Geschichten von Quatzkotl von W. H. Asmek
Der letzte König

Vor langer, langer Zeit, als die Erde noch flach war wie eine Pizza, als die Sonne sich noch um die Erde drehte und das Privatfernsehen nur ein böser Schimmer am Rande des Medienhorizontes war, als Hexen und Zauberer die Nächte unsicher machten, als es noch Drachen und Elfen gab, da lebte im hintersten Winkel des Siebengebirges, just da, wo es an den Finsterwald grenzte, der edle Drachenkönig Quatzkotl mit seiner Gemahlin Cillie in einer großen und geräumigen Höhle.

Cillie hatte ihrem Gatten einen Sohn geschenkt: Einen kleinen schwarzen Drachen mit sechs Beinen. Der kleine Drache war ein ausnehmend hübsches Kerlchen. Seine stahlharten Schuppen schimmerten wie polierte Steinkohle, und seine goldenen Krallen leuchteten strahlend im Licht der Sonne. Stets war er munter und gut gelaunt, zu Streichen aufgelegt und sprang neugierig herum. Doch so nett und liebenswert der Kleine auch war. Es gab da ein Problem: Er hatte immer noch keinen Namen. Und ein Drache ohne Namen ist eigentlich kein richtiger Drache! Drachen sind ja, wie wir alle wissen, magische Lebewesen. Und zu einem magischen Wesen gehört nun einmal ein richtig magischer Name. Der einzig wirklich zu ihm passende Name. Sonst kann sich die Magie dieses Wesens nicht richtig entfalten. Der Drache wird kein richtiger Drache, der Troll bleibt ohne Kraft, die Fee ohne Schönheit, und der Nöck wird nie den magischen Klang seiner Flöte hören lassen können. So ging es auch dem kleinen schwarzen Sohn Cillies und Quatzkotls. In seinem Bauch loderte kein Feuerofen, er konnte keine andere Gestalt annehmen und wuchs auch nicht. Er blieb klein und süß - einfach entsetzlich!

Es war nun nicht so, dass seine Eltern nicht gewusst hätten, dass ihr kleiner Schatz einen Namen brauchte. Schließlich waren sie selbst magische Wesen: Hexe und Drache. Sie suchten schon lange und verzweifelt nach dem einzig passenden Namen für ihr Kind, konnten sich aber nicht auf einen einigen. Quatzkotl waren die Vorschläge Cillies nicht drachig genug. Und wer Cillie und ihr aufbrausendes Temperament kennt, der kann sich gut vorstellen, dass Cillie nie einen Namen akzeptiert hätte, der ihr nicht selber gefallen wäre. In ihrer Verzweiflung hatten sich die beiden an Winnimee, Quatzkotls Mutter, gewandt und sie gebeten, ihnen zu helfen. Die Oma des kleinen Drachen war entzückt, helfend einspringen zu dürfen. Doch so weise sie auch war, außer Kosenamen wie "Liebelein" oder "Schnutenkind", "Püppelchen", "Muselchen" oder "Männlein" kam ihr nichts in den Sinn. Wie gesagt, der Kleine war wirklich ein süßes Kerlchen. Auch Cillies Papa, der Zauberer Merling, konnte nicht helfen. Auf ihre Bitten hin, sich doch mal was einfallen zu lassen, antwortete er nur gruffig, sie wären schließlich die Eltern und sollten gefälligst ihr eigenes Hirn benutzen. Vermutlich aber fiel ihm selbst nichts Vernünftiges ein und wollte es nur nicht zugeben. 

***

Schließlich war es Quatzkotl, der diesen unwürdigen Zustand nicht länger ertragen konnte: "Ich frage jetzt Richard. Er ist unser bester Freund. Ihm fällt immer etwas ein," meinte er. Also machte er sich mit Cillie auf den Weg zum Drachenfels, wo König Richard mit seiner Familie auf seinem Schloss lebte. Oma Winnimee blieb derweil in der Drachenhöhle, um den kleinen Sechsbeiner zu hüten. Sie war zwar inzwischen selbst für einen Drachen hochbetagt, aber immer noch ein furchterregendes Ungeheuer, wie es sich eben für einen richtigen Drachen gehörte und so als Schutz-Oma gut zu gebrauchen.
Cillie, die sich als Hexe in alles und jeden verwandeln konnte, behielt ihre derzeitige Lieblingsgestalt, die sie seit sie mit Quatzkotl verheiratet war, angenommen hatte, bei: Eine wunderschöne Drachendame mit grünen Schuppen, goldleuchtenden Augen und rot schimmernden, durchsichtigen Schwingen. Selbstverständlich konnte sie auch Feuer speien wie ein richtiger Drache. Wenn sich Cillie in etwas verwandelte, dann aber auch richtig!

Beide Drachen flogen geschwind durch die Lüfte, bis sie schließlich im Burghof der Drachenburg König Richards landeten. Wenn sich zwei große Drachen aus der Luft herabsenken, geht das natürlich nicht ohne Lärm vor sich. Drachenschwingen erzeugen ein unverwechselbares Sausen und Brausen in der Luft, das den Drachenflug schon aus großer Entfernung ankündigt und nicht nur bei ängstlichen Gemütern für Angst und Schrecken sorgt. Auf dem Schloss König Richards jedoch waren die beiden Ankömmlinge jederzeit willkommen. Das Eingangsportal des Schlosses öffnete sich und König Richard trat zusammen mit seiner Gemahlin und dem Töchterchen Jannie auf den Hof. Quatzkotl und Cillie nahmen schnell menschliche Gestalt an, um ihre Freunde nach menschlicher Sitte umarmen zu können.

"Was führt euch beiden her?" fragte Jannie, die ihre Neugier nie zähmen konnte. Jannie war ein äußerst hübsches Mädchen von inzwischen acht Jahren. Goldenes Haar umspielte ihr zartes Gesicht. Es ging die Sage, dass ihre Locken dem Glück brachten, der sie berührte. Und wer Jannie gut genug kannte, wußte, dass das ganz und gar der Wahrheit entsprach. Die Magie des Siebengebirges und die Freundschaft der magischen Wesen hatten auch sie von Geburt an zu einem magisch begabten Wesen gemacht.

"Was uns herführt?" antwortete Cillie. "Nun, die Sorge um unser Kind, Jannie! Wir suchen schon viel zu lange nach dem passenden Namen für unseren Sohn. Es wird jetzt endlich Zeit, dass er ordentlich getauft wird!"
"Aber was sollen wir dabei tun?" fragte Richard bekümmert. "Wenn es in meiner Macht stünde, euch zu helfen, würde ich es sofort tun. Aber ihr wißt so gut wie ich, dass ein Drache seinen Namen nur durch seine Eltern, Großeltern oder einen anderen, mit der Familie verwandten oder gut bekannten Drachen bekommen darf. Sonst ist die Taufe ungültig!"
"Ich weiß! Es geht aber nicht mehr so weiter!" rief Quatzkotl verzweifelt. "Unser Sohn wächst nicht und wird nie ein rechter Drache werden, wenn er nicht bald seinen Namen bekommt. Bald wird die magische Kraft, die Cillie und ich ihm bei seiner Geburt mitgegeben haben, versiegen. Wenn er bis dahin nicht seine eigene Magie entfaltet hat, wird er sterben! Das würde ich nicht ertragen!"
"So ernst steht es?" stieß Richards Gemahlin entsetzt hervor. Richard und Jannie schwiegen betroffen. So gravierend hatten sie die Lage nicht eingeschätzt. Der kleine schwarze Drache schwebte in Lebensgefahr. Das war ja schrecklich!
Schließlich war es Jannie, die eine Idee hatte: "Laßt uns die Weiße Alraune fragen!" schlug sie vor. "Sie weiß auf alles eine Antwort!"
"Das ist die Idee!" riefen Cillie und Quatzkotl wie aus einem Munde.
"Allerdings," warf Richard ein, "sind die Worte der Weißen Alraune schwer zu deuten. Wir müssen alle höllisch aufpassen, dass wir kein Wort falsch verstehen."
"Dann sollten wir so viele Zuhörer wie möglich sein, um ganz sicher zu sein. Alle unsere Freunde müssen mitgehen!" schlug Cillie vor. "Je mehr Zuhörer wir sind, um so besser! Mein Paps wird einen Telegrammsud brauen, der all unsere Freunde benachrichtigt."
"Du hast recht, Cillie," stimmte Quatzkotl zu. "Wenn wir sie alle persönlich aufsuchen wollten, würde zuviel Zeit vergehen."
Die Hexe und der Drache gaben ihren menschlichen Freunden die Hände und verwandelten sich zurück in Drachen. Jannie, Richard und seine Gemahlin stiegen auf den Rücken von Quatzkotl. Danach ging es ab mit Gebraus zum Haus des Magiers Merling.

***

Merling wohnte in einer kleinen Hütte inmitten des Siebengebirges, genau da, wo der Wald am dichtesten stand. Wer zu ihm wollte, musste dies zu Fuß, unbewaffnet und allein tun. Sonst wurde er von Merling nicht empfangen. Bei seiner Familie machte er natürlich eine Ausnahme. Aber nicht gerne! Er war schon ein seltsamer Kauz, der Magier.

"Was wollt ihr denn hier?" rief er ihnen ungnädig zu, als die Drachen mit ihren Passagieren zur Landung ansetzten. "Nie hat man seine Ruhe!"
"Paps, wir haben keine Zeit für deine Allüren!" fuhr ihm Cillie dazwischen. Außer ihr wagte kein Wesen, dem alten Zauberer zu widersprechen. Die Gefahr, von ihm blitzschnell in eine Kröte verwandelt zu werden, war einfach zu groß.
"Was wollt ihr denn?" brummelte der Alte.
Cillie erklärte es ihm: "Wir wollen zur Weißen Alraune. Wenn wir nicht bald den einen Namen für unseren Sohn finden, sind wir die längste Zeit Eltern gewesen. Und du wirst ein Ex-Opa sein, Paps! Also los, mach einen Telegrammsud, damit wir alle unsere Freunde benachrichtigen können!"
Merling seufzte ergeben. Gegen seine Tochter kam er sowieso nicht an. Und außerdem hatte sie auch Recht. Aus einer Ecke seiner Behausung zog er unter großem Geächze und Gestöne ein fürchterliches Instrument: Seinen inzwischen schon legendären Kochtopf, in dem er unterschiedlichste Hexengebräue zusammenmixte.
Richards Gemahlin kannte den Topf nur vom Hörensagen. Als sie einen kurzen Blick auf den völlig verdreckten Kübel geworfen hatte, verdrehte sie die Augen und war einer Ohnmacht nahe.
"Oh Gott!" seufzte sie, drehte sich so schnell es eben noch ging um und wankte, gestützt von ihrem Gemahl, auf den Rand des Waldes zu. Keine ordentliche Hausfrau kann eben den Anblick von Merlings Topf ertragen.
"Kleingeister, erbärmliche!" knurrte Merling, der das Zwischenspiel mit angesehen hatte, wütend. "Diese Frauen! Keine Ahnung von den Grundlagen der Magie!"

