und was diese ihr aufgetragen hatte. Ihr Vater runzelte nachdenklich die Stirn.
"Hmm!" meinte er und runzelte unwillig die Stirn. "Das höre ich nicht gerne. Der Weg nach Umbra ist weit. Selbst wenn du heil aus dem Finsterwald herauskommst, woran ich nicht zweifle, denn du kennst dich hier gut aus, sind die Gebiete, die du anschließend durchreiten musst, nicht ohne Gefahr. Mir wäre es lieber, wenn ich dich begleiten könnte."
"Die Alraune hat mir aber unmissverständlich gesagt, dass ich allein reisen muss!" beharrte Lilly, besorgt, dass ihr Vater ihr die Reise unter diesen Umständen verbieten würde. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass El Pitto Gnomo vielleicht doch ein fürsorglicherer Vater war, als sie angenommen hatte. Ausgerechnet jetzt! Sie kam ins Schwitzen.
"Na gut! Meinen Segen hast du," entschied er zu ihrer Erleichterung, wobei er seinen Zweihänder in die Scheide schob. "Aber eins sage ich dir: Wenn dir die Alraune einen schlechten Rat gegeben hat und du nicht heil wieder zurückkommst, dann werde ich sie in Stücke hacken. Höchstpersönlich!"
Lilly hatte ihren Vater noch vor wenigen Minuten als kompromisslosen Kämpfer gesehen. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass er seine Drohung wahr machen würde. Sie sah ihn vor sich, wie er sein Schwert schwang, um die Alraune zu zerschlagen. Es war erschreckend, aber auf eine erwärmende Art beruhigend zugleich.
Bevor sie sich abwandte, flüsterte er ihr aber noch schnell zu:
"Vor vier Tagen ist eine Gruppe von drei Kaufleuten durchgezogen, die auch nach Umbra wollen. Wenn du sie unterwegs zufällig triffst, kann die Alraune ja nichts dagegen haben, oder?"

***

Lillys nun folgender Marsch durch den Finsterwald war ein Kräfte zehrendes Martyrium. Der Pfad, der sich quer durch den Forst zog, war dadurch, dass er nur selten benutzt wurde, häufig wieder zugewachsen und deshalb schwer zu erkennen. Es gab Strecken, die sie bequem auf dem Rücken Palos zurücklegen konnte. Manchmal sogar im leichten Trab. Oft stand sie aber auch vor einer dichten Wand aus in sich verschlungenen Ästen und Schlingpflanzen und wusste nicht, in welcher Richtung sie sich hindurch schlagen sollte. Hin und wieder kam es vor, dass sie, nachdem sie sich hindurchgekämpft hatte, feststellen musste, dass ihre Mühe umsonst gewesen war und sie den Durchbruch an einer anderen Stelle erneut versuchen musste. Das kostete Kraft und Nerven. Zum Glück war sie als Koboldin hart im Nehmen und ließ sich ihren Mut nicht nehmen. Für Reisegesellschaften war dies alles auch unangenehm, aber da sie ihre Kräfte wechselweise einsetzen konnten, kamen sie schneller und kräfteschonender an als die einsame Lilly, die sich ihre Reserven klug einteilen musste, wenn sie nicht letztendlich scheitern wollte. Sie hatte aber Glück, dass die Dreiergruppe erst vor vier Tagen denselben Weg genommen hatte. Auf diese Weise war der Verhau nicht überall so dick, wie er es sonst gewesen wäre. Aber das, was sich inzwischen wieder an Bewuchs angesammelte hatte, reichte vollkommen aus, sie nachhaltig zu beschäftigen.
