Geschichten von Quatzkotl von W. H. Asmek
Inanuk (3)
..
Nach einigen Tagen trafen Inanuk und Nanawok wieder in Königswinter ein. Ihr Herbergsvater hatte Wort gehalten und sie inzwischen umquartiert. Ihr neues Zimmer war ein Schmuckstück mit freiem Blick auf den Rhein. Obwohl sie eine anstrengende Tour hinter sich hatten, gönnten die beiden sich keine Ruhe. Sie hatten sich vorgenommen, sich nun der näheren Umgebung des Schlosses zu widmen und dabei auch das Siebengebirge kennen zu lernen. Den Finsterwald und das alte Land kannten sie jetzt. Nun galt es, sich um den zweiten Teil ihres Auftrages zu kümmern. Das wollten sie aber möglichst unauffällig tun. Darum verlegten sie ihre Streifzüge in die Nachtstunden. Niedergelassen streiften sie umher, wobei sie einen guten Überblick über die Umgebung bekamen, denn auch in der Dunkelheit bewegten sie sich schnell und sicher. Ihren Augen machte das fehlende Tageslicht nichts aus. Selbst die Höhle Quatzkotls fanden sie.
Tagsüber aber ruhten sie sich aus. Abgesehen von kleinen Spaziergängen am Rheinufer, hielten sie sich in erster Linie in der Schankstube auf und lauschten den Unterhaltungen der anderen Gäste. Dadurch ergab es sich, dass sie häufig Kontakt mit ihrem Herbergsvater hatten. Wie sie inzwischen erfahren hatten, hieß er Bogos. Er war vor vielen Jahren aus dem Osten der Neuen Welt hinzugereist. Auf seinem Weg in das Reich König Richards war er von einer Räuberbande überfallen und ausgeraubt worden. Das Schlimmste für ihn war jedoch, dass er bei diesem Überfall seine gesamte Familie verloren hatte.
"Ich sah nicht immer so krumm und schief wie jetzt aus," klagte er. "Die Bande hat mir die Beine zerschlagen und mein Kreuz kaputtgemacht. Es ist ein Wunder, dass ich die Geschichte überlebt habe."
Inanuk hörte ihm aufmerksam zu, während sich Nanawok leicht gelangweilt den Gesprächen an den Nebentischen widmete.
"Das ist schlimm!" antwortete Inanuk mitfühlend. "Wie habt Ihr es denn geschafft, Euch hier eine Existenz aufzubauen?"
Bogos taute immer mehr auf. Die Anteilnahme Inanuks tat ihm gut.
"Das habe ich König Richard und seiner Tochter zu verdanken. Jeder Neuankömmling, der sich in diesem Königreich niederlassen will, braucht dazu die Erlaubnis des Königs. Ich ging also auf das Schloss, schilderte meine Geschichte und fragte Richard, ob ich hier bleiben dürfe."
"Und das hat er Euch so ohne weiteres erlaubt? Hat er Euch denn geglaubt?"
Bogos lächelte schief.
"Richard ist ein guter Menschenkenner. Er hat sofort gemerkt, dass ich ihm die Wahrheit erzählt habe und kein fauler Strolch bin, der sich auf anderer Leute Kosten einen schönen Tag machen will."
Er blickte Inanuk fest in die Augen.
"Doch das Beste ist noch seine Tochter Jannie. Sie nahm meine Hand in die ihre und führte sie über ihr Haar. Dabei wünschte sie mir viel Glück."
"Ihr durftet ihr über das Haar streichen?" erkundigte sich Inanuk, dem die Geschichte des Fährmanns wieder einfiel. Auch Nanawok hörte jetzt genauer hin, ohne allerdings seine Aufmerksamkeit ganz von den Nebentischen abzuwenden.
Bogos Blick wurde träumerisch.
"Ja! Das durfte ich. Ihr müsst wissen, dass das Haar der Prinzessin dem Glück bringt, der es berühren darf. Als ich in die Stadt zurückkehrte, kam ich an diesem Haus vorbei. Es war damals eine halbe Ruine, die niemand haben wollte. Ich konnte es zu einem Spottpreis erwerben und herrichten. Und jetzt? Seht her!"
Er wies stolz in die Runde.
"Eine florierende Herberge. Meine Familie habe ich zwar nicht mehr zurückbekommen. Aber ich habe mein Auskommen. Ich bin zufrieden."
"Wir haben von dem Fährmann, der uns nach Königswinter übergesetzt hat, gehört, dass sich hier vor Jahren eine seltsame Geschichte um die Prinzessin zugetragen haben soll. Wenn ich mich recht erinnere, ging es um eine Entführung," sagte Inanuk.
Bogos lachte.
"Und Ihr habt ihn für verrückt gehalten?"
Inanuk nickte schmunzelnd.
"Sagen wir mal, dass ich ihn für einen Trunkenbold gehalten habe."
"Nun, ich kann Euch versichern, dass jedes Wort wahr ist, das er Euch erzählt hat. Ich habe es selbst nicht erlebt, weil ich damals noch nicht hier lebte, aber die Einheimischen schwören Stein und Bein, dass es sich genau so zugetragen hat: Als Jannie noch ein Kind war, hat Xusia, ein Fürst der Finsternis, sie entführt, weil er die magische Kraft ihres Haars für seine Zwecke nutzen wollte. Letztendlich ist es Richard und seinen Freunden gelungen, sie wieder aus den Klauen des Magiers zu befreien. Aber bis das gelungen war, ging es diesem Land sehr schlecht. Man kann zu Recht sagen, dass Jannie die Sonne dieses Landes ist. Dank ihrer Gegenwart ist dies ein begnadetes Land. Die Winter sind kurz und mild und das Frühjahr kommt früher als im Rest der Welt. Die Sommer sind warm und sonnig, die Ernten reich. Ohne Jannie würde dieses Land sterben. Die Sonne würde sich verbergen, die Vögel würden nicht mehr singen. Es würde dunkel und kalt sein. Ich mag gar nicht daran denken!"
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann hob Bogos wieder den Kopf.
"Wir, die Untertanen König Richards, sind Euch deshalb sehr dankbar, dass Ihr der Prinzessin und ihren Freunden geholfen habt."
Inanuk hob erstaunt den Kopf.
"Hat das schon die Runde gemacht?"
"Natürlich! Seit einigen Jahren nimmt die Zahl der Abenteurer, die in das Alte Land wollen, stetig zu. Zuerst haben wir das mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen, da wir gut an den Reisenden verdient haben. Aber leider nimmt mit der Zahl der Ankömmlinge auch die Zahl derer zu, die ihr Glück mit Gewalt erzwingen wollen. Inzwischen haben wir im Ort mehr Raubritter und Wegelagerer als ehrliche Menschen. Mehr als einmal hat man versucht, Jannie zu entführen, um von den Finsterwaldkobolden freie Passage durch den Finsterwald zu erpressen."
Kobolde? Inanuk musste unwillkürlich an den kleinen Schwertkämpfer denken. Bogos deutete das Aufmerken seines Gastes richtig.
"El Pitto Gnomo, den Ihr schon getroffen habt, ist der Häuptling der Kobolde. Er ist ein mit magischen Kräften ausgestatteter Schwertkämpfer. An ihm kommt keiner vorbei. Erst recht nicht, seit er das magische Schwert Drachentöter besitzt. Er ist ein treuer Freund der Familie."
Bogos beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch:
"Die Zeiten sind unsicher. Zum einen geht das Gerücht, dass der Landgraf von Böllingen eine starke Truppe von Raubrittern um sich versammelt, um ein Mitglied des Königshauses zu entführen, weil er sich so den Weg durch den Finsterwald freizupressen hofft. Niemand weiß aber, wie er aussieht und wie groß seine Mannschaft schon ist. Zum anderen habe ich gehört, dass es in einem Gasthaus kurz vor der Grenze zu einem Massaker gekommen sein soll. So wie es aussieht, hat eine ganze Horde von Mördern die Herberge überfallen und alles Lebende niedergemacht. Die Unglücklichen sind nahezu viehisch abgeschlachtet worden und schwammen in ihrem Blut, als man sie fand."
Er schüttelte betrübt den Kopf.
"Nein! Was sind das für Zeiten! Da kann man doch froh sein, dass es noch so ehrliche Menschen wie Euch gibt, die sich für das Wohl anderer einsetzen. Ich bin sehr stolz, dass ihr in meinem Haus wohnt!"
Sie blieben noch eine ganze Weile in der Gaststube sitzen. Auch als Bogos sich schon entfernt hatte, um nach den anderen Gästen zu sehen, tranken Inanuk und Nanawok das ein oder andere Glas Wein, wobei sie den Unterhaltungen der anderen lauschten. Dank ihres feinen Gehörs konnten sie selbst die Gespräche deutlich verfolgen, die in den hinteren Winkeln der Schankstube geführt wurden. So entging es ihnen nicht, dass eine Gruppe von drei Männern finstere Pläne schmiedete.
"Bist du sicher, dass zwanzig Mann reichen?" fragte eine tiefe Stimme.
"Klar! Das sind alles kampferprobte Kerle, mit denen ich schon so manche Sache gedreht habe," gab eine noch tiefere Stimme zurück. "Wilfried ist zudem ein fantastischer Armbrustschütze. Er wird den Kobold aufs Korn nehmen. Wenn der erst mal aus dem Weg ist, werden wir mit den anderen spielend fertig."
"Ha!" meldete sich der Dritte. "Und dann schnappen wir uns die Kleine."
"Genau!" bestätigte die sehr tiefe Stimme. "Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Der Kobold ist weg und seine Bande sozusagen kopflos. Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir dann mit der Kleinen im Schlepptau nicht durch den Wald kämen."
"Wann schlagen wir los?"
"Wir wollen nichts überstürzen! Ich erwarte noch Verstärkung durch eine Gruppe von Steppenreitern. Die haben Kampfhunde dabei. Sie müssen bald eintreffen. Einigen wir uns auf eine Woche nach dem nächsten Vollmond. Einverstanden?"
Es blieb still.
"Jetzt nicken sie mit den Köpfen," brummte Inanuk. "Wenn wir unseren Auftrag bis dahin noch nicht ausgeführt haben, werden wir unsere Zielperson wieder beschützen müssen."
Nanawok grinste.
"Das wäre mir durchaus recht. Wir zwei gegen zwanzig kampfstarke Halunken und eine Horde Steppenreiter! Die würden sich wundern!"
Inanuk grinste zurück.
Gut gelaunt gingen die beiden auf ihr Zimmer und legten sich schlafen.

