Vor langer, langer Zeit, als es noch edle
Ritter gab, als Drachen die Welt beherrschten und in den Wäldern noch
Geister und Gnome hausten, als Zwerge in ihren tiefen Stollen die unermesslichen
Gold- und Edelsteinschätze der Berge abbauten, als noch niemand an
Internet oder e-Government dachte, lebte in den tiefen, dunklen Wäldern
des Riesengebirges der Traumwächter Dommerjahn.
Die Traumwächter waren ein uraltes Volk,
das die Erschaffung der Welt miterlebt hatte. Hin und wieder munkelten
die Menschen hinter vorgehaltener Hand, dass sie sogar an der Erschaffung
der Welt mitgewirkt hatten. Das war natürlich barer Unsinn! Die Traumwächter
schmunzelten in ihrer zurückhaltenden Art über dieses Geschwätz
– und schwiegen wie sie es immer taten.
Da es immer schon nur sehr wenige Traumwächter
auf der Erde gegeben hatte und diese stets einsam und zurückgezogen
lebten, gerieten sie im Laufe der Zeit mehr und mehr in Vergessenheit.
Schließlich konnte sich kaum mehr jemand daran erinnern, dass es
sie überhaupt jemals gegeben hatte. Eigentlich war das schade, denn
die Traumwächter kannten infolge ihres unermesslich langen Daseins
vieles, das andere nicht einmal erahnten. Sie verstanden die Sprache der
Tiere und Pflanzen, unterhielten sich mit dem Wind, lauschten dem Wasser
und kannten die Geheimnisse der Gestirne. Ihre hervorragendste Gabe aber
war das Wissen um das Wesen der Träume. Und das war der Grund, warum
man sie Traumwächter genannt hatte. Viele Krankheiten des Körpers
und der Seele hatten ihre Ursachen in den Tiefen der Träume. Kam ein
Kranker zu ihnen, so tauchten sie mit ihm hinab in seine Träume, erforschten
sie und fanden fast immer die Ursachen für alle Probleme. Doch sie
halfen nicht jedem und ihr Preis war hoch.
Seit etwa zwei Jahren hatte der Traumwächter
Dommerjahn einen Gehilfen. Wie es sich für einen Traumwächter
gehörte, war dieser kein gewöhnliches Lebewesen. Ganz und gar
nicht! Der Gehilfe war ein Drache! Darüber hinaus war dieser Drache
kein gewöhnlicher Drache. Er war kein Geringerer als Quetzalkoatlus,
der zukünftige König der Drachen, Sohn Quatzkotls, des gegenwärtigen
Königs der Drachen und dessen Gemahlin, der Hexe Cillie. Er war der
Enkel Pergotzkatls, des entsetzlichsten Drachenkönigs, der je über
die Welt geherrscht hatte. Und seine Patin war die neunköpfige Hydra.
Quetzalkoatlus blickte also auf eine erlesene Ahnenreihe zurück. Er
entstammte allerbestem Drachenblut.
Dommerjahn kümmerte das aber nicht sonderlich.
Quetzalkoatlus wurde von ihm wie ein ganz normaler Diener behandelt: Er
musste regelmäßig die geräumige Wohnhöhle putzen,
denn Dommerjahn bestand auf Sauberkeit - und er musste die Mahlzeiten zubereiten,
denn Dommerjahn bestand auf geregelten Essenzeiten. Dennoch ging es dem
jungen Drachen nicht schlecht, denn Dommerjahn war ein gerechter und gütiger
Meister, der ihn wohl forderte, ihn aber nicht über Gebühr beanspruchte.
Der Drache fühlte sich darum auch recht wohl bei ihm, denn er lernte
viel. Vor allem Tugenden wie Disziplin, Ehrlichkeit und Fleiß. Vor
allem die Disziplin ist eine Angelegenheit, die alle jungen Drachen mit
viel Mühe erlernen müssen, denn sie sind in der Regel äußerst
übermütig, haben einen ernormen Bewegungsdrang und neigen auf
Grund ihrer überbordenden Kraft zur Gewalttätigkeit. Nicht, weil
sie es böse meinen. Mehr aus Unachtsamkeit und jugendlichem Leichtsinn.
Darüber hinaus bekam er Unterricht in
den unterschiedlichsten Sprachen. Er lernte Lesen, Schreiben und Rechnen
und durfte seinem Meister bei dessen Unterhaltungen mit Rat- und Hilfesuchenden
zuhören. Im Laufe der Zeit lernte er Dommerjahn mehr und mehr schätzen
und liebte ihn aufgrund seiner Weisheit wie einen guten Freund. Dommerjahn
seinerseits freute sich über die beachtlichen geistigen Fähigkeiten
seines Lehrlings, förderte ihn wo er nur konnte und behandelte ihn
mehr und mehr wie seinen eigenen Sohn. So entging ihm nicht, dass der junge
Drache an Heimweh litt. Der Traumwächter dachte bereits darüber
nach, ob er ihm einen kurzen Familienurlaub gewähren sollte, als ihm
das Schicksal zu Hilfe kam.
Am Abend eines warmen Frühherbsttages
rief Dommerjahn seinen Helfer zu sich.
"Wir bekommen Gäste!" sagte er. "Bereite
bitte das Abendbrot vor. Decke den Tisch für vier Personen. Unsere
Besucher bevorzugen Fisch. Richte dich bitte darauf ein!"
Quetzalkoatlus wunderte sich nicht über
die exakten Anweisungen seines Herrn. Er war es gewohnt, dass sein Meister
häufig bereits vorher wusste, was in nächster Zukunft geschehen
würde. Er wollte sich bereits an die Arbeit machen, als der Traumwächter
ihm noch nachrief:
"Nimm bitte deine menschliche Gestalt an.
Unsere Gäste sollen sich nicht fürchten!"
Als Drache königlichen Geblüts konnte
er nämlich noch eine zweite Gestalt annehmen: Die eines Menschen.
Er verwandelte sich in einen pechschwarzen Jungen von etwa zwölf Jahren.
Nur sein feuerrotes, wild wucherndes Haar auf dem Kopf und seine strahlend
goldenen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte, durchbrachen das
Schwarz. Auf seine Art war er nicht nur ein äußerst schönes
Ungeheuer, sondern auch ein bemerkenswert hübscher Knabe.
Außer seinem Gehilfen hatte der Traumwächter
keine Bediensteten, so dass der Junge flink arbeiten musste, um rechtzeitig
fertig zu werden. Kaum war der Tisch gedeckt und das Essen zubereitet,
da vernahm er auch schon Stimmen am Eingang der Höhle.
Dommerjahn nickte ihm zu und Quetzalkoatlus
ging nach draußen, um die Ankömmlinge zu begrüßen.
Das Erste, das er erblickte, war das Maul eines großen Pferdes. Er
kannte sich gut mit Pferden aus, so dass er sich nicht erschreckte. Auf
dem Schloss König Richards, des besten Freundes seines Vaters, war
er häufig mit ihnen in Kontakt gekommen. Dieses Pferd hier aber kannte
ihn nicht. Es scheute und stieg auf der Hinterhand hoch, da es mit dem
schwarzen Jungen, der gar nicht wie ein Mensch roch, nichts anfangen konnte.
Sein Reiter konnte sich nur mit Mühe im Sattel halten.
Der Reiter sah völlig anders aus als
die Ritter, die Quetzalkoatlus sonst gewohnt war: Er trug ein prachtvolles,
eng anliegendes, rotes Gewand mit goldenen Verzierungen. Die Schulterpartie
war extrem weit geschnitten, so dass es aussah, als wären es Flügel.
An der rechten Seite trug er in einer reich verzierten Scheide ein großes,
gekrümmtes Zweihandschwert. Auf der linken Seite ein kürzeres
gerades. Die Beine steckten in einer eng geschnittenen rot-goldenen Hose.
Die Schuhe waren flach und im Gegensatz zu der sonstigen Kleidung betont
einfach gefertigt. Das hochwangige Gesicht war breitflächig, die Augen
zu schmalen Schlitzen verengt und fast schwarz. Das Haar blauschwarz und
hinten zu einem Zopf zusammengeflochten.
Der Mann war nicht allein! Um ihn herum befanden
sich andere Berittene, die ähnlich, wenn auch deutlich schlichter
gekleidet, aber mit ebenso blitzenden Krummschwertern ausgestattet waren
wie er. Quetzalkoatlus schätzte ihre Zahl auf ungefähr 50.
Als das Pferd sich wieder einigermaßen
beruhigt hatte, atmete sein Reiter erleichtert auf. In einer fließenden
Bewegung, die viel Kraft und Geschmeidigkeit verriet, stieg er aus dem
Sattel. Freundlich, aber mit stolzer Haltung trat er auf den schwarzen
Jungen zu und grüßte höflich:
"Ich bin Yono Hatamoto, oberster Samurai und
Feldherr des Landes der aufgehenden Sonne. Ich suche den erhabenen Traumwächter
Dommerjahn!"
Quetzalkoatlus sah sich den Mann genau an.
Jetzt, wo er unmittelbar vor ihm stand, stellte er fest, dass er nicht
viel größer war als er selbst. Doch trotz dieser geringen Größe
ging die Aura einer bedeutenden Persönlichkeit von ihm aus. So höflich
wie er war, so gefährlich wirkte er auch. Seine Schwerter trug er
mit Sicherheit nicht nur zur Zierde mit sich. Die kräftigen Hände
zeugten davon, dass er sie auch zu führen verstand.
"Ich bin Quetzalkoatlus, der Diener Dommerjahns,
des Traumwächters! Der Meister hat euch bereits erwartet, Yono Hatamoto.
Er ist bereit, dich und deinen Sohn Hieronto zu empfangen!"
"Was weiß dein Meister von meinem Sohn?"
fragte Yono Hatamoto erstaunt. "Wir haben mit niemandem über unsere
Mission gesprochen."
Quetzalkoatlus lächelte verhalten und
zuckte mit den Achseln.
"Er ist ein Traumwächter," gab er kurz
zurück. Und damit war alles gesagt.
Der Samurai gab seinen Begleitern einen kurzen
Wink. Mit knappen, in einer fremden, harten Sprache hastig hingeworfenen
Worten, befahl er ihnen abzusteigen. Eine Person befahl er mit einem Wink
zu sich. Es war ein Junge, etwa in Quetzalkoatlus Alter.
"Wird erwartet, dass ich meine Schwerter ablegen?"
fragte Yono. "Du musst wissen, dass ein Samurai seine Schwerter in der
Regel nie ablegt. Ich bin aber bereit, mich dem Willen des Traumwächters
zu unterwerfen."
"Das ist nicht nötig," gab Quetzalkoatlus
zurück. "Der Meister kann durch menschliche Waffen keinen Schaden
erleiden."
Sie bückten sich durch den niedrigen
Eingang und betraten die Höhle. Dommerjahns Behausung war keines der
üblichen dunklen Löcher im Felsgestein, an die man üblicherweise
denkt, wenn man das Wort "Höhle" hört. Er bewohnte eine uralte
Tropfsteinhöhle, die von leuchtenden Kristallen erhellt wurde. Die
Tropfsteine, die sich im Laufe der Jahrtausende gebildet hatten, schillerten
in bunten Farben, die durch das sanfte Licht der Kristalle in bester Manier
betont wurden. Selbst Quetzalkoatlus, der diesen Anblick doch bereits gewohnt
war, ließ sich immer wieder von der Schönheit des Lichts und
der Farben verzaubern. Er konnte stundenlang durch die Gänge und Grotten
der weitläufigen Höhle wandern, ohne sich zu langweilen. Die
Augen der Besucher weiteten sich überrascht, als sie diese Pracht
erblickten. Es sprach für ihre Selbstbeherrschung, dass ihnen kein
Laut der Überraschung entfuhr.
Sie wurden bereits von Dommerjahn erwartet,
der in seiner ihm typischen Bescheidenheit auf einem kleinen Schemel saß.
Die zwei Fremden stellten sich vor dem Traumwächter
auf und verbeugten sich gleichzeitig.
"Sei gegrüßt, erhabener Traumwächter,"
sagte Yono in seiner abgehackten Sprechweise. "Ich komme in Demut zu dir,
um dich um Hilfe für meinen Sohn Hieronto zu bitten."
"Ist dein Sohn bereit, den Preis zu zahlen?"
fragte Dommerjahn.
"Wir wissen, dass der Preis für die Hilfe
eines Traumwächters hoch ist," gab Yono zurück. "Wie wissen aber
auch, dass der Preis stets gerecht und angemessen ist. Mein Sohn ist bereit,
den Preis zu zahlen."
Dommerjahn blickte Hieronto an. Dieser nickte
bestätigend zurück.
"So sei es denn," sagte Dommerjahn. "Bevor
wir uns eurem Problem zuwenden, solltet ihr euch stärken. Ihr hattet
eine anstrengende Reise und Probleme sollte man nicht erschöpft und
mit leerem Magen angehen."
Die Besucher antworteten mit einem freudigen
"Hai", das wohl ein "Ja" bedeuten sollte, warteten aber höflich, bis
Dommerjahn den ersten Bissen zu sich genommen hatte, bis sie selbst zulangten.
Die Speisen schienen ihnen zuzusagen, denn sie aßen tüchtig,
wobei sie betont laut schmatzten und hin und wieder das ein oder andere
Rülpserchen von sich gaben. Im Gegensatz zu seinem Herrn war Quetzalkoatlus
mit den Tischsitten fremder Völker nicht sonderlich vertraut. Er war
aber von der Geräuschkulisse sehr angetan. Da Drachen für die
peniblen menschlichen Tischsitten im allgemeinen wenig übrig haben,
beteiligte er sich nach Kräften an der Orgie. Natürlich nur aus
Höflichkeit den Gästen gegenüber! Dommerjahn focht das alles
nicht an. Er hatte schon Schlimmeres erlebt.
Schließlich war das Mahl beendet. Yono
fletschte höflich die gelben Zähne, wobei ihm ein donnernder
Rülpser entfuhr. Die Zeit des Sprechens war gekommen.
Der Traumwächter lehnte sich zurück.
"Was gibt mir die Ehre eures Besuches?" wollte
er wissen, obwohl er es schon wusste. Aber er wollte seinem Gast die Gelegenheit
geben, seine Bitte auf seine Art vorzutragen.
Yono Hatamoto erhob sich von seinem Platz
und sprach:
"Erhabener Traumwächter, wir sind aus
dem Land der aufgehenden Sonne aufgebrochen, weil ein großes Unheil
über mich und meine Familie gekommen ist. Wisse, dass wir Hatamotos
bereits seit sechzehn Generationen den obersten Samurai in unserem Lande
stellen. Er ist der Anführer und Befehlshaber über alle anderen
Krieger unseres Volkes. Wir sind eine kriegerische Nation, dem die Ehre
des Kriegers über alles geht und nur ein besonders tüchtiger
Mann kann dieses Amt ausfüllen. Er muss klüger, stärker
und tapferer als alle anderen Samurai sein. Vor allem aber muss er ein
Mann sein."
"Erkläre mir bitte einmal genau, was
ein Samurai ist!" bat Dommerjahn.
"Ein Samurai ist ein Elitekrieger unseres
Volkes. Er lebt für den Kampf und für die Ehre. Er kennt keine
Furcht und zögert nicht, sein Leben bedingungslos zum Wohle seines
Fürsten zu opfern. Wenn sein Fürst ihm befiehlt zu sterben, wird
er nicht fragen warum, sondern mit Freude sofort in den Tod gehen. Wenn
ein Samurai trotz aller Schlachten und Gefahren, denen er in seinem Leben
ausgesetzt war, so alt geworden ist, dass er für den Kampf nichts
mehr taugt, ist es für ihn die höchste Ehre, mit Erlaubnis seines
Herrn seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Er begeht in aller Form Seppuku,
das heißt, dass er sich mit seinem eigenen Schwert ohne einen Schmerzenslaut
den Bauch aufschlitzt."
Yono hatte sich in Eifer geredet. Er stand
hoch aufgerichtet da. Seine Augen flammten. Quetzalkoatlus wurde schon
beinahe unheimlich zumute, als er den alten Samurai vor sich stehen sah.
Er konnte sich gut vorstellen, wie dieser Mann trotz seiner vielen Lebensjahre
todesmutig auf eine ganze Gruppe von Gegner losgehen würde, um sie
in Stücke zu hauen.
"Dann, so kann ich mir vorstellen, muss ein
Samurai wirklich ein ganzer Mann sein," kommentierte Dommerjahn ungerührt
den Ausbruch des Alten.
Yono sah seinen Sohn an und sank in sich zusammen.
"Mein Sohn Hieronto ist seit seiner Geburt
dazu auserwählt worden, ein Samurai zu werden. Er kennt keine Furcht,
ist klug und stark, so dass ich allen Grund hätte, stolz auf ihn zu
sein. Aber: Für wie alt hältst du ihn?" seufzte er.
Dommerjahn blickte den Jungen an und antwortete:
"Wenn ich ihn mir so ansehe und seine Statur
berücksichtige, so scheint er mir ein Junge von elf Jahren zu sein."
Quetzalkoatlus musste seinem Meister innerlich
zustimmen. Der Junge wirkte nicht älter als er selber.
Yono senkte traurig mit dem Kopf.
"Das ist das Problem," sagte er düster.