Cillie hielt sich zurück. Wußte sie doch, dass der Dreck absolut nichts mit Magie zu tun hatte, sondern lediglich mit Faulheit. Ihr Vater hatte nämlich nur keine Lust, das Ding sauber zu halten. Sie wunderte sich, dass seine Zaubereien überhaupt funktionierten.
"Wir möchten gerne, dass El Pitto Gnomo, Lisa, Winnimee und unser Sohn die Nachricht empfangen. Sie sollen so schnell wie möglich zu uns kommen."
Der kleine Magier nickte und begann damit, den Topf mit allerlei Zeugs aufzufüllen. Scheinbar wahllos griff er in die Taschen seines Umhangs, um seltsame Dinge herauszuholen. "Telegrammsud!" brummelte er. "Hab ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht. Was gehört da denn noch rein?" Er kratzte sich kurz am Kopf, hatte eine Erleuchtung und machte weiter. "Hmmm! Fliegendarm, denn Fliegen kommen überall herum. Sonnengetrocknete Krähenaugen, denn Krähen sind schnelle Flieger. Eine Unze Unkenschleim, denn die kommen auch im Sumpf herum. Geröstete Stinktierdrüsen, denn die kommen in jede Ritze." Während Merling brabbelnd eine greuliche Zutat nach der anderen in den Topf warf,  kämpfte Richards Gattin mit ihrem Magen. Die anderen standen mehr oder weniger ungeduldig herum. Niemand wagte es, den Alten zu stören. Alle wußten, wie unleidlich er werden konnte, wenn er seiner Arbeit nicht in Ruhe nachgehen konnte.
Endlich war der Kessel gefüllt. Merling kippte noch einige Liter einer undefinierbaren, übelriechenden Flüssigkeit hinein und entfachte ein kräftiges Feuer, das das Ganze erhitzen sollte.
Vorsichtshalber traten alle einige Schritte zurück, denn Merlings Zaubereien pflegten üblicherweise in lauten Explosionen zu enden, in deren Folge neugierige Zuschauer mit den seltsamen Innereien Merlings Topfes überschüttet wurden, wenn sie nicht aufpaßten.
Diesmal kam es jedoch ganz anders. Der Inhalt des Topfes begann zunächst wie üblich zu brodeln. Dumpfe Gerüche stiegen auf. Selbst Quatzkotl und Cillie wurde es schlecht. Nur Merling stand mit verzücktem Gesicht dabei.
"Es klappt!" rief er. "Gleich passiert‘s!"
Und es passierte: Vor aller Augen hob der Kessel vom Boden des Waldes ab und schoß mit hoher Geschwindigkeit wie eine Rakete in den Himmel, wo er dann seinen Inhalt in einer gewaltigen Explosion über alle Lande verteilte.
"Mensch! Haben wir schon Silvester?" staunte Richard.
"Banause!" tobte Merling los. "Hast du denn keine Achtung vor meiner Kunst? Außer mir gibt es niemanden auf der Welt, der einen verläßlichen Telegrammsud zustande bringt. Denkst du denn..."
"Vorsicht!" rief Cillie. "Der Kessel!"
Doch Merling hatte sich in Eifer geredet: "Unterbrich mich nicht, Kind!" wies er sie zurecht. "Das Schwierigste ist..."
Doch niemand bekam mehr mit, was das Schwierigste war. Merling schwieg nämlich abrupt: Der Topf war, der Schwerkraft folgend, wieder herabgestürzt und hatte seinen Herrn und Meister mit lautem Ploff unter sich begraben.
"Ummf!" schimpfte dieser und zappelte mit den Beinen, die gerade noch unter dem Kübel hervorlugten.
Mühevoll zogen alle den Magier unter dem Topf hervor. Als Merling aus seinem seltsamen Gefängnis befreit war, schaute er seine Besucher mit finsterer Miene an. Doch diese bemühten sich nach Kräften, nicht zu lachen oder sonstwie ihrer Heiterkeit Ausdruck zu verleihen. Heldenhaft unterdrückten Sie selbst das kleinste Schmunzeln.
"Na dann laßt uns mal auf den Weg zur Alraune machen!" schlug er vor. "Der Sud tut jetzt seine Arbeit. Da sollten auch wir nicht Däumchen drehen!"

***

Die Weiße Alraune war in einer geräumigen Höhle untergebracht. Strenggenommen handelte es sich gar nicht um die Weiße Alraune, sondern vielmehr um einen ihrer Ableger. Aber das spielte keine Rolle, denn die Mutterpflanze war seinerzeit in der Pergotzkatl-Höhle zurückgeblieben. Niemand wußte, ob sie überhaupt noch lebte, denn bereits damals war es ihr sehr schlecht gegangen. Der Ableger allerdings hatte sich im Laufe der letzten Jahre zu einer kräftigen Pflanze entwickelt, die ihre Wohnhöhle mit sanftem Licht erfüllte. Die Weiße Alraune war eine unermeßlich wertvolle Pflanze, denn sie wußte auf alle Fragen die richtige Antwort. Deshalb hatte man ihr auch einen Wächter gegeben, der sie vor aller Unbill zu schützen hatte: Knurps, den Troll. Als unsere Freunde an der Höhle der Alraune eintrafen, wurden sie von Knurps empfangen:
"Halt wer da? Freund oder Feind?" grollte er mit seinem abgrundtiefen Troll-Baß.
Natürlich hatte er die Ankömmlinge sofort erkannt. Aber er war von der Wichtigkeit seiner Aufgabe völlig durchdrungen und wollte allen zeigen, dass er seine Rolle als Wächter der Alraune ernst nahm.
"Freund, natürlich!" antwortete ihm Quatzkotl.
Knurps tat, als habe er die anderen erst jetzt erkannt und gab mit freundlichem Grinsen den Eingang zur Höhle frei. Oder vielmehr: Sein Grinsen sollte freundlich sein. Knurps war inzwischen ein völlig ausgewachsener Troll, der mit seinem riesigen kantigen Schädel jeden Mann um zwei Köpfe überragte. Sein breiter wulstlippiger (na ja) Mund beherbergte zwei Reihen grober gelbbrauner Zähne, die zur Not auch Steine zermalmen konnten. Zwei lange muskelbepackte Arme, die in grabschaufelgroßen Händen endeten, sowie zwei kurze und kräftige Beine rundeten das Bild des schrecklichen Trolls ab. Außerdem war Knurps am ganzen Körper dicht behaart. Seine rechte Faust war aus Stein, da sie vor einigen Jahren einmal von der Sonne gestreift worden war. Trolle können kein Sonnenlicht vertragen. Knurps hatte damals großes Glück gehabt, dass er dieses Abenteuer überhaupt überlebt hatte.

Gerade als sich alle anschickten, die Höhle zu betreten, erhob sich ein Sausen und Brausen in der Luft: Winnimee, Quatzkotls Mutter, setzte zur Landung an. Auf ihrem Rücken befanden sich Lisa, die ehemalige Roggenmuhme, El Pitto Gnomo, der Anführer der Finsterwaldkobolde und der kleine schwarze Sohn Cillies und Quatzkotls. Er konnte trotz seiner Flügel noch nicht fliegen. Auch hier zeigte sich, dass ein Drache ohne Namen kein richtiger Drache war. Lisa und El Pitto Gnomo mochten sich sehr, hatten aber bisher noch nicht geheiratet. Warum nicht, das konnten sie nicht erklären. Aber irgendwann, da waren sich alle einig, würden auch diese beiden im Hafen der Ehe anlegen.

Schließlich hatten sich alle in der Höhle der Alraune versammelt. Quatzkotl trat vor und sprach: "Weiße Alraune. Wir haben eine Frage auf dem Herzen, die uns alle bedrückt..."
"Der soll die Frage stellen, den sie auch betrifft!" verlangte die Alraune sanft, aber bestimmt. "Lasse also deinen Sohn sprechen!"
"Du weißt um unsere Sorgen, Alraune?" fragte Quatzkotl erstaunt.
"Ich kenne die Antworten auf alle Fragen!" gab die Alraune zurück. "Also kenne ich auch die dazugehörigen Fragen!"
Quatzkotl schaute seinen Sohn liebevoll an. Dieser reckte seine kleine Gestalt und sprach:
"Weiße Alraune, ich bin ein kleiner Drache und möchte gern ein so großer starker Drache werden wie mein Papa. Solange ich aber meinen Namen noch nicht habe, kann ich das nicht. Bitte sage mir, wie ich an den einen richtigen Namen kommen kann!"

"Gehe zur Hydra und sage ihr ‘Atlantis muss untergehen’. Zwei Begleiter auf diesem Wege sind dir erlaubt: Nicht Mann, nicht Frau, nicht verwandt, aber bekannt!"
Als die Alraune schwieg, sagte Cillie, die ihr Temperament wieder einmal nicht zügeln konnte: "War das alles? Was sollen wir mit einer solchen Antwort anfangen? Ich habe nichts verstanden!"
Sich allgemein erhebendes Gemurmel zeugte davon, dass die anderen ihre Meinung teilten.
"Die Frage ist ganz und gar beantwortet!" gab die Alraune ungerührt zurück. "Mehr ist nicht zu sagen!"
Von da an schwieg sie sich aus. Als alle einsahen, dass nichts mehr aus ihr herauszuholen war, verließen sie frustriert die Höhle.

***

"Niemand hat gesagt, dass die Worte der Alraune immer leicht zu verstehen sind!" sagte Lisa schließlich, die sich als Erste wieder gefangen hatte. Kein Wunder, war sie doch über viele Jahrhunderte hinweg die Wächterin der Ursprungsalraune gewesen.
"Wir wissen nun," fuhr sie fort, "dass der kleine Drache seinen Namen bekommen kann. Er muss allerdings zuerst die Hydra aufsuchen und ihr die Nachricht übermitteln, dass Atlantis untergehen muss. Dabei dürfen ihn zwei Personen begleiten, die weder mit ihm, noch untereinander verwandt sein dürfen, sich aber kennen müssen!"
"Ja," lebte Cillie sichtlich auf, "und außerdem dürfen sie weder Mann noch Frau sein."
"In der Tat," grummelte Merling. "Man darf nur den Mut nicht sinken lassen! Laßt uns weiter überlegen. Vielleicht kommen wir noch auf die Lösung!"
"Kann mir mal jemand sagen, wer oder was denn um alles in der Welt die Hydra ist?" fragte Richard. "Der Name klingt sehr gefährlich und schrecklich. Ist die Hydra vielleicht ein Ungeheuer?"
Quatzkotl wiegte seinen Kopf: "Mir ist, als hätte ich diesen Namen schon einmal in meiner Kindheit gehört. Das ist aber auch alles!"
Schließlich war es Winnimee, die die Spannung löste.
"Die Hydra ist eine Drachendame, mit der Pergotzkatl lange Zeit eng befreundet gewesen war. Sie genoss damals einen so zweifelhaften Ruf, dass sich der Drachenältestenrat entschloss, Pergotzkatl aufzufordern, seine Verbindung zu ihr zu lösen. Immerhin war Pergotzkatl seinerzeit der König der Drachen und die Verbindung zur Hydra in keiner Weise standesgemäß. Pergotzkatl kam dieser Aufforderung schweren Herzens nach und heiratete schließlich mich. Wir waren sehr glücklich miteinander, bis eines Tages der Herr von Altena mit seinem Zauberschwert kam."
Sie schwieg bewegt. Alle ließen ihr Zeit, ihren Kummer zu überwinden. Schließlich war es Jannie, die sie fragte: "Und was ist aus der Hydra geworden?"
"Es gab damals Gerüchte, dass die Hydra nach Atlantis gegangen und vor Kummer gestorben sei."
"Sie muss aber noch leben!" warf Quatzkotl ein. "Unser Sohn soll ja mit ihr sprechen!"
Winnimee sah ihren Enkel liebevoll an. 
"Ja, so wird es sein. Aber wer soll mein Püppelchen begleiten?"
"Hm," überlegte Quatzkotl. "Nicht Mann, nicht Frau, nicht verwandt und doch bekannt. George ist weder Mann noch Frau. Er ist ein Geist! Und Mischa ein Skelett. Beide erfüllen alle Anforderungen!"
"George ist aber an mein Schloss gefesselt," gab Richard zu bedenken. "Als Gespenst darf er es nicht verlassen. Er muss an dem Ort bleiben, an dem er gestorben ist. Und Mischa würde als Skelett überall großes Aufsehen erregen. Ich glaube nicht, dass die beiden als Begleiter in Frage kommen."
"Wie wäre es mit mir?" fragte Jannie, der gerade eine Idee gekommen war. "Ich bin ein Kind, also noch keine Frau. Ich kenne den kleinen Drachen, bin aber nicht mit ihm verwandt. Außerdem hätte ich große Lust auf ein Abenteuer. Na, darf  ich oder nicht?"
"Ausgeschlossen!" riefen da Richard und seine Gemahlin im Chor. "Wir werden das nie und nimmer zulassen!"
"Ach bitte!" bettelte Jannie. "Ich hätte so eine Lust dazu!"
"Wie wäre es, wenn wir ihr einen starken Begleiter mitgeben?" schlug El Pitto Gnomo vor. 
"Wer sollte das sein?" fragte Merling. "Weder Mann noch Frau heißt es!"
"Ha!" rief Cillie aus. "Ist ein Troll eigentlich ein Mann?"
Knurps fühlte sich angesprochen.
"Troll kein Mann!" stellte er fest. "Troll ist Troll. Aber Sonne nicht gut!"
Richard blickte die Königin an. Sie nickte.
"Wir könnten uns vorstellen, Jannie ziehen zu lassen, wenn Knurps bei ihr wäre. Aber die Sonnenempfindlichkeit des Trolls ist ein ernstes Hindernis. Außerdem braucht er anständige Kleidung. Im Schloss würden wir aber schon etwas für ihn finden."
"Das mit der Sonnenempfindlichkeit ist für mich kein Problem!" behauptete Merling. "Ich braue einen Trank..."
"Um Himmels Willen! Bloß das nicht!" bat Richards Gemahlin. Schon der Gedanke an den schlimmen Topf bereitete ihr Unbehagen.
"Na gut! Dann seht doch zu, wie ihr klar kommt!" brummte Merling beleidigt. "Ich sage jetzt gar nichts mehr!"