***

Am nächsten Tag war Gerichtstag auf Schloss Drachenburg. König Richard hielt in jedem Monat einmal Gericht, um Streitigkeiten seiner Untertanen zu schlichten. In der Regel waren die Fälle, die ihm vorgelegt wurden, Kleinigkeiten und oft beschlich ihn der Verdacht, dass diese nur vorgeschoben waren, um mit ihm sprechen zu dürfen - oder weil die streitenden Parteien einen Besuch auf dem Schloss einfach nur schick fanden. Richard aber wusste, was ein König seinem Volk schuldig war und bot allen Bittstellern und Zuschauern eine gute Vorstellung:
Er selbst pflegte auf einem Thron auf der Freitreppe zum Schlosseingang Platz zu nehmen. Rechts von ihm saß seine Gemahlin, die sich bemühte, ein möglichst hochherrschaftliches Gesicht zu machen. Links nahm in der Regel Jannie Platz. Sie war sehr beliebt. Daher sollte sie auch gut sichtbar sein. Vor der königlichen Familie nahm die Leibwache Aufstellung, die aber nur aus vier Bewaffneten bestand, die trotz ihrer Hellebarden keinen besonders kriegerischen Eindruck machte. Vor einigen Jahren noch hatte Richard völlig auf eine Wache verzichtet. In diesen unruhigen Zeiten aber konnte er das nicht mehr. Die vier relativ harmlos aussehenden Soldaten waren deshalb in Wirklichkeit kampferprobte Krieger, die die Familie wirkungsvoll vor kleineren Übergriffen schützen konnten. Seit Jannie konkret durch die Graue Gilde bedroht war, standen zusätzlich noch Hieronto, der alte Samurai, El Pitto Gnomo und Quetzalkoatlus bereit. Aus diesem Grund war der Andrang bei der heutigen Versammlung auch besonders groß, denn im Volk bestand großes Interesse, die malerische Gruppe eingehend zu beäugen.
Inanuk und Nanawok hatten die Gelegenheit genutzt, sich auch unter die Menge zu mischen, um sich so genauere Informationen über die Sicherheitsvorkehrungen in der Burg zu beschaffen. Schon lange bevor die zwei großen Portale nach außen aufschwangen und das schwere Eisengatter hochgezogen wurde, standen sie vor den Mauern der Burg und begutachteten fachmännisch die Verteidigungsanlagen.
"Sieht sehr stabil aus!" bemerkte Nanawok.
Inanuk nickte zustimmend.
"Das meine ich auch," meinte er. "Selbst ein starker Angreifer mit schweren Belagerungsmaschinen hätte alle Mühe, hier gewaltsam einzudringen."
"Außerdem sind die Mauern magisch geschützt," fügte Nanawok hinzu. "Die Burg gilt als uneinnehmbar. Gut, dass wir sie nicht erobern sollen."
Inanuk lachte.
"Wir sind eben keine Eroberer, sondern Mörder!"
"Und zwar die Besten!" bekräftigte Nanawok.
Sie hatten sich vorsorglich in der Sprache der Grauen Gilde unterhalten, die außer ihnen hier niemand verstehen konnte. Das fiel nicht weiter auf, denn fremdsprachige Reisende waren in Königswinter keine Seltenheit. Dennoch tuschelte die Menge aufgeregt.
"Ihr seid doch die beiden, die Jannie kürzlich geholfen haben, nicht wahr?" fragte ein Mann, der neben ihnen stand.
"Ja!" entgegnete Inanuk. "Warum?"
"Wartet es ab!" grinste der Mann und begann seinen Nebenleuten einige Worte zuzuzischen, die Inanuk nicht verstand. Dennoch blieb er gelassen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Leute ihnen Böses wollten. - Und wenn? Es waren zurzeit höchstens 50 Personen um sie herum. Unbewaffnete Zivilisten, denn das Waffentragen war am Gerichtstag im Schloss verboten. Selbst die beiden Grauen hatten ihre Djans und ihre Kurzschwerter in der Herberge zurückgelassen. Das würde also kein Problem sein.
Als der Eingang der Burg frei gegeben wurde, schob sich die Menge in den Hof hinein und formierte sich zu einem großen Halbkreis, dessen Öffnung auf Richard und seinen Hofstaat gerichtet war. Der Innenhof fasste leicht einhundert Personen, sodass alle, die frühzeitig genug gekommen waren, sich die besten Plätze aussuchen konnten. Inanuk und Nanawok wurden von allen Seiten sanft gestoßen und geschubst, bis sie im Zentrum der vordersten Reihe des Halbkreises standen. Die Menschen grinsten gutmütig. Offenbar hatten sie sich dazu verschworen, den beiden die besten der besten Plätze aufzuzwingen. Inanuk, der eigentlich vorgehabt hatte, unauffällig in der Menge unterzutauchen, gefiel das gar nicht. Aber er hatte keine andere Wahl, als das unwillkommene Geschenk anzunehmen. Er tat so, als sei er sehr erfreut über das Wohlwollen, das ihnen beiden entgegenschlug und lächelte dankbar in die Runde. Die Menschen verbeugten sich vor ihnen und grinsten zurück.
"Das hat man nun davon, wenn man durch eine kleine Gefälligkeit berühmt wird!" raunte er seinem Sohn zu.
König Richard erhob sich von seinem Stuhl, breitete die Arme aus und erklärte den Gerichtstag für eröffnet. Nach und nach traten die versammelten Streitparteien vor und erläuterten ihre Probleme. Richard hörte allen geduldig zu. Er blieb selbst dann, wenn ihm hanebüchener Unsinn vorgetragen wurde, von größter Ernsthaftigkeit erfüllt und sprach Recht. Inanuk konnte sich aber zwischendurch ein Lächeln nicht verkneifen, denn ab und zu ließ Richard bei seinen Urteilen auch den Humor nicht zu kurz kommen, sodass bei den Verhandlungen nicht nur das Recht, sondern auch die Gaudi nicht zu kurz kam.
Schließlich waren die letzten klageführenden Parteien zufrieden gestellt worden. Richard erklärte den Gerichtstag für beendet, bat aber die Anwesenden noch etwas zu bleiben, da er eine Ehrung vornehmen wolle.
Neugierig tuschelte die Menge. Was wollte der König?
"Verehrte Gäste, liebe Untertanen," begann der König. "Vor einem Monat geriet meine Tochter Jannie in einen Hinterhalt von gemeinen Wegelagerern. Trotz aller Bemühungen ihrer Begleiter, hätte die Geschichte ein böses Ende genommen, wenn nicht zufällig zwei tapfere Männer eingegriffen hätten, die heute auch hier sind und bei denen ich mich nun in aller Form bedanken möchte."
Er winkte Inanuk und Nanawok, zu ihm zu kommen.
Verdutzt und ein wenig zögernd lösten sich die beiden aus dem Kreis der Zuschauer und traten vor Richards Thron.
"Inanuk und Nanawok, ihr habt meine Tochter und ihre Begleiter durch euer beherztes Eingreifen vor einem wahrscheinlich bösen Schicksal bewahrt und dadurch gleichzeitig diesem Königreich einen großen Dienst erwiesen. Ich möchte euch dafür ausdrücklich danken."
Richard erhob sich von seinem Thron und stieg zu den beiden hinab. Schließlich stand er ihnen Auge in Auge gegenüber.
"Doch Worte allein können meinen Dank nicht ausreichend ausdrücken. Darum ernenne ich euch ausdrücklich zu königlichen Gästen auf Lebenszeit. Damit habt ihr das Recht, jederzeit und ohne vorherige Anmeldung diese Burg zu betreten. Ihr seid immer willkommene Gäste, die wir von Herzen gerne beherbergen und beköstigen werden."
Inanuk spürte die Gedanken seines Sohnes, der neben ihm stand. Sie würden keine Probleme haben, ihren Auftrag auszuführen! Der Zugang zum Schloss war ihnen durch den König selbst eröffnet worden!
Doch es kam noch besser!
Nachdem Richard sich wieder auf seinen Platz zurückgezogen hatte, erhob sich Jannie und trat zu den beiden Grauen. Sie blickte Inanuk an und sagte.
"Inanuk, ich blicke Euch nun schon zum zweiten Mal in die Augen. Bereits beim ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass Ihr ein Leid mit Euch tragt, das Euch sehr belastet. Habe ich Recht?"
Inanuk dachte an das Schicksal der Grauen Gilde, seines Volkes, das in der nichtmagischen Welt dem Untergang geweiht war. Das Leid saß sehr tief und bedrückte ihn, seit er selbstständig zu denken gelernt hatte. Es wunderte ihn, dass diese junge Frau bereits eine so starke Sensibilität für die Belange anderer Menschen entwickelt hatte, dass sie diesen Kummer bei einem ihr völlig fremden Menschen, den sie dazu erst ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte, fühlen konnte.
Er hielt dem Blick ihrer blauen Augen stand und sagte:
"Ihr habt Recht, Prinzessin! Es ist ein Leid, das mich erdrückt, so wie es alle Erwachsenen meines Volkes bedrückt. Doch es ist unlösbar und ich darf nicht zu Euch darüber sprechen. So wollen es die Gesetze meines Volkes."
Jannie nickte verständnisvoll.
"Ich bin in meinem Leben schon vielen Menschen begegnet, denn das Königreich meines Vaters bildet die Trennlinie zwischen der Alten und der Neuen Welt. Ich habe viel Leid gesehen und auch selbst erfahren. Ich glaube nicht, dass es ein Problem gibt, das sich nicht mit gutem Willen und Tatkraft lösen lässt. Ab und zu bedarf es dazu allerdings etwas der Unterstützung durch Magie und - des Glücks!"
Jannie ergriff die schwere Hand Inanuks und betrachtete sie.
"Ihr habt die Hand eines Kriegers, Inanuk. Doch sie ist nicht plump wie die eines tumben Schlägers. Ihr seid gebildet. Euer Blick ist aufrichtig und ehrlich. Ich glaube, ihr habt es verdient, dass man Euch und Eurem Volk hilft."
Sie hob seine Hand und führte sie zu ihrem Haar. Und während sie mit der Hand des Grauen über ihr Haar strich, sage sie:
"Inanuk, ich wüsche Euch und Eurem Volk viel Glück für die Zukunft. Möge alles, was Ihr Euch vorgenommen habt, gelingen. Möge euer Leid von Euch genommen werden. Bei meinem Haupthaar! Ich, Jannie von Drachenfels wünsche Euch Glück!"