Aber der Weg war nicht das Problem allein. Sie musste ständig auf der Hut vor den Fallen der Spinnen und anderen Räubern, wie Trollen und Wölfen sein. Die Spinnen waren zum Glück nicht so zahlreich, dass man ihnen alle Nasen lang begegnete. Wäre das so gewesen, wäre der Finsterwald schon längst entvölkert gewesen, denn wenn man einem dieser Raubtiere in die Falle ging, gab es keine Rettung mehr. Die großen Achtbeiner gehörten nicht alle zu der Sorte, die kunstvolle Netze baute. Die meisten Spinnen des Finsterwaldes hatten sich darauf spezialisiert, ausgeklügelte Fallen mit Frühwarnsystemen aufzustellen: Sie suchten sich hoch oben in den Bäumen eine ihnen genehme Stelle, an der sie sich einen Unterstand bauten. Um diesen Kokon herum spannten sie ein ausgedehntes System von Alarmfäden, die so fein gewebt waren, dass sie praktisch unsichtbar waren. Selbst die gewitzten Kobolde hatten bisher nicht herausfinden können, wie die großen Spinnen so feine Fäden weben konnten. Alle Alarmfäden endeten im Zentrum des Kokons, in dem die Spinne saß und wartete. Ob eine potentielle Beute, die durch den Wald zog, die Fäden nun entweder zerriss oder nur berührte: Der Jäger konnte sie nicht nur sofort lokalisieren, sondern auch ihren Weg weiter verfolgen. Kam das Opfer auf sie zu, blieb die Spinne wo sie war und wartete einfach ab. Entfernte es sich, eilte sie schnellstmöglich herbei. Sobald die Beute in Reichweite war, bewarf sie diese mit einem feinen Schauer aus Spinnseidetröpfchen. Wenn das Opfer sich nun gegen diesen Beschuss wehrte, zog es durch seine heftigen Bewegungen die Tropfen zu Fäden aus, die sich schnell verhärteten und es so nachhaltig fesselten. Die Spinne brauchte nur abzuwarten, bis ihr Braten bewegungsunfähig war und konnte sich dann mit Genuss über ihn hermachen. Selbst schwer bewaffnete Ritter hatten keine Chance gegen die Angreifer. Wie wollte man sich wehren, wenn man zu einem handlichen Paket verschnürt war? Wer nun aber zu der Überzeugung kam, dass der Zusammenschluss zu einer größeren Reisegruppe ausreichenden Schutz bieten müsse, der saß einer Fehleinschätzung auf. Die Spinnen des Finsterwaldes pflegten den Reisegruppen auf ihrem Weg durch ihr Jagdrevier zu folgen. Dabei benutzten sie ein Straßennetz aus Seide, das es ihnen erlaubte, über kurze Strecken selbst das Tempo eines Pferdes mitzuhalten, solange es nicht gerade in Galopp verfiel. Groß, schnell und stark wie sie waren, fingen sie dann einen Reisenden nach dem anderen mit einem klebrigen Lasso aus Spinnseide aus der Gruppe heraus. Ganz wie ein Hirte Kälber aus einer Rinderherde. Das alles geschah in der Regel so schnell, dass die Unglücklichen vielleicht noch einen kurzen Schrei ausstoßen konnten und schon irgendwo hoch oben in den Wipfeln hingen, wo die Spinne sie dann nach und nach einsammelte, um sie in ihre Vorratskammer zu hängen, bis sie als Mahlzeit an der Reihe waren, was einige Zeit dauern konnte. Denn die Lassoschwinger konnten zur Not monatelang ohne Nahrung auskommen. Doch das machte nichts. Die Beute war gelähmt und gut konserviert. Sie hielt sich lange frisch. Es war nicht bekannt, was die Opfer von ihrer Lage mitbekamen. Waren sie bei Bewusstsein? Hatten sie Schmerzen? Niemand wusste es, denn bisher war noch nie jemandem die Flucht gelungen.
Lilly machte sich aber keine allzu großen Sorgen. Im Laufe seines Lebens entwickelte jeder Kobold einen natürlichen Instinkt in Bezug auf die Spinnen. Nur kleinere Kinder mussten noch beschützt werden. Aber mit der Zeit bemerkte jeder Kobold intuitiv, wenn er sich einem Fallensystem näherte. Bisher war es noch keiner Spinne gelungen, einen Kobold zu fangen. Und die Kobolde ließen ihrerseits die Spinnen in Ruhe. Zwischen den beiden Parteien herrschte ein unausgesprochener Waffenstillstand.
