Geschichten von Quatzkotl von W. H. Asmek
Laurin

Vor langer, langer Zeit, als es noch edle Ritter gab, als Drachen die Welt beherrschten und in den Wäldern noch Geister und Gnome hausten, als Zwerge in ihren tiefen Stollen die unermesslichen Gold- und Edelsteinschätze der Berge abbauten, als noch niemand an Internet oder e-Government dachte, lebte in den tiefen, dunklen Wäldern des Riesengebirges der Traumwächter Dommerjahn.
Die Traumwächter waren ein uraltes Volk, das die Erschaffung der Welt miterlebt hatte. Hin und wieder munkelten die Menschen hinter vorgehaltener Hand, dass sie sogar an der Erschaffung der Welt mitgewirkt hatten. Das war natürlich barer Unsinn! Die Traumwächter schmunzelten in ihrer zurückhaltenden Art über dieses Geschwätz – und schwiegen wie sie es immer taten.
Da es immer schon nur sehr wenige Traumwächter auf der Erde gegeben hatte und diese stets einsam und zurückgezogen lebten, gerieten sie im Laufe der Zeit mehr und mehr in Vergessenheit. Schließlich konnte sich kaum mehr jemand daran erinnern, dass es sie überhaupt jemals gegeben hatte. Eigentlich war das schade, denn die Traumwächter kannten infolge ihres unermesslich langen Daseins vieles, das andere nicht einmal erahnten. Sie verstanden die Sprache der Tiere und Pflanzen, unterhielten sich mit dem Wind, lauschten dem Wasser und kannten die Geheimnisse der Gestirne. Ihre hervorragendste Gabe aber war das Wissen um das Wesen der Träume. Und das war der Grund, warum man sie Traumwächter genannt hatte. Viele Krankheiten des Körpers und der Seele hatten ihre Ursachen in den Tiefen der Träume. Kam ein Kranker zu ihnen, so tauchten sie mit ihm hinab in seine Träume, erforschten sie und fanden fast immer die Ursachen für alle Probleme. Doch sie halfen nicht jedem und ihr Preis war hoch.
Seit etwa zwei Jahren hatte der Traumwächter Dommerjahn einen Gehilfen. Wie es sich für einen Traumwächter gehörte, war dieser kein gewöhnliches Lebewesen. Ganz und gar nicht! Der Gehilfe war ein Drache! Darüber hinaus war dieser Drache kein gewöhnlicher Drache. Er war kein Geringerer als Quetzalkoatlus, der zukünftige König der Drachen, Sohn Quatzkotls, des gegenwärtigen Königs der Drachen und dessen Gemahlin, der Hexe Cillie. Er war der Enkel Pergotzkatls, des entsetzlichsten Drachenkönigs, der je über die Welt geherrscht hatte. Und seine Patin war die neunköpfige Hydra. Quetzalkoatlus blickte also auf eine erlesene Ahnenreihe zurück. Er entstammte allerbestem Drachenblut.
Dommerjahn kümmerte das aber nicht sonderlich. Quetzalkoatlus wurde von ihm wie ein ganz normaler Diener behandelt: Er musste regelmäßig die geräumige Wohnhöhle putzen, denn Dommerjahn bestand auf Sauberkeit - und er musste die Mahlzeiten zubereiten, denn Dommerjahn bestand auf geregelten Essenzeiten. Dennoch ging es dem jungen Drachen nicht schlecht, denn Dommerjahn war ein gerechter und gütiger Meister, der ihn wohl forderte, ihn aber nicht über Gebühr beanspruchte. Der Drache fühlte sich darum auch recht wohl bei ihm, denn er lernte viel. Vor allem Tugenden wie Disziplin, Ehrlichkeit und Fleiß. Vor allem die Disziplin ist eine Angelegenheit, die alle jungen Drachen mit viel Mühe erlernen müssen, denn sie sind in der Regel äußerst übermütig, haben einen ernormen Bewegungsdrang und neigen auf Grund ihrer überbordenden Kraft zur Gewalttätigkeit. Nicht, weil sie es böse meinen. Mehr aus Unachtsamkeit und jugendlichem Leichtsinn.