***

Als Quatzkotl die große Insel inmitten des Meeres erblickte, war er sicher, den Aufenthaltsort der Hydra gefunden zu haben. Er ging in der Nähe einer großen Höhle nieder und rief nach ihr.
Ein hässlicher Kopf schob sich aus dem Eingangsloch. Die kleinen Äuglein musterten ihn misstrauisch.
"Wer ist denn da?" erklang eine helle Stimme.
Quatzkotl wusste, dass die Hydra ihn schon bei seiner Annäherung bemerkt und auch erkannt hatte. Er wusste aber auch, dass sie ihre Eigenarten hatte und gerne mit ihren Besuchern Schabernack trieb.
"Quatzkotl, König der Drachen!" stelle er sich vor.
Ein zweiter Kopf erschien!
"Ehrlich?" quäkten nun zwei Stimmen.
"Ganz ehrlich!" bekräftigte er.
Ein dritter Kopf gesellte sich zu den ersten beiden und setze die Musterung fort.
"Du siehst gut aus, Junge!" schrillten nun drei Mäuler. "Suchst du ´ne Freundin?"
Quatzkotl krallte seine Klauen in den Boden. Er stand unter einem enormen Druck und war gezwungen hier den Clown spielen! Eine unerträgliche Situation! Doch nur ruhig! Wenn er die Hydra verärgerte, würde er nicht zum Ziel kommen.
"Ich bin bereits verheiratet und nicht auf solcher Art Abenteuer aus. Ich suche nur eine Auskunft!" sagte er darum.
Darauf tauchte ein vierter Kopf auf.
Das Hin und Her spielte sich noch eine ganze Weile ab, bis endlich alle neun Köpfe der Hydra zu der Ansicht gekommen waren, dass er wirklich derjenige war, für den er sich ausgab und man genug gescherzt hatte.
Die Köpfe drehten sich um und riefen laut in die Höhle hinein:
"Komm heraus, du alte Schachtel! Du hast Besuch. Ein junger Kerl steht draußen. Er will es zwar nicht zugeben, aber er ist ganz scharf auf dich!"
Quatzkotl verdrehte die Augen. Die alte Dame wurde immer seltsamer! Aber vielleicht wurde man automatisch wunderlich, wenn man lange Zeit nur mit sich selbst auskommen musste. Ein Leben mit neun Köpfen machte dies sicherlich nicht einfacher.
Endlich stand die Hydra vor ihm! Quatzkotl gab sich redlich Mühe, vernünftig mit ihr zu sprechen, was nicht so ganz einfach war, denn die Hydra war der wohl abscheulichste Drachen, den es gab: War ihr plumper Leib, der auf vier kurzen Säulenbeinen ruhte, schon nicht sehr attraktiv, so gaben die neun Hälse mit den neun Köpfen dem Äußeren den Rest. Vor allem, weil sie ständig durcheinander wirbelten wie neurotische Spaghetti.
Und diese Stimme! Sie sprach in der Regel immer mit allen neun Mäulern gleichzeitig. Dabei musste man sich in Acht nehmen, ihr nicht zu nahe zu kommen, denn ständig tropfte Gift von den Viperzähnen. Dieses Gift war so stark, dass es selbst einen Drachen innerhalb kürzester Zeit töten konnte.
Nachdem sie die üblichen Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten, kam Quatzkotl zur Sache.
"Hast du schon einmal etwas von der Grauen Gilde gehört, Tante?"
Eigentlich war die Hydra gar nicht seine Tante. Da sie aber in früheren Zeiten ein sehr intensives Verhältnis zu seinem Vater Pergotzkatl gepflegt hatte, war sie der Auffassung, zur Familie zu gehören. Quatzkotl tat ihr den Gefallen. Es konnte nicht schaden, nett zu ihr zu sein.
Die Kopfansammlung zuckte zurück.
"Die Graue Gilde?" kreischte sie. "Was ist mit der Grauen Gilde?"
"Sie hat den Auftrag angenommen, Jannie zu töten!"
Die Hydra war ganz aus dem Häuschen.
"Das ist ja interessant! Soweit wie ich weiß, leben die Grauen im Land der Aufgehenden Sonne am Fuß des Heiligen Berges. Aber Aufträge, die sie weit in fremde Länder führen, nehmen sie normalerweise nicht an."
"Diesen haben sie aber angenommen. Was weißt du von der Grauen Gilde?"
Die Hydra blieb aufgeregt. Ihre Augen bekamen aber einen traurigen Glanz.
"Die Mitglieder der Grauen Gilde waren früher sehr zahlreich und überall in der Welt zu finden. Sie waren hoch geachtet. Fast so hoch wie wir Drachen. Damals nannten sie sich aber noch anders. Als in den meisten Gegenden dieser Welt die Magie verschwand, suchten sie nach einer neuen Heimat. Doch sie fanden nur am Fuß des Heiligen Berges einen Platz, an dem man sie duldete. Sie leben nun davon, dass sie Mordaufträge durchführen, die ihnen von den Mächtigen des Landes der Aufgehenden Sonne angetragen werden."
"Sind sie wirklich so gut, wie man ihnen nachsagt? Ich habe gehört, dass sie bisher jeden Auftrag bis zum Ende durchgeführt haben."
Die neun Köpfe nickten.
"Mir ist kein einziger Fall bekannt, in dem sie versagt hätten. Wenn die Graue Gilde ihrem Auftraggeber zugesagt hat, Jannie zu töten, dann wird sie das auch tun."
"Gibt es keine Rettung?"
"Wie gesagt: Die Aufträge der Grauen Gilde werden immer ausgeführt."
"Wie sehen die Mitglieder der Grauen Gilde denn aus?"
Die Hydra lachte schrill.
"Ich sehe, du kennst sie wirklich nicht. Hast du noch nie von den Wermeistern gehört?"