Unangenehmer war dagegen schon jetzt das lichtscheue Gesindel, das den Boden des Waldes belebte. Gerade Asseln, Tausendfüßler und Schlangen, die ständig auf Nahrungssuche waren, fielen zu gerne über unachtsame Wanderer her. Hier war besondere Vorsicht angebracht. Doch Lilly wusste genau, wie sie sich verhalten musste, um verschont zu bleiben.
Noch schlimmer waren die Abende. Wenn die kurze Dämmerung, der schnell eine absolut schwarze Nacht zu folgen pflegte, anbrach, wäre Lilly am liebsten sofort auf den Boden gesunken, um zu schlafen. So müde war sie. Doch gerade jetzt durfte ihre Aufmerksamkeit nicht erlahmen! Nachts erwachten Krabbeltiere, die selbst das dürftige Tageslicht des Finsterwaldes scheuten, zu hungrigem Leben. Raschelnd und knisternd durcheilten sie das Gehölz, um nach Essbarem zu suchen. Schlafende, die sich auf dem Boden ausgestreckt hatten, waren dann schnell von einer wimmelnden Masse bedeckt, die sich an ihrem Fleisch gütlich tat.
Lilly kannte die Stellen, die sie meiden musste und solche, die relativ sicher waren. Besonders trügerisch war die "Bleib-hier-Pflanze", die mit ihrem wohltuenden Grün den ansonsten grauschwarzen Boden bedeckte und eine traumhaft gemütliche Unterlage bot. Wer immer sich aber auf sie legte, konnte nach einigen Stunden nicht mehr aufstehen, da sich die Ausläufer der Pflanze in der Zwischenzeit in seine Haut gebohrt und mit dem Fleisch des Unglücklichen fest verbunden hatten. So gefesselt wurde das Opfer langsam aber sicher verdaut, wobei die oben erwähnten Krabbeltiere und andere Bewohner des Waldes nach Kräften mithalfen. 
Als sie das Zentrum des Waldes erreichte, wurde es so dunkel, dass der Pflanzenbewuchs stark zurückging und riesigen Pilzkolonien Platz machte. Die Pilze gediehen unter den für andere Lebensformen so ungünstigen Lebensverhältnissen so prächtig, dass sie oft zwei bis drei Meter hoch wurden. Die Pilze an sich waren aber völlig harmlos. Schlimmer waren die armdicken, weißen Ranken der Schlingpflanzenarten, die sich dieser Umgebung angepasst hatten. Sie bildeten schleimige, übel riechende Blüten aus, auf denen Myriaden von kleinen Fliegen lebten. Ritt Lilly an ihnen vorbei, stiegen sie auf, umschwirrten sie und krabbelten in Nase und Ohren. Zum Glück waren sie nur lästig und nicht gefährlich, denn sie stachen oder bissen nicht. Die Fruchtstände der Schlinggewächse dagegen waren extrem gefährlich. So mancher arglose Reisende hatte sie im Vorbeireiten gestreift und sich mit ihrem Samen infiziert, der auf der Haut Wurzeln schlug und sich langsam ausbreitete bis er den Körper vollständig bedeckte und seinen Wirt langsam tötete. Es gab kein Mittel gegen die Ausbreitung des Samens. Er wirkte immer tödlich.
So kämpfte sich Lilly Tag um Tag langsam aber sicher voran. Vorbei ging es an Sümpfen, die von den zahlreichen trüben Rinnsalen gespeist wurden, die kreuz und quer durch den Wald flossen. In Tümpeln hockten seltsame Lurche, die die vorbeiziehende Reiterin dumpfen Blickes anglotzten.