Darüber hinaus bekam er Unterricht in den unterschiedlichsten Sprachen. Er lernte Lesen, Schreiben und Rechnen und durfte seinem Meister bei dessen Unterhaltungen mit Rat- und Hilfesuchenden zuhören. Im Laufe der Zeit lernte er Dommerjahn mehr und mehr schätzen und liebte ihn aufgrund seiner Weisheit wie einen guten Freund. Dommerjahn seinerseits freute sich über die beachtlichen geistigen Fähigkeiten seines Lehrlings, förderte ihn wo er nur konnte und behandelte ihn mehr und mehr wie seinen eigenen Sohn. So entging ihm nicht, dass der junge Drache an Heimweh litt. Der Traumwächter dachte bereits darüber nach, ob er ihm einen kurzen Familienurlaub gewähren sollte, als ihm das Schicksal zu Hilfe kam.
Am Abend eines warmen Frühherbsttages rief Dommerjahn seinen Helfer zu sich.
"Wir bekommen Gäste!" sagte er. "Bereite bitte das Abendbrot vor. Decke den Tisch für vier Personen. Unsere Besucher bevorzugen Fisch. Richte dich bitte darauf ein!"
Quetzalkoatlus wunderte sich nicht über die exakten Anweisungen seines Herrn. Er war es gewohnt, dass sein Meister häufig bereits vorher wusste, was in nächster Zukunft geschehen würde. Er wollte sich bereits an die Arbeit machen, als der Traumwächter ihm noch nachrief:
"Nimm bitte deine menschliche Gestalt an. Unsere Gäste sollen sich nicht fürchten!"
Als Drache königlichen Geblüts konnte er nämlich noch eine zweite Gestalt annehmen: Die eines Menschen. Er verwandelte sich in einen pechschwarzen Jungen von etwa zwölf Jahren. Nur sein feuerrotes, wild wucherndes Haar auf dem Kopf und seine strahlend goldenen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte, durchbrachen das Schwarz. Auf seine Art war er nicht nur ein äußerst schönes Ungeheuer, sondern auch ein bemerkenswert hübscher Knabe.
Außer seinem Gehilfen hatte der Traumwächter keine Bediensteten, so dass der Junge flink arbeiten musste, um rechtzeitig fertig zu werden. Kaum war der Tisch gedeckt und das Essen zubereitet, da vernahm er auch schon Stimmen am Eingang der Höhle.
Dommerjahn nickte ihm zu und Quetzalkoatlus ging nach draußen, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Das Erste, das er erblickte, war das Maul eines großen Pferdes. Er kannte sich gut mit Pferden aus, so dass er sich nicht erschreckte. Auf dem Schloss König Richards, des besten Freundes seines Vaters, war er häufig mit ihnen in Kontakt gekommen. Dieses Pferd hier aber kannte ihn nicht. Es scheute und stieg auf der Hinterhand hoch, da es mit dem schwarzen Jungen, der gar nicht wie ein Mensch roch, nichts anfangen konnte. Sein Reiter konnte sich nur mit Mühe im Sattel halten.
Der Reiter sah völlig anders aus als die Ritter, die Quetzalkoatlus sonst gewohnt war: Er trug ein prachtvolles, eng anliegendes, rotes Gewand mit goldenen Verzierungen. Die Schulterpartie war extrem weit geschnitten, so dass es aussah, als wären es Flügel. An der rechten Seite trug er in einer reich verzierten Scheide ein großes, gekrümmtes Zweihandschwert. Auf der linken Seite ein kürzeres gerades. Die Beine steckten in einer eng geschnittenen rot-goldenen Hose. Die Schuhe waren flach und im Gegensatz zu der sonstigen Kleidung betont einfach gefertigt. Das hochwangige Gesicht war breitflächig, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt und fast schwarz. Das Haar blauschwarz und hinten zu einem Zopf zusammengeflochten.
Der Mann war nicht allein! Um ihn herum befanden sich andere Berittene, die ähnlich, wenn auch deutlich schlichter gekleidet, aber mit ebenso blitzenden Krummschwertern ausgestattet waren wie er. Quetzalkoatlus schätzte ihre Zahl auf ungefähr 50. 