"Mein Sohn wird im kommenden Jahr 16 Jahre alt. An diesem Geburtstag soll
er in den Kriegerstand der Samurai aufgenommen werden und seine Schwerter
bekommen. Wenn er aber so bleibt, wie er jetzt ist, wird das nicht geschehen.
Mit dieser Schande wird er nicht leben können und sich selbst entleiben
müssen."
"Wie kann ich euch helfen?" wollte Dommerjahn
wissen.
"Die Traumwächter stehen im Ruf, alle
Geheimnisse der Welt zu kennen," erwiderte Yono. "Wir hoffen, dass du in
der Lage sein wirst, uns den Grund dafür mitzuteilen, warum mein Sohn
nicht mehr weiter wächst und körperlich und geistig auf der Entwicklungsstufe
eines Kindes stehen bleibt – und was wir dagegen tun können."
Dommerjahn nickte.
"Ich kann nun euer Leid verstehen. Für
diesen Entwicklungsstopp kann es viele Gründe geben. Ich werde deinen
Sohn gründlich untersuchen müssen, um die Ursache zu finden."
"Ich bin mit allem einverstanden," gab Yono
zurück. "Tue, was du für richtig hältst."
"Dann bitte ich dich, die Höhle zu verlassen.
Dein Sohn muss bei mir und meinem Gehilfen bleiben."
Yono gehorchte widerspruchslos und verließ
die Höhle, deren Eingang sich hinter ihm schloss.
Dommerjahn winkte den Jungen zu sich heran.
"Wir werden nun zusammen träumen!" sagte
er. Er richtete seine großen schwarzen Augen auf den Jungen und blickte
ihn tief und fest an.
"Du wirst jetzt einschlafen und tief und fest
Schlafen. Dein ganzes Leben wird an dir vorüberziehen. Einzelheiten,
die du schon lange vergessen hast, Kleinigkeiten, die du nie wahrgenommen
hast, werden dir ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Ich werde
dich auf diesem Weg begleiten, dich lenken, leiten und beschützen."
"Warum musst du mich beschützen?" fragte
der Junge. "Es sind doch nur Träume!"
Dommerjahn seufzte.
"Träume besitzen auf alle Menschen einen
großen Einfluss. Sie sind sehr mächtig. Sie können deine
Seele krank machen, dir deine Kraft rauben, deinen Verstand nehmen. Es
gibt magische Wesen, die sich von den Träumen der Sterblichen nähren.
Sie saugen ihre Kraft in sich auf, nehmen einen Teil ihrer Seele mit und
schwächen sie so. Sie kommen nachts, wenn die Träumer am tiefsten
schlafen, sie nicht bemerken und nehmen sich, was ihnen nicht gehört.
Ein Mensch ohne seine Träume ist nur eine leere Hülle. Ein wandelndes
Nichts. Seelenlos. Lass uns also sorgsam mit deinen Träumen umgehen.
Sie sind ein wesentlicher Bestandteil deiner selbst"
Hieronto schwieg und blickte nun seinerseits
in die abgrundtiefen Augen des Traumwächters, die ihn wie zeitlose
Brunnen anzogen. Ein Sog packte ihn und riss ihn mit sich in den Bann Dommerjahns
des Traumwächters. Die Seele des Jungen verschmolz mit der des uralten
Weisen.
Der junge Drache kannte all dies schon. Oft
genug hatte er mit angesehen, wie ein Ratsuchender vom Blick des Alten
regelrecht verschlungen wurde. Doch so unheimlich, wie es aussah, war es
gar nicht. Dommerjahn musste mit seinem Klienten verschmelzen, wenn er
ihn untersuchte. Nur so konnte er in die letzten Winkel des Bewusstseins
des anderen gelangen.
Die Zeit verrann. Dommerjahn und der Junge
blickten sich unverwandt an und rührten sich nicht. Steif und starr
wie Statuen standen sie da als wären sie und die Welt mit ihnen eingefroren.
Dann endlich gab der Traumwächter die
Seele des Jungen wieder frei. Erschöpft ließ er sich von seinem
Diener zu einem Sessel führen. Das Kind indes sank auf den Boden,
wo es weiterschlief.
"Hole jetzt bitte Yono herein," bat Dommerjahn.
Quetzalkoatlus lief so schnell er konnte vor
die Höhle, deren Eingang sich wieder geöffnet hatte. Er wandte
sich an den alten Samurai und winkte ihn herein.
"Die Krankheit deines Sohnes ist schwer zu
heilen," eröffnete Dommerjahn dem Vater. "Ist dir an ihm etwas Besonderes
aufgefallen? Hat er sich in seinem Verhalten verändert?"
Yono überlegte.
"Mir scheint, dass er in den letzten Jahren
keine Fortschritte in der Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit
gemacht hat. Er ist ein Kind geblieben. Aber das hatte ich ja schon gesagt."
"Gut," erwiderte Dommerjahn. "An was für
einem Tag hat dein Sohn Geburtstag?"
"Es ist der 18. Oktober." antwortete Yono.
"Der 18. Oktober zählt zu den Geburtstagen
mit einer besonderen magischen Kraft. Er ist der erste wichtige Tag des
Frühherbstes," nickte Dommerjahn. "Ich kann dir jetzt sagen, was deinem
Sohn fehlt: Jemand hat ihm seinen Geburtstag gestohlen."
Der alte Samurai blickte den Traumwächter
an, als habe dieser den Verstand verloren.
"Was hast du gesagt? Man hat ihm was
gestohlen?"
"Seinen Geburtstag!" gab dieser ruhig zurück.
"Du hältst das sicherlich für Unsinn. Aber es ist nun einmal
so. Es gibt in dieser Welt Dinge, von denen du dir keine Vorstellung machst,
Yono. Du bist ein Krieger, der nur an das glaubt, das er anfassen oder
mit seinem Schwert töten kann. Übernatürliches ist für
dich fremd. Zu mir bist du nur gekommen, weil du völlig verzweifelt
bist und nicht, weil du an meine Fähigkeiten glaubst. Du brauchst
es nicht zuzugeben. Ich weiß, dass es so ist. Wenn dein Sohn aber
wieder gesund werden will, so muss er sich seinen Geburtstag wiederholen!
Er muss den Dieb aufsuchen, ihn eigenhändig töten und ihm dadurch
das Gestohlene wieder abnehmen. Sonst wird er bis an sein Lebensende ein
Kind bleiben."
Dommerjahn wies auf Quetzalkoatlus.
"Schau dir meinen Diener an! Fällt dir
etwas an ihm auf?"
Yono brummte: "Er sieht etwas ungewöhnlich
aus. Aber ich habe auf meinem Weg zu dir viele seltsame Völker kennen
gelernt. Ich sehe nichts wirklich Außergewöhnliches an ihm."
"Und doch gehört er einer Art an, die
mehr als nur außergewöhnlich ist. Er ist sogar ein Prinz seiner
Art. Ein magisches Wesen, das übernatürliche Kräfte hat."
Yono blickte den schwarzen Jungen skeptisch
an, sagte aber nichts.
Dommerjahn fuhr fort.
"Mein Diener ist kein geringerer als Quetzalkoatlus,
der Sohn Quatzkotls, des Königs der Drachen!"
Kaum hatte Dommerjahn diese Worte ausgesprochen,
nahm der Junge seine wahre Gestalt an. Vor dem Samurai tauchte plötzlich
ein schwarzer, sechsbeiniger Drache auf.
Jeder andere Mensch hätte sicherlich
auf der Stelle die Fassung verloren. Yono, der ein langes Leben als Krieger
hinter sich hatte, reagierte mit seinen antrainierten Reflexen: Von einem
Augenblick zum anderen hatte er sein Zweihandschwert in den Händen
und ließ es durch die Luft zischen. Der Stahl der Klinge sauste durch
die Luft und traf auf die Schuppen des Drachen.
Nun ist es so, dass Drachenschuppen, insbesondere
die eines Drachen königlichen Geblüts, nicht von normalem, handgeschmiedetem
Stahl verletzt werden können. Schwerter, die einen Drachen töten
können, müssen unter Verwendung magischer Mittel hergestellt
werden. Das Schwert Yonos war aus bestem Waffenstahl. Es konnte sogar Steine
spalten, ohne auch nur eine Scharte davonzutragen. Mit der Härte der
Schuppen des Drachen aber konnte es nicht konkurrieren. Die Waffe prallte
zurück und wurde dem Krieger aus der Hand geschleudert. Yono wollte
sofort nachsetzen, konnte sich aber zu seinem Entsetzen nicht mehr rühren.
Es war ein Gefühl, als sei er von einer Sekunde zur anderen zu Stein
geworden.
"Du hast einen schweren Fehler gemacht!" warf
Dommerjahn ihm vor. "Du hast die Gesetze der Gastfreundschaft verletzt,
indem du in meiner Gegenwart eine Waffe gezogen hast, um meinen Diener
zu töten. Das ist unverzeihlich und muss bestraft werden! Zunächst
jedoch zu deinem Sohn, denn die Strafe, die ich dir auferlegen werde, hängt
mit ihm zusammen."
Dommerjahn entließ den Samurai aus seiner
magischen Fessel. Niedergeschlagen blieb dieser regungslos stehen.
"Ich schäme mich wegen meiner Unbeherrschtheit.
Es ist in der Tat absolut unverzeihlich!" flüsterte er.
Dommerjahn fuhr fort. Yono, Hieronto und der
Drache hörten aufmerksam zu.
"Es gibt viele magische Wesen, die Sterblichen
mit ihren Fähigkeiten Schaden zufügen können. Zum Teil tun
sie das unabsichtlich. Zum Teil aber auch gezielt. Die Fürsten der
Finsternis wie zum Beispiel Xusia oder Janus haben den Menschen die Seelen
geraubt, um ihre eigene Macht zu stärken. Andere tun es, um Unsterblichkeit
zu erlangen. Die Fürsten der Finsternis haben das nicht nötig,
denn sie sind bereits unsterblich."
Bis auf Quetzalkoatlus verstanden die Zuhörer
kein Wort von dem, was der Traumwächter sagte.
"Ich bin mir immer noch nicht ganz im Klaren
darüber, wer Hierontos Geburtstag gestohlen haben könnte. In
den Träumen des Jungen habe ich einen Schatten gesehen. Mehr nicht.
Es gibt nicht viele Magier, die es vermögen, die Fähigkeiten
eines Traumwächters zu blenden oder zu behindern," dachte Dommerjahn
laut. "Mir fällt nur ein Name ein, aber dieser Name ist außerordentlich
unangenehm, denn er steht für jemanden, der besonders skrupellos und
charakterlos ist. Er ist hinterhältig und verschlagen, listenreich
und gewalttätig. Er heißt Laurin!"
"Ich dachte, Laurin sei bereits tot!" entfuhr
es Quetzalkoatlus.
"Wo steckt dieser Laurin?" stieß Yono
zischend hervor. "Zeige ihn mir und ich schlage ihn in Stücke!"
"Stelle dir das nicht so einfach vor, Yono!"
mahnte Dommerjahn. "Laurin ist ein magisches Wesen, das dir mit seinen
Fähigkeiten weit überlegen ist. Laurin ist ein abtrünniger
Zwerg, der vor vielen hundert Jahren sein Volk verlassen musste, weil es
ihn verstieß. Seither streift er ruhelos umher und sucht nach Mitteln
und Wegen, sich für diese Schmach zu rächen. Viele Jahre lang
war es ruhig um ihn, so dass man annahm, er sei gestorben. Doch das ist
nicht wahr. Wir Traumwächter wissen es besser. Laurin ist nie gestorben.
Zwerge haben ein langes Leben und Laurin ist es immer wieder gelungen,
seine natürliche Lebensspanne zu verlängern. Er hat Kontakt mit
den Fürsten der Finsternis aufgenommen und war viele Jahre hindurch
ein ergebener Diener Xusias, der bis zu seinem Tod einer der mächtigsten
Fürsten der Finsternis war. In dieser Zeit ist es ihm auch gelungen,
sich das Wissen über viele Zaubertränke anzueignen. Darunter
auch solche, die das Leben verlängern. Doch kein Trank kann das ewige
Leben bringen. Darum ist Laurin offenbar auf den Gedanken gekommen, sterblichen
Kindern ihre Geburtstage zu stehlen. In der Nacht vor dem Geburtstag eines
Kindes ist die magische Kraft dieses Tages besonders stark und wenn er
ihn unmittelbar beim Eintreten in den neuen Tag raubt, kann er dessen Kraft
für sich nutzbar machen. Wenn er 365 Geburtstage besitzt, hat er sein
Ziel erreicht und ist unsterblich."
"Ich kann meine Frage nur wiederholen," brummte
Yono. "Wo ist der Kerl, damit ich ihn in Stücke hauen kann?"
"Das ist das eigentlich Problem an der Sache,"
gab Dommerjahn zu. "Laurin streift in der meisten Zeit des Jahres ruhelos
umher. Niemand weiß, wo seine eigentliche Behausung ist. Man braucht
einen Ortungszauber, um ihn zu finden. Außerdem vermute ich, dass
er sich in den Besitz des Mantels der Dunkelheit gebracht hat, einen Tarnmantel,
der ursprünglich Xusia gehörte. Nur so kann ich mir erklären,
dass ich im Traum Hierontos kein klares Bild Laurins gesehen habe. Ihr
werdet ihn also nicht nur suchen und finden müssen, sondern müsst
es auch schaffen, seine Unsichtbarkeit aufzuheben."
"Was sollen wir nun machen? Wie geht es weiter?"
wollte Yono wissen, dem man ansah, dass er von dem ganzen magischen Zirkus
immer noch nicht viel hielt.
"Ich kenne einen ganz hervorragenden Magier,
der in der Lage ist, den Ortungszauber, den ihr braucht, herzustellen.
Er heißt Merling und lebt im Siebengebirge. Dort müsst ihr hin.
Mein Diener Quetzalkoatlus wird euch führen."
Quetzalkoatlus hüpfte das Herz vor Freude
wie ein Lämmerschwanz! Das bedeutete, dass er nach Hause zu seinen
Eltern und seinen Freunden durfte! Er nahm aber all seine Selbstbeherrschung
zusammen, um die nötige Würde zu bewahren. Es schickte sich nicht
für den Gehilfen eines Traumwächters, in unkontrollierte Jubelrufe
auszubrechen.
Der Traumwächter fuhr fort.
"Nun meine Bedingungen, unter denen die Reise
unternommen wird. Da du, Yono, durch deine Unbeherrschtheit die Gesetze
der Gastfreundschaft missachtet hast, wirst du von nun an deine Schwerter
nicht mehr ziehen können. Ich belege sie mit einem magischen Bann,
der erst dann aufgehoben wird, wenn du auf den triffst, der dich im Schwertkampf
besiegen wird."
Yono grunzte verächtlich. "Das wird nie
geschehen. Im Schwertkampf bin ich noch nie geschlagen worden!"
Dommerjahn entgegnete nichts. Das Krummschwert
des Samurai löste sich wie von Geisterhand geführt vom Boden,
schwebte auf Yono zu und fuhr von selbst in die Scheide. Der Alte versuchte
sofort, es wieder hinauszuziehen. Die Waffe saß aber fest, als sei
sie mit der Scheide verschweißt.
"Und du, Hieronto, wirst, nachdem du deinen
Geburtstag wieder bekommen hast, in das Land der aufgehenden Sonne zurückkehren.
Wenn du die Samurai-Würde bekommen hast, wirst du zu mir zurückkehren
und mir zehn Jahre lang als Gehilfe dienen," sprach Dommerjahn zu dem Jungen.
"Wenn du es wünscht, werde ich das selbstverständlich
tun, denn ein Samurai ist ein Mann von Ehre. Aber wie kannst du sicher
sein, dass ich das auch wirklich machen werde?" fragte Hieronto schüchtern.
"Alles wird so geschehen, wie ich es gesagt
habe. Niemand kann sich den Anordnungen eines Traumwächters entziehen,
mein Junge," gab Dommerjahn zurück.
Dann winkte er Quetzalkoatlus zu. "Ihr brecht
sofort auf!" ordnete er an. "Yono und Hieronto können zu Pferde weiterreisen.
Du selbst kannst deine Drachengestalt annehmen und fliegen. So werdet ihr
schnell ins Siebengebirge kommen."
"Was ist mit meinen Samurai?" fragte Yono.
"Dürfen sie uns begleiten?"
"Ihr werdet zu dritt reisen. Deine Leute werden
hier auf euch warten. Ihnen wird nichts geschehen, denn sie stehen unter
meinem Schutz."
"Es sind 50 auserlesene Elite-Samurai. Sie
brauchen deinen Schutz nicht!" erklärte Yono stolz und schritt in
Richtung Ausgang davon. Das Schmunzeln des Traumwächters bemerkte
er nicht.
Als die drei die Höhle verlassen hatten,
bemerkten sie, dass die 50 Samurai Yonos starr und steif wie Ölgötzen
auf ihren Rössern saßen. Dommerjahn hatte sie ganz offensichtlich
in einen magischen Tiefschlaf versetzt.
"Stasiszauber!" kommentierte Quetzalkoatlus
kurz. "So wird ihnen die Wartezeit wenigstens nicht lang. Wenn sie wieder
wach werden, wird für sie nur ein Lidschlag vergangen sein."