***

Nur unter Aufbietung seiner ganzen Selbstbeherrschung gelang es Inanuk, Haltung zu bewahren. Er murmelte etwas, das seinen Dank für die erwiesene Ehre und Großzügigkeit ausdrücken sollte und verabschiedete sich einigermaßen würdevoll. Steif wie ein Stock stolzierte er, seinen Sohn im Schlepptau, durch das Tor hinaus, begleitet von den Glückwünschen der Zuschauer, denen die Darbietung außerordentlich gut gefallen hatte. Mit letzter Kraft folgte er dem Weg, der ihn von der Burg weg und in die Weite des Waldes führte, der das Schloss umgab. Erst als er sicher sein konnte, dass ihn niemand mehr beobachtete, gab er seinen Gefühlen nach: Er ließ sich nieder und raste davon, dass Nanawok alle Mühe hatte, ihm zu folgen. Hinein in den Wald ging es. Über Stock und Stein, dass der Wind in den Ohren pfiff. Ohne Pause, ohne nach links oder rechts sehend, in höchsten Tempo, mit jagendem Herzen, immer dahin, wo der Rand des Finsterwaldes mit seinen Schrecken auf sie wartete.
"Der Auftrag ist falsch!" hämmerte es in seinem Hirn. "Der Auftrag ist falsch!"
Nach Stunden verließen sie den Wald, der noch zum Siebengebirge gehörte und jagten auf den Finsterwald zu. Nanawok war voller Bewunderung für seinen alten Herrn, der dieses mörderische Tempo problemlos durchhielt, ohne zu ermüden. Die ersten Zweige fetzten um ihre Flanken. Büsche schlugen nach ihren Gesichtern. Dann waren sie durch und befanden sich wieder im gefürchteten Finsterwald mit all seinen Monstern und Gefahren. Zwangsläufig hätten sie ihre Geschwindigkeit nun zurücknehmen müssen. Aber Inanuk lief weiterhin wie von Sinnen auf ein Ziel zu, das wahrscheinlich nicht einmal er selbst kannte. Nur voran hieß die Devise. Nur weg! Nur nicht aufhalten lassen! Nur getrieben von einem Gedanken: "Der Auftrag ist falsch!"
Die Zeit verging. Weder Inanuk noch Nanawok wussten, wie lange sie schon liefen oder wie lange sie noch brauchen würden, den Wald zu durchqueren. Ihr Atem ging trotz der unvorstellbaren Anstrengung noch ruhig und gleichmäßig. Kein Keuchen entrang sich ihren Lungen. Auch die Knochen, Muskeln und Sehnen arbeiteten gleichmäßig. Es war unglaublich, was die Körper der beiden Grauen zu leisten vermochten.
Plötzlich geschah es! Unvermutet trafen sie auf einen riesigen Waldtroll, der sich auf Nahrungssuche befand. Das Monstrum stutzte. In der Regel wichen ihm alle Wesen des Finsterwaldes aus, denn selbst die, die mit wenig Vernunft gesegnet waren, wussten, dass ein Waldtroll eines der gefährlichsten Monster des Finsterwaldes war. Diese beiden hier zögerten aber keine Sekunde, sondern sprangen ihn an. Der Troll ruderte ein wenig mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, als Inanuk an seiner Brust aufprallte und sich in ihr verbiss. Gleichzeitig stürzte sich Nanawok auf die Säulenbeine des Riesen. Er hatte es auf die Kniesehnen abgesehen. Seine scharfen Zähne machten sich daran, die Kniekehle durchzubeißen. Der Troll packte den Grauen Teufel, der an seiner Brust hing, aber alle Mühe hatte, sich durch die zähe Trollhaut durchzuarbeiten. Er riss ihn ab und schleuderte ihn gegen den nächstbesten Baum. Auf den anderen trat er ein, bis er nachließ und sich in respektvollem Abstand hielt. Der Troll zögerte. Sein verletztes Bein tat ihm weh und die Brustwunde blutete stark. Trollgehirne sind nicht dazu geschaffen, gedankliche Höchstleistungen in Bezug auf Kampfstrategien zu vollbringen. Trolle schlagen ihre Gegner einfach schnell zu Brei und Ende der Veranstaltung. Diese beiden hier hatten sich aber bisher nicht von seiner gewaltigen Kraft beeindrucken lassen. Sie fürchteten ihn nicht, sondern nahmen ihn als Gegner an! Außerdem arbeiteten sie zusammen. Sie umkreisten ihn lauernd. Ihm wurde ganz schwindlig! Unversehens sprangen sie ihn wieder knurrend an. Der eine hing ihm sofort an der Kehle. Lange, scharfe Zähne arbeiteten sich durch die Haut. Der andere ging wieder die Kniesehnen an. Der Troll brüllte vor Zorn und Schmerz. Er stampfte auf, dass große Erdbrocken davonflogen. Er riss an dem einen, der an seinem Hals hing. Doch der zahnbewehrte Kiefer hielt. Sein linkes Bein gab nach. Die Sehne war offenbar durchgebissen. Doch noch hatte er ein gesundes Bein. Er torkelte auf einen Baum zu und riss ihn aus dem Boden. Mit wenigen Griffen hatte er ihn entastet. Dann begann er auf Nanawok einzudreschen, der sich bereits über das andere Bein hermachte. Knackend brach das Rückgrat des jungen Grauen. Doch der Kiefer hielt eisern fest wie ein zugeschnapptes Fangeisen. Der Troll hob das gesunde Bein, um es wieder auf den Boden prallen zu lassen. Dabei vergaß er, dass er sich auf das andere nicht mehr verlassen konnte. Er stürzte krachend zu Boden. Mit einem letzten Aufbäumen riss er Inanuk von seiner Kehle. Der Graue stürzte, kam aber sofort wieder auf die Beine und sprang ihn wiederum an. Mit letzter Kraft gelang es dem Troll, den Baustamm zu heben und Inanuk gegen den Schädel zu schmettern. Knirschend zerbarst die Schädeldecke. Der Troll sank sterbend nieder. Nanawok richtete sich mühevoll auf, sank aber wieder um, weil sein gebrochener Rücken ihm den Dienst verweigerte. Er warf einen kurzen Blick auf seinen Vater, dessen geplatzter Schädel einen grauenhaften Anblick bot. Dann legte er sich auf die Seite, schloss die Augen und wartete.
Es dunkelte und der Wald rings um die Gefallenen wurde lebendig. Knisternd und raschelnd näherten sich die Kleinlebewesen, die sich ihrer Umwelt als Totengräber verdungen hatten. Vielfüßig und hartschalig die einen, sich langsam windend und bohrend die anderen. Bald war der Troll von einer wimmelnden, kribbelnden Masse bedeckt, die dem toten Körper ein gespenstisch zuckendes Eigenleben gab.
Nanawoks Kreuz war inzwischen so weit wiederhergestellt, dass er sich aufrecht hinsetzen konnte. Zufrieden betrachtete er seinen Vater. Auch bei ihm waren die Zeichen der Genesung unübersehbar. Dem eben noch so schrecklich zugerichteten Kopf war von seiner Verletzung nichts mehr anzusehen. Bald würde das Gehirn wieder funktionieren. In den Büschen raschelte es. Ein zottiger Körper zeigte sich kurz und verschwand wieder. Ringsum wurde das Rascheln heftiger. Hier und da zeigte sich ein verunstaltetes Gesicht, um sich gleich darauf wieder zurückzuziehen. Nanawok war erleichtert, als Inanuk sich zu regen begann und sich endlich erhob.
"Wir sollten sehen, dass wir von hier verschwinden," schlug er vor. "Diese felligen Gestalten wollen mir nicht gefallen."
Inanuk stimmte ihm zu.
"Auch mir liegt die Begegnung mit dem Troll noch im Magen," ächzte er. "Es hat nicht viel gefehlt und er hätte uns fertig gemacht. Ich habe das Gefühl, dass wir hier trotz unserer Fähigkeiten keinen besonderen Status haben. Dieser Wald ist stärker als wir."
Sie ließen sich wieder nieder und trabten davon. Diesmal ließen sie sich Zeit, denn ihre Verletzungen waren zu schwerwiegend gewesen, als dass sich ihre Körper schon wieder vollständig von ihnen erholt hätten. Zügig aber nicht zu schnell strebten sie dem Ende des Waldes entgegen, ständig verfolgt von struppigen Gestalten, deren Anwesenheit nur durch das ständige Rascheln des Dickichts in ihrer Umgebung und das dumpfe Holpern schwieliger Füße auf unebenem Grund verraten wurde.
Nach einiger Zeit durchbrachen sie den Randbewuchs des Finsterwaldes und fanden sich fast genau an der Stelle wieder, an der sie schon vor zwei Wochen die Schönheit der Grafschaft Holledau genossen hatten. Aufatmend blickten sie auf die Landschaft, die sich ihnen unter dem Licht des hoch am Nachthimmel stehenden Vollmondes wie flüssiges Silber darbot. Die Schönheit des Landes erschlug sie fast. Gleichzeitig begann die Macht des Mondes nach ihren Seelen zu greifen.
Jäh brachen ringsum plumpe Gestalten aus der Dunkelheit des Forstes. Große, zottige Wesen taumelten auf sie zu und umringten sie. Primitive Gesichter aus denen kleine Augen funkelten, sahen sie an. Inanuk und Nanawok erkannten, dass sie in ihrem jetzigen Zustand keine großen Chancen gegen die Meute haben würden, wenn diese Arges im Sinn hätte. Dennoch blieben sie ruhig, denn irgendetwas gab ihnen das Gefühl, dass die Gefahr nicht so groß war, wie sie im Moment schien.
Eine Gestalt sonderte sich von der Gruppe ab und wankte unsicheren Schritts auf sie zu. Unmittelbar vor ihnen blieb sie stehen und verbeugte sich.
"Die Kinder der Nacht begrüßen die edlen Meister!" sagte das Wesen dumpf. "Jahrhunderte hindurch haben wir auf Eure Rückkehr gewartet. Euer Andenken ist in unseren Herzen sicher verwahrt worden. Wir wussten, dass Ihr eines Tages zurückkehren würdet. Der Finsterwald und seine Geschöpfe heißen Euch willkommen, Wermeister."
Der Sprecher sank auf die Knie und alle anderen Ungetüme seiner Art folgten seinem Beispiel.
"Die Meister sind wieder da!" riefen sie und warfen sich auf den Boden.
"Wir danken euch für diesen Empfang," antwortete Inanuk, der zu verstehen glaubte, was sich hier abspielte "Wir sind auch froh, in die Alte Welt zurückgefunden zu haben. Doch bei all unserer Freude dürfen wir nicht vergessen, dem Vollmond zu huldigen. Steht auf und tanzt mit uns."
Die beiden Grauen gaben nun dem Gefühl nach, das immer dann von ihnen Besitz ergriff, wenn sie unter den Einfluss des Vollmondes gerieten. Es war wieder dieses unwiderstehliche Sehnen, das sie schon am Rheinufer gespürt hatten. Doch in dieser Nacht waren sie nicht mehr allein. Inanuk und Nanawok entledigten sich ihrer Kleidung. Sie breiteten die Arme aus, den Blick unentwegt steil nach oben zum Mond gerichtet. Dann begannen sie zu tanzen, ihren seltsamen und urtümlichen Tanz. Aber heute tanzten die Zottigen mit. Sie bildeten zwei große Kreise, in der Mitte die beiden Wermeister standen. Sie fassten sich bei den Händen und begannen, sich in gegenläufiger Bewegung zu drehen. Dabei sprangen sie mit beiden Beinen hoch, dem Mond entgegen, federten zurück und sprangen wieder. Sie bewegten ihre Oberkörper ruckhaft. Zuerst nach hinten, dann nach vorn. Sie federten wieder zurück, stampften mit den Füßen auf, sprangen wieder, vollführten Peitschbewegungen mit dem Oberkörper, federten wieder zurück, sprangen wieder...
Sie besangen die Schönheit des Mondes in ihrer alten Sprache. Sie priesen seine Herrlichkeit und Pracht, die ihnen Mut und Kraft gab. Sie tanzten und sangen die ganze Nacht, bis der Mond vom Himmel verdrängt wurde, die Sonne ihre ersten Strahlen über den Horizont sandte und so die Ekstase wieder klarem Verstand Platz machte.
Hatten sich die Bauern in ihren Gehöften am Rhein vor dem unheimlichen Gesang gefürchtet, so wussten die Menschen hier in Holledau, dass sich in den Vollmondnächten seltsame Gestalten am Rand des Finsterwaldes einfanden, um sich dort bis zur Tagesdämmerung ihren jahrtausendealten Trieben hinzugeben. Auch ihre Gesänge waren ihnen bekannt. Doch heute lag ein anderer Ton in der Luft: Wilder, freier als sonst, als ob eine neue Epoche angebrochen wäre. - Oder vielmehr als ob eine uralte, längst in Vergessenheit geratene wiederauferstanden wäre.