Dank ihrer Konstitution und ihrer Erfahrung kam Lilly dennoch gut vorwärts und schaffte es sogar, den Abstand zu der vor ihr herziehenden Händlergruppe zu verringern. Das Pony seinerseits war auch zäh und genügsam, fand überall etwas zu knabbern und döste immer nur dann, wenn Lilly ihm eine Pause gönnte. Nach acht Tagen aber, als das Tageslicht sich wieder langsam stärker als bisher bemerkbar machte und so anzeigte, dass sie die graue Welt des Zentrums des Waldes verließen, waren beide am Ende ihrer Kräfte. Den drei Händlern hatten sie sich inzwischen bis auf einen Abstand von drei Stunden genähert und der Pfad war praktisch frei. Dennoch stolperte Palo nur in einem mühsamen Schritt dahin. Pferd und Reiterin waren zum Umfallen müde.
Lillys Instinkt war so abgestumpft, dass sie das Gefühl einer unmittelbar drohenden Gefahr fast zu spät spürte. Mit letzter Kraft riss sie Palo zurück, als sie unmittelbar nach einer Biegung das dichte Gespinst eines Spinnennetzes erblickte. Die sich weit verzweigenden Alarmfäden waren deutlich zu erkennen. Zu deutlich! Hier stimmte etwas nicht! In der Regel verstanden es die Spinnen meisterhaft, ihre Kunstwerke vor den Augen ihrer Beutetiere zu verbergen. Diese Spinne aber hatte ganz eindeutig geschludert. Niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand war, konnte diesen Unterstand übersehen. Lilly war er nur deshalb fast entgangen, weil sie vor lauter Müdigkeit kaum noch aus den Augen sehen konnte. Sie sah sich um. Schlecht hatte die Spinne ihre Stellung nicht platziert! Links und rechts des Weges standen noch hohe Bäume. Ein Dickicht kräftiger Giftdornbüsche hatte den Raum zwischen ihren Stämmen überwuchert. Hier gab es kein Durchkommen! Es sei denn, sie machte sich die Mühe, sich durch die Dornen zu schlagen. Aber jetzt? Entkräftet, hungrig und müde? Wer würde das auf sich nehmen wollen? Die Händler hatte das jedenfalls nicht getan, wie ihre Spuren bewiesen, die schnurstracks in das Gewebe hineinführten. Lilly schüttelte nachdenklich den Kopf. Was mochte das nur für eine Spinne sein, die sich dermaßen unprofessionell verhielt? Und die Händler? Glaubten sie wirklich, es zu dritt mit einer Finsterwaldspinne aufnehmen zu können?
Lilly stieg ab und trat näher an das Netz heran. Täuschte sie sich oder war da eine Bewegung unmittelbar vor ihr? Lilly rieb sich die Augen und schaute noch einmal genau hin. Tatsächlich! Ein Schatten. Jetzt bewegte er sich wieder. Ganz kurz nur! Aber das war eindeutig eine Bewegung! Sie überlegte. Die Besitzerin dieses Netzes verhielt sich absolut ungewöhnlich. Mit ihr stimmte etwas nicht. Sollte sie verletzt oder krank sein? Der Weg zum Rand des Finsterwaldes führte durch dieses Netz. Sie war ganz einfach zu fertig, um sich durch die Dornbüsche zu schlagen. Zurück konnte sie aus dem gleichen Grunde nicht mehr. Es gab nur eins: Sie musste auf ihr Glück vertrauen. Entschlossen trat sie durch die einzige Öffnung des Netzes in das Reich der Spinne.