Yono und Hieronto wahrten ihre Würde,
stiegen kommentarlos auf ihre Pferde und folgten dem jungen Drachen, der
sich flügelschlagend in die Luft erhob, um ihnen den Weg zum Siebengebirge
zu weisen.
***
Die Wegstecke vom Riesengebirge bis zum Siebengebirge
zu überwinden war ein erkleckliches Stück Arbeit. Nicht nur die
reine Entfernung bereitete den Reisenden viel Mühe, sondern darüber
hinaus auch noch die schlechte Stimmung, die besonders Yono verbreitete.
Dem alten Haudegen stieß es sauer auf, dass der Traumwächter
seine Schwerter unbrauchbar gemacht hatte. Darum saß er meistens
mürrisch schweigend auf seinem Ross und blickte äußerst
grimmig drein. Hieronto war eigentlich ein ganz netter Junge. Er war freundlich
und aufgeschlossen. Abends löcherte er Quetzalkoatlus mit Fragen.
Und auf jede Frage, die er ihm beantwortete, fielen ihm wieder neue ein.
Wie denn ein Drache und eine Hexe heiraten und Kinder bekommen konnten,
wie ein Magier in einem Kochtopf magische Tränke zustandebringen konnte,
wie ein Drache neun Köpfe haben konnte, ohne sie zu verknoten, wie
man sich einen Troll vorstellen sollte, wie er denn zu seinem unmöglich
auszusprechenden Namen gekommen sei und vieles mehr.
Quetzalkoatlus bemühte sich nach Kräften,
den Wissensdurst des Jungen zu befriedigen. Doch da für jede beantwortete
Frage zehn neue auftauchten, war das ein mühsames Unterfangen. Im
Großen und Ganzen aber verlief die Reise ereignislos. Die beiden
Reiter kamen naturgemäß nicht so schnell voran wie der flugfähige
Drache, so dass dieser ständig vor und zurück fliegen musste
und so einen viel größeren Weg zurücklegte als seine Begleiter.
Eines Abends, als Quetzalkoatlus und seine
Weggefährten wieder einmal todmüde am flackernden Lagerfeuer
ruhten, tauchte aus dem sie umgebenden Gebüsch plötzlich ein
Trupp von gefährlich aussehenden Gestalten auf. Yono sprang auf, griff
nach seinem Schwert – und fluchte, weil er es nicht aus der Scheide bekam.
Hieronto blieb regungslos sitzen. Quetzalkoatlus aber nahm die Gestalt
des Jungen an.
"Wer seid ihr und was wollt ihr von uns?"
fragte er die Männer, die inzwischen einen engen Kreis um die drei
geschlossen hatten.
"Wir kommen in Unfrieden!" grinste einer von
ihnen, wobei er eine schwere Keule schwang. "Dieser Wald gehört uns.
Wer passieren will, muss ein Wegegeld entrichten. Schließlich müssen
auch wir von etwas leben."
Seine Kameraden, von denen nur zwei oder drei
ein Schwert trugen, quittierten seine Rede mit lautem Gegröle.
"Dieser Wald gehört niemandem. Dies ist
ein freier Weg, den jeder benutzen kann," widersprach der Drachenjunge.
"Das müssen wir aber besser wissen, denn
wir sind in der Überzahl und haben daher Recht," gab der Räuber
zurück. "Gebt uns euer Geld heraus. Dann werdet ihr schnell sterben.
Wenn nicht, erwartet euch ein langsamer und qualvoller Tod." Er drehte
den Kopf zu dem tobenden Yono, der immer noch versuchte, sein blockiertes
Schwert zu ziehen.
"Was ist denn das für ein Clown? Er sieht
sehr reich aus, scheint aber nicht alle Tassen im Schrank zu haben – oder
hat ihm die Angst den Verstand genommen?"
Als Yono das hörte, wurde er plötzlich
ruhig.
"Wenn dieser vermaledeite Dommerjahn dieses
Schwert nicht mit einem Bann belegt hätte, würdet ihr alle schon
in eurem Blute liegen!" zischte der Samurai. "Glaubt ja nicht, dass Yono
Hatamoto, der oberste der Samurai des Landes der aufgehenden Sonne Angst
vor euch Gesindel hat."
Der Räuberhauptmann horchte auf.
"Ihr kennt den Traumwächter Dommerjahn?"
fragte er. Als Yono nickte, meinte er: "Dann ist das natürlich etwas
ganz anderes. Wer unter dem Schutz eines Traumwächters reist, hat
freie Passage. Wir werden den Teufel tun und uns mit einem Traumwächter
anlegen!"
Er winkte seinen Männern kurz zu. In
Windeseile war die gesamte Bande wieder im Unterholz verschwunden.
Yono blickte ihnen verblüfft hinterher.
Von diesem Tag an schien sich seine Stimmung zu verändern. Er war
zwar so griesgrämig wie vorher, aber irgendwie hatte es den Anschein,
als wäre sein Respekt vor dem langen Arm des Traumwächters gestiegen.
***
Nachdem sie das Riesengebirge hinter sich gelassen
hatten, hielten sie sich Westwärts, wobei sie sich bemühten,
ihren Weg durch Flusstäler zu nehmen, da die Reise so für die
Pferde weniger anstrengend war. Nach etwa zwei Wochen erreichten sie das
Ufer des Rheins. Quetzalkoatlus schlug vor, den Fluss zu überqueren,
da der Weg auf der rechten Rheinseite ebener verlief als auf der linken.
Yono und Hieronto schlossen sich seiner Meinung an. Nach kurzer Suche fanden
sie auch eine Furt, die ihnen ein gefahrloses Überqueren des Stroms
erlaubte. Von nun an ging die Reise zügiger voran und nach einer weiteren
Woche erreichten sie schließlich das fruchtbare Tal, das sich am
Fuße des Drachenfelsens erstreckte.
Yono betrachtete mit Wohlwollen die sorgsam
gepflegten Felder, die sich vor ihm erstreckten. Auch die Bauernhöfe
sahen sehr ordentlich aus.
"Mir scheint, dass König Richard seine
Untertanen gut im Griff hat. Es zeigt sich immer wieder, dass eine strenge
Hand auch die faulsten Bauern an die Arbeit bringt!" stellte er fest.
Doch Quetzalkoatlus widersprach ihm.
"König Richard ist ein sehr gütiger
Herr. Die Bauern arbeiten in erster Linie für ihr eigenes Wohl. Die
Steuern sind gering: Jeder zahlt das, was er freiwillig entbehren kann.
Es ist für alle Seiten ein Leben in gegenseitiger Liebe und Achtung!"
Yono fletschte voller Verachtung die Zähne.
Das schien ja ein bemerkenswert schwacher König zu sein! Ließ
seine Bauern nach eigenem Gutdünken Steuern entrichten! Das grenzte
ja schon an Mitbestimmung! Das hatte die Welt ja noch nicht gehört.
Er selbst pflegte aus seinen Landleuten das Letzte herauszuholen und wer
sich nicht demütig vor ihm in den Staub warf, der verlor auf der Stelle
seinen Kopf. So machte man das und nicht anders!
Als die drei Reisenden durch die Bauernschaft
kamen, wurden sie von den Leuten natürlich neugierig beäugt.
Alle freuten sich, den kleinen Drachen wiederzusehen, der ihnen ans Herz
gewachsen war. Als sie schließlich an der Fähre angekommen waren,
welche die Bauernschaft mit der Stadt Königswinter auf der anderen
Seite des Flusses verband, hatte sich dort schon eine ansehnliche Menschenmenge
unter Führung des Dorfschultes versammelt.
"Es erfreut unsere Herzen, unseren Freund
und Prinzen Quetzalkoatlus wiederzusehen!" begrüßte der Schulte
den Drachen förmlich. Im Schloss wird gewiss ein Freudenfest gegeben
werden. Wir haben bereits zwei Ochsen, mehrere Schweine und ein gutes Schock
an Hühnern bereitgestellt. Wenn ihr nichts dagegen habt, könnt
ihr sie gleich mitnehmen."
Yono machte ein Gesicht, als wollte er den
Dorfschulte auf der Stelle enthaupten. Er, ein Samurai und ein Viehtreiber?
Das wäre ja noch schöner! Wiederum bedauerte er, sein Schwert
nicht benutzen zu dürfen.
Der Schulte wandte sich Quetzalkoatlus zu.
"Was ist denn das für einer?" flüsterte
er. "Der macht ja ein Gesicht wie ein entzündeter Daumen."
"Ich hab’s gehört!" brüllte der
Samurai voller Zorn. "Ich werde mich bei eurem König über euch
beschweren. Den Kopf muss man euch nehmen!"
Die umstehenden Bauern waren einen solchen
Ton nicht gewohnt, aber auch sehr tolerant, weil ihr König häufig
wunderliche Gäste empfing. Sie blieben darum ruhig, obwohl es ihnen
in den Fingern juckte, dem unfreundlichen Mann ihre Form von Anstand beizubringen.
Die Menge zerstreute sich wieder, nachdem Quetzalkoatlus sich in angemessener
Weise für den freundlichen Empfang bedankt hatte. Dann gingen er und
seine Begleiter auf die Fähre. Das Vieh wurde von zwei Hirten nachgetrieben.
Die schwankende Fahrt über den Rhein war kurz, aber weder im Sinne
der Reiter noch des Getiers. Ängstlich muhend und quiekend drängte
sich das Vieh an Bord zusammen, so dass die Fähre beängstigend
ins Schwanken geriet. Doch einige deftige Knüffe der Bauern brachten
das Viehzeug zur Vernunft. Nach wenigen Minuten war das andere Ufer erreicht.
Aufatmend gaben Yono und Hieronto ihren Tieren die Sporen. Unter Führung
des Drachen nahmen sie den Anstieg zur Burg in Angriff.
***
Tief in den Wäldern des Siebengebirges,
fast an der Grenze des Finsterwaldes, lebte der Drache Quatzkotl mit seiner
Gemahlin Cillie. Seit ihr Sohn Quetzalkoatlus in Diensten des Traumwächters
Dommerjahn stand, war es mit dem Seelenleben des Elternpaares nicht mehr
zum Besten bestellt. Insbesondere Quatzkotl litt sehr unter der Trennung
von seinem Sohn. Oft saß er abends stundelang vor dem Höhleneingang
und blickte hinaus auf die Wälder, deren dunkler Rücken sich
schier endlos vor seinen Augen erstreckte. Wenn er sehr lange dort draußen
saß, gesellte sich auch Cillie zu ihm. Teils, um ihn nicht allein
zu lassen teils, weil sie seine Nähe brauchte.
"Wie geht es dir?" fragte sie dann.
"Es geht mir gut," antwortete er. "Aber ich
vermisse ihn so!"
"Ich auch!" bestätigte sie dann.
So saßen sie dann bis in die Nacht hinein
und gaben sich ganz ihrer melancholischen Stimmung hin.
An einem Morgen aber hörten sie vom Eingang
der Höhle her das Geräusch schlagender Flügel. Cillie sah
nach und schrie vor Glück auf: Ihr Sohn war da! Sie umarmte den kleinen
Drachen, der inzwischen schon ein gutes Stück gewachsen war und rief
nach ihrem Gatten, der auch nicht lange auf sich warten ließ.
Quatzkotl stürmte heran und stürzte
sich auf seinen Sohn, als wollte er ihn auf der Stelle vor Freude erdrücken.
Jedes andere Lebewesen wäre auch auf der Stelle dahin gewesen, denn
nur ein Drachen ist in der Lage, echte Drachenliebe zu ertragen. Cillie
stürzte sich nun ihrerseits auf das in Liebe verschlungene Knäuel,
um ihren Teil zu der Wiedersehensfreude beizutragen. Bald reichte den Dreien
der Aufenthalt auf dem Boden nicht mehr, um ihren Gefühlen Ausdruck
zu geben. Sie stiegen steil in die Luft, umkreisten sich, ließen
sich in haarsträubenden Sturzflügen absacken und fingen sich
kurz vor dem Aufprall auf dem Boden wieder ab. Drachen sind ausgezeichnete,
ja kühne Flieger, so dass die Familie eine beeindruckende Flugshow
abgab. Für einige Bäume der Umgegend war dieser Eindruck aber
bleibend. So mancher Wipfel wurde geknickt und der ein oder andere Feuerstoß
verkohlte gleich ganze Baumgruppen. Endlich war die erste Welle der Wiedersehensfreude
überstanden. Die Familie beruhigte sich wieder.
"Wie kommt es, dass du uns besuchen darfst?"
keuchte Cillie ganz außer Atem.
Quetzalkoatlus berichtete, was in der letzten
Zeit passiert war.
"Yono ist zurzeit auf Schloss Drachenburg.
Richard möchte ihn erst mit unserer Welt vertraut machen, bevor er
ihn mutterseelenallein zu Merling schickt," schloss er seinen Bericht.
Quatzkotl machte ein bedenkliches Gesicht.
"Laurin? Der Name gefällt mir überhaupt
nicht! Ich erinnere mich noch gut an die Geschichten, die mir meine Mutter
über den damaligen Skandal erzählt hat. Der Vorfall liegt zwar
schon viele hundert Jahre zurück, aber die Verbannung Laurins muss
damals viel Staub aufgewirbelt haben. Zwischenzeitlich habe ich nichts
mehr von ihm gehört. Aber ein angenehmer Charakter ist er bestimmt
nicht. Vor allem, wenn er andere ins Unglück stürzt."
"Ich kann leider nicht lange bei euch bleiben,"
erklärte Quetzalkoatlus. "Dommerjahn hat mich beauftragt, auf Yono
und Hieronto aufzupassen, damit ihnen nichts passiert. Habt ihr keine Lust,
mit auf das Schloss zu kommen? Richard lädt euch herzlich ein."
Das ließen sich Cillie und Quatzkotl
natürlich nicht zweimal sagen. Drachen haben in der Regel kein Gepäck.
Sie sind immer reisfertig. Die drei machten sich also sofort auf den Weg
zum Schloss.
***
Auf Schloss Drachenburg bemühte Yono sich
unterdessen, seine Ungeduld zu zähmen. König Richard und sein
seltsamer Hofstaat waren ihm gegenüber zum Glück so höflich,
wie es sich gehörte. Außerdem war ihm eine komfortable Unterkunft
zur Verfügung gestellt worden, so dass er, abgesehen von der bereits
eben erwähnten Ungeduld, keinen Grund hatte, unzufrieden zu sein.
Sein Sohn Hieronto hatte sich mit der bildhübschen Tochter des Königs
angefreundet. Beide Kinder spielten leidenschaftlich gerne in den Ställen
und Werkstätten des Schlosses. Yono sah seinen Sohn oft den ganzen
Tag nicht. Die ganze Burg summte und brummte wie ein Bienenstaat, denn
man war dabei, die Geburtstagsfeier Jannies vorzubereiten. Jannie würde
in wenigen Tagen zwölf Jahre alt werden. Alt und Jung waren auf den
Beinen, um aus diesem Ereignis einen ordentlichen Festtag zu machen.
Durch den Aufenthalt auf diesem Schloss waren
Yonos Ansichten über Sinn und Unsinn von Magie sehr ins Wanken geraten.
Er konnte seine Augen nicht mehr davor verschließen, dass es so etwas
wie Magie geben musste! Der Traumwächter, den er ursprünglich
für einen ausgebufften Hochstapler gehalten hatte und den er nie aufgesucht
hätte, wenn er noch einen anderen Hoffnungsschimmer gehabt hätte,
hatte sich als mächtiger Zauberer entpuppt, der sein Schwert dauerhaft
lahmgelegt hatte. Quetzalkoatlus schien ein echter Drache zu sein: Er konnte
fliegen, Feuer speien und sah auch wie ein Drache aus. Wenn auch wie ein
kleiner. Seine Bereitschaft, an die Existenz von Magie zu glauben, war
aber erst in den letzten Nächten gewachsen: Ein fahles Gespenst war
in Begleitung eines wandelnden Skelettes in seinem Zimmer aufgetaucht.
Yono war kein ängstlicher Mensch, aber dieser nächtliche Besuch
hatte die Standhaftigkeit seines Nervenkostüms doch sehr geprüft!
Wie er am nächsten Tag erfahren hatte, hießen die beiden Spaßvögel
George und Mischa und waren die Maskottchen der Burg. Der König hatte
ihn gebeten, sich doch beim Auftauchen der beiden zu fürchten, um
ihnen eine Freude zu machen.
"Du musste wissen, Yono, dass die beiden herzensgut
sind. Sie freuen sich so, wenn sich jemand vor ihnen fürchtet!" hatte
er ihm zugeflüstert.
Yono setzte seine Überlegungen fort.
Jannie, die Tochter des Königs hatte
eine magische Begabung: Ein guter Mensch, der ihr über das Haar strich,
hatte fortan Glück. Diese Begabung war ihr selbst schon mehrmals fast
zum Verhängnis geworden, da sich in der Vergangenheit zwei Fürsten
der Finsternis für dieses Talent interessiert hatten und für
ihre Zwecke nutzbar machen wollten. Yono bemühte sich, diese Gedanken
nicht weiter zu vertiefen, da sie ihn zu Abgründen führen würden,
in die er zum jetzigen Zeitpunkt nicht blicken wollte.