***

"Wermeister?" fragte Quatzkotl gedehnt. "Es ist mir, als hätte ich in meiner Kindheit schon einmal von ihnen gehört. Aber das ist schon so lange her, dass ich mir nicht mehr sicher bin!"
"Dann will ich dir von ihnen erzählen," antwortete die Hydra. "Seit Tausenden von Jahren gibt es Menschen, die sich in Wölfe verwandeln können. Man nennt sie Werwölfe."
Quatzkotl stieß widerwillig eine schwarze Qualmwolke aus den Nüstern.
"Werwölfe! Die sind doch keine Gefahr!" meinte er abfällig.
"Die einfachen Werwölfe, die jedermann im landläufigen Sinne bekannt sind, sind gewiss keine Gefahr. Selbst Menschen können sich einen normalen Werwolf relativ einfach vom Leib halten, wenn er nur einigermaßen gut bewaffnet ist, denn in der Regel sind sie primitive Halbwesen, die weder die Wildheit eines echten Wolfes noch die Intelligenz eines echten Menschen erreichen. Selbst ihre Verwandlung können sie nicht steuern. Wenn es sie überkommt, verwandeln sie sich in einen Wolf, in einen Menschen oder in ein zottiges Halbwesen, das weder das eine noch das andere ist."
Die Hydra sah ihren Neffen an und zuckte mit ihren neun Hälsen.
"Mit den Wermeistern haben sie aber nichts zu tun. Die Wermeister waren einst in großer Zahl über die ganze Welt verteilt. Sie waren nicht wirklich zahlreich, aber es gab schon recht viele von ihnen. Die Wermeister sind mindestens so intelligent wie ein normaler Mensch und sehen auch so aus. Sie können sich nach Belieben in einen Wolf oder einen Menschen verwandeln. Den Zeitpunkt der Verwandlung können sie mit ihrem Willen bestimmen. Treten sie in ihrer Menschengestalt auf, so kann man sie von einem normalen Menschen nicht unterscheiden. Trifft man sie in ihrer Wolfsgestalt an, so kann man schon auf den ersten Blick erkennen, dass sie keine normalen Wölfe sind: Sie sind deutlich größer, deutlich schneller und deutlich wilder. Auch werden sie nicht vollends zum Tier, sondern behalten trotz ihrer Umwandlung ihre menschliche Intelligenz bei. Außerdem haben sie noch eine weitere unangenehme Eigenschaft: Sie sind kaum zu töten! Um ihre Regenerationsfähigkeit könnte man sie selbst als Drache beneiden. Wenn du einen Wermeister töten willst, musst du ihn vollständig verbrennen. Am besten mit Drachenfeuer. Sonst wächst alles in kurzer Zeit wieder zusammen. Selbst das Gehirn kann sich vollständig regenerieren. Einfaches Totschlagen reicht also nicht aus, um einen Wermeister wirklich zu töten. Aber sei beruhigt. Kein Wermeister kann einen Drachen verwunden. Unser Hautpanzer ist stärker als seine Zähne."
Quatzkotl nickte beeindruckt.
"Das ist ja erstaunlich. Wie kommt es, dass die Wermeister von der Bildfläche verschwunden sind?"
"Sie sind trotz ihrer Fähigkeiten sehr empfindlich gegenüber dem Verlust von Magie. Wir Drachen sind so mächtig, dass wir sehr lange Zeit auch ohne Magie auskommen können und uns sogar an ein völlig magieloses Leben gewöhnen können. Die Wermeister können das nicht. Als die Magie in weiten Teilen der Welt verschwand, verschwanden die Wermeister mit ihr. Nur ein kleiner Teil dieser ehemals so mächtigen Wesen konnte sich retten. Sie leben auf einem Bergplateau, auf dem es noch eine gewisse Restaura von Magie gibt. Sie haben ihren richtigen Namen aufgegeben, nennen sich "Graue Gilde" und verdingen sich als Auftragsmörder, um so ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Dank ihrer phantastischen Fähigkeiten haben sie meines Wissens noch jeden Auftrag erledigt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Leben den Meistern nicht gefällt, denn sie sind früher ein stolzes und ehrenvolles Volk gewesen. Aber was tut man nicht alles, um zu überleben!"
Die Hydra seufzte und dachte dabei an ihre eigene wenig ruhmvolle Rolle, die sie auf der Insel Atlantis gespielt hatte. Quatzkotl, der lieber sterben würde, als etwas Unehrenhaftes zu tun, schwieg taktvoll.
"Du meinst also, ich kann nichts für Jannie tun?" fragte er nach einer Weile.
"Nein! Leider nicht. Sie wird erst im letzten Moment erkennen, dass der Mensch, der eben noch so harmlos vor ihr stand, in Wirklichkeit ein reißendes Raubtier ist. Es wird so schnell gehen, dass auch du nicht mehr eingreifen kannst. Selbst dann, wenn du unmittelbar neben ihr stehst! Außerdem kannst du sie nicht für immer einsperren oder verstecken. Das haben andere vor euch auch schon versucht. Irgendwann bekommt der Graue sie!"
Quatzkotl überlegte.
"Dann verstehe ich die Worte der Weißen Alraune überhaupt nicht mehr."
"Was hat sie denn gesagt?" wollte die Hydra wissen.
"Keine Sorge, keine Gefahr."
Die Hydra legte die Köpfe schräg.
"Tja," murmelte sie nachdenklich. "Das verstehe ich auch nicht."

***

Das Leben der Grauen Gilde ist nicht einfach. Auch der Auftrag, der dir anvertraut wurde, ist nicht einfach, denn wenn er einfach wäre, könnte man auf die Dienste der Gilde verzichten. Scheint der Himmel grau und deine Aufgabe undurchführbar, so verzweifle nicht. Vertraue deiner Stärke. Vertraue der Weisheit des Gildemeisters. Konzentriere dich auf die Gebote des Lebensbuchs der Gilde und du wirst eine Lösung finden.
Letztes Gebot des Lebensbuchs der Grauen Gilde.

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Als sie wieder zu sich gekommen waren, gönnte sich Inanuk noch einen letzten Blick über die Landschaft Holledaus. Schwermut überkam ihn, jetzt wo er wieder Herr über seinen Verstand war. Er fühlte sich jung und stark wie schon lange nicht mehr. Seine Kraft und seine Fähigkeiten hatten sich unter dem Einfluss der starken Magie der Alten Welt spürbar gesteigert. Hier war seine Heimat! Die Heimat seines Volkes. Hier würden sie sich wieder Wermeister nennen dürfen und das ehrloses Gewerbe der Grauen Gilde an den Nagel hängen können. Doch: Wie sollte das gehen, wenn er seinen Auftrag ausführen würde? Mit dem Tode Jannies würde König Richards Königreich, das Bollwerk gegen die Neue Welt, dahinsiechen und untergehen. Durfte er das zulassen? Niemals! Doch wenn er seinen Auftrag nicht ausführen würde, würde diese Kunde schnell in das Land der Aufgehenden Sonne dringen und sein Volk bei den Mächtigen in Ungnade fallen. Wie er es auch drehte und wendete: Er stand vor einem unlösbaren Dilemma! Es war furchtbar!
Er ließ sich nieder und lief in den Wald. Nanawok folgte seinem Beispiel. In mäßigem Tempo trabten sie nebeneinander her. Inanuk in Gedanken versunken, Nanawok schweigsam, weil er spürte, dass seinem Vater im Moment der Sinn nicht nach einer Unterhaltung stand.
Inanuk ließ seinen Gedanken freien Lauf. Der Auftrag war falsch! Daran gab es nichts zu rütteln. Wenn er das Alte Land retten wollte, durfte er die Prinzessin nicht töten. Was wurde aber dann aus der Grauen Gilde? Er überdachte noch einmal jedes Wort, das der Gildemeister gesagt hatte. Auch rezitierte er im Stillen alle Regeln des Lebensbuchs der Gilde. Irgendwo musste der Schlüssel zu einer Lösung des Problems liegen. Der Gildemeister war weise. Er würde nie einen Auftrag erteilen, der nicht zu lösen war. Er musste nur lange genug nachdenken. Der gleichmäßige, eintönige Lauf durch den Wald führte allmählich dazu, dass er in eine Art Trance verfiel. Inanuk achtete nicht mehr auf den Weg oder die Gefahren, die überall um sie herum lauerten. Er verließ sich ganz auf die Aufmerksamkeit seines Sohnes. All seine Gedanken, sein Bestreben, seine Empfindungen kreisten nur um sein Problem. - Und schließlich hatte er den ersten Zipfel eines Schlüssels gefunden. Zunächst war es nicht mehr als der Geschmack einer Lösung, ein schwacher Geruch. Mehr nicht. Doch dann stieg sie mit einer Macht empor, die ihn bis in sein Innerstes erschütterte: Es gab tatsächlich einen Ausweg! Er war so klar und logisch, dass er sich wunderte, dass er nicht schon eher auf ihn gestoßen war. Gleichzeitig bewunderte er die vollendete Weisheit des Gildemeisters, der dies alles vorausgesehen und vorausgeplant haben musste. Er hatte Nanawok nicht mitnehmen müssen, um ihm den letzten Schliff zu geben. Nein! Der Grund war ein ganz anderer! Er zitterte. Doch der Anflug von Schwäche verging. Er musste seinen Weg gehen, wie auch Nanawok seinen Weg gehen würde. Als er sich wieder beruhigt hatte schaute er seinen Sohn an. Liebevoll musterte er das vollendete Spiel der Muskeln, die den jungen, kraftvollen Körper vorantrieb. Ihm würde die Zukunft gehören. Die Zukunft in einem Land, das so erhaltenswert war wie das Volk der Wermeister auch. Dafür war jedes Opfer gerechtfertigt. Doch vorab musste er Nanawok erklären, dass sie die Prinzessin noch einmal würden retten müssen. Der Vollmond war da und in wenigen Tagen würden die Raubritter des Landgrafen von Böllingen versuchen, Jannie zu entführen. Das mussten sie unbedingt verhindern. Aber anschließend würde er mit dem Drachenkönig sprechen müssen. Unter vier Augen.