Die ehemalige Muhme Lisa hatte schließlich die richtige Idee. Sie begann ihren eigentümlichen Zaubersingsang anzustimmen: "Eene meene muh, gut Freund seid ihr, die Sonne und du!" sang sie, wobei sie Knurps anschaute. Der Troll würde nun keine Schwierigkeiten mehr mit dem Licht der Sonne haben.
Alle waren erleichtert, dass alle Probleme aus der Welt geschafft waren und der kleine Drache nun seine Chance bekommen würde, den einen richtigen Drachennamen zu finden, der zu ihm passte.

***

Jeder weiß, dass Atlantis eine Insel war, die früher einmal inmitten des Grünen Ozeans, gleich hinter dem Nördlichen Eismeer lag. Eine Insel erreicht man am besten mit einem Schiff oder auf dem Rücken eines Flugdrachens. Das ist auch klar. Da der kleine Drache, Jannie und Knurps aber bei ihrer Reise ohne die Hilfe ihrer Eltern auskommen mussten, schied die Reise auf einem Flugdrachen aus. So blieb nur noch die Fahrt mit einem Schiff. Zum Glück war das kein großes Problem. Unterhalb des Drachenfelses erstreckte sich eine weite und fruchtbare Ebene, die von den Untertanen König Richards bewirtschaftet wurde. Die Fruchtbarkeit des Landes hatte ihren Ursprung in dem großen Fluss, der sie dicht unterhalb des Drachenfelses durchquerte. Er sorgte für ausreichende Feuchtigkeit, milde Winter und warme Sommer. Die Bauern des Tales dankten es diesem Fluss, indem sie ihn Vater nannten: Vater Rhein. Der Rhein bot sich auch als Verkehrsweg an, auf dem Leute reisen und Waren transportiert werden konnten. Viele Kaufleute hatten die Vorteile des bequemen Reisens auf dem Fluss entdeckt und kamen mit ihren Schiffen in das Tal, um den Bauern ihre Erzeugnisse abzukaufen. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen. Der Handel blühte.

Richard begleitete die drei Abenteurer hinunter in das Tal, um nach einem Kaufmann Ausschau zu halten, der sie mitnehmen konnte. Er hatte Glück.
"Vor einigen Tagen," so berichtete ihm der Dorfschulte des Bauerndorfes, "ist einer der reichsten Kaufleute gekommen, die mit uns Handel treiben. Er wird morgen wieder abreisen. Ich könnte mir vorstellen, dass er noch Platz an Bord seines Schiffes hat."
"Ist er vertrauenswürdig?" wollte Richard wissen.
"Aber unbedingt!" versicherte der Schulte. "Seht selbst, mein König. Ich werde Euch mit ihm zusammenbringen."
Er brachte Richard, Jannie, den Drachen und Knurps zum Schiff des Kaufmanns, das am Rheinufer vor sich hindümpelte. Die Schiffersleute verstauten gerade die letzten Waren. Einer der Männer gab den Leuten ruhige und klare Anweisungen, die auch sofort befolgt wurden. Er musste der besagte Kaufmann sein. Als er die Ankömmlinge bemerkte, kam er ans Ufer und stellte sich vor.
"Guten Tag, Herrschaften," sagte er. "Ich bin Hüppes, Kaufmann, Reeder und Freund aller netten Menschen! Darf ich fragen, was ich für euch tun kann?"
Hüppes war etwa einen Meter und sechzig Zentimeter klein und fast ebenso breit. Jannie mochte keine fetten Menschen, aber Hüppes strahlte eine so echte Herzlichkeit aus, dass sie ihn augenblicklich in ihr Herz schloss. Wenn dieser Mann kein gutes Herz hatte, dann niemand!

Richard stellte sich und die drei anderen vor: "Ich bin König Richard, der Herrscher dieses Landes. Das hier ist Jannie, meine Tochter, dieser dort ist Knurps, ihr Leibwächter!" Den kleinen Drachen erwähnte er nicht. Sollte Hüppes sich seine eigenen Gedanken machen. "Meine Tochter muss nach Atlantis reisen. Siehst du eine Möglichkeit, ihr eine entsprechende Passage zu bieten?"
Hüppes schaute sich die Ankömmlinge genau an. Von König Richard hatte er schon einiges gehört. Kein Wunder. War er doch der Herrscher der Bauern, mit denen er gute Geschäfte machte. Der König galt als ehrlicher und rechtschaffener Mann. Die Königstochter Jannie war wirklich so schön, wie sich die Leute erzählten. Vor allem ihr prachtvolles Haar fiel ihm auf. Hüppes wunderte sich, dass der König ihm seine Tochter so ohne weiteres anvertrauen wollte. Naja, da war ja noch der Leibwächter, dieser Knurps. Alle Wetter! Das war ja ein riesenhafter Kerl! Er hatte in dieser Gegend schon viele seltsame Gerüchte über Wunderwesen wie Drachen, Hexen und Trolle gehört. Hüppes ließ den Leuten normalerweise ihren Spleen, wenn sie einen hatten. Warum sollte er Menschen, mit denen er gute Geschäfte machen, dadurch verärgern, dass er mit ihnen über ihre Hirngespinste stritt? Er selbst glaubte natürlich nicht an diese Phantastereien. Aber dieser Riese hier wies die typischen Merkmale eines Trolls auf. Aber das war natürlich Unsinn. Jeder wußte, dass Trolle am liebsten kleine Mädchen fraßen. Dieser hier aber sollte sogar auf eins aufpassen. Der König war bestimmt nicht so dumm, den Bock zum Gärtner zu machen. Ach was! Was dachte er da für einen Quatsch zusammen? Trolle gab es doch gar nicht! Dann fiel sein Blick auf das kleine schwarze Tier, das neben Jannie stand: Sechs Beine, Schuppen anstelle eines Fells und einen langen Schwanz. Was war das denn nun wieder?

"Das ist aber ein komischer Hund!" platzte er heraus. "Wie heißt er denn?"
"Wuff!" antwortet Jannie mit einem Lächeln, das alle Bedenken Hüppes dahinschmelzen ließ. Wie von selbst legte er seine rechte Hand auf den Kopf des Mädchens und strich ihm über das Haar. Jannie ließ ihn gewähren. Sie war sich sicher, dass der Kaufmann sie mitnehmen würde. Was sollte ihm da ein bisschen Glück schaden? Richard fühlte, dass Hüppes wirklich ein ehrlicher Mann war. 
"Was soll die Überfahrt nach Atlantis kosten?" wollte er wissen.
"Ihr habt Glück, König Richard. Ich habe vor, nach Atlantis weiterzureisen, wenn ich wieder im Seehafen von Rotter angekommen bin. Ich werde Eure Tochter persönlich hin und wieder zurückbringen. Zwei Goldstücke erscheinen mir angemessen!"
Zwei Goldstücke waren für die damalige Zeit enorm viel Geld. Für diese Summe konnte man sich fast einen ganzen Bauernhof mit allem Vieh, Werkzeug und Gesinde kaufen. Richard schluckte. Aber es war ihm die Sache wert. Außerdem taten ihm die beiden Goldstücke nicht weh. Er zog seinen Geldbeutel und zählte Hüppes den Betrag auf die Hand.
Dieser bedankte sich artig und bat Jannie, ihren "komischen Hund" und Knurps an Bord seines Schiffes.
Schweren Herzens ließ Richard seine Tochter ziehen und ritt zurück auf sein Schloss. Hoffentlich ging alles gut!

***

Das Flussschiff legte am nächsten Morgen ab und trieb rheinabwärts davon. Die Reise auf einem Fluss war recht angenehm. Ruhig zog das Ufer vorbei. Jannie, der kleine Drache und Knurps saßen an Deck und schauten sich um. Hüppes erwies sich als angenehmer Gastgeber. Er versorgte seine Fahrgäste mit allem, was die Bordküche oder Kombüse, wie die Schiffer sagen, hergab. Zudem besaß er einen schier unerschöpflichen Vorrat an lustigen Geschichten, die er zum Besten gab. Insgesamt waren sie sieben Tage unterwegs. Als sie schließlich in der Hafenstadt Rotter angekommen waren, waren sie alle gute Freunde geworden.

Das Flussschiff legte am Rumpf eines weitaus größeren Schiffes an, dem man schon von weitem ansehen konnte, dass es nicht für eine Fahrt auf einem Binnengewässer sondern für die Hochsee ausgelegt war: Zwei große Masten reckten sich stolz in den Himmel, und eine große Heckgalerie mit großen Panoramafenstern versprach geräumige Unterkünfte für Besatzung und Passagiere.
"Das ist die Undine, mein Schiff!" erklärte Hüppes. "Außer ihr besitze ich noch zwei weitere Handelsschiffe. Aber die Undine ist mein schönstes!"
Jannie war hingerissen von dem stolzen Segler. Sie war außer sich vor Freude. Bald würde sie mit der Undine nach Atlantis segeln und tolle Abenteuer erleben.
"Wann geht es los?" wollte sie wissen.
Hüppes schmunzelte. Er mochte die kleine Prinzessin mit dem Goldhaar. 
"Morgen bei Sonnenaufgang hat die Flut ihren Höchststand erreicht. Mit Eintritt der Ebbe legen wir ab. Dadurch haben wir noch Zeit für einen Stadtrundgang. Rotter ist eine sehr interessante Stadt. Ihr solltet sie zumindest einmal im Leben gesehen haben. Kommt mit!"

Hüppes schwang sich mit einer Behendigkeit, die man seinem kleinen runden Körper kaum zugetraut hätte, über die Bordwand, kletterte eine Strickleiter hinauf und stand kurz danach an Land. Jannie machte es ihm nach. Knurps aber packte sich den kleinen Drachen unter den Arm und sprang aus dem Stand ans Ufer. Die Leiter brauchte er nicht.
"Donnerwetter!" entfuhr aus Hüppes, dem ein solcher Sprung noch nicht untergekommen war. Dieser behaarte Riese hatte einiges drauf!

***

Die Stadt Rotter erwies sich für ein achtjähriges Mädchen als nicht halb so interessant wie für einen Erwachsenen. Hüppes wies sie immer wieder auf dieses Bauwerk und jene technische Meisterleistung hin. Jannie nickte pflichtschuldig und tat so, als wäre sie ganz aufmerksam. In Wirklichkeit aber schweifte sie immer wieder ab. Ihre Gedanken kreisten nur um eins: Atlantis und die Hydra. Was mochte sie da erwarten?