Plötzlich erfüllte ein Sausen und
Brausen die Luft. Yono sah in den Himmel und sah drei beeindruckende Silhouetten
an der Luft. Zwei große und eine kleine: Langgestreckte, geschmeidige
Körper, zähnestarrende Mäuler, große Köpfe auf
schlanken Hälsen. Riesige Schwingen bewegten sich mit sausendem Schlag
auf und ab durch die Luft. Das mussten erwachsene Drachen sein! Yono war
sich im Klaren darüber, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing,
wenn diese Flieger dort droben ihm Böses wollten. Kein Mensch hat
eine Chance gegen einen Drachen, wenn dieser sich erst einmal in der Luft
befindet! Die Bewohner des Schlosses aber blieben gleichmütig stehen,
um sich die Ankömmlinge in Ruhe zu betrachten. Es drohte also keine
Gefahr! Die Drachen waren rasch herangekommen. Mit donnerndem Flügelschlag
setzten sie im Schlosshof auf. Und der Anblick dieser drei Ungeheuer, wie
sie grün, rot und schwarz mit hoch erhobenen Köpfen und glühenden
Augen vor ihm standen, war es dann auch schließlich, der ihn fast
endgültig davon überzeugte, in einem Land mit echter, lebendiger
Magie zu sein. Diese Monstren konnten kein Blendwerk sein! Das waren echte,
lebende und gefährliche Drachen. Die drei Ungeheuer verwandelten sich:
Der grüne in einen hochgewachsenen, muskulösen Mann mit goldener
Haut und Bernsteinaugen, der rote in eine zierliche Frau und der schwarze
in den Jungen, den er bereits kannte.
"Quetzi!" rief die Prinzessin aus dem Heuschober
heraus. "Komm, mach mit! Hieronto und ich spielen Heuspringen!"
Der Junge ließ sich das nicht zweimal
sagen. Mit einem Aufschrei stürzte er sich in die Scheune. Nur das
Gekicher und Gegacker der spielenden Kinder war noch zu hören.
Der Goldene wandte sich an Yono.
"Du musst der Samurai Yono Hatamoto sein!"
sagte er. "Ich bin Quatzkotl, der König der Drachen. Neben mir steht
Cillie, meine Gemahlin."
Yono verbeugte sich steif, wie es seiner Erziehung
entsprach. Er war von der Erscheinung der beiden Drachen so beeindruckt
gewesen, dass er sich nicht dazu durchringen konnte, eine Erwiderung von
sich zu geben.
"Yono wird sich gleich auf den Weg zu Merling
machen. Er hat ein ernstes Problem," erläuterte Richard, der sich
zu ihnen gesellt hatte.
"Ich weiß," gab der Goldene zurück.
"Quetzi hat mir schon alles berichtet."
Zu Yono gewandt sagte er: "Ich hoffe, dass
Merling auch dieses Mal helfen kann. Der Name Laurin hat einen üblen
Beigeschmack."
Yono konnte seine Ungeduld kaum noch zügeln:
"Wie komme ich denn zu Merling hin?" fragte er.
"Du musst, sobald du die Burg durch das Tor
verlassen hast, deine Schritte in den Wald richten. Gehe immer in die Richtung,
in der der Wald am dichtesten steht. Wenn die Bäume so dicht und dunkel
sind, dass du weder vor noch zurück kannst, bist du am Ziel," erklärte
Richard. "Jetzt, wo du die Magie akzeptiert hast, wirst du Merling finden."
"Das hier scheint echte Magie zu sein," gab
Yono zu. "Aber bis ich öffentlich zugebe, dass ich an Magie glaube,
brauche ich noch mehr Beweise. Es ist alles noch sehr neu für mich.
Wie lange werde ich brauchen?"
"Für dich werden mehrere Tage vergehen.
Für uns werden es aber nur einige Minuten sein. Du wirst also zu Jannies
Geburtstagsfeier rechtzeitig zurück sein."
Yono nahm die Worte gelassen hin. Langsam
wunderte er sich über gar nichts mehr. Der Abschied von seinem Sohn
ging überstürzt vor sich, weil dieser schnellstens wieder mit
seinen neuen Freunden spielen wollte, so dass keine Zeit verloren wurde.
Er verließ die Burg durch das Tor und wandte sich direkt auf den
Wald zu, der dunkel und abweisend vor ihm emporwuchs. Angesichts des unbrauchbaren
Schwertes war ihm ziemlich unwohl, als er sich an die Eroberung der Dunkelheit
machte.
Richard und seine Freunde blieben vor dem
Tor stehen, da sie wussten, dass Yono in wenigen Augenblicken wieder auftauchen
würde. So war es, bisher wenigstens, immer für die Zurückgebliebenen
gewesen, denn der Weg zu Merling war ein magischer Weg. Und wirklich! Schon
tauchte Yono wieder auf. Doch zu ihrer Verwunderung war er nicht allein.
Er hatte zwei Begleiter.
***
Der Weg zu Merlings Behausung war selbst für
einen Samurai, der Anstrengungen und Entbehrungen gewohnt war, äußerst
beschwerlich. Yono hielt sich genau an die Anweisungen, die Richard ihm
gegeben hatte. Immer richtete er seine Schritte dahin, wo die Bäume
am dichtesten standen. Nach zwei Tagen, in denen Hunger und Durst stetig
angewachsen waren, hatte Yono sich daran gemacht, die Beeren und Früchte
der Gewächse des Waldes zu essen, um nicht zu verhungern. Seinen Durst
löschte er mit dem morgendlichen Tau auf den Blättern oder mit
Hilfe dünner Rinnsale, die den Waldboden kreuzten. Endlich war es
soweit! Er konnte weder vor noch zurück. Mit Mühe quetschte er
sich durch die einzige Lücke des inzwischen stockdunklen Waldes und
fand sich auf einer großen Lichtung wieder, in deren Mitte sich ein
seltsam verbautes Haus erhob. Das musste die Hütte des Magiers Merling
sein!
"Ich bin Yono Hatamoto, oberster Samurai des
Landes der aufgehenden Sonne!" rief er. "Ich suche den Magier Merling,
denn ich habe ein Problem, dessen Lösung mir mehr Wert ist als mein
Leben!"
"Nun schreie doch nicht so!" keifte eine Stimme
zurück. "Ich bin zwar alt, aber nicht taub!"
Das Haus teilte sich und heraus trat eine
verhutzelte kleine Männergestalt. Wenn Yono einen alterwürdigen
Bilderbuchmagier erwartet hatte, so wurde er bitter enttäuscht. Merling
war ein unscheinbarer menschenscheuer Griesgram, mit dem nicht immer gut
Kirschen essen war.
"So einen Vogel wie dich habe ich ja noch
nie gesehen," knurrte der Gnom Yono an. "Brauchst du einen neuen Anzug
oder was führt dich her, hä?"
Yono raffte den letzten Rest seiner in letzter
Zeit überbeanspruchten Selbstbeherrschung zusammen. Er hatte es nicht
bis hierher geschafft, um jetzt aufzugeben. Er blieb ruhig und erzählte
dem Magier, weshalb er hergekommen war.
Dieser hob pfiffig die Augenbrauen.
"So, du warst bei Dommerjahn? Und der hat
dich schnurstracks zu mir geschickt? Wusste ich doch, dass auch die Traumwächter
nicht alles wissen können! Du hast Glück, dass ich Laurin nicht
gut leiden kann, Yono. Warte bitte einen Moment. Ich werde eben meinen
Kessel holen!"
Yono hatte weder von Merlings sagenhaftem
Kessel gehört, noch hatte er ihn jemals gesehen, so dass er nicht
vorgewarnt war, als Merling unter großem Ächzen und Stöhnen
einen Riesenkessel, den Schrecken aller sauberen Hausfrauen, aus einer
Ecke seiner Behausung hervorzerrte. Yono, der sehr viel Wert auf Sauberkeit
legte, war von dem schmutzstarrenden Kochgeschirr ganz und gar nicht angetan.
Seiner Meinung nach eignete es sich eher als Nachtgeschirr. Angesichts
seiner neugewonnenen Toleranz anderen gegenüber, schwieg er jedoch.
Er wollte es sich mit dem kleinen Zauberer nicht verderben.
Merling verfrachtete den Topf in die Mitte
der Lichtung und begann, laut zu überlegen.
"Hmmm! Zuerst sollte ich den aktuellen Stand
von Laurins Entwicklung erforschen. Meine letzten Informationen sind schon
mindestens 60 Jahre alt. In der Zwischenzeit kann sich einiges getan haben.
Dann sollte ich die zukünftige Entwicklung extrapolieren. Wo er sich
zurzeit aufhält ist im Moment von sekundärer Bedeutung."
Yono hatte das Gemurmel Merlings natürlich
mitbekommen und setzte zu einem Protest an:
"Für mich ist es sehr wichtig, dass ich
Laurins Aufenthaltsort kenne!" widersprach er. "Ich muss den Geburtstag
meines Sohnes zurückholen und..."
Merling hob abrupt die Hand und verbot dem
Samurai energisch den Mund: "Misch dich nicht in meine Arbeit ein, Yono!
Das kann ich nicht leiden. Setz dich hin und schweig! Sonst kommst du in
den Topf!"
Diese Drohung reichte. Yono hielt den Mund.
Er verfolgte die Aktivitäten des Magiers jedoch weiter. Wenn auch
mit einer aufkommenden Gänsehaut.
Unter stetigem Gemurmel verschwand dieser
in seiner Hütte und kam mit mehreren Beuteln im Arm zurück.
"Eine alte Zeitung für das Geschehene
und eine Alraunenwurzel für das Zukünftige. Dazu etwas Raupenseide
für die Solidität der Verbindung."
Er warf noch andere, undefinierbare Gegenstände
in den Topf. Yono sah mit immer größer werdenden Augen zu. Schließlich
goss Merling mehrere Eimer Wasser hinein, entzündete ein Feuer unter
dem Gefäß und ließ das Ganze aufkochen. Es entstand eine
gelblich schleimige Masse, in der dicke Blasen ölig aufblubberten.
Nach etwa einer halben Stunde gab er noch einen halb verfaulten Karpfen
hinzu. Das Blubbern des Topfinhaltes nahm zu, steigerte sich zu ohrenbetäubendem
Lärm, der letztendlich in einer gewaltigen Explosion gipfelte: Der
Inhalt des Kübels flog in die Höhe und verteilte sich auf die
Umgegend. Yonos Gesicht wurde hellgrün. Als er sah, wie Merling nach
einem Glas griff, in den Topf langte, eine silbrig schimmernde Flüssigkeit
herausschöpfte und mit sichtlichem Wohlbehagen trank, wurde ihm schlecht.
Er wandte sich ab und erleichterte sich am Waldrand.
"Hey, Yono, altes Haus!" rief Merling ihm
zu. "Möchtest du auch einen Schluck? Mein Zaubertrank steigert die
Denkfähigkeit enorm!"
"Bei allen guten und bösen Geistern:
Nein!" würgte Yono.
"Warum nicht? Magst du keinen Fisch?"
Yono enthielt sich einer Antwort, weil es
hinter ihm im Gebüsch laut knackte und polterte. Lautes Schnaufen
und Grunzen zeugte davon, dass sich etwas Großes schwerfällig
näherte. Yono zog sich vorsichtshalber auf die Mitte der Lichtung
zurück, obwohl er dabei dem stinkenden Kochtopf gefährlich nahe
kam. Merlin blieb zu seiner Verwunderung völlig ruhig. Genüsslich
schlürfte er eine erneute Portion seines Gebräus herunter, als
habe er es mit gutem Wein zu tun.
"Da kommt was!" erklärte Yono beunruhigt.
"Ich höre es!" gab Merling unbeeindruckt
zurück. "Möchtest du wirklich nichts? Der Fisch ist wirklich
lecker!"
In diesem Moment brach ein beängstigendes
Ungeheuer aus dem Wald. Es ging auf zwei Beinen, war doppelt so groß
wie Yono und extrem breitschultrig. Dicke Muskelwülste traten knotig
aus den Gliedmaßen hervor. Der riesige Schädel mit dichtem,
verfilzten Haar, fliehender Stirn und breitem Maul vervollständigten
das Bild einer primitiven, brutalen Mischung aus Affe und Bär. Reflexartig
griff Yono zum Schwert. Doch vergebens. Es löste sich nicht aus der
Scheide.
"Immer Gemach, Yono!" beruhigte Merling den
Samurai. "Das ist nur Knurps, der Troll. Ich habe mit ihm gerechnet."
An den Troll gewandt rief er: "Was ist los,
Knurps? Solltest du nicht bei der Weißen Alraune sein und sie bewachen?"
Knurps freute sich, dass Merling ihn sofort
erkannt hatte und lächelte.
Wenn ein Troll lächelt und man befindet
sich in seiner Nähe, so ist es immer empfehlenswert, starke Nerven
zu haben, denn wenn ein Troll das Maul öffnet, so entblößt
er plumpe, schwärzliche Zahnstummel und gibt einen bestialischen Gestank
frei, der jedem Menschen den Atem nimmt. Darüber hinaus sind Trolle
in der Regel äußerst aggressiv.
Zum Glück war Knurps eine Ausnahmeerscheinung.
Als jugendlicher Troll war er bei Merling aufgewachsen und so schon früh
in Kontakt mit Menschen gekommen. Er war also halb zahm, soweit man den
Begriff "zahm" überhaupt mit einem Troll in Verbindung bringen kann.
Er war sogar ein guter Freund Jannies, wobei er sich darüber hinwegsetzte,
dass Trolle kleine Mädchen normalerweise leidenschaftlich gerne fressen.
"Alraune sagt, Jannie wichtiger! Alraune sagt,
ohne Augen sehen besser! Alraune sagt, auf Dornen achten" grunzte er undeutlich.
Merling runzelte die Stirn. Die Alraune verklausulierte
ihre Weissagungen in der Regel so, dass man sie kaum deuten konnte. Aus
dem Mund des Trolls aber klangen sie noch unverständlicher. Dennoch
waren sie wichtig! Der Zaubertrank hatte seine geistigen Fähigkeiten
enorm gesteigert. Den ersten Teil der Botschaft konnte er sofort richtig
einordnen. Gefahr für Jannie war im Verzuge! Doch nicht nur die Prinzessin
war in Gefahr. Wenn er die Zeichen richtig deutete, bahnte sich eine große
Umwälzung der magischen Kräfte an, die ihnen allen viel Verdruss
bringen würde. Er musste sich beeilen. Noch konnte das Unglück
verhindert werden! Aber die Zeit war knapp.
"Knurps, komm her!" rief er in befehlendem
Ton. "Du schulterst den Kochtopf. Warte! Ich hole noch ein paar Zutaten,
die ich später brauchen werde!"
Er zeigte auf den Samurai. "Das ist Yono.
Ein Freund. Tue ihm also nichts. Er mag übrigens keinen Fisch!"
Er lief in sein Haus und kam mit einer bemerkenswerten
Menge von Säckchen und Beuteln zurück. Er warf seine Last in
den Topf. Dass sich noch Reste seines Tranks darin befanden, störte
ihn offensichtlich nicht.
Knurps lud sich den schweren Bottich mühelos
auf die Schultern. Gemeinsam gingen die drei in den Wald, um zu Schloss
Drachenburg zu gehen.
***
Die Überraschung der Burgbewohner war
groß, als Yono mit Merling und Knurps an seiner Seite zurückkehrte.
Insbesondere, weil Merling als menschenscheu galt und selbst zu Quetzalkoatlus
Taufe nur mit Gewalt aus seinem Wald geholt werden konnte.
Der kleine Magier wies alle Fragen, die ihm
Richard und die anderen stellten, von sich.
"Keine Zeit!" murrte er. "Lasst mich in den
Hof. Da werde ich alles erklären!"
Irritiert folgten ihm alle in den Burghof.
Knurps stellte den Topf mit der Öffnung nach unten auf den Boden,
so dass eine Plattform entstand. Merling stellte sich oben auf. Die Kunde,
dass Merling aus eigenem Antrieb zur Burg gekommen war und jetzt eine Erklärung
abgeben wollte, hatte sich in Windeseile in der Burg verbreitet. Alle Bewohner
des Schlosses strömten auf den Hof, um auch ja kein Wort des Magiers
zu verpassen. Als Merling anhob zu sprechen, war es trotz der Fülle
so still, dass nur das Gesummse der Schmeißfliegen um den Kopf des
Trolls zu hören war. Die Tierchen waren von dem tierhaften Gestank
des Ungeheuers einfach hingerissen.
"Liebe Burgbewohner, liebe Freunde!" begann
Merling. "Der Traumwächter Dommerjahn hat den Samurai Yono Hatamoto
zu mir geschickt, damit ich ihm helfe, seinen Sohn zu dem Mann zu machen,
der er werden würde, wenn ihm Laurin nicht seinen Geburtstag gestohlen
hätte. Hieronto muss seinen Geburtstag zurückbekommen. Sonst
wird er für alle Zeiten ein Kind bleiben. Dazu muss der verbannte
Zwerg Laurin lokalisiert, bekämpft und vernichtet werden. Doch das
ist nicht alles!"
Merling drehte sich um und schaute die Menge
intensiv an, als wolle er sich davon überzeugen, dass ihn jeder einzelne
seiner Zuhörer auch wirklich beachtete.
"Die Weiße Alraune hat mir über
Knurps eine Botschaft geschickt, die zusammen mit dem, was ich mit Hilfe
eines Zaubertranks in Erfahrung gebracht habe, eine existenzbedrohende
Gefahr für uns und unsere Welt offenbart."