***

Auf Schloss Drachenburg bemühte man sich, nach der hektischen Sorge der vergangenen Tage langsam wieder zu einem normalen Lebensrhythmus zu kommen. Aber trotz aller Anstrengungen machte die panische Angst um das Leben Jannies nur einer bedrückenden Melancholie Platz, die jeden belastete, weil sie sich einfach nicht abschütteln ließ. Dabei hatten sich die Mörder der Grauen Gilde bisher noch gar nicht gezeigt. Wohl aber die üblichen Straßenräuber und Raubritter, die der königlichen Familie schon lange die gute Laune verdarben.
Man behielt die vereinbarten Vorsichtmaßnahmen bei: George und Mischa patrouillierten in der Nacht vor Jannies Schlafgemach, um sicher zu gehen, dass sich kein Attentäter in ihr Zimmer schleichen konnte. Tagsüber wichen ihr Hieronto, Quetzalkoatlus, der alte Samurai und El Pitto Gnomo nicht von der Seite. Sie hatten es nicht leicht mit ihrem Schützling, denn dieser, halsstarrig wie junge Damen schon einmal sind, ließ sich seinen täglichen Spaziergang nicht nehmen.
"Ich bin kein Mensch, der sich verkriecht, wenn es brenzlig wird," murrte sie, wenn ihre Freunde sie auf die Gefährlichkeit ihres Tuns hinwiesen. "Das Volk meines Vaters soll sehen, dass ich nicht feige bin!"
So kam es, dass sie auch genau eine Woche nach Vollmond die Burg verließ, um zu einer ihrer Lieblingsstellen zu gehen: Eine gute Stunde Fußwegs vom Schloss entfernt gab es auf einem Hügel eine Lichtung, von der aus man einen unübertrefflichen Ausblick auf den Rhein und die fruchtbare Ebene im Westen hatte, die am Horizont in die Neue Welt überging. Die fünf boten eine malerische Prozession, als sie den Hügel hinaufstiegen: Eine junge Frau, ein junger und ein alter Samurai, ein kleiner Drache und ein knorriger Kobold mit einem Schwert, das größer war als er selbst.
Oben angelangt nahmen sie Platz und versuchten, die Aussicht zu genießen. Doch die Stimmung blieb eher trübe.
"Schade, dass die Hydra auch keinen Ausweg wusste," seufzte Jannie. "Ich hatte so gehofft, dass sie uns mit ihrer Erfahrung weiterhelfen würde."
Hieronto nickte traurig.
"Ich habe seit langer Zeit kein Auge mehr zugemacht. Es ist furchtbar, dass uns Quatzkotl keine besseren Nachrichten bringen konnte."
"Da unten tut sich was!" riss El Pitto Gnomo die beiden abrupt aus ihren Gedanken.
Alarmiert stand Hieronto auf und blickte den Hügel hinab. Dort näherte sich mit hoher Geschwindigkeit eine große Reitergruppe.
Hieronto und El Pitto Gnomo sahen sich an. Das war ernst! Die Berittenen kamen nicht zum Picknicken hierher.
Die Freunde zogen die Schwerter und nahmen Kampfposition ein. Im Nu waren die Reiter auch schon heran. Hieronto zählte insgesamt dreißig Krieger: Etwa zwanzig verwegen aussehende Ritter und zehn andere Reiter, deren Ausrüstung ihm völlig fremd war. Im Gegensatz zu den Rittern, die mit den üblichen Kettenhemden und Schwertern ausgerüstet waren, trugen sie lediglich Kleidung aus derbem Leder. Ihre Arme waren unbedeckt und das Haar wehte frei im Wind. Sie saßen auf kleinen, struppigen Gäulen, die so kurzbeinig waren, dass die Beine ihrer Herren im Gras schleiften. Ihre Bewaffnung bestand aus Keulen, Armbrüsten sowie Pfeil und Bogen. Neben sich führten sie große Hunde, welche die kleine Gruppe um Jannie knurrend ins Visier nahmen.
Einer der Ritter trieb sein Pferd auf den kleinen freien Platz zwischen den beiden Gruppen. Er verneigte sich spöttisch in Richtung Jannies.
"Euer Hoheit, ich darf mich Euch bekannt machen? Ich bin der Landgraf von Böllingen. Ich beabsichtige, in das Alte Land zu reisen und mir einige der Herrlichkeiten anzueignen, mit denen die Bewohner des Alten Landes ohnehin nichts anfangen können. Ich trage Euch an, mich zu begleiten, denn ich habe gehört, dass die Reise durch einige Wegelagerer behindert werden könnte. In Euerer Begleitung würde ich mich viel sicherer fühlen."
"Ihr seid nicht der Erste, der solche Wünsche äußert," rief Jannie ihm voller Verachtung zu. "Wenn Ihr ins Alte Land wollt, dann seht zu, wir Ihr hinkommt."
Der Landgraf schüttelte den Kopf.
"Ihr habt mich nicht richtig verstanden, Prinzessin. Ich bin in meiner Heimat ein mächtiger Mann, der es versteht, seine Wünsche mit dem nötigen Nachdruck vorzutragen. Ihr seht mich hier in Begleitung von zwanzig tapferen Rittern und zehn Steppenreitern aus dem Osten. Ihre Pfeile gehen nie fehl und Ihre Hunde sind es gewohnt, selbst Büffel zu reißen. Ich empfehle Euch, nachzugeben und freiwillig mit mir zu kommen. Sonst muss ich Euch holen."
"Genug des Scherzens!" knurrte El Pitto Gnomo. "Komm her und koste vom Stahl meines Schwertes, du Verbrecher. An mir kommt nämlich keiner vorbei!"
Klirrend zogen die Ritter ihre Schwerter. Die Steppenreiter legten Pfeile und Schussbolzen auf. Gleichzeitig lösten sie die Leinen ihrer Hunde. Die Tiere wussten, was von ihnen erwartet wurde und fletschten die Zähne.
Plötzlich erbebte der Boden. Ein tiefer, rollender Laut wie von einem Gewitterdonner ließ die Luft erzittern.
Die Kämpfer beider Parteien blickten sich beunruhigt um. Welches Wesen mochte diesen Laut hervorgebracht haben?
Das Grollen wiederholte sich. An der rechten Flanke der Angreifer teilte sich das Gras. Ein gewaltiger Wolf tauchte auf. Breitbeinig stellte er sich hin und fixierte die Gruppe, die sich eben noch auf Jannie und ihre Freunde stürzen wollte. Er legte den massigen Schädel schräg und entblößte ein weiß glänzendes Gebiss mit krummen, scharfen Dolchzähnen. Die gelben Augen flackerten. Zähflüssiger Speichel tropfte schleimig auf den Boden. Das Untier öffnete den Rachen. Das Donnergrollen erklang erneut.
"Mein Gott!" dachte Jannie. "Ein Wolf! Aber dieser Grauwolf ist das größte Raubtier, das ich jemals zu Gesicht bekommen habe! Er ist ja so groß wie ein Kalb!"
Die Ritter waren irritiert. Auf welchen Feind sollten sie sich konzentrierten? Auf das Tier oder auf die anderen?
Der Landgraf winkte den Steppenreitern zu.
"Hetzt die Hunde auf das Vieh!" befahl er. "Die werden doch wohl mit einem einzelnen Wolf fertig werden!"
In diesem Moment grollte es wieder. Doch nun von der linken Flanke der Reiter her. Ein zweiter Wolf, nicht kleiner als der erste, zeigte sich. Die Köpfe der Berittenen flogen herum. Die Hunde nahmen winselnd Reißaus und verkrochen sich im Wald. Mit diesen Monstern wollten sie nichts zu tun haben!
Und dann griffen die kolossalen Grauwölfe an! Als hätten sie sich abgesprochen, sprang der rechte Wolf los, dem die Männer des Grafen im Moment keine Aufmerksamkeit schenkten, weil sie sich gerade auf den anderen konzentrierten. Mit einer Beschleunigung, die man ihm aufgrund seiner enormen Größe niemals zugetraut hätte, raste er auf die Männer zu und hing dem ersten bereits am Hals. Ein Biss, ein Ruck, eine zerrissene Kehle. Schon ging er den nächsten an. Die anderen Männer richteten ihre Aufmerksamkeit nun wieder der rechten Seite zu. Sie wollten ihren Kameraden helfen. Doch sofort griff der linke Wolf an. Er stürzte sich auf die Steppenreiter. Schnell wie ein Schatten, mit rasenden Bewegungen, denen man kaum folgen konnte. Wie ein graues Schemen flog er durch die Luft, packte die erste Kehle. Ein Biss ein Ruck und schon ging es zum nächsten Opfer. Die Männer schrieen. In heller Panik hieben sie auf die Wölfe ein. Die Steppenreiter schossen ihre Pfeile ab. Doch in der allgemeinen Hektik trafen nur wenige ihr Ziel. Den Bestien machten die in ihrem Pelz steckenden Geschosse nicht aus. Sie sprangen weiter mit atemberaubender Geschwindigkeit von Mann zu Mann, zerknackten knurrend Kehlköpfe, zerrissen Halsarterien, brachen Genicke. Im Nu war die stolze Streitmacht des Grafen ein Gewirr aus sterbenden Leibern, die sich in ihrem Blut wälzten. Dann war alles vorbei.
Die Grauwölfe standen stolz auf dem wild durcheinander liegenden Leichenberg und knurrten zufrieden. Einer der beiden stieß die Nase in das makabre Durcheinander und suchte nach Überlebenden. Er ging dabei sehr gründlich vor. Systematisch durchwühlte er den Haufen und schnüffelte dabei genüsslich wie ein Gaul, der mit seinem Maul in einem Trog mit leckerem Hafer herumschnobert. Hier und da stieß die Schnauze vor und erfasste knurrend einen Nacken. Dumpfes Knacken verriet, dass wieder ein Leben geendet hatte.
Hieronto konnte dieses abstoßende Gemetzel nicht länger ansehen. Der Ekel, den er aufgrund dieses abartigen Abschlachtens empfand, war stärker als das Entsetzen, das seinen Körper lähmte. Er machte einen Schritt nach vorne, in der Absicht, die Wölfe von ihren Opfern zu vertreiben.
Eine der mörderischen Bestien hob den wuchtigen Kopf. Sie riss den Rachen auf und knurrte drohend. Plötzlich war die Luft wieder spannungsgeladen.
"Lass es!" zischte El Pitto Gnomo. "Diese Wölfe sind keine normalen Tiere. Ich fresse einen Besen, wenn wir es hier nicht mit der Grauen Gilde zu tun haben! Selbst gemeinsam haben wir keine Chance gegen die beiden. Sie haben ihre Überlegenheit eindrucksvoll bewiesen. Schau dir die Pfeilwunden an! Jedes normale Tier wäre schon an den Verletzungen gestorben. Den beiden machen sie aber nichts aus. Es sind vollendete Tötungsmaschinen."
Hieronto unterdrückte seinen Widerwillen. Der Kobold hatte Recht! Trotz des anerkennenden, ja bewundernden Tonfalls! Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebten.
"Ich verstehe das nicht!" flüsterte Jannie. "Die beiden haben uns beschützt!"
"Es ist Sitte, dass die Graue Gilde alle Zeugen eines Mordes beseitigt," meldete sich der alte Samurai zu Wort, der mit kalkweißem Gesicht neben ihr stand. "Noch nie hat jemand überlebt, der einen Grauen zu Gesicht bekommen hat. Hoffentlich ist es bald vorbei!"
Nun überzog auch Jannies Gesicht die fahle Blässe der Todesangst. Wenn die beiden Wölfe sie töten wollten, dann würden sie es jeden Augenblick tun. Eine bessere Gelegenheit würden sie nicht bekommen. Jannies Beine gaben nach. Kraftlos sank sie auf die Knie.
Die beiden Tiere blickten sich an. Dann wendeten sie ihre gelben Augen den Menschen zu, die zitternd vor ihnen standen. Lange Sekunden verharrten sie so. Schließlich wandten sie sich ansatzlos ab und verschwanden im Wald.