"Die Rotteraner bauen gerade an einem riesigen Damm, der die Stadt für alle Zukunft vor Sturm- und Springfluten schützen soll!" erklärte Hüppes gerade. "Wer weiß, wenn der Damm fertig ist, nennen sie ihre Stadt vielleicht Rotterdam!" Er begann zu lachen, als habe er einen guten Witz gemacht. Plötzlich aber verfinsterte sich sein vergnügtes Gesicht.
"Oh nein! Bloß das nicht!" flüsterte er leise und bog flink von der Hauptstraße in eine schmale Nebengasse ein. 
Jannie verstand Hüppes überraschende Reaktion nicht. Schnell schaut sie in die Richtung, in die dieser eben noch geblickt hatte. Dort gab es aber nichts Besonderes zu sehen. Nur einen großen Mann mit einem hohen Hut auf dem Kopf und einem schmalen, strengen Gesicht war da. Sonst nichts.

Hüppes behielt von nun an einen seltsamen Zickzackkurs bei, als wolle er irgendwelchen unsichtbaren Gefahren ausweichen. Als sie schließlich wieder im Hafen bei der Undine angekommen waren, fühlten sich alle ehrlich müde. Jannie erinnerte sich aber noch gut an die seltsame Gestalt, denn sie hatte sie noch häufiger gesehen. Ihr schien es, als ob nicht nur Hüppes, sondern auch die anderen Menschen in Rotter einen Bogen um diesen Mann machten; denn immer, wenn die hagere, beinah pfahldünne Silhouette auftauchte, wichen ihr die Menschen aus, wie ein Heringsschwarm, der einen alten grauen Hai geortet hat.
"Wer war dieser Mann, vor dem du dich versteckt hast, Hüppes?" erkundigte sich Jannie.
"Welcher Mann?" fragte der sonst immer so freundliche Kaufmann barsch zurück.
"Na der, der uns immer wieder begegnet ist!"
"Unsinn! Das hast du dir nur eingebildet. Und jetzt geh’ schlafen, Prinzessin!" forderte er sie auf. "Wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns!"
Jannie gab es auf. Offensichtlich war Hüppes nicht bereit, über diesen seltsamen Fremden zu sprechen. Dieses Verhalten paßte aber gar nicht zu ihm. Nachdenklich schlief sie ein. 

***

Am nächsten morgen stach die Undine wie vorgesehen in See. Sie verließ den Hafen Rotters und nahm dann nördlichen Kurs in Richtung des großen Eismeeres, das man erreichen musste, um Atlantis zu finden. Jannie stand am Bug des Schiffes, um sich den erfrischenden Seewind um die Nase wehen zu lassen. Knurps war wie üblich an ihrer Seite und ließ sie nicht aus den Augen. Der kleine Drache sprang mit dem Schiffshund herum, und Hüppes war wieder ganz der Alte. Sein gutmütiges Gesicht mit den kleinen Lachfalten strahlte mit der Sonne um die Wette.
"Dafür lohnt es sich zu leben!" lachte er laut. "Ein gutes Schiff unter den Füßen, eine frische Brise in den Segeln und über allem die Sonne. Herz, was willst du mehr?"
Dass der Bauch der Undine bis unters Deck mit wertvollen Waren gefüllt war, verschwieg er. Kein Kaufmann wird jemals zugeben, dass es ihm gut geht. Hüppes machte da keine Ausnahme. Er hatte in allem eine glückliche Hand und konnte sich auch darüber freuen. Ansonsten handelte er nach dem Wahlspruch: Reden ist Silber und Schweigen ist Gold. Er war mehr für Gold!
"Ich habe noch nie ein so schönes Schiff gesehen!" gab Jannie zu.
"Da müßtest du erst mal die Schiffe der Atlanter sehen!" schwärmte Hüppes. "Gegen Atlanterschiffe wirkt meine Undine wie ein Äppelkahn. Sie alle haben durch die Bank drei Masten und einen Tiefgang von neun Fuß. Dabei sind sie schnell wie der Wind und wendig wie ein Delphin. Ja, die Atlanter sind die geborenen Schiffsbauer und Seeleute!"

Als sie den nördlichsten Punkt ihres Kurses erreicht hatten, wies Hüppes seinen Steuermann an, einen östlichen Kurs einzuschlagen.
"Segel Backbord voraus!" rief da der Ausguck im Krähennest, wie die Seeleute die kleine Aussichtsplattform auf der Spitze des Hauptmastes nannten.
"Hmmm!" brummte Hüppes. "Ein Segel in diesen Breiten kann nichts Gutes bedeuten! Hoffentlich sind das keine Piraten!"
In diesem Moment präzisierte der Ausguck seine Meldung: "Walfänger! Er nimmt Kurs auf uns. Er hisst die Gelbe Flagge!"
"Was heißt das?" fragte Jannie, ganz aufgeregt auf einem Bein hüpfend.
"Das heißt, dass der Kerl uns um Hilfe bittet," erklärte Hüppes. "Ich fürchte nur, dass es ein ganz bestimmter Walfänger ist. Und mit dem möchte ich eigentlich nichts zu tun haben. Ich würde aber gegen die Gesetze der Seefahrt verstoßen, wenn ich ihm das Hilfegesuch abschlagen würde. Am liebsten würde ich mich schleunigst aus dem Staub machen."

Der Walfänger näherte sich schnell. Er war deutlich kleiner als die Undine und sehr alt. Jetzt ging eine ganze Serie von Signalwimpeln am Signalmast hoch. Bunte, unterschiedlich geformte Fähnchen flatterten im Wind. Der Signalgast der Undine, also der Matrose, der dafür zuständig war, die unterschiedlichen Flaggensignale zu lesen, buchstabierte laut: "Walfänger Péqod, Kapitän Ahab. Frage: Habt ihr einen weißen Wal gesehen?"
"Um Gottes Willen!" stöhnte Hüppes. "Jetzt ist es geschehen. Sind wir diesem Kerl doch noch begegnet! Na, dann nehme das Unheil seinen Lauf!"
An den Signalgasten gewandt sagte er: "Signalisiere zurück, dass wir keinen weißen Wal gesehen haben!"
Doch der Walfänger ließ sich nicht abschütteln. Wieder flatterte eine neue Reihe von Wimpeln.
"Kapitän Ahab bittet um die Ehre, an Bord kommen zu dürfen!" übersetzte der Matrose der Undine.
"Na, dann muss ich ja wohl!" stöhnte Hüppes.
Am Walfänger wurde ein kleines Beiboot in die See gelasssen. Zwei Männer stiegen ein. Jannie erkannte in einem von ihnen zweifelsfrei den hageren Mann aus Rotter, dem Hüppes wiederholt so verzweifelt ausgewichen war. Der andere Mann nahm die Ruder in die Hand und legte sich in die Riemen. Schnell kam das Boot näher.
"Lasst das Fallreep hinunter!" ordnete Hüppes an. 
Das Fallreep, sah Jannie, war eine Strickleiter mit Holzverstrebungen, die sie schon in Rotter gesehen hatten. Da war das Boot auch schon längsseits gegangen und legte an.

***

Zuerst erschien ein hoher Hut über der Reling, gefolgt von einem hageren, eisgrauen Gesicht, das von zwei Augen beherrscht wurde, die kalt und tot wie zwei Kieselsteine ihre Umgebung musterten. Eine große Hakennase, die sich über einem harten, schmalen und fast lippenlosen Mund erhob und ein grauer Kinnbart rundeten den bemerkenswerten Kopf ab. Der Rest des Körpers war ganz einfach pfahldünn, erschreckend lang und abgesehen davon, dass ihm ein Bein fehlte, das durch eine weiße Prothese ersetzt war, ganz normal. Kraftvoll schwang sich der Fremde an Bord der Undine. Ihm folgte der Ruderer. Ein riesiger muskelbepackter Kerl, der trotz der frischen Luft des Nordmeeres keine Oberbekleidung trug. Er war am ganzen Körper tätowiert. Selbst das Gesicht und der haarlose Schädel waren über und über mit seltsamen Ornamenten bedeckt. In der rechten Hand trug er einen massiven Holzschaft, an dem eine lange Eisenstange befestigte war, die in einer breiten Spitze mit Widerhaken endete: Eine Harpune.
"Ich bin Kapitän Ahab," verkündete der Hagere mit einem tiefen Bass. "Und das hier ist Quickquäck, mein Erster Harpunier." 
Gefühllos ließ er seinen Kieselblick über die versammelte Mannschaft der Undine schweifen. Jannie lief es eiskalt den Rücken herunter. Ahab strahlte eine Kälte und Härte aus, die sie fast an Xusia erinnerte, den bösen Zauberer, der sie einst entführt hatte.
"Habt Ihr einen weißen Wal gesehen?" fragte Ahab. "Er heißt Moby Dick und ist gefährlich wie der Teufel persönlich. Ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, ihn zu fangen und zu töten!"
"Wir haben keinen weißen Wal gesehen. Ganz bestimmt nicht!" versicherte Hüppes eilig.
Ahab blickte den Kaufmann seelenlos an.
"Wenn du es sagst, Dicker, dann wird es wohl so sein. Ich bin aber nicht nur wegen des Wales hier, sondern auch, weil ich zusätzliche Männer brauche, die mich bei meiner Suche unterstützen."
Er ließ seine Augen über die versammelte Mannschaft der Undine schweifen. Auf Knurps blieb sein Blick ruhen.
"Bist du so stark, wie du aussiehst, Kerl?" fragte er.
"Knurps stark!" gab dieser grinsend zurück. Er freut sich immer, wenn er auf seine Körperkraft angesprochen wurde, denn die hatte es in sich.
Ahab nickte Quickquäck kurz zu. Dieser hob die Harpune kurz an und warf sie mit einem lauten Aufschrei über Bord auf den Walfänger zu. Das Wurfgeschoß überwand die gewiß einhundert Klafter breite Strecke in kürzester Zeit und schlug mit Macht im Rumpf des Schiffes ein, wo sie zitternd stecken blieb.

Die Matrosen der Undine reagierten auf diesen mächtigen Wurf mit lauten "Bravo- Bravo-Rufen". Lautes Applaudieren begleitete ihre Lobesrufe. Sie waren die harte Arbeit auf einem Schiff gewohnt und wussten, welch ungeheure Kraft nötig war, um eine schwere Harpune mit dieser Wucht über eine solche Strecke zu schleudern.
Quickquäck hatte eine Leine um sein Handgelenk gebunden, die an der Harpune befestigt war. Mit einem kräftigen Ruck zog er sie wieder aus dem Rumpf des Walfängers heraus und holte sie ein. Anschließend reichte er sie Knurps herüber. Trolle mögen dumm sein, aber so dumm war Knurps auch nun wieder nicht. Er wusste, was von ihm erwartet wurde. Beinah achtlos hob er die schwere Waffe hoch und schleuderte sie ansatzlos auf Ahabs Schiff zu. Die Harpune sauste mit hoher Geschwindigkeit über die Masten des Walfängers hinweg. Quickquäck, der das Seil noch nicht von seinem Handgelenk gelöst hatte, wurde mitgerissen und schwebte wie eine Strohpuppe davon. Sein überraschter Schrei war kaum verhallt, da war er auch schon außer Sichtweite.

Den Mannen der Undine standen die Münder offen. Sie glaubten ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Unvorstellbar! Knurps hatte eine Harpune samt Harpunier weggeworfen! Ahab erholte sich zuerst wieder von der Überraschung. Er schritt auf Knurps zu und sprach:
"Freund, willst du mit mir gefährliche Abenteuer erleben und den weißen Wal jagen? Willst du mit mir fremde Länder sehen, die Hitze Afrikas spüren, die Kälte der Polarregion? Willst du mit mir über die sturmgepeitschten Wogen Kap Horns jagen? Mit den Möwen um die Wette segeln? Weder Tod noch Teufel fürchten, die einsamen Nächte der Waljagd erleben? Mich durch Dick und Dünn begleiten und unvergleichliche Heldentaten verrichten? Willst du mein Freund und Weggefährte werden, so antworte mit JA!"