Er wandte sich an den Troll: "Knurps, wiederhole,
was die Alraune gesagt hat."
Knurps war stolz darauf, für einen Moment
im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen.
"Alraune sagt, Jannie wichtiger! Alraune sagt,
ohne Augen sehen besser! Alraune sagt, auf Dornen achten!" stieß
er mit einer übelriechenden Atemwolke hervor.
"Warum ist Jannie wichtiger als mein Sohn?"
wollte Yono wissen. "Können wir uns nicht zuerst im meinen Sohn kümmern?"
Merling schaute ihn an.
"Das will ich dir erklären, alter Samurai!"
erwiderte Merling. "Jannie wird in drei Tagen ihr zwölftes Lebensjahr
vollenden. Nicht jedem ist sofort klar, dass dies ihr dreizehnter Geburtstag
ist. Der dreizehnte Geburtstag eines Kindes mit magischen Fähigkeiten
ist ein Tag besonderer Magie. Wenn Laurin es schafft, Jannie diesen Tag
zu stehlen, ist er im Besitz von 365 Geburtstagen. Dann wird er unsterblich
sein. Und vor allen Dingen: Ein neuer Fürst der Finsternis!"
***
Er lebte allein. Seit vielen hundert Jahren
schon lebte er allein. Im Laufe dieser langen Zeit hatte er sich daran
gewöhnt, keinen Kontakt mehr mit anderen seiner Art zu haben. Wenn
auch nur oberflächlich. Tief im Inneren seiner dunklen Seele quälte
ihn die fehlende Verbindung zu seinem Volk sehr. Zu Beginn seiner Einsamkeit,
hatten ihn in der Nacht Träume verfolgt, in denen er Seite an Seite
mit seinen Brüdern in den Bergwerken der Zwerge Gold und Edelsteine
schürfte, wie es ihrer Natur entsprach. Er träumte auch von dem
Verrat, den er an seinem Volk begangen hatte, als er einen Teil der Schätze,
die er fand, für sich selbst abzweigte und nicht die Schatzkammern
der Allgemeinheit füllte, wie es sein musste. Mit der Zeit kehrten
die Träume seltener wieder. Doch ganz verschwanden sie nie, so dass
ihn eine stete, unstillbare Sehnsucht nach seinem Volk erfüllte. Genau
das war auch Sinn seiner Verbannung gewesen. Ein Zwerg, der von seinem
Volk verstoßen wird, verkümmert wie eine Pflanze, der das Licht
genommen wird. Doch er hatte es seinen Richtern gezeigt! Er, der Verbrecher,
lebte immer noch. Aber die, die ihn verurteilt und verjagt hatten, waren
schon lange tot. Er hatte das Glück gehabt, von Xusia, einem Fürsten
der Finsternis, als Diener aufgenommen zu werden. Als Diener eines Fürsten
der Finsternis war er zwar nicht mehr als dessen Sklave gewesen, aber er
hatte ihm dennoch lange Zeit gedient und sich auf diese Weise vieles von
dessen Wissen angeeignet. Er war dabei selbst ein Magier geworden. Als
Xusia dann von Quatzkotl getötet worden war, hatte er noch lange Zeit
allein im Schloss seines alten Meisters verbracht, um sich weiter dem Studium
der Magie zu widmen. Als er schließlich nichts mehr lernen konnte,
hatte er sich daran gemacht, sein großes Ziel, das ihm schon lange
vor Augen schwebte, zu erreichen: Er wollte selbst ein Fürst der Finsternis
werden. Das musste natürlich geheim und verborgen vor sich gehen,
denn die anderen Fürsten der Finsternis würden nicht dulden,
dass ein verbannter Zwerg anstrebte, in ihre Reihen aufzusteigen. Er hielt
sich also weiter versteckt, arbeitete seinen Plan sorgfältig aus und
tat, was er machen musste in aller Heimlichkeit, so dass er nicht weiter
auffiel. Mit Hilfe seiner Kenntnisse war es ihm schon zu Beginn seiner
Dienstzeit bei Xusia gelungen, einen Zaubertrank zu entwickeln, der seine
an sich schon hohe Lebenserwartung fast ins Unermessliche steigerte. Der
Trank ermöglichte ihm, über Hunderte von Jahren zu überleben.
Xusia hatte zum Glück nicht weiter auf seinen Diener geachtet, sonst
wäre ihm aufgefallen, dass dieser ein selbst für einen langlebigen
Zwerg, beachtlich langes Leben führte. Auch die körperlichen
Veränderungen, die mit der Einnahme des Tranks einhergingen, fielen
ihm nicht weiter auf: Im Laufe der Jahre nämlich wurde er dünn
und dünner. Seine ehemals kräftigen Zwergenarme, die mühelos
schwerste Werkzeuge handhaben konnten, verloren ihre Muskeln, schrumpften
zu
dürren, astähnlichen Fortsätzen. Die ehemals weiße
Haut bildete sich zu einer braunschwarzen, knorpeligen Hülle aus.
Schließlich war er zu dem geworden, das er auch heute noch war: Ein
ausgemergeltes bräunliches Etwas, das in keiner Weise mehr an den
früheren stolzen Zwerg erinnerte, der sich mit seinem ganzen Volk
überworfen hatte. Dafür stand er jetzt aber auch kurz vor dem
Ziel, das er mit all seiner Energie angestrebt hatte. Ihm fehlte nur noch
ein einziger Geburtstag und er hatte die endgültige Unsterblichkeit
erlangt. Und diesen Geburtstag würde er sich bald holen! In wenigen
Stunden würde er sich in den Mantel der Dunkelheit hüllen, seinen
Hort verlassen und das Kind aufsuchen, das seinen dreizehnten Geburtstag
hergeben musste. Unsichtbar und entschlossen wie er war, würde ihn
niemand aufhalten können. Denn er war Laurin, der zukünftige
Fürst der Finsternis.
***
Als Merling seinen Vortrag beendet hatte, herrschte
zunächst tiefe Betroffenheit. Zwar konnte nicht jeder der Anwesenden
die ganze Tragweite dessen, was hier geschah, nachvollziehen, aber jeder
hatte zumindest eines verstanden: Jannie musste vor dem sich anbahnenden
Unheil beschützt werden. Nur zu gut saßen ihnen allen noch die
Schrecken der Zeit in den Gliedern, zu der die Prinzessen von Xusia entführt
worden und Unglück über das ganze Land gekommen war. Nein! Vergleichbares
durfte nicht wieder passieren. Yonos Belange interessierten da nur am Rande.
Sein und Hierontos Problem würde sich ohnehin im gleichen Zuge lösen
wie Jannies.
Quatzkotl sah auf seinen Sohn herab, der schon
längere Zeit unruhig hin und her gezappelt war. Er kannte seinen Sohn
gut genug, um zu erkennen, dass er Fragen hatte.
"Nun, was ist denn, Quetzi?" fragte er.
"Ich verstehe die ganze Aufregung nicht, Papi,"
sagte dieser. "Dass Laurin vernichtet werden muss, leuchtet mir schon ein.
Aber was ist so schlimm daran, dass er ein Fürst der Finsternis werden
will? Xusia ist bereits seit vielen Jahren tot und Janus für immer
und ewig außer Gefecht gesetzt. Wenn jetzt ein neuer Fürst hinzukommt,
ist das zwar nicht schön, aber warum sollte darum unsere ganze Welt
gefährdet sein?"
Quatzkotl lächelte seinen Sohn liebevoll
an.
"Das kann ich dir sagen, mein Junge. Unsere
Welt lebt davon, dass das Gleichgewicht der magischen Kräfte einigermaßen
stabil gehalten wird. Auf der obersten Ebene der Magie befinden sich die
Traumwächter. Die Fürsten der Finsternis, als Vertreter der schwarzen
Magie, sind ihr Gegenpol. Zwischen diesen beiden Herrschergruppen tummelt
sich eine Unzahl von guten und bösen Magiern und magischen Wesen,
die sich in Zahl, Einfluss und Macht in etwa die Waage halten. Insbesondere
die Träumwächter und Fürsten der Finsternis achten genau
darauf, dass das auch so bleibt. Zwar versucht sowohl die eine als auch
die andere Seite, die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu verschieben.
Aber immer behutsam und vorsichtig, damit die Existenz der Magie nicht
ernstlich gefährdet wird. Durch den Tod Xusias und der Vergiftung
Janus ist dieses Gleichgewicht der Kräfte aus dem Lot gebracht worden.
Nicht so, dass diese Welt aus den Fugen geraten wird, aber doch merklich.
Die verlorene Balance muss wieder hergestellt werden. Da die Seite der
Fürsten geschwächt ist, müssen diese nun für einen
Ausgleich sorgen. Aber dieser Ausgleich muss von Seiten der Fürsten
kommen. Nur sie allein können bestimmen, wer das Zeug hat, einer der
ihren zu werden. Laurin drängt sich jetzt in diesen Kreis. Er hat
für einen Zwerg schon viel zu lange gelebt. Allein die Tatsache, dass
er sich überhaupt anmaßt, ein Fürst der Finsternis werden
zu wollen, spricht dafür, dass er wahnsinnig geworden ist. Jetzt stelle
dir einmal vor, er würde es wirklich schaffen! Ein machtgieriger,
wahnsinniger Zwerg an der Spitze der schwarzen Magie. Er würde seinen
Machthunger bedenkenlos und ohne Rücksicht auf das magische Gleichgewicht
ausleben. Die Magie würde zusammenbrechen. Kannst du das verstehen?"
Der Jungdrache nickte.
"Ja," sagte er. "Keine Trolle mehr, keine
Hexen, keine Drachen! Unvorstellbar. Das muss verhindert werden."
"Genau so ist es, mein Sohn," gab Quatzkotl
zurück. "Laurin muss gefunden und vernichtet werden."
Ihre Aufmerksamkeit wandte sich wieder Merling
zu.
"Als erste Maßnahme müssen die
Tore dieser Burg geschlossen werden," verlangte er. "Das Innere der Burg
wird von allen Helden verteidigt, die zur Verfügung stehen. Jannie
wird die Tage bis zu ihrem Geburtstag im Inneren des Schlosses verbringen.
Sie muss eine persönliche Leibwache erhalten. Die besten Schwertkämpfer
des Landes dürfen sie Tag und Nacht nicht aus den Augen lassen."
"Ich bin der beste Schwertkämpfer meines
Volkes!" rief Yono. "Niemand hat mich jemals im Schwertkampf besiegt. Ich
bin bereit, im innersten Kreis der Bewacher zu stehen. Aber mein Schwert
ist nutzlos, weil der Traumwächter es mit einem Fluch belegt hat."
"Dem kann abgeholfen werden," schmunzelte
Merling. "Dein Schwert ist nur solange nutzlos, bis du auf den triffst,
der dich im Schwertkampf schlagen wird. Ich kenne da jemanden, der den
Fluch auflösen wird."
"Das ist unmöglich!" behauptete Yono
fest. "Ich bin durch viele Länder gezogen, habe viele Völker
kennen gelernt. Aber nirgendwo ist mir ein Mann begegnet, der sich mit
mir messen konnte."
Merling antwortete ihm nicht. Stattdessen
sagte er zu Quetzalkoatlus:
"Mach dich auf den Weg in den Finsterwald,
Junge. Hole El Pitto Gnomo. So einen wie ihn können wir jetzt gut
gebrauchen."
Der junge Drache ließ sich das nicht
zweimal sagen. Mit einem Grinsen auf dem Gesicht verwandelte er sich wieder
in einen Drachen, hob ab und verschwand in der Nachmittagssonne.
Yono fühlte sich zurückgesetzt und
zog sich mit grimmigem Gesicht in seine Gemächer zurück.
Merling focht das nicht an.
"Ruhe jetzt!" verlangte er. "Knurps, drehe
bitte den Topf um. Ich muss jetzt einen Ortungszauber herstellen."
Der Schlosshof war in Sekundenschnelle leergefegt.
Merlings Zauberkünste waren wohlbekannt. Daher zog es jedermann vor,
zu verschwinden, um nicht in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Nur Richards
Frau wagte einen schwachen Protest.
"Das geht doch nicht, dass er hier seinen
Zauberschleim kocht!" jammerte sie. "Wir bereiten doch die Geburtstagsfeierlichkeiten
vor! Wer soll denn den ganzen Dreck wieder wegwischen?"
Doch niemand wollte auf sie hören. Am
allerwenigsten Merling, der sich bereits an die Arbeit gemacht hatte.
"Geraspelte Adleraugen, weil die alles sehen.
Getrocknete Eulenaugen, weil die auch nachts gut sehen. Fledermaushirn,
weil das auch Informationen verarbeiten kann, die niemand sehen kann. Etwas
Salamanderschleim, weil der so gut klebt."
Er hielt inne und überlegte.
"Da war doch noch etwas?" dachte er laut.
"Was ist?" fragte Quatzkotl, der sich als
einziger nicht verflüchtigt hatte.
"Mir ist, als hätte ich eine wichtige
Information vergessen," gab Merling zurück. "Etwas Wesentliches. Es
huschte an mir vorüber, als ich die Zutaten zusammenstellte."
"Du hattest gerade von Augen, sehen und dem
Verarbeiten von Informationen gesprochen," versuchte der Drache zu helfen.
Über Merlings Gesicht huschte ein Lächeln.
"Jetzt hab‘ ich’s! 'Ohne Augen sehen besser'
und 'auf Dornen achten'" lautet die Botschaft der Alraune. "Mir ist nur
noch nicht klar, was sie uns damit sagen will. Hast du eine Idee?"
Quatzkotl schüttelte nachdenklich den
Kopf. "Nicht die Spur. Wie soll man ohne Augen besser sehen?"
"Wir müssen es herausfinden! Denk nach!"
sagte Merling bestimmt. "Wenn die Alraune uns etwas mitteilt, dann ist
das auch wichtig. Schade, dass sie kein Gehirn besitzt. Die Verständigung
mit ihr wäre um ein Vielfaches besser."
In der Zwischenzeit hatten Merlings Braubemühungen
gute Fortschritte gemacht. Der Inhalt des Kessels begann zu brodeln. Quatzkotl
zog sich vorsichtshalber etwas zurück. Denken konnte er auch aus der
Entfernung. Die abstoßende Flüssigkeit blubbste nun verstärkt
stinkende Blasen aus, worauf einige Fenster im Schloss abrupt geschlossen
wurden. Schließlich gab es den üblichen Knall, als der Topfinhalt
explodierte. Doch diesmal verteilte er sich nicht mehr oder weniger gleichmäßig
in der Umgebung, sondern blieb in der Luft hängen. Verwundert stellte
Quatzkotl fest, dass die breiige Masse eine farbige, absolut natürlich
wirkende Landkarte gebildet hatte, in der eine Stelle durch einen leuchtenden
Punkt besonders hervorgehoben wurde.
"Eine Landkarte!" sagte er ehrfürchtig.
"Was dachtest du denn?" grummelte Merling.
"Hast du etwa an eine Pizza erwartet?"
"Wenn ich das richtig interpretiere, dann
markiert dieser Punkt die Stelle, an der wir Laurin finden können?"
fragte Richard, der jetzt auch hinzugetreten war.
"Das ist die Teufelsschlucht und genaugenommen
der Punkt, an dem Laurin sich im Moment aufhält," verbesserte Merling.
"Quatzkotl, du solltest dich schnellstens auf den Weg machen, um dem Wahnsinnigen
das Lebenslicht auszublasen. Nimm am besten Cillie mit. Eine Hexe und ein
Drachen sollten mit dem Zwerg fertig werden. Beeilt euch! Es gibt keine
Garantie dafür, dass Laurin sich noch lange dort aufhalten wird."
Als Quatzkotl und Cillie sich auf den Weg
gemacht hatten, wandte Merling sich an Richard.
"Hole bitte Mischa herbei. Er soll den Flaschengeist
mitbringen!"
Richard beeilte sich, dem Wunsch des Magiers
nachzukommen. Merling hatte das Kommando übernommen und er wollte
es ihm auch nicht streitig machen. Der Alte wusste genau, was er wollte.
Mischa war ein lebendes Skelett, das, wie
bereits erwähnt, zusammen mit George, dem Gespenst, die Gruselabteilung
des Schlosses bildete. Außerdem war Mischa der Hauslehrer Jannies.
Seit einiger Zeit war er Eigentümer einer kleinen Flasche, die einen
klugen, aber garstigen Geist enthielt: Den Flaschengeist Hitzliputzli.
Er wusste auf fast jede Frage eine Antwort, rückte aber nur damit
heraus, wenn ihm gerade danach war. Zu früheren Zeiten war er freigiebiger
mit seinen Auskünften gewesen, da er damals noch einen Anspruch auf
die Seele seines letzten Besitzers gehabt hatte. Das heißt, dass
er dann, wenn sein jeweils aktueller Eigentümer starb, dessen Seele
bekam. Hitzliputzlis Pech war, dass Mischa bereits tot war und insofern
keine Seele mehr hatte. Der Flaschengeist fühlte sich daher betrogen
und kam seinen Pflichten nur noch sehr unwirsch und unvollkommen nach.
Mischa und George hofften, den kleinen Geist mit der Zeit freundlicher
zu stimmen. Nicht ganz zu unrecht, denn sie hatten dafür ja unbegrenzt
Zeit.