Als das Pferd sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, atmete sein Reiter erleichtert auf. In einer fließenden Bewegung, die viel Kraft und Geschmeidigkeit verriet, stieg er aus dem Sattel. Freundlich, aber mit stolzer Haltung trat er auf den schwarzen Jungen zu und grüßte höflich:
"Ich bin Yono Hatamoto, oberster Samurai und Feldherr des Landes der aufgehenden Sonne. Ich suche den erhabenen Traumwächter Dommerjahn!"
Quetzalkoatlus sah sich den Mann genau an. Jetzt, wo er unmittelbar vor ihm stand, stellte er fest, dass er nicht viel größer war als er selbst. Doch trotz dieser geringen Größe ging die Aura einer bedeutenden Persönlichkeit von ihm aus. So höflich wie er war, so gefährlich wirkte er auch. Seine Schwerter trug er mit Sicherheit nicht nur zur Zierde mit sich. Die kräftigen Hände zeugten davon, dass er sie auch zu führen verstand.
"Ich bin Quetzalkoatlus, der Diener Dommerjahns, des Traumwächters! Der Meister hat euch bereits erwartet, Yono Hatamoto. Er ist bereit, dich und deinen Sohn Hieronto zu empfangen!"
"Was weiß dein Meister von meinem Sohn?" fragte Yono Hatamoto erstaunt. "Wir haben mit niemandem über unsere Mission gesprochen."
Quetzalkoatlus lächelte verhalten und zuckte mit den Achseln.
"Er ist ein Traumwächter," gab er kurz zurück. Und damit war alles gesagt.
Der Samurai gab seinen Begleitern einen kurzen Wink. Mit knappen, in einer fremden, harten Sprache hastig hingeworfenen Worten, befahl er ihnen abzusteigen. Eine Person befahl er mit einem Wink zu sich. Es war ein Junge, etwa in Quetzalkoatlus Alter.
"Wird erwartet, dass ich meine Schwerter ablegen?" fragte Yono. "Du musst wissen, dass ein Samurai seine Schwerter in der Regel nie ablegt. Ich bin aber bereit, mich dem Willen des Traumwächters zu unterwerfen."
"Das ist nicht nötig," gab Quetzalkoatlus zurück. "Der Meister kann durch menschliche Waffen keinen Schaden erleiden."
Sie bückten sich durch den niedrigen Eingang und betraten die Höhle. Dommerjahns Behausung war keines der üblichen dunklen Löcher im Felsgestein, an die man üblicherweise denkt, wenn man das Wort "Höhle" hört. Er bewohnte eine uralte Tropfsteinhöhle, die von leuchtenden Kristallen erhellt wurde. Die Tropfsteine, die sich im Laufe der Jahrtausende gebildet hatten, schillerten in bunten Farben, die durch das sanfte Licht der Kristalle in bester Manier betont wurden. Selbst Quetzalkoatlus, der diesen Anblick doch bereits gewohnt war, ließ sich immer wieder von der Schönheit des Lichts und der Farben verzaubern. Er konnte stundenlang durch die Gänge und Grotten der weitläufigen Höhle wandern, ohne sich zu langweilen. Die Augen der Besucher weiteten sich überrascht, als sie diese Pracht erblickten. Es sprach für ihre Selbstbeherrschung, dass ihnen kein Laut der Überraschung entfuhr.
Sie wurden bereits von Dommerjahn erwartet, der in seiner ihm typischen Bescheidenheit auf einem kleinen Schemel saß.
Die zwei Fremden stellten sich vor dem Traumwächter auf und verbeugten sich gleichzeitig.
"Sei gegrüßt, erhabener Traumwächter," sagte Yono in seiner abgehackten Sprechweise. "Ich komme in Demut zu dir, um dich um Hilfe für meinen Sohn Hieronto zu bitten."
"Ist dein Sohn bereit, den Preis zu zahlen?" fragte Dommerjahn.
"Wir wissen, dass der Preis für die Hilfe eines Traumwächters hoch ist," gab Yono zurück. "Wie wissen aber auch, dass der Preis stets gerecht und angemessen ist. Mein Sohn ist bereit, den Preis zu zahlen."