***

Inanuk und Nanawok tauchten im Wald unter. Schließlich richteten sie sich wieder auf und zogen sich gegenseitig die Pfeile aus den Körpern. Die entstandenen Wunden schlossen sich rasch.
"Du wirst jetzt in unser Quartier zurückkehren," sagte Inanuk so bestimmt, dass Nanawok aufhorchte. Diesen Ton war er von seinem Vater nicht gewohnt!
"Ich selbst," fuhr er fort, "werde den Drachenkönig aufsuchen. Ich habe etwas mit ihm zu bereden."
"Was denn?" fragte Nanawok neugierig.
"Das kann ich dir nicht sagen, mein Sohn! Ich werde aber bald nachkommen. Mach dir also keine Sorgen!"
Nanawok machte die entschlossene Haltung seines Vaters nun doch Sorgen. Er ließ sich aber nichts anmerken, sondern tat wie ihm geheißen.
Inanuk ließ sich wiederum nieder und machte sich allein auf den Weg zu Quatzkotls Behausung. Sie war von seiner jetzigen Position nicht weit entfernt, sodass er sie bereits nach kurzer Zeit erreicht hatte. Er richtete sich auf und betrat den Eingang der Höhle. In der Regel kannte er keine Angst. Aber einen der ganz großen Drachen der Alten Welt zu besuchen war doch schon etwas, das ihm seinen ganzen Mut abverlangte. Langsam tastete er sich vor, bis er plötzlich vor einer Wand aus grünen Stahlschuppen stand: Er hatte Quatzkotl gefunden.
"Das nenne ich Mut, dass du einfach so vor mir auftauchst, Grauer!" dröhnte die gewaltige Stimme des Drachenkönigs. "Fürchtest du mich nicht?"
"Jawohl, Quatzkotl, ich fürchte mich vor dir," gab Inanuk zu, wobei er seinen Kopf weit in den Nacken legen musste, um dem Drachen in die Augen sehen zu können. "Ich bin Inanuk, durch den Gildemeister rechtmäßig Beauftragter der Grauen Gilde. Mein Auftrag ist es, Jannie von Drachfels zu töten. Ich hätte meinen Auftrag bereits erfüllen können, habe es aber aus guten Gründen noch nicht getan. Ich weiß, dass du mich jetzt und hier ohne Anstrengungen töten könntest. Doch höre mir bitte zuerst zu, denn ich habe dir etwas zu sagen."

***

In dieser Nacht schlief Nanawok sehr schlecht. Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die andere und durchlebte in heftigen Träumen die vergangenen Ereignisse noch einmal. In den frühen Morgenstunden waren seine Träume besonders intensiv. Er schrecke hoch - und sah sich seinem Vater gegenüber, der auf einem Stuhl Platz genommen hatte und ihn anblickte.
"Was sitzt du denn da?" fragte Nanawok, der noch nicht ganz klar im Kopf war. "Hast du die ganze Nacht dort gesessen?"
Inanuk nickte.
"Ja, mein Sohn! In dieser Nacht brauchte ich keinen Schlaf. Ich habe hier an deiner Seite gewacht."
"Warum hast du denn nicht geschlafen? Du kannst doch nicht weniger müde gewesen sein als ich!"
"Ich werde noch genug Zeit zum Ausruhen bekommen, Nanawok," gab Inanuk sanft zurück. "Komm, steh’ auf. Ich habe Hunger. Mache dich fertig!"
Nanawok erhob sich und schickte sich an, sich durch das Gesicht zu waschen. Doch als er an seinem Vater vorbei wollte, nahm dieser ihn in den Arm und drückte ihn liebevoll.
"Denk immer daran, mein Sohn," sagte dieser. "Was auch geschehen mag: Ich bin stolz auf dich und dir gilt meine ganze Liebe! Die vergangenen Wochen mit dir waren das Schönste, das mir in meinem Leben passiert ist."
Nanawok erwiderte die Umarmung, starrte aber dann seinen Vater an und schüttelte den Kopf.
"Was redest du da? Es war wirklich wunderschön! Aber wir stehen vor einem Neuanfang für die Gilde. Wir werden noch viele wunderbare Dinge erleben. Da musst du doch froh drüber sein. - Oder hat der Drache uns verboten uns hier niederzulassen?"
Inanuk schüttelte den Kopf.
"Quatzkotl und ich sind uns einig geworden. Doch jetzt mache dich bitte erst einmal fertig. Heute ist der Tag, an dem wir unseren Auftrag erledigen werden."
Nach vollendeter Morgentoilette begaben sie sich in den Frühstücksraum, wo Bogos schon mit einem guten Mahl auf sie wartete.
"Habt Ihr schon gehört?" flüsterte er mit verschwörerischer Miene. "Gestern Abend ist Hüppes mit zwei Frachtkähnen angekommen. Auf dem Schloss wird es heute ein Riesenfest geben. Man munkelt, dass Hüppes die Prinzessin und ihren Verlobten bei seiner Abreise mitnehmen wird. Angeblich will sie ihren zukünftigen Schwiegervater besuchen."
Inanuk schaute den Wirt an.
"Hüppes? Ist das nicht der Kaufmann, der mit seiner Undine in der Weltgeschichte herumkreuzt?"
Bogos war erstaunt.
"Ihr kennt den Mann?"
"Ja, natürlich. Hüppes treibt in aller Welt Handel. Da ist es doch kein Wunder, dass wir ihn auch kennen."
Während Bogos wieder in seiner Küche verschwand, sprach Nanawok dem guten Frühstück der Herberge wie immer reichlich zu. Inanuk jedoch rührte sein Essen kaum an, ließ dafür aber seinen Sohn kaum aus den Augen. Dieser wiederum bemühte sich, über das seltsame Verhalten seines Vaters hinwegzusehen. Er fand es schon komisch, dass dieser ihn eben noch zur Eile gedrängt hatte, weil er angeblich Hunger verspürte, jetzt aber nicht zugriff. Am Ende waren beide froh, als das Frühstück beendet war.
Die Menschen in der Stadt grüßten die beiden respektvoll, als sie die Herberge verließen. Die sympathischen Fremden waren durch die Ehrung, die sie am Gerichtstag erfahren hatten, bekannt und durch den Mut, den sie bei der Rettung Jannies an den Tag gelegt hatten, bei allen Stadtbewohnern beliebt. Sie ließen die Stadt hinter sich. Noch einmal genossen sie den gemeinsamen Aufstieg zur Burg und lauschten dem fröhlichen Gesang der Vögel, die, wie alle anderen Lebewesen auch, froh waren, dass der Winter sich endlich zurückgezogen hatte. Sie atmeten die würzige Luft des Siebengebirges ein und nahmen mit kräftigen Schritten die Steigung. Bald hatten sie das Tor von Schloss Drachenburg erreicht. Es war noch recht früh, aber im Schlosshof herrschte wegen der Ankunft Hüppes schon reichlich Trubel. Alle freuten sich über diesen Besuch. Nicht nur, weil der Weinkeller wieder aufgefüllt werden würde, sondern auch, weil der Kaufmann sehr beliebt war und amüsante Anekdoten zum Besten geben konnte.
Die Königin leitete höchstpersönlich den Aufbau einer großen Festtafel. Richard stand ein wenig überflüssig herum und Jannie beobachtete vom Schlosseingang her das fröhliche Durcheinander. Ihre Beschützer waren nirgendwo zu sehen.
Als sie die beiden Ankömmlinge erblickte, winkte sie ihnen zu und sprang die Treppenstufen herunter.
"Hallo, Inanuk und Nanawok!" rief sie erfreut. "Schön, dass ihr gekommen seid! Darf ich euch für heute Abend einladen? Wir geben ein Fest. Es gibt Gutes zu essen und zu trinken. Ich würde mich freuen, wenn ihr an der Feier teilnehmen würdet!"
In diesem Augenblick erschien Hieronto an der Tür.
"Bleib stehen!" rief er ihr zu. "Sei doch nicht so leichtsinnig, Jannie!"
Doch Jannie ließ sich nicht aufhalten und lief weiter.
Als sie bei den beiden Grauen angekommen war, blickte sie jedoch in zwei todernste Gesichter und zögerte.
"Was ist denn los?" fragte sie. "Freut euch doch! Es wird bestimmt ein schöner Abend!"
Inanuk sah sie an.
"Prinzessin Jannie, ich bin Inanuk der Graue, Beauftragter der Grauen Gilde und bin hier, um Euch zu töten. Bereitet Euch bitte auf Euren Tod vor!"
Vor aller Augen ließ er sich nieder und verwandelte sich in einen Wolf. Seine Augen glühten gelb auf. Er öffnete den furchterregenden Rachen. Tiefes Grollen ließ die Luft vibrieren. Jannie stand starr vor Schreck, unfähig, sich zu rühren. Die Welt fror ein. Aller Augen konzentrierten sich auf die Prinzessin und das reißende Ungeheuer, das sie bedrohte. Der Wolf sprang.
Da schob sich ein grüner Schatten zwischen ihn und Jannie. Ein gewaltiges Maul öffnete sich. Ein flammender Strahl aus Drachenfeuer schoss heraus. Die sonnenheiße Glut umhüllte die Bestie vollständig. Alle schlossen die Augen vor dem unerträglich hellen Lichtstrom. Im Hof wurde es unerträglich heiß. Als das Gleißen erlosch, war der Wolf nicht mehr zu sehen. Jannie stand immer noch da, als sei sie zu Stein erstarrt. Auch die anderen Menschen waren unfähig, das Geschehen zu begreifen. Zu schnell war das alles gegangen. Zwischen Jannies freundlicher Begrüßung und dem Eingreifen des Drachenkönigs konnten nur Sekundenbruchteile gelegen haben.
Nanawok reagierte schnell. Er ließ sich ebenfalls nieder und griff den Drachen an, der wie ein grünes Gebirge vor ihm aufragte. Eine schwere Pranke stieß ihn zurück, als sei er ein Spielzeug. Doch er rappelte sich wieder hoch. Knurrend ging er seinen Gegner erneut an. Schmerzen fürchtete er nicht und Verletzungen ließen ihn kalt. Wieder wurde er weit zurückgeschlagen. Erst die Schlossmauer stoppte seinen Sturz. Nanawok schüttelte sich. Er riss seinen Rachen auf. Sein Gebiss blitzte in der Sonne.
"Halt!" donnerte der Drache. "Bist du wirklich so dumm, dass du glaubst, es mit einem Drachen aufnehmen zu können? Schau mich an! Ich bin größer, stärker und schneller als du. Wenn ich dich hätte töten wollen, hätte mein Feuer dich bereits vernichtet!"
Nanawok richtete sich wieder auf.
"Du hast meinen Vater getötet!" schrie er und sprang wieder los.
Hieronto und El Pitto Gnomo liefen mit gezogenen Schwertern herbei, bereit, Quatzkotl beizustehen.
"Haltet euch zurück!" befahl der Drache grob. "Das ist eine Angelegenheit zwischen ihm und mir!"
Der Wolf spielte nun seine ganze Beweglichkeit aus. Er rannte nach rechts, änderte aber plötzlich seine Richtung und schaffte es fast, an dem Drachen vorbeizukommen. Doch die mächtige Faust Quatzkotls traf ihn gerade noch rechtzeitig, bevor er zu Jannie durchbrechen konnte. Unermüdlich griff Nanawok an. Doch ein Erfolg wollte ihm nicht gelingen. Er sprang, rannte, fintete und versuchte den Drachen nach allen Regeln der Kunst auszutricksen. Doch nie schaffte er es, den entscheidenden Tick schneller zu sein als sein Gegner. Immer, wenn er dachte, vorbei zu sein, war die Klaue des Drachen schon wieder da. Doch dann schaffte er es! Nanawok täuschte einen Versuch vor, Quatzkotl zu unterlaufen, machte dann aber einen Riesensatz, der ihn über dessen Kopf brachte. Er war vorbei! Erwartungsvoll federte er den Aufprall ab und sprang sofort auf die hilflose Prinzessin zu, die mit weit aufgerissenen Augen ihren Tod erwartete.
Nanawok hatte in seinem Leben noch nie mit Drachen zu tun gehabt. So war es kein Wunder, dass er nicht wusste, dass Drachen nicht nur wegen ihrer Zähne, ihres Feuers und ihrer Klauen gefürchtet waren. Eine nicht zu unterschätzende Waffe war nämlich auch der Drachenschwanz. Quatzkotls schwerer Schweif zuckte hoch. Seine scharfen Schuppen durchschlugen den Leib des Wolfes fast genau in der Mitte. Nanawok wurde auseinander gerissen. Hinter- und Vorderkörper fielen nebeneinander zu Boden. Ein Raunen ging durch die Menge. Doch Nanawok war noch immer nicht endgültig außer Gefecht gesetzt. Mühsam schleppte er sich mithilfe seiner Vorderbein weiter auf Jannie zu. Seine Kiefer schnappten. Die Königin wurde ohnmächtig. Richard fluchte. Hieronto schlug die Hände vor seine Augen. Nur El Pitto Gnomos Nerven waren durch das harte Leben im Finsterwald gestählt genug, um diesen albtraumhaften Anblick zu ertragen.
Quatzkotl stoppte das Kriechen Nanawoks, indem er eine seiner schweren Vorderklauen auf den verstümmelten Körper des Grauen legte.
"Gib endlich auf, Junge!" knurrte er.
Nanawok verwandelte sich in einen Menschen zurück.
"Du hast meinen Vater getötet!" fauchte er wieder.
"Das habe ich getan!" gab Quatzkotl zu. "Doch dein Vater ist als Held gestorben. Soll sein Tod umsonst gewesen sein?"
Nanawok zögerte. Er rang mit seinem aussichtlosen Wunsch, den Auftrag doch noch Ende zu führen und dem Versuch, dem Drachen zuzuhören.
"Wieso das? Er ist tot. Ich werde den Auftrag zu Ende führen. Es kann nicht sein, dass ausgerechnet mein Vater der erste Graue ist, der seinen Auftrag nicht zu Ende gebracht hat. Dieses Versagen hat er nicht verdient!"
"Du verstehst nichts, Junge! Der Auftrag ist in allen Ehren zu Ende geführt worden. Wie lautet die fünfzehnte Regel des Lebensbuchs der Gilde?"
"Woher willst du die Regeln unseres geheimen Buches kennen, Drache?" rief Nanawok verzweifelt. "Du würdest sie nicht verstehen."
"Nenne mir die fünfzehnte Regel!" befahl Quatzkotl wieder und drückte so fest zu, dass die Knochen des Wolfes knackten.
"Die Graue Gilde gibt keine Garantie für eine erfolgreiche Durchführung des Auftrags. Der Auftrag ist erfüllt, wenn die Zielperson getötet worden ist oder du selbst den Tod gefunden hast." zitierte er trotzig.
Quatzkotl hob den Kopf.
"Und? Geht dir ein Licht auf?"
Nanawok erbleichte.
"Mein Vater ist bewusst in den Tod gegangen?"
"Dein Vater war ein Held. Er hat erkannt, dass der Tod der Prinzessin den Untergang des Alten Landes bedeuten würde. Aber das wäre zugleich auch der Untergang deines Volkes gewesen, denn Magie in nennenswertem Umfang gibt es nur noch in diesem Gebiet. Und ohne Magie werdet auch ihr untergehen. Mit seinem Tod aber ist der Auftrag der Gilde ehrenhaft und den Regeln des Lebensbuchs entsprechend erfüllt worden. Er ist nicht Schuld daran, dass Jannie noch lebt, und dein Volk ist es auch nicht. Die Graue Gilde hat ihre Verpflichtung gegenüber ihrem Auftraggeber erfüllt."
Nanawoks Augen füllten sich mit Tränen. Erst jetzt wurde ihm die Bedeutung des seltsamen Verhaltens seines Vaters an diesem Morgen in vollem Umfang bewusst. Es war ein Abschied gewesen. Ein Abschied für immer! Nie wieder würde er mit ihm sprechen können. Nie würden sie Seite an Seite jagen. Nie wieder... 
"Aber dafür hätte er doch nicht zu sterben brauchen!" stieß Nanawok hervor. "Gab es denn keinen anderen Weg?"
"Sei stark, Junge!" rief Quatzkotl, den die Trauer des Jungen rührte. "Es gab keinen anderen Weg! Dein Vater und ich haben das lange diskutiert. Er musste diesen Auftrag den Regeln nach ausführen, sonst wäre er der erste Graue gewesen, der an seiner Aufgabe gescheitert ist. Mit dieser Schande hätte er nicht leben können. Gehe zurück in das Land der Aufgehenden Sonne. Berichte deinem Gildemeister, was sich zugetragen hat. Sage ihm, dass der Auftrag erfüllt ist. Sage ihm, dass dein Vater den einzigen Weg gewählt hat, den es gab. Den Weg, den der Gildemeister vorhergesehen hat. Sage ihm, dass Jannie von Drachenfels nie in das Land der Aufgehenden Sonne reisen wird. Zu groß ist die Gefahr, dass ihr von anderer Seite wieder Attentäter entgegengestellt werden. Sage ihm, dass die Wermeister sich im Alten Land ansiedeln dürfen. Sage ihm, dass ich dafür zwei Bedingungen stelle. Die erste ist die, dass der Name der Grauen Gilde vergessen werden muss. Die zweite ist die, dass die Wermeister in Zukunft nur noch von einem Aufträge annehmen dürfen. Und zwar allein von mir, Quatzkotl, dem König der Drachen!"