Richard brauchte Mischa nicht lange zu suchen.
Er war bei Jannie und gab eine Stunde Mathematik.
"Mischa, bist du so gut und gehst mal zu Merling?"
bat Richard ihn. "Nimm bitte Hitzliputzli mit. Merling hat etwas mit ihm
vor!"
Hilfsbereit wie er nun mal war, machte Mischa
sich sofort auf. Er wäre zwar lieber bei Jannie geblieben, da er die
Mathematik leidenschaftlich liebte, aber wenn Merling nach ihm verlangte,
war das natürlich wichtiger. Als er in den Hof gelangte, wurde er
schon ungeduldig empfangen.
"Nun mach schon! Kannst du deine Knochen nicht
schneller schwingen? Die Zeit drängt! Wo ist der Flaschenkasper?"
Mischa wusste, wann es klug war zu schweigen.
Statt einer Antwort hielt er dem Magier die Flasche mit Hitzliputzli hin.
Merling nahm sie und sagte: "Hitzliputzli
Flaschengeist, zeige dich. Sag was du weißt!"
Das milchige Glas wurde durchsichtig. Innen
wurde ein Männchen sichtbar, das ständig auf und ab hüpfte.
"Was willst du von mir, alter Griesgram?"
rief der Kleine frech.
"Ich habe hier einen Topf mit einem Ortungstrank.
Ich möchte, dass du ihn trinkst."
"Warum?"
"Weil wir dich als Ortungsgerät für
Laurin brauchen, Dummkopf!"
"Ich habe mit Laurin nichts zu schaffen!"
lehnte der Geist ab. "Laurin ist allein euer Problem!"
"Das denkst aber nur du!" gab Merling zurück.
"Denk mal darüber nach, was passieren wird, wenn Laurin erst einmal
Fürst der Finsternis geworden ist!"
"Wo ist der Saft?" sagte der Geist schnell.
Merling öffnete die Flasche einen Spalt
und tauchte sie kurz in die Flüssigkeit ein. Als er sie wieder herauszog,
stand Hitzliputzli bis zum Bauch im Zaubertrank. Alle waren der Meinung,
dass diese Portion für längere Zeit ausreichen müsste. Mischa
bekam den Auftrag, ständig in der Burg umher zu patrouillieren und
Geist und Flasche immer bei sich zu führen. Der Ortungsbereich erstreckte
sich leider nur über wenige Meter. Somit war ein ständiges Abtasten
der Umgebung wichtig.
Merling reckte sich. Es war geschafft! Mehr
konnte er im Moment nicht tun.
***
Als die beiden Drachen die Gegend erreichte,
in der Laurin laut Merlings Zauberkarte sein sollte, dämmerte es bereits.
Quatzkotl und Cillie machte das aber nichts aus, denn Drachen sehen auch
in der Dunkelheit ganz ausgezeichnet. Um ihre Ankunft nicht zu verraten,
hatten sie ihr Ziel aus großer Höhe angeflogen und glitten nun
im Segelflug sanft abwärts. Bis auf ein leises Pfeifen des Windes
verursachten
ihre gewaltigen Schwingen kein Geräusch. Sie umkreisten die Teufelsschlucht
mehrmals, wobei sie ihre feinen Sinne konzentriert auf das Gebiet unter
sich richteten. Aber abgesehen von vereinzelten Wildtieren, die hier lebten,
entdeckten sie nichts.
"Wir sollten in die Schlucht hinein!" schlug
Cillie vor. "Von hier oben aus werden wir nichts finden."
Da Quatzkotl keine Einwände hatte, steuerten
sie den Eingang der Teufelsschlucht an, wo sie landeten. Gemeinsam krochen
sie, sorgsam in alle Richtungen witternd und lauschend, schlangengleich
über den Boden. Am Boden der Schlucht war es inzwischen stockdunkel
geworden, wenngleich die Sonne oberhalb des Hanges noch schien. Mühsam
bahnten sie sich ihren Weg durch Geröll, vorbei an abgestorbenen Baumstämmen.
Es war feucht und kalt. Schließlich weitete sich die Enge zu einem
ausgedehnten Talkessel, der von hohen Hängen eingeschlossen war. Rechts
von ihnen gähnte ein Loch im Felsen: Der Eingang zu einer Höhle.
"Vorsicht jetzt!" zischte Quatzkotl. "Er kann
noch drinnen sein. Von jetzt an müssen wir besonders aufpassen."
Cillie nickte ihm zu. Sie trennten sich. Quatzkotl
machte einen Bogen nach rechts, um sich der Höhle seitlich zu nähern.
Cillie nahm die andere Richtung. Wie vorher auch achteten sie auf das kleinste
Geräusch, denn sie mussten davon ausgehen, dass Laurin den Mantel
der Dunkelheit tragen und dadurch unsichtbar sein würde. Wenn er aber
an ihnen vorbei wollte, musste er beim Gehen unbedingt ein Geräusch
machen. Der Mantel verbarg ihn vor ihren Blicken aber nicht vor ihrem feinen
Gehör. Das Anschleichen ging wegen der gebotenen Vorsicht nur langsam
vor sich, so dass einige Minuten vergingen, bis sie die kurze Strecke bis
zum Höhleneingang zurückgelegt hatten. Dann gab es nur noch einen
Weg: Den Weg hinein.
Drachen haben normalerweise von anderen Lebewesen
nichts zu befürchten, denn ihre Haut besteht aus stahlharten Schuppen.
Sie sind zäh, besitzen unglaubliche Körperkräfte, ein scharfes
Gebiss und dolchartige Klauen. Von ihrem Feuer, dem nur Diamanten widerstehen
können, ganz zu schweigen. Dennoch war ihnen nicht wohl in ihrer Drachenhaut,
als sie in die Eingangstrichter eindrangen, waren Sie doch jetzt im unmittelbaren
Revier eines verrückten Magiers. Niemand konnte wissen, welche üblen
Tricks er kannte. Langsam wanden sie sich durch die niedrigen Gänge
des Berges. Nur ihr schweres Atmen war zu hören. Nichts geschah. Nach
vielen Metern erblickten sie die ersten Anzeichen dafür, dass Laurin
in dieser Höhle gewesen war: Der Gang ging in eine große Grotte
über, an deren Wänden Bücherregale befestigt waren. In der
Mitte stand ein großer Kessel, gefüllt mit einer gelblichen
Flüssigkeit.
"Nichts berühren!" raunte Quatzkotl seiner
Cillie zu, die schon Anstalten machte, den Topf näher zu untersuchen.
"Wir können hier auf alles Mögliche stoßen. Auch auf Dinge,
die selbst uns gefährlich werden können."
Cillie war klug genug, ihr Temperament zu
zügeln. Nach kurzer, eingehender Untersuchung stand fest, dass Laurin
sich hier nicht mehr aufhielt. Sie waren trotz aller Eile zu spät
gekommen.
***
Er hatte seine Höhle verlassen und war
bereits auf dem Weg zu Schloss Drachenburg. Natürlich hatte er bemerkt,
dass ein Ortungszauber auf ihn angesetzt worden war. Ihm war sofort klar
geworden, dass er nun keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Ein Magier, der
einen
Ortungszauber so ausrichten konnte, dass er ihn, Laurin, anpeilte, war
auch stark genug, um ihm unangenehmen Ärger zu machen. Er ging davon
aus, dass in absehbarer Zeit ein Suchkommando auftauchen würde, um
ihn zu fassen. Vielleicht würde dieses sogar aus Drachen bestehen.
Drachen waren mächtige Wesen, mit denen er selbst als angehender Fürst
der Finsternis nichts zu tun haben wollte. Jetzt hieß es schnell
zu handeln! Er legte sich den Mantel der Dunkelheit um und wurde unsichtbar.
Anschließend versorgte er sich mit allem, was er brauchte und trat
vor die Höhle. Sein Ziel war zwei Tagesreisen entfernt. Normalerweise.
Mit seinem überalterten und schwachen Körper würde er das
in dieser Zeit aber nicht schaffen. Aus diesem Grunde wendete er einen
Transportzauber an, der ihm half, schneller in unmittelbare Nähe seines
Ziels zu kommen: Schloss Drachenburg, wo Jannie, die Tochter König
Richards, in zwei Tagen zwölf Jahre alt werden würde.
***
Am Nachmittag des folgenden Tages hatten die
Verteidiger der Burg ihre Positionen bezogen. Das Burgtor war geschlossen
und das schwere Eisengitter hinuntergelassen worden. Auf den Mauern standen
Posten, die das Umland im Auge behielten. Mischa wanderte unermüdlich
mit Hitzliputzlis Flasche in der Burg herum. Der kleine Geist hatte versprochen,
sich sofort zu melden, wenn er das Gefühl bekommen sollte, dass Laurin
in der Nähe war. Der Rest der Mannschaft hatte sich auf strategisch
wichtige Stellen verteilt. Da die Burgmauern durch einen Zauber unüberwindbar
waren, machten sie sich nicht allzu viel Sorgen: Laurin hatte keine Chance,
hineinzukommen.
Die Bauern des Landes steuerten auch ihren
Sicherheitsbeitrag bei. Mit Mistgabeln und Dreschflegeln bewaffnet hatten
sie einen weiten Ring um die Burg gelegt, der jeden auch noch so kleinen
Zugangspfad absperrte. Die Lücken zwischen den einzelnen Wachen waren
zwar teilweise recht groß, aber die Landleute zeigten immerhin ihren
guten Willen und ihre Treue zum Königshaus.
Yono sah den Aufmarsch der Verteidigungskräfte
mit Wohlwollen. König Richard mochte ein unorthodoxer Herrscher sein,
aber ein Trottel war er nicht. Er hatte seine Verteidiger gut organisiert.
Nach menschlichem Ermessen hatte Laurin keine Chance. Der einzige Wermutstropfen,
der auf seine Seele fiel, war, dass er sein Schwert immer noch nicht benutzen
konnte. Was sollte ein Samurai in einer belagerten Festung, wenn er im
Ernstfall nicht standesgemäß kämpfen konnte? Ganz in Gedanken
versunken ging er die große Treppe hoch, um in sein Zimmer zu gehen,
als er von einem seltsamen Männchen aufgehalten wurde. Das Kerlchen
war wirklich sehr klein und reichte ihm kaum bis zum Gürtel seiner
Hose. Sein Gesicht war braun und hager und wurde von einer spitzen Nase,
die sich über einem breiten, schmallippigen Mund befand, beherrscht.
Große, bösartige Schlitzaugen funkelten unter buschigen Brauen
hervor. Bekleidet war das Männchen mit einem braunen Umhang, dessen
Kapuze weit über den Kopf gezogen war. Desweiteren trug es eine lange
ledrige Hose, welche die kurzen, krummen Beinchen bedeckte. Der kleine
Kerl besaß einen langen nackten Schwanz, der ihm aus seinem verlängerten
Rücken wuchs und mit seiner dreieckigen Spitze unruhig hin und her
zuckte. Über den Schultern erhoben sich große Schmetterlingsflügel.
Mit knochigen Spinnenfingern stützte er sich auf ein riesiges Zweihandschwert,
das trotz des Dämmerlichts hell blitzte.
"Ich möchte gerne in mein Zimmer. Lass
mich bitte vorbei!" bat Yono höflich, da er inzwischen wusste, dass
auch die unscheinbarsten Wesen in diesem Land oft über Kräfte
verfügten, die man besser nicht herausforderte.
Der Winzling aber grinste nur und sagte:
"Ich bin El Pitto Gnomo, der Anführer
der Finsterwald-Kobolde. "An mir kommt keiner vorbei!"
Jetzt war es mit der Selbstbeherrschung des
alten Samurai vorbei. Mit einem blitzartigen Reflex riss er sein Schwert
aus der Scheide und wollte gerade mit aller Macht auf den Kleinen einschlagen,
als er plötzlich stutzte: Er hatte ja sein Krummschwert in der Hand!
Ungläubig starrte er es an. Der Bann war gebrochen! Er warf einen
Blick auf den vor ihm stehenden Zwerg.
"Der Fluch des Traumwächters existiert
nicht mehr!" stammelte er.
"Weißt du noch, wodurch der Zauber aufgelöst
wird?" schmunzelte El Pitto Gnomo.
"Wenn ich auf den treffe, der mich im Schwertkampf
besiegen wird!" flüsterte Yono. "Das kannst du aber nicht sein. Du
bist doch ein Zwerg!"
Der Kleine grinste hämisch.
"Nicht Zwerg. Kobold, wenn‘s recht ist, bitteschön!
Du brauchst aber keine Angst vor mir zu haben. Ich mache es heute auf die
sanfte Tour, Yono!"
Der Samurai ließ prüfend die Klinge
durch die Luft sausen – und griff unvermittelt mit einem lauten Kampfschrei
an. Er wollte seinem Gegner gleich von Anfang an zeigen, wer hier der Bessere
war. Ein erfahrener Samurai gegen einen kleinen Wicht! Für ihn war
das Ergebnis der Auseinandersetzung von vornherein klar.
El Pitto Gnomo nahm die Herausforderung ohne
zu zögern an. Er riss sein Zweihandschwert hoch und fing die Hiebe
seines Gegners in der ihm eigenen, unnachahmlichen Leichtigkeit ab. Schon
nach dem ersten direkten Kontakt merkte Yono, dass er auf einen vollendeten
Meister der Schwertkampfkunst getroffen war. Der Samurai wendete alle Tricks
an, die er kannte, versuche es mit purer, mörderischer Kraft, mit
Schnelligkeit, mit Geschicklichkeit, fintete, schlug, machte Ausfälle,
tat alles, was er im Laufe seines Lebens gelernt hatte. Doch der Kleine
war ihm immer eine Nasenlänge voraus. Er schien jeden seiner Schritte
vorauszuahnen und konterte mit unglaublicher Geschicklichkeit jeden Angriff
aus. Härter und verbissener wurde der Kampf. Yono umkreiste seinen
Gegner. Schlug zu. Schlug wieder und wieder zu. Doch El Pitto Gnomo wehrte
alles ab und grinste dabei. Wer den Kobold kannte, der merkte aber schnell,
dass dieser nur spielte, denn er griff selbst nicht an. Er erwartete die
Aktionen seines Gegners, ließ ihn sich austoben und wehrte nur ab.
Es war ihm deutlich anzumerken, dass ihm die Geschichte Spaß machte.
Schließlich aber wurde es ihm zu bunt. Mit einem blitzartigen Vorstoß
unterlief er die Deckung Yonos. Ein einziger, kraftvoller Hieb und das
Schwert des Samurai flog durch die Luft. Yono war entwaffnet. Er hatte
verloren.
Ungläubig starrte er auf seine leere
Hand.
"Was war das?" staunte er. "Wie hast du das
gemacht? Ich bin noch nie geschlagen worden. Ich bin der beste Schwertkämpfer
meines Volkes!"
El Pitto Gnomo grinste.
"Ich habe es dir doch gesagt: An mir kommt
keiner vorbei!"
Richard hatte die Auseinandersetzung aus der
Ferne beobachtet. Er trat jetzt hinzu.
"Lass es dir nicht zu Herzen gehen, Yono.
Ich habe euch zugesehen und kann dir mit gutem Gewissen sagen, dass es
in meinem Land niemanden gibt, der dir im Schwertkampf gleichkommt. Du
könntest jeden im Zweikampf schlagen. El Pitto Gnomo aber ist mit
dem Schwert nicht zu bezwingen. An ihm kommt wirklich niemand vorbei!"
Yono verstand und lachte laut auf.
"Der Schwertkampf ist sein magisches Talent!"
erkannte er. "Gegen die Kraft der Magie ist kein Kraut gewachsen. Das habe
ich jetzt in aller Deutlichkeit erkannt. Ich werde mich nie wieder abfällig
über die Magie äußern. Ich bin nun davon überzeugt,
dass es sie wirklich gibt. Ich gebe euch mein Wort, dass ich diese Tatsache
nie wieder bestreiten werde!"
***
Am nächsten Morgen fanden sie den Toten.
Es handelte sich um einen Bauern, der sich dem äußeren Wachring
angeschlossen hatte. Sein Fehlen war aufgefallen, als die Wachen mit Verpflegung
versorgt werden sollten. Er lag verkrümmt auf dem Rücken und
starrte mit leeren Augen anklagend in die Morgensonne. In seinem Hals steckte
ein dünner, spitzer, dornartiger Pfeil. Man brachte ihn in den Innenhof
des Schlosses, damit Merling ihn untersuchen konnte. Der Magier schaute
sich den Mann genau an, drehte ihn herum und fühlte ihn vorsichtig
ab.
"Ich kann nichts Außergewöhnliches
an ihm entdecken," gab er bekannt. "Der Dorn ist zu winzig, als dass er
lebenswichtige Körperteile verletzt hätte. Ich vermute, dass
er vergiftet ist."
"Das lässt vermuten, dass Laurin den
Pfeil abgeschossen hat," meinte Quatzkotl, der mit Cillie wieder zurückgekehrt
war und bereits von Laurins Verschwinden berichtet hatte.
"Warum sollte er das tun? Er würde uns
doch nur unnötig auf sich aufmerksam machen," überlegte Cillie.
"Mit seinem Tarnmantel hätte er die Absperrung problemlos überwinden
können. Die Wachen würden ihn selbst dann nicht bemerken, wenn
er vor ihrer Nase einen Tango tanzen würde."