"Hähh?" antwortete der Troll, der nichts verstanden hatte.
Ahab erkannte, dass er nicht gerade eine Geistesgröße vor sich hatte. 
"Kommst du mit mir? Auf mein Schiff?" fragte er darum einfacher.
"Nö!" meinte Knurps.
Ahab zuckte bedauernd mit den Achseln. Enttäuscht drehte er sich zu den anderen Matrosen um.
"Und ihr? Was ist mit euch?"
Spontan meldeten sich fünf Männer, die begeistert von dem Gedanken waren, mit dem unheimlichen Mann auf Fahrt zu gehen. Hüppes hinderte sie nicht daran, ihre Sachen zu packen. Er hätte sie ohnehin nicht zurückhalten können. Als Ahab mit seinen neuen Leuten auf dem Walfänger eintraf, war auch Quickquäck wieder zurück. Das dunkle Schiff setzte Segel und war bald darauf wieder hinter dem Horizont verschwunden.

"Das war Pech!" seufzte Hüppes. "Einem Mann wie Ahab sollte man nicht begegnen. Er hat eine Art an sich, die immer wieder gute Männer in seine Arme treibt."
Er wendete sich Jannie zu: "Ich hoffe, dass wir auch mit der verringerten Mannschaft nach Atlantis kommen werden. Mit 25 Mann ist das nicht so einfach! Aber wenigstens sind wir jetzt Ahab los. Ich fürchte, mit ihm wird es kein gutes Ende nehmen."
Und wer die Geschichte mit Ahab und dem weißen Wal Moby Dick kennt, der weiß, dass Hüppes so Unrecht nicht gehabt hat.

***

Die Undine setzte ihre Reise fort. Nach und nach wurde es wieder wärmer, denn sie ließen die Eismeerregion langsam hinter sich.
"Wie ist das eigentlich mit Kapitän Ahab?" wollte Jannie wissen.
"Ach, Jannie, weißt du, Ahab ist ein alter Waljäger, dessen Schicksal es wollte, dass er eines Tages an einen weißen Wal geriet, der fast so schlau wie ein Mensch ist. Er ließ sich bis zum heutigen Tage weder fangen noch töten. Einmal biss er Ahab sogar den Unterschenkel seines rechten Beines ab. Darum trägt er auch eine Prothese aus dem Kieferknochen eines Pottwales. Seit diesem Tage aber ist er voller Hass. Er kennt keinen anderen Gedanken, als den, diesen weißen Wal, den er Moby Dick genannt hat, zu jagen und zu töten."
Hüppes schaute Jannie tief in die Augen: "Merke dir eins, Mädchen: Hasse nie, denn der Hass ist das schädlichste aller Gefühle. Er frisst deine Seele von innen her auf und macht dich häßlich und grausam. Denke immer an Ahab! Das einzige Gefühl, für das es sich lohnt zu leben, ist die Liebe. Nur sie wird dich mit einem Reichtum erfüllen, den dir alles Gold der Erde nicht geben kann!"

"Segel achtern, leicht nach Steuerbord versetzt! Es wird schnell größer!" rief der Ausguck plötzlich.
Hüppes lief schnell zum Heck des Schiffes. Jannie, Knurps und der kleine Drache folgten ihm. Wer mochte das jetzt schon wieder sein?
Hüppes kramte ein Fernrohr aus der Brusttasche seines Gewandes hervor.
"Teufel auch!" stieß er erschrocken aus. "Die Piratenflagge! Alle Mann an Deck! Setzt jeden Fetzen Segel, den wir haben!"
Die Matrosen der Undine schienen Flügel bekommen zu haben. In Gedankenschnelle hetzten sie die Wanten hoch in die Masten, um dem Befehl Hüppes nachzukommen. Sie wussten, worauf es ankam.
"Wenn wir Glück haben, erreichen wir noch die Hoheitsgewässer der Atlanter!" hoffte Hüppes. "Da hinein trauen sich die Piraten nicht."
Gespannt verfolgte Jannie die Aufholjagd des anderen Schiffes. Die Undine war dafür gebaut, große Mengen an Ladung zu transportieren und ihren Passagieren ein Höchstmaß an Bequemlichkeit zu bieten. Das Piratenschiff aber war gebaut worden, um gerade solche Schiffe einzuholen. Es war ein ungleiches Rennen. Schon war der schlanke Rumpf des anderen Schiffes zu erkennen. Sein scharfer Bug durchschnitt elegant die Wogen. Näher und näher kam es. Schließlich blitzte es auf der anderen Seite auf. Ein dumpfer Knall ertönte, gefolgt von einem unheimlichen Brausen. Seitlich des Bugs der Undine stieg eine Waserfontäne auf.
"Verdammt!" schimpfte Hüppes, der Angst um seine wertvolle Ladung hatte. "Sie haben Kanonen an Bord. Wir müssen beidrehen, sonst versenken sie uns! Vielleicht lassen sie mit sich verhandeln."
Der Piratenschoner war sofort heran. Eine Horde bis an die Zähne bewaffneter Seeräuber schwang sich über die Reling. In Nullkommanichts war die Besatzung der Undine auf dem Achterdeck zusammengetrieben. Einer der wildesten Piraten trat vor. Ihm fehlte das rechte Auge. Anstelle der rechten Hand besaß er einen Fleischerhaken, und sein rechtes Bein bestand aus einem roh zusammengezimmerten Holzstück.
"Ich bin Links!" grinste er mit einem lückenhaften Gebiß und schwang einen schweren Säbel. "Wisst ihr, warum ich Links heiße?"
Die verschüchterten Matrosen des Kauffahrerschiffes trauten sich nicht, zu antworten.
Ein Pirat aus der Meute lachte grölend. "Ist doch klar," höhnte er, "weil ihm rechts alles fehlt!"
Die Piratenmeute wollte sich schier ausschütten vor lachen. Jannie und die anderen fanden die Situation weit weniger lustig.
"Was wollt ihr von uns?" fragte der tapfere Hüppes.
"Na was wohl, Dicker?" gab Links zurück. "Dein Schiff, deine Ladung und alles sonst! Was hast du denn gedacht?" Dann fiel sein Blick auf Jannie.
"Ei, wer ist das denn?" Links ging auf Jannie zu. Hüppes, der sich mutig zwischen den Piraten und das Mädchen stellen wollte, schob er achtlos beiseite. 
Jannie, die sonst nicht auf den Mund gefallen war, verschlug es zunächst die Sprache. Links sah einfach greulich aus.
"Na, was ist? Soll ich den Fettsack hier ein wenig mit der Klinge kitzeln oder rückst du raus mit der Sprache?"
Jannie gab sich einen Ruck! 
"Ich bin Jannie, die Tochter König Richards."
Links verzog das Gesicht. 
"Eine echte Prinzessin ist die Süße?" grinste der Pirat. "Das gibt aber ein fettes Lösegeld, was?" Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu und griff nach ihr.

Knurps hatte das Geschehen bisher mit mildem Interesse verfolgt. Er fand die Piraten ganz interessant, hatte auch bisher noch keinen Grund gesehen, etwas gegen sie zu unternehmen, da sie bisher niemandem etwas zuleide getan hatten. Jetzt wurde es ihm aber zuviel. Jannie mochte diesen Links offenbar nicht. Also mochte er ihn auch nicht! Er drehte Links sein Gesicht zu, fletschte die Zähne und knurrte drohend. Links war ein erfahrener, ganz besonders hartgesottener Pirat, der sich vor nichts fürchtete. Als der riesige Troll jedoch sein Knurren ausstieß, klang es, als grolle ein hungriger Löwe. Links wurde blass. Sein Arm verharrte steif in der Luft.
"Was bist du denn für einer?" fragte er verwundert.
"Das ist mein Leibwächter Knurps!" antwortete Jannie an dessen Stelle.
"Und du meinst, der kann es mit dreißig Piraten aufnehmen?" lachte Links, der sich wieder gefangen hatte. 
Gleich darauf stieß er einen Schmerzensschrei aus: Der kleine Drache hatte sich in seinem gesunden Bein verbissen. 
"Was ist denn das für ein komischer Hund?!" rief Links und schwang den Säbel, um dem Quälgeist den Kopf abzuschlagen. Knurps wurde es nun endgültig zu bunt. Aus dem Handgelenk heraus verpasste er dem Piraten eine schallende Backpfeife, die diesen von den Füßen holte. Er hob ab, flog elegant über Bord und klatschte laut auf dem Wasser auf. Seine Kumpel mochten diese Schmach natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Ein besonders groß geratener Kerl hob seine schwere Keule und ließ sie voller Wucht auf Knurps Schädel krachen.

Nun ist es so, dass ein Trollschädel in erste Linie aus dicken Knochen besteht. Das winzige Gehirn ist also gut geschützt. Knurps merkte praktisch gar nichts von dem Bums, der gerade seinen Kopf erschüttert hatte. Da Jannie nicht mehr bedroht war und ihm der Hieb nichts ausgemacht hatte, wertete er diesen nicht als Angriff, sondern grinste den Piraten nur freundlich an. Das brachte die Freibeuter vollends in Rage. Laut brüllend liefen sie auf ihre Gefangenen zu, um ihnen beizubiegen, dass man sich vor ihnen fürchten müsse. Knurps Geduldsfaden riss. Er riss seinen Mund auf und stieß einen Schrei aus, der einigen Piraten die Hüte von den Köpfen wehte. Gleichzeitig ließ der Troll seine mächtigen Arme wie Windmühlenflügel kreisen. Er stürzte sich auf die Seeräuber, gerade da, wo sie am dichtesten standen. Der kleine Drache unterstütze ihn dabei nach Kräften. Mochte er auch wegen seines fehlenden Namens noch kein richtiger Drache sein, so war er doch biegsam wie ein Schlange, schnell wie der Blitz und mutig wie eben ein - Drache. Sein kleines Gebiss konnte bereits gut mit dem eines großen Hundes mithalten, und seine Krallen waren eisenhart und scharf wie Dolche. Die Klingen der Piraten ihrerseits waren nicht in der Lage, seine Stahlschuppen zu durchdringen. Außerdem hatten sie genug damit zu tun, sich vor Knurps in Sicherheit zu bringen, dessen Arme wie Dreschflegel auf sie hinabsausten. Hinzu kam sein ohrenbetäubendes Gebrüll, das sie bis ins Mark erschütterte. Schon flogen die Kerle wie Zinnsoldaten über Bord. Teilweise von Knurps Fäusten getroffen, teilweise aus eigenem Antrieb. Nach kurzer Zeit war das Deck der Undine von der Freibeuterbande gesäubert. Als Knurps sich anschickte, auf das Piratenschiff überzuwechseln, um dort sein Säuberungswerk fortzusetzen, hielt Jannie ihn zurück.
"Es ist gut, Knurps! Vielen Dank für deine Hilfe!" rief sie. Folgsam hielt der Troll inne.
Unter den Hurrarufen der Besatzung der Undine krochen die Piraten mit schmerzverzerrten Gesichtern auf ihr Schiff und machten, dass sie davonkamen. Noch niemals hatten sie eine solch schmachvolle Niederlage erlitten. Sie waren von einem einzigen Mann und einem seltsamen Hund verprügelt worden. Diese Schande!

Von diesem Tage an aber wurde Knurps von der Besatzung der Undine mit besonderer Hochachtung behandelt. Sie schätzen sich glücklich, einen Kämpfer auf ihrer Seite zu haben, der mit bloßen Fäusten eine schwer bewaffnete Bande von dreißig Piraten besiegen konnte.