***

Sogleich stand sie dem gefährlichsten Raubtier des Finsterwaldes unmittelbar gegenüber. Die Bewegungen, die sie wahrgenommen hatte, kamen von der Spinne selbst. Lilly hatte sie beim Fressen gestört. Das Tier unterbrach seine Mahlzeit, ruckte hoch und streckte ihr ihre zwei längsten Beine entgegen. Wie Speere zielten sie auf ihren Kopf. Die zahlreichen Punktaugen glitzerten. Lilly war wie gelähmt. Noch nie hatte ein Mensch die direkte Begegnung mit einer Finsterwaldspinne überlebt. Jeden Moment musste sie zum Sprung ansetzen und sich auf sie stürzen. Wie würde es sich anfühlen, wenn die nervös gegeneinander schlagenden Giftklauen sich in ihren Körper bohren würden? Würde sie Schmerzen verspüren? Käme die einsetzende Lähmung schnell und vollständig? Die Sekundenbruchteile vergingen wie kleine Ewigkeiten. Sie sprang nicht! Und Lilly erkannte, warum die Spinne sich so ungewöhnlich verhalten hatte.
Der Achtbeiner war noch sehr jung und hatte seine volle Größe noch nicht erreicht. Außerdem war er halb verhungert. Der normalerweise schwarz behaarte Körper war bernsteinfarben und durchsichtig wie Glas, die Haare kaum zu erkennen. Ebenso wirkten die Beine dünn und zerbrechlich. Der Hinterleib hing schlaff und winzig, halb verkümmert herab. Der Jagderfolg der Spinne musste seit Monaten ausgeblieben sein. Dieses Netz war ein letzter, verzweifelter Versuch, den Hungertod abzuwenden. Die Spinne musste es mit dem letzten Funken ihrer ehemals so starken Lebensenergie zusammengebaut haben. Deshalb war es auch so schlampig konstruiert. Zum Glück hatte sie den Ort gut gewählt, denn wer immer hier vorbeikommen würde, würde sich angesichts des Endes seiner Reise durch den Wald immer für den geraden Weg durch das Netz entscheiden. Gerade so, wie es die drei Kaufleute auch getan hatten. Ein anderes Raubtier hätte nach Aas gesucht, um sich eine Zeit lang wenigstens so über Wasser zu halten. Spinnen aber essen grundsätzlich nur lebende Nahrung. Sie verhungern lieber, als dass sie Totes zu sich nehmen. Spinnen sind auch in der Nahrungsaufnahme spezialisierter als andere Lebewesen. Sie haben keine Zähne und ihre Mundöffnung ist so lächerlich klein, dass sie nur Flüssiges zu sich nehmen können. Aus diesem Grunde findet der Verdauungsvorgang vor der Mundöffnung statt. Spinnen erbrechen ein Verdauungssekret über ihre noch lebende Beute, das deren Körper auflöst. Diesen flüssigen Brei saugt die Spinne auf. Das Opfer verendet im Verlauf dieses Vorgangs, lebt aber noch lange genug, um mitzubekommen, dass es gefressen wird.
Lillys Blick fiel auf einen länglichen Körper, den die Spinne mit ihren restlichen Beinen umklammerte. Es war der Körper eines Menschen, der gefesselt und durchnässt vom Verdauungssaft der Spinne vor ihr lag. Die Koboldin wagte nicht, sich zu rühren, sah sich aber im Netz um. Nicht weit von ihr, noch in ihrem Sichtradius, baumelten zwei andere eingesponnene Klumpen an der Decke des Gespinstes. Sie bewegten sich krampfhaft, als wollten sie die sie umgebende Seidenhülle sprengen. Lilly wusste, dass alle Anstrengungen der Gefangenen vergebens sein würden. Es waren zweifellos die drei Kaufleute, die nur wenige Stunden vor ihr hier gewesen waren. Die Spinne hatte die Reisenden wohl nur mit letzter Kraft überwältigen können und es nicht mehr geschafft, sie in die Höhe des Netzes zu transportieren. Vielmehr hatte sie sich gleich hier an Ort und Stelle über sie her gemacht. Zwei hingen an der Decke, der Dritte wurde gerade gefressen. Der gepeinigte Körper zuckte. Augenblicklich richtete die Spinne ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Mahlzeit. Die langen Beine senkten sich aus der Drohgebärde, um den Menschen wieder zu umarmen. Sie beugte ihren Oberkörper wieder über ihr Opfer und setzte gierig ihre Mahlzeit fort. Mit leichtem Pumpen des jetzt noch kleinen Hinterleibes, saugte sie die verflüssigte Nahrung ein. Bald würde er wieder prall und die Spinne kräftig sein. Und dann durfte sich auch eine Koboldin nicht mehr in ihr Netz wagen.