"Vielleicht will er gerade das: Uns auf sich
aufmerksam machen. Was wissen wir schon, was in seinem verrückten
Hirn vor sich geht," knurrte Merling. "Wir sollten das Gift analysieren.
Vielleicht sehen wir dann klarer. Ich werde einen Trank brauen, der..."
"Nein! Nur das nicht schon wieder!" riefen
Richard, Quatzkotl und Cillie im Chor. "Fragen wir Hitzliputzli. Vielleicht
kann er uns helfen."
Merling schwieg beleidigt. Diese Aufregung
um seine Kochkünste konnte er nicht nachvollziehen.
Mischa wurde gerufen. Dieser stellte sich
mit der Flasche vor den Toten und rief:
"Hitzliputzli, Flaschengeist. Zeige dich.
Sag was du weißt."
Die Flasche wurde durchsichtig. Der Flaschengeist
sprang wie gewohnt auf und ab.
"Was wollt ihr denn schon wieder von mir?"
Da Mischa den Flaschengeist gerufen hatte,
übernahm er auch das Reden.
"Schau dir bitte diesen Mann an, Hitzliputzli.
Bitte sage uns, woran er gestorben ist."
"An einem Giftdorn! Das sieht man doch!"
"Was ist das für ein Gift, das hier verwendet
wurde?"
"Das ist das Gift eines Buschmeisters! Das
sieht man doch!"
"Was ist ein Buschmeister?"
"Der Buschmeister ist die giftigste Schlange
der Welt. Sie lebt in den Wäldern Südamerikas. Die Einheimischen
nennen sie Succururu. Ihr Biss tötet auf der Stelle. Der Mann war
tot, ohne den Dorn überhaupt zu spüren. Er hat nichts gemerkt."
"Wer, meinst du, könnte diesen Pfeil
abgeschossen haben?"
"Der Dorn ist aus einem Blasrohr verschossen
worden. Das Gift ist extrem schlecht zu beschaffen und muss magisch behandelt
werden, damit es an einem Pfeil kleben bleibt, aber seine Giftigkeit trotzdem
behält. Für mich gibt es nur einen, der über genug Wissen
verfügt, um das zu bewerkstelligen. Das ist Laurin!"
Sie schauten sich betroffen an. Jetzt war
es heraus! Laurin war wirklich hier. In unmittelbarer Nähe. Unsichtbar
und mit einer tödlichen Waffe versehen.
***
Bei seiner Ankunft wurde Laurin unangenehm
überrascht. Die Burg befand sich im Alarmzustand. Offensichtlich erwartete
man ihn schon! Er verwünschte seine körperliche Schwäche,
der es zu verdanken war, dass er trotz des Reisezaubers so lange bis hierhin
gebraucht hatte. Die Bewohner der Burg hatten dadurch Zeit genug gehabt,
sich auf sein Kommen vorzubereiten. Doch er war bereit, die Herausforderung
anzunehmen! Bei näherem Hinsehen stellte sich aber heraus, dass der
äußere Wachring um die Burg nur aus Bauernburschen bestand.
Unerfahrene Tölpel, die sich laut unterhielten und für ihn keine
Gefahr darstellten. Er würde kein Problem damit haben, an ihnen vorbei
zu kommen. Doch da kam ihm der Gedanke, dass es der ganzen Geschichte eine
gewisse Würze verleihen könnte, wenn er seine Anwesenheit offen
kundtun würde. Warum sollten sie nicht wissen, dass er bereits da
war und durch ihre Reihen spazieren konnte, wie es ihm beliebte? Der Gedanke
gefiel ihm so gut, dass er ihn sogleich in die Tat umsetzte. Er zog sein
Blasrohr aus einer Falte seines Gewandes und nahm einen etwas abseits stehenden
Posten aufs Korn. Der Mann fiel sofort um und rührte sich nicht mehr.
Schnell wie ein Schatten huschte Laurin an ihm vorbei. Nach wenigen Minuten
hatte er die Burgmauern erreicht, die als unüberwindbar galten. Doch
es gab da einen Dornbusch, der einen geheimen Zugang bewachte, der nur
einigen wenigen Eingeweihten bekannt war. Laurins Gesicht verzog sich zu
einem hässlichen Grinsen, als er feststellte, dass er unbewacht war.
Wie dumm sie doch waren! Entweder hatten sie nicht in Erwägung gezogen,
dass er, Laurin, über den Geheimgang informiert war, oder sie hatten
ihn selbst vergessen! Nun, ihm konnte das jedenfalls einerlei sein. Als
es dunkelte ging er auf den Dornbusch zu. Aus seinem Mantel zog er einen
Beutel, der ein dickkörniges Pulver enthielt. Er bestäubte damit
den Busch und sang leise:
"Trolle, Hölle, Drachenblut, lässt
du mich durch, geht es dir gut!"
Normalerweise funktionierte der Zauber nur
in einer Neumondnacht. Aber Dank der speziellen Zusammensetzung des Pulvers
reagierte der Dornbusch auch so: Er teilte sich und gab den Weg zu einem
Durchgang frei, der ohne Umwege in den Schlosshof führte. Laurin kam
in einem Winkel zwischen Pferdestall und Heuschober heraus, der ihm einen
guten Rundumblick gewährte. Er runzelte die Stirn, als er feststellte,
dass er es im Gegensatz zu den Bauern des äußeren Rings innerhalb
der Burg mit erfahrenen und erstklassigen Kämpfern zu tun hatte: Quatzkotl,
der Drachenkönig, war da. Ebenso El Pitto Gnomo, der unvergleichliche
Schwertkämpfer, sowie Knurps, der riesenhafte Troll. König Richard,
der Vater Jannies, und Cillie die Hexe waren auch nicht zu verachten. Ferner
gab es noch einige bewaffnete Knappen des Königs und einen alten Samurai,
den er auf keinen Fall unterschätzen durfte. Samurai galten als vorzügliche
Schwertkämpfer. Laurin würde sich vorsehen! Außerdem war
der alte Magier Merling mit von der Partie. Jetzt war ihm auch klar, wer
den Ortungszauber hervorgebracht hatte, mit dem sein Aufenthaltsort verraten
worden war. Merling war zwar ein Sonderling, genoss aber in Magierkreisen
einen erstklassigen Ruf. Schade, dass Merling auf der falschen Seite stand
und seine Fähigkeiten für armselige Sterbliche verschwendete.
Aus ihm hätte mehr werden können. Laurin beobachtete das Treiben
der Verteidiger noch eine Weile, um sich ein Bild über ihre Strategie
machen zu können. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass
das derzeitige Handeln relativ planlos war. Merling führte das Kommando,
war aber kein Stratege. König Richard wäre die bessere Wahl gewesen
oder noch besser Quatzkotl. Na ja, ihm konnte es nur recht sein. So war
es für ihn einfacher. Plötzlich prallte er zurück: Ein Skelett
mit einer kleinen Flasche in der Hand kam auf ihn zu! Das seltsame Gespann
kam ihm verdächtig vor. Laurins feine Sinne nahmen ein schwaches Ortungsfeld
war, das auf ihn abgestimmt war. Ah! So ein Einfaltspinsel war Merling
also doch nicht. Er hatte einen Flaschengeist mit einem Ortungszauber versehen
und ließ ihn jetzt durch die Burg tragen. Man traute ihm also durchaus
zu, in die Burg einzudringen. Doch so gefährlich wie Merling vielleicht
dachte, war der Flaschengeist trotz des Ortungszaubers nun doch wieder
nicht. Der Wirkungskreis des Zaubers war nur gering und zudem sehr schwach.
Von ihm drohte keine Gefahr. Das Skelett dagegen war viel gefährlicher.
Er würde es beizeiten beseitigen. Er hatte noch einen Giftdorn dabei.
Das magisch verstärkte Schlangengift würde seine Wirkung auch
bei dem Skelett-Mann tun. Laurin tauchte tief hinein in die schwarzen Schatten
der Gebäude und verschwand eilends aus der Reichweite der Flasche.
***
Am nächsten Morgen wurde Mischa vermisst.
Höchst beunruhigt durchsuchten alle Verteidiger der Burg jeden Winkel
des Schlosses. Mischa galt als äußerst zuverlässig. Außerdem
war seine tiefe Zuneigung zu Jannie unbestritten. Es war sicher, dass er
schon alleine Jannies wegen seine Pflichten nicht vernachlässigen
würde.
"Vielleicht war er müde und hat sich
ein wenig aufs Ohr gelegt!" dachte Hieronto laut.
"Unmöglich!" sagte Jannie bestimmt. "Mischa
lebt doch gar nicht richtig. Er kann nicht müde werden. Nein! Ihm
ist bestimmt etwas passiert!"
Es dauerte längere Zeit, bis sie auf
ihn stießen. Mischa lag reglos auf dem Boden. Die Flasche war seiner
Hand entglitten. Sie lag leer und zersplittert neben ihm.
Der herbeigeeilte Merling untersuchte ihn.
"Es ist ihm nichts ernstliches passiert!"
atmete er auf. "Zum Glück ist er bereits tot, so dass ihn das Gift
nicht umbringen konnte. Er ist nur gelähmt. Wie lange dieser Zustand
anhalten wird, kann ich leider nicht vorhersagen. Ich habe keine Erfahrung
mit vergifteten Skeletten."
"Und was ist mit Hitzliputzli? Seine Flasche
ist zerstört!" rief Jannie, die ein Herz für Gespenster und Geister
hatte.
Merling schüttelte traurig den Kopf.
"Ich glaube, dass der Flaschengeist nicht
mehr existiert. Ohne seine Flasche kann er ebenso wenig existieren, wie
George ohne die Burg. Als Geist ist er an seine Behausung gebunden."
Betroffen schwiegen sie alle. Hitzliputzli
war zwar kein angenehmer Geselle gewesen, aber irgendwie gehörte er
doch zu ihnen. Jetzt hatte Laurin schon wieder jemanden auf dem Gewissen.
Mit vereinten Kräften schleppten sie
den regungslosen Mischa in die Scheune, wo sie ihn ins Heu legten. Diese
fürsorgliche Behandlung war eigentlich unnötig, da es für
Mischa egal war, ob er weich oder hart, nass oder trocken lag. Aber sie
konnten nicht anders: Mischa war einer der ihren und sollte es möglichst
gemütlich haben.
Als sich wieder alle im Hof zusammengefunden
hatten, schauten sie sich hilf- und ratlos an.
"Wie ist er nur in die Burg gekommen?" fragte
Richard. "Die Mauern sind doch unüberwindlich."
"Im Moment ist die Beantwortung dieser Frage
nicht von Wichtigkeit!" gab Quatzkotl zu bedenken. "Laurin hat unsere Sicherheitsvorkehrungen
allesamt überwunden und ist jetzt mitten unter uns. Wir müssen
uns überlegen, was wir jetzt noch tun können, um zu verhindern,
dass er Jannie schadet!"
"Kannst du nicht die Wirkung des Tarnmantels
neutralisieren?" schlug Quatzkotl vor. "Wenn ich Laurin wenigstens sehen
würde, dann würde ich ihm schon ordentlich einheizen!"
Merling schüttelte den Kopf.
"Daran habe ich auch schon gedacht. Der Mantel
der Dunkelheit ist ein Werk Xusias. Ich weiß nicht genug über
seine Beschaffenheit, um einen Gegenzauber entwickeln zu können."
"Dann lass uns Jannie an einen sicheren Ort
bringen," riet Richard. "Hier in der Burg kann niemand mehr für ihren
Schutz garantieren."
"Wohin willst du sie denn bringen?" entgegnete
Merling. "Und wie willst du verhindern, dass Laurin uns folgt? Wir würden
es nicht einmal merken, wenn er hinter uns her käme. Wir wissen ja
nicht einmal, wie nah er an Jannie heran muss, um sein Werk zu vollenden.
Muss er sie berühren? Braucht er sie nur anzusehen? Für mich
ist nur eins sicher: Die Entfernung zwischen ihm und seinem Opfer darf
nicht zu groß sein. Sonst hätte er sich nicht die Mühe
zu machen brauchen, hierher zu kommen. Solange sie in ihrem Zimmer ist,
haben wir wenigstens den zu beobachtenden Raum unter Kontrolle und so immerhin
eine geringe Chance, ihm das Handwerk zu legen."
"Und was machen wir in Jannies Zimmer?" warf
Yono ein. "In sechs Stunden ist Mitternacht. Sollen wir uns mit gezogenen
Schwertern an ihrem Bett postieren und Löcher in die Luft hauen? Wie
soll ich einem Gegner, den ich nicht sehen kann, den Kopf nehmen? Was nützt
es mir, wenn ich nur vermuten kann, dass er mit mir in einem Zimmer ist?"
Sie schauten einander ratlos an. Bisher war
alles, was sie getan hatten, zwecklos gewesen. Der äußere Ring,
die Mauern der Burg und der Ortungszauber: Nichts hatte geholfen. Wie sollten
sie diesem mächtigen und listenreichen Feind noch beikommen?
***
Während sie da noch mit hängenden
Köpfen herumstanden, pochte es laut am Burgtor. Es war ein donnerndes,
dumpfes Geräusch, das sie sofort aufschreckte.
Der Torwächter öffnete einen kleinen
Sehspalt, um nachzusehen, wer da so vehement Einlass begehrte. Als er sich
zu den anderen umdrehte, war sein Gesicht kreidebleich geworden. Er öffnete
mühsam den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus.
Stattdessen schwankte er, als sei er betrunken, verlor schließlich
das Bewusstsein und fiel der Länge nach hin. War schon wieder ein
Giftpfeil im Spiel? Noch bevor auch nur einer der Zuschauer reagieren konnte,
sprang, wie von Geisterhand bewegt, das Eisengitter rasselnd hoch. Das
Tor schwang weit auf und herein kam eine schauerliche Gestalt, die jenseits
des Fassbaren lag:
Ein Reiter auf einem gewaltigen, weißen
Schlachtross ritt in den gepflasterten Hof. Er war vom Kopf an in einen
langen purpurfarbenen Umhang gehüllt, der weit über die Kruppe
des Pferdes hinunterhing. An seinen Rändern war der Umhang mit seltsamen
goldenen Symbolen bestickt. In der einen Hand hielt er einen zepterartigen
Gegenstand, an dessen Spitze eine grünliche Flamme blass flackerte.
Die andere Hand führte den Zügel. Geisterhaft langsam und dabei
völlig lautlos trabte das Ross über das Pflaster. Beim Näherkommen
erkannten sie, dass das Tier kein Schimmel war. Der weiße Schimmer
rührte daher, dass das Pferd ein Skelett-Tier war, an dem kein Fetzen
Fleisch mehr hing. Dennoch wirkte es wild, stark, ausdauernd und kräftig.
Kurz vor den Zuschauern blieb es stehen und schaute sie mit blicklosen
Augen an. Die Hufe schwebten einige Zentimeter über dem Boden. Kein
Wunder, dass es so lautlos herangekommen war!
Der Reiter bot einen noch entsetzlicheren
Anblick als sein Tier. Mumienhafte Haut spannte sich wie schwarzes Pergament
über erschreckend dürre Gliedmaßen. Rotglühende Augen
beherrschten ein grausames Gesicht. Die Nase fehlte, als sei sie schon
vor langer Zeit abgehackt worden. Der Mund war eingefallen und zahnlos.
Als er so reglos vor ihnen stand, ein Abbild des Todes und des Schreckens,
ging ein Geruch wie alte, vermoderte Erde von ihm aus.
Merling war der Erste aus der Gruppe, der
zu einer Reaktion fähig war.
"Ich habe von ihnen gehört," flüsterte
er kaum hörbar. "Aber ich habe nicht geglaubt, dass es sie wirklich
gibt. Freunde, haltet euch fest. Vor uns steht einer der mächtigsten
Vasallen der Fürsten der Finsternis. Vor uns steht ein Todesritter!"
Alle reagierten so, wie es ihre im Laufe ihres
Lebens erworbenen Instinkte vorgaben: Quatzkotl nahm seine Drachengestalt
an, entfachte das Feuer in seinem Bauch zu mächtiger Glut und bog
den langen Hals zurück, bereit, die Schreckensgestalt mit seinem Drachenfeuer
zu vernichten. Yono und El Pitto Gnomo zogen ihre Schwerter und stellten
sich dem Ungeheuer entgegen. Cillie verhielt sich abwartend. Sie wusste,
dass sie jederzeit eine passende Gestalt annehmen konnte. Merling wartete
ebenso ab. Die Kinder liefen schreiend ins Schloss. Die sonst so mutigen
Knappen Richards waren unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen.
Selbst Knurps, der normalerweise zu dumm war, um so etwas wie Angst zu
verspüren, drückte sich scheu in eine Ecke.
Die finstere Reitergestalt blieb von den Reaktionen
der Burgbewohner unberührt. Starr und kalt blickte sie auf die Umstehenden
herunter.
Richard nahm all seinen Mut zusammen und trat
auf den Todesritter zu.
"Ich bin König Richard, der Herr dieser
Burg. Seid uns willkommen! Was führt einen Diener der Fürsten
der Finsternis an meinen Hof?"