***

Sie setzten die Reise fort und erreichten schließlich ohne weitere Zwischenfälle die Gewässer, die die Atlanter als Hoheitsgebiete für sich beanspruchten. Begleitet von zwei großen Kriegsschiffen der Atlanter gelangten sie in den Handelshafen der Insel. Staunend betrachtete Jannie die vielen Schiffe, die hier vor Anker lagen. Rotter war ihr schon wie eine andere Welt vorgekommen. Atlantis aber war einfach gigantisch. Stetig fuhren Handelsschiffe ein und aus. Doch nie allein. Immer wurden sie von einigen der prachtvollen Schiffe der Atlanter begleitet, die groß und majestätisch unter dem Druck ihrer Segel durch das Wasser glitten.
"Na, hab ich dir zuviel versprochen?" meinte Hüppes. "Ist das nicht ein unvergleichlicher Anblick? Atlantis ist eines der sieben Weltwunder. Jedermann sollte einmal hier gewesen sein."
Jannie stimmt ihm zu. "Ja, toll! - Und ihre Schiffe. Einfach unvergleichlich. Selbst deine schöne Undine verblasst dagegen."
Hüppes, der nicht zu Unrecht stolz auf sein Schiff war, war überhaupt nicht eingeschnappt. 
"Stimmt!" gab er zurück. "Doch ihr Äußeres ist noch nicht alles. Sie sind auch mit einer unglaublichen Technik ausgestattet. Sie besitzen unter anderem ein Navigationsgerät, das sie allen anderen Seefahrern gegenüber mit einem unschätzbaren Vorteil ausstattet. Wir bestimmen unseren Kurs nach den Sternen. Diese Methode ist altbewährt und sehr sicher. Sie hat aber einen Nachteil, den man nicht übersehen darf!"
"Ich glaube, ich weiß, was du meinst, Hüppes," überlegte Jannie. "Wenn man die Sterne nicht sieht, zum Beispiel bei Nebel oder dichten Wolken, gibt es Probleme!"
"Ja, Prinzessin, du hast es verstanden!" freute sich Hüppes über den wachen Verstand der Kleinen. "Ohne freie Sicht keine sichere Navigation. Die Atlanter haben eine Erfindung gemacht, die sie weitgehend unabhängig von Wettereinflüssen macht: Sie besitzen ein Gerät, das immer noch Norden zeigt. Sie nennen es Kompass. Wenn ich immer weiß, wo Norden ist, weiß ich auch immer, wo ich die anderen Himmelsrichtungen zu suchen habe. Ich kann also auch beim dicksten Sturm und schlechtester Sicht nie meinen Kurs verfehlen. Oh, hätte ich doch auch so ein Instrument! Aber sie verkaufen es nicht an andere Seefahrer. Nur Atlanter dürfen einen Kompass besitzen."

Als sie am Kai des Hafens von Atlantis anlegten, wurden sie bereits von einem prachtvoll gekleideten Atlanter empfangen.
"Wer ist der Kapitän dieses Kahns?" fragte er hochnäsig.
Hüppes meldete sich und stellte sich vor.
"Habe ich ihn nicht schon einmal gesehen?" näselte der Atlanter.
"Ja, aber sicher, Ihr habt mich schon einmal empfangen. Seid ihr nicht Woolberath, der Hafenmeister selbst?" gab Hüppes, freundlich wie immer, zurück.
"Solle er sich keine Vertraulichkeiten herausnehmen!" wies ihn Woolberath in seine Schranken. "Was für Waren hat er geladen? Gewürze und Felle?"
"Nein, edle Weine und bestes Getreide!"
"Da hat er aber Glück gehabt. An gutem Wein mangelt es uns zurzeit. Leider machen Piraten unsere Gewässer unsicher. Besonders ein ganz niederträchtiges Individuum namens Links mit seiner Bande richtet große Verwirrung unter den Kauffahrern an."
"Ha!" platzte Jannie heraus. "Dem haben wir es gegeben. Links wird so schnell niemanden mehr ärgern. Der ist fürs erste versorgt!"
"Was hat er da für eine vorlaute Göre auf seinem Schiff?" fragte Woolberath irritiert. "Weiß er nicht, dass fremder Völker Kinder bei uns nicht gestattet sind? Oder bietet er sie feil?"
"Ich bin nicht zu verkaufen, du eingebildeter Kerl!" rief Jannie empört. "Ich bin Passagier auf diesem Schiff. Das Ziel meiner Reise ist Atlantis. Ich suche die Hydra!"
Der Hafenmeister zuckte zusammen. Sein Blick wurde noch lauernder.
"So so, die Hydra sucht sie! Sage sie mir: Sie sieht für eine Nichtatlanterin sehr gepflegt aus. Ist sie vielleicht edler Abstammung?"
"Ich bin die Tochter König Richards. Und so eingebildet wie du kann ich schon lange sein!" rief sie.
Hüppes, der Jannie nun schon kannte, schaute besorgt in den Himmel. Hoffentlich verdarb sie ihm nicht das Geschäft! Die Atlanter waren wirklich entsetzlich eingebildet und unfreundlich. Aber er war auf sie angewiesen. Wenn Woolberath ihn wieder aus dem Hafen warf, war er so gut wie pleite! Dem Inhalt des Gesprächs der beiden vermochte er sowieso nicht zu folgen. Wer war denn nun schon wieder die Hydra? Aber egal. Er hatte seinen Auftrag erfüllt und sie hierher gebracht. Alles Weitere musste sie selbst in die Hand nehmen. Dafür war er nicht mehr zuständig.
So wie es aussah, wurde sie sich aber mit Woolberath einig.
"Gut, meine Kleine!" sagte dieser gerade. "Ich bin damit einverstanden, wenn sie an Land geht. Wenn sie will, sorge ich auch dafür, dass sie so schnell wie möglich an die Grenze des Landes der Toten Sümpfe kommt. Von da aus allerdings, muss sie allein weiterkommen." Er winkte kurz. Ein Pferdegespann löste sich vom Straßenrand und rollte heran.
"Land der Toten Sümpfe? Was ist das schon wieder?" fragte Hüppes erstaunt.
"Ach, da soll die Hydra wohnen!" gab Jannie lässig zurück. Sie sprang an Land. Knurps und der kleine Drache folgen ihr.
"Was hat sie denn da für einen komischen Hund?" fragte Woolberath erstaunt.
"Das ist Wuff, mein Wachhund!" kicherte Jannie, erfreut, den eingebildeten Kerl auf den Arm nehmen zu können. Sie kletterte mit ihren Begleitern auf die Kutsche. Der Fahrer bekam von Woolberath einige Anweisungen. Anschließend setzte sich das Gespann in Bewegung und verließ die Hafengegend.

***

Schon bald begann Jannie, ihren spontanen Entschluss zu bedauern. Sie verspürte Hunger und Durst. Da sie auf die Schnelle keinerlei Wegzehrung mitgenommen hatte, fragte sie den Kutscher, ob er ihr etwas geben könne.
"Kann sie bezahlen?" fragte er nicht weniger hochmütig als der Hafenmeister Woolberath.
"Wieso bezahlen?" fragte Jannie zurück. "Da wo ich herkomme ist es eine Selbstverständlichkeit, dass man Reisende, die um etwas zu Essen bitten, bewirtet. Das nennt man Gastfreundschaft!"
"Das wäre ja noch schöner, wenn jeder Dahergelaufene sich auf meine Kosten einen vollen Bauch machen könnte!" lachte der Atlanter. "Wenn sie nicht bezahlen kann, gibt’s auch nichts. Basta!"
"Dann wundere ich mich, dass ich von dir einfach so zum Land der Toten Sümpfe gebracht werden," überlegte Jannie laut. "Sonst macht ihr Atlanter doch scheinbar ohne Bezahlung keinen Finger krumm!"
"Das mit der Hydra ist auch etwas anderes," gab ihr Fahrer zurück.
Für den Rest der Fahrt hüllte er sich in Schweigen. Jannie war stocksauer auf den groben Kerl. Sie machte sich aber weiter keine Sorgen. Mit der Hydra würden sie schon fertig. Knurps würde außerdem sicherlich etwas Nahrhaftes finden. Schließlich war er ein Troll. Und Trolle kannten sich wie kein anderes Wesen in der Natur aus. Wenn einer etwas finden würde, dann er.

Schließlich endete der Weg am Rande einer Einöde. Ihr Reisegefährt hielt an.
"Endstation!" murmelte der Kutscher. "Hier muss sie den Wagen verlassen und allein weiterreisen."
Jannie stieg, gefolgt von Knurps und dem kleinen Drachen, aus.
"Und wie finde ich nun die Hydra?" frage sie.
"Oh da habe sie mal keine Sorgen!" grinste der Atlanter. "Gehe sie einfach mal in das Land der Toten Sümpfe hinein. Spätestens in der Nacht werden ihre Probleme gelöst sein. Wenn sie die Hydra nicht findet, wird die Hydra sie finden. Das ist immer so!"
Jannie sah dem Mann überrascht in die Augen: "Wieso immer so? Bekommt die Hydra häufiger Besuch?"
Der Atlanter wollte sich schier ausschütten vor Lachen.
"Besuch! Nein, Besuch!" rief er. "Besuch ist schön. So kann man es auch nennen. Weiß sie denn nicht, warum Woolberath mich gebeten hat, sie ins Land der Toten Sümpfe zu bringen?"
Jannie schüttelte den Kopf.
Der Kutscher wendete weiterhin lauthals lachend den Wagen und fuhr davon. Noch aus der Ferne waren seine Worte zu hören: "Besuch! Das ist toll! Hahaha!"
Schließlich standen unsere drei Reisenden allein am Rande der Einöde. Sie schauten sich an und setzten dann kurz entschlossen ihren Weg fort. Knurps stapfte voran. Jannie und der kleine Drache folgten ihm.

***

Das Land der Toten Sümpfe trug seinen Namen zu Recht. Der Weg führte quer durch ein endlos scheinendes Gebiet von stinkenden Tümpeln, in denen tote Baumstämme vermoderten. Hin und wieder ließ sich eine verlauste Krähe blicken, die quarrend auf die Dreiergruppe hinabstarrte. Zum Glück hatten sie Knurps dabei. Mit seinem untrüglichen Blick erkannte er die Wasserlöcher, aus denen man ohne Gefahr trinken konnte oder die Sträucher, deren Beeren man verspeisen konnte, ohne einen verrenkten Magen zu riskieren. Es war nicht viel, was die Natur hier bot, aber es reichte zum Überleben. 
Schließlich begann es dunkel zu werden. Sie mussten langsam nach einem Nachtlager Ausschau halten. 
"Knurps," meinte Jannie. "Ich werden langsam müde!"
Der Troll grunzte. Er bog an der nächstmöglichen Stelle rechts ab und lenkte seine Schritte auf eine Felsengruppe zu, die einen gewissen Schutz verhieß. Und wirklich! Zwei Steinblöcke markierten den Eingang zu einem Felskessel, der, ringsherum abgeschlossen, eine ideale Übernachtungsstelle bot: Eine Höhle ohne Dach sozusagen. Jannie umarmte ihren Beschützer dankbar.
"Du bist der beste und liebste Troll, den ich kenne, Knurps!" versicherte sie ihm und gab ihm einen dicken Schmatz auf die rauhe Wange.
Der Troll lächelte glücklich. Er liebte seine Jannie über alles.
Schließlich legten sich die drei Abenteurer hin und schliefen auch sofort ein.