***

Als Nanawok zwei Wochen später das Deck des Lastkahns betrat, der ihn nach Rotter bringen würde, fiel die Begrüßung durch Hüppes äußerst zurückhaltend aus. Der dicke Kaufmann konnte es bei aller Gutmütigkeit nicht verwinden, dass der Junge, den er vor nicht allzu langer Zeit noch so überaus nett gefunden hatte, in Wirklichkeit ein mörderischer Krieger war, der Prinzessin Jannie um ein Haar getötet hatte. Er war erst dann dazu bereit gewesen, Nanawok als Passagier zu akzeptieren, nachdem Quatzkotl ihm sehr intensiv zugeredet hatte.
Der junge Wermeister nahm die kühle Behandlung wortlos hin. Wer wollte es den Menschen in diesem Land nachtragen, dass sie mit ihm nichts mehr zu tun haben wollten? Nein! Er verstand die Leute sehr gut. Aber ihm tat die Einsamkeit gut. Er brauchte Zeit, um mit sich selbst ins Reine zu kommen und den Tod seines Vaters zu verarbeiten. In einigen Monaten würde er wieder bei seinem Volk sein und eine gute Botschaft überbringen können, denn die Existenz der Wermeister war gesichert.
Der Kahn legte plätschernd ab und überließ sich und seine Fracht der Fürsorge der Fluten des Rheins. Langsam trieb das Boot flussabwärts dahin. Nanawok sah auf und betrachtete Schloss Drachenburg, das stolz ins Tal herabblickte. Dort oben lebte König Richard mit seiner Familie. Sie alle würden sich nun endlich von all dem Leid erholen dürfen, das die Graue Gilde über sie gebracht hatte. Dabei hätten sie sich eigentlich keine Sorgen zu machen brauchen, denn Jannie war nie wirklich in Gefahr gewesen. In ihrer unendlichen Weisheit hatte die Weiße Alraune gewusst, dass Inanuk kein tumber Killer war, sondern ein intelligenter Mann, der rechtzeitig erkennen würde, dass der ihm erteilte Auftrag nicht so ausgelegt werden durfte, wie er sich auf den ersten Blick darstellte. Die königliche Familie hatte die Worte der Alraune nur nicht verstanden. Aber wie sollte sie auch, wenn selbst die lebenserfahrenen Drachen an ihrer Interpretation gescheitert waren?
Rechtzeitig bevor das Schiff eine Biegung nahm, riss der Morgennebel auf und gab den Blick auf den Drachenfels frei, dessen hohe Felsennase wie ein Mahnmal in den Himmel ragte. So war Nanawok ein letzter Blick gegönnt auf den Beginn der Alten Welt, in der die Zukunft der Wermeister lag. Eine Zukunft die sich ihnen allen erst durch den Tod seines Vaters Inanuk eröffnet hatte.
 

© W. H. Asmek
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