Doch noch standen die Zeichen für Lilly günstig. Sie wandte sich ab und zog Palo hinter sich her. Weiter ging der Weg durch das Netz. Jetzt, wo sie den Finsterwald fast hinter sich hatte, brachen die Strahlen der Sonne mehr und mehr durch das Blätterdach der Bäume und tauchten die Behausung der Spinne in ein traumhaftes Licht. Jeder Strahl wurde hundertfach gebrochen und widergespiegelt. Lilly wanderte durch eine Märchenwelt aus Licht und Seide, wie sie sie sich nicht schöner hätte vorstellen können. Säulen aus Licht, seidene Verstrebungen, Bögen, Brücken und Erker. Je nach Lichteinfall samten schimmernd oder strahlend leuchtend. Noch nie hatte ein Mensch die unvorstellbare Schönheit eines Spinnenhorstes von innen gesehen, ohne sterben zu müssen. Lilly wusste, dass ihr nichts geschehen konnte und nahm das Bild dieser phantastischen Welt beinah gierig in sich auf. Ihr wurde unvergleichliches geboten und sie wusste es zu schätzen.

***

Das Netz war nicht sonderlich groß, so dass Lilly nach einem Marsch von 15 Minuten den Ausgang erreichte. Hier konnte sie erkennen, dass sich der Finsterwald weiter gelichtet hatte. Nach zwei Stunden, die sie bequem auf dem Rücken Palos verbrachte, war der Waldrand erreicht. Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Sie atmete tief durch. Palo schnaubte dankbar. Sie hatten es geschafft!
Lilly hatte keine Lust mehr, noch weiter zu reiten. Sie und das Tier brauchten unbedingt Ruhe und Erholung. Hier, in unmittelbarer Nähe des Finsterwaldes, wollte sie allerdings auch nicht ruhen. Sie ritt noch ein Stückchen weiter, wobei sie beruhigend auf Palo einredete, weil dieser ihr trotz seiner Gutmütigkeit nicht mehr recht folgen wollte. Auch er fand, dass es an der Zeit war, eine Pause einzulegen. Schon nach kurzer Zeit fand sie, was sie suchte: Einen klaren Bach, der in einen kleinen Hain führte, welcher sich als Rastplatz nahezu aufdrängte. Sie ritt in das Wäldchen hinein, schirrte Palo ab und ließ sich erst einmal ächzend in das frische Grün des Grases fallen. Nach einigen Minuten ließ ihr Gewissen sie nicht mehr in Ruhe. Sie musste unbedingt ihre unmittelbare Umgebung erkunden, um festzustellen, ob sie hier wirklich sicher war. Sie nahm ihr Kurzschwert zur Hand und suchte vor allem den Boden des Geländes nach unliebsamen Zeitgenossen ab. Auch außerhalb des Finsterwaldes gab es Tiere, von denen sie sich am besten fernhielt. Wie zum Beispiel Schlangen, Skorpione und giftige Lurche, die sich gerade in Feuchtgebieten gerne aufhielten. Doch hier schien nichts dergleichen zu sein.