Trolle besitzen unvergleichliche Sinne. Ihr Gehör ist feiner als das des Luchses, ihre Augen schärfer als die des Uhus und ihre Nase besser als die des Bluthundes. Als Knurps mitten in der Nacht plötzlich erwachte, lag das aber nicht daran, dass er etwas gehört, gesehen oder gerochen hätte. Es war sein sechster Sinn, sein untrüglicher Instinkt, der ihn vor einer sich nähernden Gefahr gewarnt hatte. Er stieß ein drohendes Knurren aus. Jannie und der kleine Drache waren sofort hellwach! Jannie schaute sich um. Die Nacht war sternklar. Der Vollmond beleuchtete die Szenerie mit geisterhaftem Licht.
"Was ist los, Knurps?" fragte sie ihren Beschützer. Dieser grunzte nur unwillig und lauschte in die Nacht. Jannie kannte den Troll seit ihrer Kindheit und wußte, wann man ihn besser in Ruhe ließ. Da draußen musste etwas sein, das nur er mit seinen feinen Sinnen erahnen konnte. Dann wurde auch der kleine Drache unruhig. Aufgeregt lief er hin und her. Schließlich hörte es auch Jannie: Ein feines Schleifen, als würde etwas über den Boden gezogen. Da vorne am Eingang zu ihrer kleinen Steinmulde! Oder: Vielleicht wurde nichts gezogen, sondern kroch von selbst! Was mochte das nur sein, das da fast lautlos und verstohlen durch die Nacht schlich? Jannies Herz klopfte bis zum Hals. Ihre Hände wurden feucht.

Knurps sprang plötzlich vor und griff mit seinen Bratschaufelhänden in die Finsternis hinein. Als Reaktion auf seinen Sprung ertönte ein lautes Schimpfen: "Dass isst ja wohl die Höhe, einssame alte Damen zzu überfallen. Lass mich loss, du behaarter Rüpel, du! Au! Dass tut doch weh!"
Knurps kannte jedoch keine Gnade. Er zog seine Arme wieder zurück ans Licht. Jannie konnte jetzt sehen, dass er mit seinen Fingern einen schlangenähnlichen Hals umfaßt hatte, an dessen Ende ein scheußlicher Schädel mit einem großen Maul und langen spitzen Zähnen steckte. Eine gespaltene Zunge streckte sich hervor. Große, gelbe Augen fixierten Jannie.
Plötzlich schoß ein zweiter, genauso schrecklicher Schädel aus der Dunkelheit.
"Ei, ei! Wass isst denn dass für eine Süsse?" lispelte die schreckliche Stimme. "Dass riecht aber nach einer Prinzessinen-Jungfer! Stimmtss? Ich habe eine Nase für sso etwass!" 
Knurps langte mit der anderen freien Hand nach dem langen Hals des neuen Kopfes. Jetzt hatte er zwei Schlangenhälse in seiner Gewalt.
"Uhh!" klagten die Köpfe. "Kannsst du diessem Affen nicht mal ssagen, er ssolle mich in Ruhe lasssen? Ich fresse euch dann auch ganzz sschnell auf. Ess wird besstimmt nicht weh tun! Ehrenwort!"

Aus der Dunkelheit des Felsspaltes schlängelte sich ein dritter Kopf heraus und pendelte dicht vor Jannnies Nase hin und her. Zum Glück war Jannie den Umgang mit Ungeheuern schon von frühester Kindheit an gewohnt. So leicht ließ sie sich nicht ängstigen! Dennoch war ihr flau im Magen. Es war so schrecklich dunkel! Und die Köpfe schrecklich scheußlich! Knurps würde ihr jetzt bestimmt nicht mehr helfen können. Er hielt bereits zwei Köpfe fest. Was sollte er sonst noch tun? Schließlich war es der kleine Drache, der den Ausschlag gab. Zischend sprang er vor und stellte sich dem Kopf in den Weg.
"Ohh!" rief der Schädel erfreut und plötzlich ohne jedes Lispeln. "Was ist denn das für ein süßer Putzel? Was treibst du denn hier, mein Zuckerschätzchen? Sag, haben dir die beiden etwas Böses angetan? Wenn ja, werde ich sie ganz langsam fressen. Zur Strafe sozusagen. Ich weiß schließlich, was sich gehört."
"Ich bin der Sohn der Hexe Cillie und des Drachenkönigs Quatzkotls. Und das sind meine Freunde," zischte der Kleine giftig. "Ich bin auf der Suche nach der Hydra. Ich habe ihr etwas zu sagen!"
"Ach nein! Wie putzig! Der Kleine hat mir was zu sagen! Hach da bin ich aber aufgeregt!" lachte das Ungeheuer. Plötzlich waren sechs weitere Köpfe da. Die zwei, die Knurps in den Händen hielt, lösten sich mit einem kurzen Ruck aus seiner Umklammerung. Es war ganz offensichtlich: Die Hydra hatte nur mit dem Troll gespielt. Er hatte sie nie wirklich aufgehalten. 
"Jetzt seid mal ganz still, ihr beiden, Troll und Prinzesschen!" befahl das Ungeheuer. "Ich werde mich jetzt mal mit dem süßen Muselmann hier unterhalten. Stört mich nicht, sonst hat euer letztes Stündlein geschlagen!"
Die Hydra wandte ihre neun Köpfe dem kleinen Drachen zu: "Schieß los! Ich bin ganz Ohr!"
Der kleine Drache nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte: "Atlantis muss untergehen!"

***

Die Hydra fuhr zusammen, als habe sie der Schlag getroffen. Sie riss ihre neun Rachen auf und stieß ein grausigen Zischen aus. Jannie bekam es jetzt doch mit der Angst zu tun. Die Hydra war ein Drache, wie sie ihn noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Das heißt, bis jetzt hatte sie nur ihre neun Häupter und neun Schlangenhälse gesehen. Der eigentliche Körper blieb ja noch immer ihren Blicken verborgen. Selbst der Troll zuckte mit keiner Wimper. Auch er war sich darüber im Klaren, dass jede unbedachte Bewegung die Hydra zu einer Kurzschlußhandlung bringen mochte.

Schließlich hatte sich der Drache wieder gefangen und beruhigte sich.
"Wisse, mein Kleiner," sprach sie, "dass das Schicksal Atlantis mit dem meinen eng verbunden ist. Atlantis wird nur solange existieren, wie ich auf der Insel bleibe. Es gibt aber seit alter Zeit eine Weissagung, die lautet, dass, wenn die Zeit gekommen ist, ein kleiner Drache edlen Geblüts erscheinen wird, um mir zu sagen, dass Atlantis untergehen müsse. Begleitet soll er sein von zwei anderen Wesen. Nicht Mann, nicht Frau. Nicht verwandt und doch bekannt. Deine Worte bedeuten für mich die Beendigung meines Exils und gleichzeitig für Atlantis den Untergang. Ich bin frei! Frei nach Jahrhunderten der Verbannung! Frei!"
"Ich bin nicht nur hier, um dir diese Nachricht zu überbringen, Hydra!" sprach der Kleine weiter. "Ich möchte dich noch um etwas bitten!"
"Wenn ich kann, erfülle ich dir jeden Wunsch!" versprach sie.
"Ich habe noch keinen Namen, und ich bitte dich, mir einen zu geben!"
"Du sagtest soeben, dass dein Vater Quatzkotl sei. Wie heißt der Vater Quatzkotls?"
"Der Vater meines Vaters nannte sich Pergotzkatl. Er war der schwärzeste der schwarzen Drachen."
"Pergotzkatl!" flüsterte die Hydra bewegt. "Du weißt sicher, dass Pergotzkatl und ich lange Zeit sehr eng befreundet waren. Es ist mir eine Ehre, seinem Enkel seinen einzig richtigen Namen zu geben, wenn es mich auch befremdet, dass du noch immer keinen hast. Warum hat der alte Teufelskerl dir denn keinen gegeben?"
"Mein Opa ist vor einigen hundert Jahren vom Herrn von Altena erschlagen worden," berichtete der Kleine.
"Oh, das tut mir aber leid!" versicherte die Hydra ehrlich bekümmert. "Aber wie dem auch sei! Ich werde dir selbstverständlich einen Namen geben, der deiner edlen Abstammung gerecht wird. In zwei Monaten ist Walpurgisnacht. Dann werde ich zu dir kommen, und dann wirst du deinen Namen bekommen. Den einzig richtigen Namen, der zu dir paßt wie zu keinem anderen. Das verspreche ich dir!"
"Einfach so?" fragte Jannie, die sich aus ihrer Erstarrung gelöst hatte.
"Nicht einfach so!" gab die Hydra zurück. "Der Name wird selbstverständlich im Rahmen einer großen Feierstunde vergeben. Fragt Quatzkotl. Er muss als Vater für die Organisation des Festes Sorge tragen."

Nun wandte sich die Hydra dem Troll zu.
"So, du Naseweis, meintest doch ernsthaft, mich aufhalten zu können! Du weißt doch, dass ein Troll es niemals mit einem echten Drachen aufnehmen kann. Versuche es also nie wieder. Ich könnte sonst meine gute Erziehung vergessen!"
Knurps konnte das nicht auf sich sitzen lassen: "Schutz für Freunde!" brummte er.
Die Hydra nickte neunfach. "Naja, dann sei dir verziehen, Troll!"
"Dann erzählt mir mal etwas von euch, damit ich weiß, mit wem ich es überhaupt zu tun habe," schlug die Hydra vor.
Jannie war die beste Erzählerin der drei Abenteurer und erzählte der Hydra ihre Geschichte von Anfang an. Sie ließ nichts aus. Als sie geendet hatte, war die Hydra auf dem Laufenden. Sie forderte die Drei auf, sich auf ihren Rücken zu setzen, entfaltete die mächtigen Schwingen und hob ab.
"Ich bringe euch jetzt zurück zum Hafen. Bis zum Tagesanbruch ist es noch eine gute Stunde. Da kann ich euch ungesehen bei eurem Schiff absetzen."
Während des Fluges erzählte sie den Dreien von sich.
"Ihre müßt wissen, dass ich meinen Namen einer Marotte meiner Eltern verdanke," meinte sie. "Als ich geboren wurde, war gerade ein großer Held in aller Munde. Er hieß Herakles und hatte gerade eine neunköpfige hochgiftige Schlange erschlagen. Sie hieß Hydra und besaß neun Köpfe. Meine Eltern meinten, dieser Name passe gut zu mir. Ihr müsst wissen, dass ich nämlich einen Geburtsfehler habe. Ich kann kein Feuer speien wie viele andere Drachen. Stattdessen aber sind meine Bisse giftig. Mein Gift ist so stark, dass es nur mit der Haut eines Wesens in Berührung kommen muss, um zu wirken. Jedes Lebewesen stirbt unmittelbar danach einen schnellen Tod. Leider hörten viel Ritter davon und hielten es für eine große Heldentat, mich zu erschlagen. Vor allem, da es Feuer-, Rauch- und Dampfdrachen zu Hauf gab, mich aber nur einmal!"
"Was ist denn aus den Rittern geworden, die es versucht haben?" fragte Jannie.
"Ich habe sie selbstverständlich alle besiegt!" gab die Hydra zurück. "Ein paar von den Jungs waren allerdings wirklich gut. Einer hat mir mehrfach einen Kopf abgeschlagen. Allerdings wachsen mir meine abgeschlagenen Häupter alle wieder nach! Offen gestanden, weiß ich selber nicht, wie man mich töten kann."
"Und wieso muss Atlantis untergehen, wenn du die Insel verläßt?" wollte Jannie wissen.
"Ach, weißt du," antwortete die Drachin. "Atlantis ist darauf angewiesen, dass die Schiffe der Kaufleute ungehindert über den Grünen Ozean hierhin kommen können. Außer den Piraten gibt es noch andere Gefahren für die Seefahrt: Wasserdrachen, die sich gerne an die Schiffsbesatzungen heranmachen, um sie zu fressen oder um ihre Schiffe zu versenken. Nur so zum Spaß. Dagegen sind Piraten das weitaus kleinere Übel. Verstehst du?"
"Ich glaube, ja", gab Jannie zurück. "Du sorgst dafür, dass die Wasserdrachen die Seeleute in Ruhe lassen!"
"Genau!" bestätigte der Drache. "Wenn ich nicht mehr da bin, machen die Wasserdrachen, Seeschlangen und Riesenkraken, was sie wollen. Das wäre das Ende des freien Handels und letztendlich das von Atlantis. Die Atlanter wissen das natürlich und bemühen sich, mich bei Laune zu halten, indem sie mir ab und zu Leute zuschicken!"
"Und was machst du mit den Leuten?"
Die Hydra wollte nicht so recht raus mit der Sprache: "Naja, von irgendwas muss man ja schließlich auch leben. Der ewige Fisch bringt’s auch nicht!" 
Inzwischen hatten sie den Hafen erreicht. Die Hydra landete am Kai neben der Undine. 
"So, Kinder!" meinte sie. "Jetzt seht mal schön, dass ihr wieder nach Hause kommt. In der Walpurgisnacht sehen wir uns wieder." 
Gleich darauf war sie wieder fort.