Der Todesritter öffnete seinen schwarzverbrannten
Mund und stieß knarrend und fauchend einige Laute aus, die sich anhörten
wie: "Man nennt mich Saul. Mein Herr Theron sendet mich zu euch. Die Herren
der Finsternis sind der Meinung, dass der Zwerg Laurin es nicht verdient,
in den erlauchten Kreis der Fürsten aufgenommen zu werden und daher
vernichtet werden muss. Darüber hinaus ist mein Herr der Ansicht,
dass ihr nicht über ausreichende Fähigkeiten verfügt, um
mit Laurin fertig zu werden. Ich habe die Erlaubnis, ihn auf meine Weise
zu erledigen."
"Was ist, wenn wir die Meinung deines Herren
nicht teilen?" fragte Richard, wobei er sich Mühe geben musste, das
Zittern seiner Stimme zu verbergen.
Saul stieß ein raues Lachen aus.
"Nun, ich denke, wir ziehen grundsätzlich
an einem Strang. Wenn Ihr Eure Tochter retten wollt, muss Laurin aufgehalten
werden. Und außerdem..." Er musterte den König mit erbarmungslosem
Blick. "Wie wollt ihr mich aufhalten? Meint ihr, mit einem Drachen, einer
handvoll Schwertkämpfer, einem Magier und einer Hexe könntet
ihr einen Todesritter beeindrucken? Nein! Ich werde Laurins Seele essen.
Er gehört mir. Nur mir allein!"
Richard warf Merling vorsichtig einen fragenden
Blick zu. Dieser zuckte ergeben mit den Schultern.
"Lass ihn gewähren, Richard. Es lohnt
nicht, sich gegen ihn aufzulehnen. Mit vereinten Kräften könnten
wir ihn vielleicht bezwingen. Aber wofür? Und zu welchem Preis? Viele
von uns müssten ihr Leben lassen. Aber er hat doch Recht! Wir sitzen
alle in einem Boot. Laurin ist selber Schuld. Er hat es verdient. Wenn
ich ehrlich sein will, würde ich mich lieber selbst in meinem eigenen
Topf kochen, als von einem Todesritter gejagt zu werden."
Richard war Merling für diese Worte dankbar.
Er konnte sich etwas Angenehmeres vorstellen, als gegen dieses Ungeheuer
anzutreten. Er drehte sich wieder zu Saul um.
"Seid unser Gast, Saul. Steigt ab und kommt
in unsere Mitte!"
Der Todesritter verzog sein abstoßendes
Gesicht zu einem harten Grinsen und hob den Umhang, der ihn und sein Pferd
weitestgehend bedeckte, an. Richard stellte zu seinem Entsetzen fest, dass
der Todesritter fest mit seinem Reittier verwachsen war. Er und sein Skelett-Tier
waren eins! Er konnte gar nicht absteigen, selbst wenn er es gewollt hätte.
"Ihr seht, ich bin in keiner Beziehung mit
einem von euch zu vergleichen. Wenn ich mir ansehe, wir planlos ihr versucht,
mit Laurin fertig zu werden, bin ich nicht überrascht, dass er bereits
mitten unter euch ist. Die Alraune hat euch Hinweise genug gegeben, aber
ihr ward geistig nicht in der Lage, sie zu begreifen. Dass Jannie in Gefahr
ist, habt ihr noch begriffen, weil euer Magier Merling ja wenigstens halbwegs
seine fünf Sinne beieinander hat. Aber das war es auch schon. 'Ohne
Augen sehen mehr' heißt nichts anderes, als dass Mischa, euer Skelettfreund,
seine Umgebung mit magischer Kraft sieht und Laurin hätte orten können.
Ihr hättet ihn nur mit Jannie in einen Raum bringen müssen, dann
hätte er Laurin bei einer Annährung bemerkt. 'Auf Dornen achten'
hieß selbstverständlich nicht, dass ihr euch vor den Giftdornen
des Zwerges hättet in Acht nehmen müssen. Gemeint war der Dornbusch
draußen vor den Mauern der Burg, der den geheimen Zugang bewacht.
Richard selbst hatte ihn vor Jahren benutzt, als er heimlich an Eisenfaust
vorbei hier hineingelangte. Ihr seht, ihr seid komplett unfähig, diese
Situation zu beherrschen. Seid froh, dass ich jetzt hier bin."
Er reckte seinen Leichenkörper, worauf
sein Ross nervös herumtänzelte. Der Geruch nach Erde und Fäulnis
verstärkte sich.
"Laurin wird inzwischen bemerkt haben, dass
die Fürsten der Finsternis einen ihrer Vasallen zu eurer Unterstützung
entsandt haben. Damit er sich nicht darauf einstellen kann, werdet ihr
von nun an alles tun, was ich euch sage: Bringt Jannie jetzt auf ihr Zimmer.
El Pitto Gnomo, der Samurai und sein Sohn werden sie dort nicht aus den
Augen lassen. Der Troll stellt sich vor die Tür. Der Drache und sein
Sohn halten sich in Bereitschaft. Alle anderen schreiten in Zweiertrupps
die Burgmauern ab!"
"Was ist, wenn wir uns nicht daran halten?"
fragte Merling, der sich über die Überheblichkeit des Untoten
ärgerte.
"Ihr könnt machen, was ihr wollt. Ich
werde mir die Seele des Zwerges auf jeden Fall holen. Ob ihr das Kind retten
wollt oder nicht, müsst ihr selbst entscheiden. Mir ist das vollkommen
egal."
***
Als er den Todesritter auftauchen sah, krampften
sich seine vertrockneten Eingeweide vor Furcht zusammen. Ihm war sofort
klar, was das zu bedeuten hatte: Die Fürsten der Finsternis hatten
sich gegen ihn gestellt und den Untoten auf ihn angesetzt! In einem ersten
Impuls dachte er daran, seinen Plan aufzugeben. Es war besser, den Rest
seines Lebens in Einsamkeit zu verbringen und irgendwann friedlich zu sterben,
als diesem Ungeheuer da unten in die Fänge zu geraten. Die Todesritter
Therons waren ihm schon immer unheimlich gewesen. Dann und wann hatte er
sie gesehen, wenn Xusia ihn mit zu den Treffen der anderen Fürsten
genommen hatte. Theron hatte häufig eine Schar seiner Vasallen mitgebracht
und während die Fürsten ihre Pläne schmiedeten, hatten sich
die Ritter abartigen Vergnügungen hingegeben, die selbst ihm, dem
doch wahrlich nichts heilig war, Schauer über den Rücken gejagt
hatten.
Als er aber den ersten Schrecken überwunden
hatte und wieder klar denken konnte, besann er sich eines Besseren. Er
befand sich bereits im Schlafzimmer des Mädchens. Ein geräumiger,
heller Raum, der auch als Spielzimmer diente. Laurin überlegte. Wenn
er es richtig anfing, würde ihn der Todesritter nicht lokalisieren
können. Er musste dessen magische Sinne verwirren. Vor den Augen der
anderen deckte ihn der Mantel der Dunkelheit. Sie würden ihn, solange
er ihn trug, nicht sehen können. Darüber hinaus war das Skelett
ausgeschaltet. Er hatte also immer noch eine gute Chance, sein Vorhaben
auszuführen. Zeit genug, seine Vorbereitungen zu treffen, hatte er
auch, denn die Schlafenszeit war noch nicht gekommen. Der Zwerg reckte
seine verdorrten Ärmchen. Seine borkigen Finger zeichneten magische
Runen in die Luft. Sanfter Gesang erfüllte den Raum Laurin begann
ein Gewirr von magischen Fäden zu ziehen, das das Gemach wie das dichte
Gespinst einer Spinne einhüllte. Solange er sich inmitten dieses Gewebes
aufhielt, würde der Todesritter ihn nicht wahrnehmen können.
Nach etwa einer Stunde war das Ritual vollzogen. Laurin betrachtete sein
Werk mit Wohlgefallen: Es war perfekt! Es hatte sich gelohnt, dass er sich
über Jahrhunderte dem Studium der magischen Kräfte gewidmet hatte.
Sein Wissen kam dem eines Fürsten der Finsternis schon sehr nahe.
Dem des Magiers Merling war es bereits um Längen überlegen.
***
Als es Abend geworden war, wurde es Zeit für
Jannie, schlafen zu gehen. Es verstand sich von selbst, dass die Prinzessin
unter den gegebenen Umständen keine Lust verspürte, zu Bett zu
gehen. Nach längerem, guten Zureden ihrer Eltern sah sie aber ein,
dass sie nun ihrem Geburtstag entgegenschlafen musste. Außerdem war
sie trotz allem sehr müde. Bewacht von ihren Beschützern krabbelte
sie in ihr Bett. Bald schlief sie ein.
Die Zeit schritt voran. Yono, El Pitto Gnomo
und Hieronto standen in unmittelbarer Nähe des Bettes und beobachteten
konzentriert den Raum. Doch sie konnten nichts Ungewöhnliches feststellen.
Es wurde 23 Uhr. Noch immer war nichts geschehen.
Vermutlich war Laurin in unmittelbarer Nähe und bereitete sich auf
den Diebstahl des Geburtstages vor. Doch sie konnten ihn nicht sehen.
Yono stieß einen Fluch aus. So hilflos
hatte er sich noch nie in seinem Leben gefühlt.
***
Als seine Zeit gekommen war, hangelte er sich
innerhalb seines magischen Gespinstes voran. Absolut geräuschlos schwebte
er durch den Raum, bis er sich über dem Ruhebett des Mädchens
befand. Er musste an sich halten, um jetzt nicht aus Ungeduld einen Fehler
zu begehen. Die Schwertkämpfer waren unmittelbar in seiner Nähe.
Wenn sie jetzt auf den Gedanken kamen, wild um sich zu schlagen, konnten
sie ihn zufällig treffen. Der Mantel schützte ihn nur vor ihren
Blicken, nicht vor ihren Schwertern. Nur noch wenige Minuten. Er brauchte
keinen körperlichen Kontakt mit dem unter ihm liegenden Kind herzustellen.
Die Verbindung musste auf rein geistiger Ebene hergestellt werden. Laurin
konzentrierte sich. Er begann die magischen Fäden zu ziehen, die seinen
Geist mit dem des Mädchens verknüpfen würden. Jetzt! Endlich
war es soweit. Er machte sich daran, den notwendigen geistigen Kontakt
herzustellen.
In wenigen Augenblicken würde er ein
unsterblicher Fürst der Finsternis sein.
***
Die Tür zum Schlafraum Jannies krachte
auf.
"Bringt das Kind sofort hier raus! Los! Los!
Verliert keine Zeit!" schnarrte der Todesritter, der plötzlich in
der Tür stand.
El Pitto Gnomo stellte keine Fragen, sondern
reagierte unverzüglich. Er nahm die Schlafende auf den Arm und verließ
das Zimmer. Yono und Hieronto deckten den Rückzug. Innerhalb weniger
Sekunden war der Raum verlassen.
***
Er konnte es nicht fassen! Sie hatten das Mädchen
in letzter Sekunde weggebracht! Er war verwirrt. Das plötzliche Abreißen
der sich aufbauenden Verbindung trübte sein Denkvermögen. Nein!
Das durfte einfach nicht sein! Es war doch alles so wunderbar gelaufen!
Er war sich doch schon so sicher gewesen. Er musste sofort hinterher!
Laurin rannte zur Tür, ließ sein
schützendes magisches Gewebe zurück. Es nützte ihm jetzt
sowieso nichts mehr. Er lief auf den Flur. Er wandte sich nach links, weil
der Kobold sich auch in diese Richtung gewandt hatte. Doch das, was er
sah, war nicht der Kobold! Der Todesritter stand unmittelbar vor ihm. Trotz
seiner Verwirrung erkannte Laurin jetzt, dass er sich hatte dazu hinreißen
lassen, einen entscheidenden Fehler zu begehen! Einen tödlichen! Seinen
letzten!
Der Todesritter hob sein Zepter.
"Nein!" kreischte Laurin in höchster
Not. "Nein!"
***
Die wenigen Minuten, vom plötzlichen Auftauchen
des Todesritters bis zum Tode Laurins prägten sich Yono für den
Rest seines Lebens unauslöschlich ein: Sie hatten kaum den Flur erreicht,
als in den sonst so eiskalten Saul urplötzlich Leben kam. Seine rotglühenden
Augen flackerten. Er hob blitzschnell sein Zepter.
"Harrrr!" schnarrte er, als eine grünliche
Flamme aus der Spitze des Gegenstandes fuhr, etwas Unsichtbares umhüllte
und damit dessen Konturen kenntlich machte. Die Flamme knisterte und loderte
dann hell auf. Der Tarnmantel verkohlte. Ein kümmerliches, kleines
und verdorrtes Wesen wurde sichtbar, das wie am Spieß schrie und
verzweifelt mit dürren Ärmchen herumfuchtelte. In den Blick des
Todesritters trat die pure Gier. Mehr denn je sah er wie ein jagendes Raubtier
aus. Sein Gesicht verzerrte sich in Vorfreude auf den bevorstehenden Genuss.
Wieder streckte er das Zepter vor.
Laurins Entsetzensschreie überschlugen
sich.
"Nein! Nicht den Todesmantel! Nicht! Bitteee!!"
kreischte er mit überkippender Stimme.
Er versuchte zu fliehen. Doch wohin? Vor ihm
der Todesritter und hinter ihm der Samurai mit seinem Sohn. In seiner Panik
sprang der Zwerg vor und zurück, drehte sich im Kreis, schrie und
schrie in tiefster Verzweiflung. Das Schreien wollte kein Ende nehmen.
Doch der Tod kam und es gab keine Möglichkeit, dem grausigen Jäger
zu entkommen.
"Harrr!" schnarrte der Todesritter wieder.
Aus dem Zepter löste sich ein gelber
Nebel, der sich scharf knisternd zweiteilte, sich Laurin unaufhaltsam von
zwei Seiten nährte und ihn dann umschloss als sei er ein Mantel.
"Hier! Nimm das Schwert!" rief Yono und warf
seinem Sohn das Krummschwert zu.
Hieronto reagierte so, wie es dem Abkömmling
einer alten Samurai-Erblinie zustand. Er fing die Waffe sicher auf, nahm
ohne Nachzudenken die erforderliche Position ein und schwang die Klinge
im genau richtigen Bogen auf Laurin zu. Im einzig richtigen Augenblick
gab er dem Hieb mit einer geschmeidigen Drehung seines Oberkörpers
den nötigen zusätzlichen Schwung. Die Schneide des Zweihandschwertes
traf exakt im richtigen Winkel den Hals Laurins und nahm ihm den Kopf.
Im selben Moment zog sich der Todesmantel zusammen.
Laurin starb in dieser Sekunde zweimal: Sowohl
durch den Streich des Jungen als auch durch den Todesmantel des Untoten.
Saul öffnete gierig den Schlund und sog
den Todesmantel samt Inhalt mit einem Ausdruck höchster Verzückung
ein. Seine Augen leuchteten wie rote Sonnen.
"Harrr!" schnarrte er schmatzend.
Dann war alles vorbei. Von Laurin blieb nichts
zurück.
***
Am nächsten Tag sah die Welt schon wieder
anders aus. Die Schrecken der vergangenen Nacht saßen zwar noch allen
Beteiligten in den Knochen, aber im Großen und Ganzen war die Stimmung
deutlich besser als noch am vergangenen Tag. Jannie, die zum Glück
gut geschlafen hatte, konnte ihren Geburtstag ohne Sorgen feiern und sich
über ihre Geschenke freuen, die, zumindest für Kinder, immer
noch das Wichtigste an so einem Tag sind. Doch auch die Erwachsenen hatten
allen Grund, zufrieden zu sein. Richard und seine Gemahlin, weil es Jannie
gut ging, und die anderen, weil nicht nur Laurin, sondern auch Saul verschwunden
war. Der Todesritter hatte sich unmittelbar nach seiner entsetzlichen Mahlzeit
davon gemacht. Natürlich, ohne Lebewohl zu sagen. Aber wer wird das
auch von einem Untoten erwarten? Alle bemühten sich jedenfalls, ihn
so schnell wie möglich zu vergessen. Ob ihnen das gelingen würde,
stand allerdings auf einem anderen Blatt.
Yono platzte natürlich vor Stolz über
die Tapferkeit seines Sohnes. Unmittelbar nach dem Tode Laurins hatte er
ihn umarmt und die fachmännische Ausführung der Enthauptung gelobt.
Samurai haben eben andere Vorstellungen von dem, was ein Kind mit zwölf
Jahren können sollte, als andere Menschen.
Alles in allem war Jannies Geburtstagsfest
schön: Es wurde tüchtig gegessen und getrunken. Die Kinder spielten
Adralatsch, Kontakto oder Heuspringen und die Erwachsenen erzählten
sich wilde Geschichten aus ihrer Jugendzeit.
Den Höhepunkt erreichte die Feier aber,
als sich El Pitto Gnomo mit einem Weinkrug erhob und unter lauten Beifallsbekundungen
bekannt gab, dass in Bälde ein kleiner Kobold das Licht der Welt erblicken
würde.
"Mit oder ohne Schwert?" fragte Yono anzüglich.
Die Antwort ging in dem prustenden Gelächter der Zecher unter. Richards
Gemahlin tat, als habe sie den tieferen Sinn der Worte nicht verstanden.
Das zarte Erröten ihres Gesichts zeugte aber vom Gegenteil.
Aber das wird noch eine ganz andere Geschichte.
© W. H.
Asmek
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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