Lilly stocherte gerade in einer Ansammlung von Laub und Ästen herum, als sie plötzlich einen scharfen Schmerz in ihrer linken Wade verspürte. Sie fuhr herum und sah gerade noch, wie sich eine große, bunt gefärbte Schlange davonmachen wollte. Sie schlug zu und trennte mit sicherem Schnitt den Kopf vom Rest des Körpers. Die war erst einmal unschädlich! Dann krempelte sie ihr linkes Hosenbein hoch und untersuchte ihr Bein. Zwei dicht nebeneinander liegende blutende Punkte bewiesen, dass die Schlange es erstaunlicherweise tatsächlich geschafft hatte, das Trollleder der Hose mit ihren Zähnen zu durchdringen. Lilly hatte eine Schlange dieser Art noch nicht gesehen, machte sich aber trotzdem keine großen Sorgen, denn sie war, wie alle Kobolde, gegen Gifte so gut wie immun. Wie sollte sie sonst auch im Finsterwald mit seinem ganzen Gekreuche überleben können? Dennoch beschloss sie, möglichst vorsichtig zu sein. Sie biss die Zähne zusammen und schnitt sich mit der scharfen Klinge ihres Schwertes tief in die Wade hinein. Es tat höllisch weh! Aber als das Blut dick aus der Wunde hervorquoll, nickte sie doch befriedigt. Der rote Strom würde eventuell vorhandenes Gift aus ihren Körper herausspülen.
Sie schaute sich die Schlange noch einmal genauer an. Sie war ungefähr zwei Meter lang, also schon recht groß. Die Farbe des Tieres schwankte von gelbbraun bis rötlich. Auf der Oberseite befanden sich lackschwarze rhombische Flecken, welche einen hellgelben Rand und mittig einen gelben Tupfen aufwiesen. Der Körper war untersetzt, also eher kräftig als schlank. Die Körpermitte war von vielen stark höckerigen und gekielten Schuppenreihen umgeben. Der Schwanz endete in einem hornigen Stachel, vor dem sich abstehende Schilde befanden. Die Bauchseite war glänzend gelbweiß. Der breite und stark vom Hals abgesetzte Kopf wies auf der Oberseite schwarze Tupfen auf. Ein dunkles Schläfenband verband das Auge mit dem Mundwinkel. Eigentlich war die Schlange sehr schön. Vermutlich hatte sie nur ihr Revier verteidigen wollen. Fast bedauerte Lilly, das Tier getötet zu haben.
Sie schloss ihre Betrachtungen ab und machte sich daran, ihr Nachtlager aufzuschlagen. Eine Decke als Unterlage, die sie in die Nähe des Baches legte, reichte ihr dafür. Eine Zudecke brauchte sie nicht. Ihre Kleidung war warm genug. Ein kurzer Blick auf Palo genügte, um festzustellen, dass auch er zufrieden war. Wie ein Feinschmecker schnoberte er im saftigen Gras, als könne er sein Glück kaum fassen. Lilly lächelte. Wenn sie auf dem Rest des Weges nach Umbra weiterhin so gutes Futter fanden, würde sein struppiges Fell bald wieder glatt und glänzend sein.
Lilly kramte gerade in ihrem Vorratssack, als ihr schwindlig wurde. Die Erde drehte sich und der Boden schwankte. Als sie wieder klar denken konnte, war ihr speiübel. Erschreckt warf sie einen Blick auf ihr Bein: Die Wunde war stark geschwollen und puckerte schmerzhaft. Eine heiße Welle der Furcht stieg in ihr hoch. Bloß jetzt nicht ernsthaft krank werden! Ihr Kopf dröhnte. Nur nicht dran denken! Doch jetzt ging alles sehr schnell: Der Schwindel kehrte zurück. Stärker als vorher. Sie musste sich legen. Gleichzeitig begannen ihre Gelenke unerträglich zu schmerzen. Ihre Körpertemperatur stieg. Sie stöhnte und rollte sich zusammen. Gleich darauf verlor sie das Bewusstsein und versank in einer Welt aus glühendem Schmerz und unvorstellbarer Hitze. Sie verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit, vergaß, wo und wer sie war. Ihr Körper glühte im Fieber, die Schmerzen raubten ihr fast den Verstand. Sie merkte nicht, dass sie phantasierte, stöhnend ihre Eltern um Hilfe anflehte. Wahn und Realität vermischten sich zu einer qualvollen Hölle aus Glut und Pein.

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© W. H. Asmek
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Und schon geht es weiter zum zweiten Teil...!
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