***

Hüppes war glücklich, als er Jannie, Knurps und den "komischen Hund" wieder in seine Arme schließen konnte.
"Ach! Was bin ich froh, euch zu sehen!" rief er. "Als der Kutscher mit euch davon fuhr, habe ich mir Vorwürfe gemacht, dass ich euch so einfach habe ziehen lassen. Aber schließlich war es euer eigener Wunsch!"
"Mach dir nur keine Sorgen," beruhigte Jannie den runden Kaufmann. "Es ist ja alles gut gegangen. Wir haben erreicht, was wir wollten."
Es war wirklich alles gut. Hüppes hatte blendende Geschäfte gemacht. Er lächelte Jannie spitzbübisch an und bat sie, ihm in seine Kajüte zu folgen. Dort zeigte er auf einen seltsamen Gegenstand, der auf dem Kapitänstisch stand.
"Das," so sagte er stolz, "ist ein Kompass!"
"Ich dachte, die Atlanter geben diese Instrumente nicht heraus," meinte Jannie.
Hüppes lachte. "Woolberath ist bestechlich. Er hat einige sehr teure Hobbys, die er mit seinem normalen Gehalt nicht finanzieren kann. Ich habe so gute Geschäfte gemacht, dass ich ihm eine Unsumme für das Ding bieten konnte. Jetzt besitze ich den einzigen Kompass außerhalb von Atlantis. Ist das nicht toll?"
Jannie freute sich mit ihm. Aber eher, weil sie Hüppes nett fand und weniger deshalb, weil sie den Wert des Geräts zu schätzen wußte. Jannie war eben kein Seemann wie Hüppes.

Heutzutage fährt kein Schiff mehr ohne einen Kompass los. Er ist zu einer alltäglichen Einrichtung geworden. Auch Wanderer und Flugzeuge benutzen ihn. Wer weiß, was geworden wäre, wenn Hüppes den Atlantern nicht ein Exemplar abgeluchst hätte. Vielleicht würden wir heute so ein Gerät nicht einmal kennen, geschweige denn benutzen!

Am nächsten Tag legte die Undine ab. Flankiert von zwei Atlanterschiffen verließ sie den Hafen und richtete ihren Bug auf Heimatkurs. Die Heimreise verlief ereignislos, wenn man einmal von einer Begegnung mit einem Piratenschiff absah. Die Freibeuter ergriffen allerdings das Hasenpanier, als die den Troll erblickten, der sie schon breit lächelnd erwartete. Die erste Begegnung mit Knurps steckte ihnen wohl noch in allen Knochen.

***

Als sie wieder auf Schloss Drachenburg anlangten, waren sie insgesamt drei Monate unterwegs gewesen. Hüppes hatte sogar auf seine Bezahlung verzichtet. Diese Reise sei seine beste überhaupt gewesen. Soviel Glück habe er noch nie gehabt. Das wolle er sich nicht auch noch bezahlen lassen. Richard schmunzelte verhalten. Jannies Glückshaar hatte also auch bei Hüppes seinen Einfluss gehabt. Dem netten Kaufmann war das Glück aber zu gönnen. 
"Ehrliche und freundliche Menschen sollten immer Glück haben!" dachte er sich, als er sich von Hüppes verabschiedete.
Natürlich wurden die drei Heimkehrer von den Daheimgebliebenen tüchtig ausgequetscht. Sie mussten alles haarklein erzählen. Knurps war der Held des Tages. 
"So!" schloss Quatzkotl die Befragung ab. "Walpurgisnacht ist nicht mehr fern. Wir müssen alle magischen Wesen und Ungeheuer darüber informieren, dass die Hydra unserem Sohn einen Namen geben wird, der seiner würdig ist. Ich glaube das schaffen wir nur, wenn..."
"Wenn Papa wieder einen Telegrammsud braut!" fiel ihm Cillie ins Wort.
Merling war natürlich nur allzu gerne bereit, wieder seinen schrecklichen Topf anzuheizen. 
"Aber glaubt ja nicht, dass ich zu dieser Massenveranstaltung kommen werde!" grummelte er. "Ihr wißt, dass ich ein Einsiedler bin, dem seine Ruhe über alles geht!"
Natürlich wurde er von allen bestürmt, seine Meinung zu ändern.
"Du wirst doch wohl nicht ernsthaft die Taufe deines Enkels versäumen wollen!" rief Winnimee entrüstet. Doch Merling blieb dabei. Er wollte um alles in der Welt nicht kommen. Alle waren blitzwütend auf ihn. Nur Cillie schmunzelte. Sie würde schon einen Weg finden, ihren Vater vom Gegenteil zu überzeugen. Da war sie sich ganz sicher!

In der folgenden Zeit gab es viel zu tun. Der Drachenfels musste für die Vielzahl der Gäste vorbereitet werden. Winnimee stellte die Sitzordnung auf, damit jeder seinen ihm zustehenden Platz erhalten konnte. Cillie machte sich Gedanken um die Speisen und Getränke und wieder und wieder wurde das Siebengebirge von Explosionen erschüttert: Merling kochte einen Telegrammsud nach dem anderen.

***

Schließlich war es soweit: Die Walpurgisnacht war gekommen. Mit dem Eintreten der Dunkelheit füllte sich der Berg mit eintreffenden Gästen. Für jeden war gesorgt. Der Nöck konnte in einem mit Wasser gefüllten Fass Platz nehmen. Ebenso der Wasserdrache Grimm. Winnimee saß auf einem bequemen Felsbrocken. Neben ihr befanden sich El Pitto Gnomo mit Lisa, König Richard, seine Gemahlin und Jannie, die als einzige Menschen eingeladen waren. Knurps, stand mit einer Keule neben einem scheußlich aussehenden Kochtopf, in dem Merling mit grimmiger Miene saß. So gefangen würde er bis zum Ende der Feierlichkeiten ausharren müssen. Selbst Rübezahl, der mächtige Berggeist aus dem Riesengebirge war gekommen, um die Taufe des kleinen Drachen mitzuerleben. Auch Graf Fledermaus, einer der Fürsten der Finsternis, nahm an dem Fest teil. Und wer ganz genau hinsah - oder hörte, der konnte zwischen der Ansammlung anderer Ungeheuer, Hexen, Feen, Kobolde und Zwerge den Dommideibel sehen, der schwatzend und gestikulierend durch die Menge zog.
Als die Nacht vollends hereingebrochen war, erschien vor dem vollen Mond ein seltsames Schemen: Ein mächtiger, geflügelter Schatten mit neun Köpfen auf Schlangenhälsen flog heran. Schnell kam er näher und landete mit Sausen und Brausen: Die Hydra war angekommen. Sie schritt in die Mitte des Platzes und schaute in die Runde. Alle, selbst Winnimee, hielten den Atem an. Die Hydra war für viele Jahrhunderte verschwunden gewesen. Sie alle hatten vergessen, was für ein riesiger und ungeheuerlicher Drache sie doch war.

"Freunde, Ungeheuer, magische Wesen," hub sie an zu sprechen. "Wir sind hier zusammengekommen, um dem Sohn Quatzkotls, des Königs der Drachen, und seiner Gemahlin Cillie, der Hexe, einen würdigen Namen zu geben." Sie machte eine kurze Pause, um ihre Worte auf ihre Zuhörerschaft einwirken zu lassen.
"Jahrhundertelang," fuhr sie fort, "war ich verschollen. Nur sehr wenige von euch wussten, wo und warum ich mich verbarg. Doch nun ist die Zeit der Verbannung vorbei. Ich habe mich in den vergangenen Wochen darüber informiert, wie die Dinge sich entwickelt haben und wie es um uns und die Welt der Magie steht."
Die Hydra reckte ihre neun Hälse und rief: "Ich kann euch sagen: Es steht nicht gut. Die Zeiten haben begonnen, sich zu ändern. Überall beginnen die Menschen die Welt der Magie zu vergessen und sich mit einer anderen Form der Magie zu befassen: Der Technik. Sie glauben nicht mehr an uns. Ja viele von ihnen wissen noch nicht einmal mehr, was Drachen und Trolle sind, geschweige denn, dass es sie gibt. Noch sind diese Gegenden, die frei von jeder Magie sind, klein. Aber sie werden wachsen, größer werden, sich vermehren und die Magie verdrängen. Der Tag wird kommen, an dem es keine Magie mehr geben wird. Zum Glück ist dieser Tag noch fern. Aber er wird kommen, das ist sicher. Wir dürfen aber die Hoffnung nicht aufgeben, dass es für uns alle eine Rettung gibt. Es ist der gekommen, der nach einer alten Prophezeiung kommen wird. Eine Drache soll es sein, der Enkel des Schwärzesten der Schwarzen. Der Sohn eines Grünen und einer Hexe. Sechs Beine soll er haben und schwarz soll er sein. Dieser Drache wird dereinst selbst Drachenkönig werden. Der letzte der Könige der Magie. Dieser letzte König wird es schaffen, die Magie über viele Jahrhunderte zu erhalten. Erst mit seinem Ende wird auch für uns das Ende aller Zeiten gekommen sein: Das Ende der Magie!"
Die Hydra entfaltete ihre riesigen Schwingen.
"Meine Freunde! Laßt uns nun die aus uralter Zeit überlieferten, magischen Worte sprechen, die nur in einer Walpurgisnacht gesprochen werden dürfen. Zu Ehren der Taufe des Letzten Königs!"
Alle Ungeheuer erhoben sich von den Plätzen und breiteten ihre Arme und Flügel aus. Die Luft begann zu knistern, als die versammelten Wesen ihre gesamte magische Kraft entfalteten und auf einen Punkt konzentrierten: Den kleinen Drachen, der hoch oben auf einer Steinsäule stand.

"Stürme des Nordens in eisiger Pracht. Kommt mit Magie und all eurer Macht! Sternenlicht und Mondenschein sollen unsre Zeugen sein: Du wirst unser König sein. Winde, Stürme, Wolkenberge höret hin, auch alle Zwerge. Alle Feen, Hexen, Geister ruft ihn jetzt und immer weiter. Dieser Name soll es sein, der hallt in diese Nacht hinein!"

Der kleine Drache glühte auf wie ein Rubin. Die geballte Magie der Anwesenden hatte ihre größte Macht erreicht. 
"Quetzalkoatlus, der Letzte König! Das soll dein Name sein!" rief die Hydra mit der Kraft ihrer neun Mäuler, dass es bis in das Tal hinabhallte, begleitet von tiefem Donnergrollen, dass der Rhein aufschäumte wie bei einem gewaltigen Sturm.

Die magische Aura explodierte lautlos. Alle schlossen geblendet ihre Augen. Dann trat völlige Dunkelheit ein. Oben auf seiner Säule stand Quetzalkoatlus. Doch der kleine Drache war nicht mehr wiederzuerkennen: Sein Körper strahlte nun von innen heraus wie ein gleißender schwarzer Diamant. Die Krallen leuchteten wie pures Gold und sein Rachen schimmerte in roter Glut. Der letzte König richtete sein Haupt gen Himmel und stieß einen weißglühenden Feuerstrahl, der die Sterne verblassen ließ, in die Nacht. Endlich war er ein richtiger Drache geworden. Mit dem einen richtigen Namen, der nur für ihn der einzig richtige war, der zu ihm passte und der ihm angemessen war: Quetzalkoatlus, der Letzte König!
 

© W. H. Asmek
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