Dommerjahn blickte Hieronto an. Dieser nickte bestätigend zurück.
"So sei es denn," sagte Dommerjahn. "Bevor wir uns eurem Problem zuwenden, solltet ihr euch stärken. Ihr hattet eine anstrengende Reise und Probleme sollte man nicht erschöpft und mit leerem Magen angehen."
Die Besucher antworteten mit einem freudigen "Hai", das wohl ein "Ja" bedeuten sollte, warteten aber höflich, bis Dommerjahn den ersten Bissen zu sich genommen hatte, bis sie selbst zulangten. Die Speisen schienen ihnen zuzusagen, denn sie aßen tüchtig, wobei sie betont laut schmatzten und hin und wieder das ein oder andere Rülpserchen von sich gaben. Im Gegensatz zu seinem Herrn war Quetzalkoatlus mit den Tischsitten fremder Völker nicht sonderlich vertraut. Er war aber von der Geräuschkulisse sehr angetan. Da Drachen für die peniblen menschlichen Tischsitten im allgemeinen wenig übrig haben, beteiligte er sich nach Kräften an der Orgie. Natürlich nur aus Höflichkeit den Gästen gegenüber! Dommerjahn focht das alles nicht an. Er hatte schon Schlimmeres erlebt.
Schließlich war das Mahl beendet. Yono fletschte höflich die gelben Zähne, wobei ihm ein donnernder Rülpser entfuhr. Die Zeit des Sprechens war gekommen.
Der Traumwächter lehnte sich zurück.
"Was gibt mir die Ehre eures Besuches?" wollte er wissen, obwohl er es schon wusste. Aber er wollte seinem Gast die Gelegenheit geben, seine Bitte auf seine Art vorzutragen.
Yono Hatamoto erhob sich von seinem Platz und sprach:
"Erhabener Traumwächter, wir sind aus dem Land der aufgehenden Sonne aufgebrochen, weil ein großes Unheil über mich und meine Familie gekommen ist. Wisse, dass wir Hatamotos bereits seit sechzehn Generationen den obersten Samurai in unserem Lande stellen. Er ist der Anführer und Befehlshaber über alle anderen Krieger unseres Volkes. Wir sind eine kriegerische Nation, dem die Ehre des Kriegers über alles geht und nur ein besonders tüchtiger Mann kann dieses Amt ausfüllen. Er muss klüger, stärker und tapferer als alle anderen Samurai sein. Vor allem aber muss er ein Mann sein."
"Erkläre mir bitte einmal genau, was ein Samurai ist!" bat Dommerjahn.
"Ein Samurai ist ein Elitekrieger unseres Volkes. Er lebt für den Kampf und für die Ehre. Er kennt keine Furcht und zögert nicht, sein Leben bedingungslos zum Wohle seines Fürsten zu opfern. Wenn sein Fürst ihm befiehlt zu sterben, wird er nicht fragen warum, sondern mit Freude sofort in den Tod gehen. Wenn ein Samurai trotz aller Schlachten und Gefahren, denen er in seinem Leben ausgesetzt war, so alt geworden ist, dass er für den Kampf nichts mehr taugt, ist es für ihn die höchste Ehre, mit Erlaubnis seines Herrn seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Er begeht in aller Form Seppuku, das heißt, dass er sich mit seinem eigenen Schwert ohne einen Schmerzenslaut den Bauch aufschlitzt."
Yono hatte sich in Eifer geredet. Er stand hoch aufgerichtet da. Seine Augen flammten. Quetzalkoatlus wurde schon beinahe unheimlich zumute, als er den alten Samurai vor sich stehen sah. Er konnte sich gut vorstellen, wie dieser Mann trotz seiner vielen Lebensjahre todesmutig auf eine ganze Gruppe von Gegner losgehen würde, um sie in Stücke zu hauen.
"Dann, so kann ich mir vorstellen, muss ein Samurai wirklich ein ganzer Mann sein," kommentierte Dommerjahn ungerührt den Ausbruch des Alten.
Yono sah seinen Sohn an und sank in sich zusammen.
"Mein Sohn Hieronto ist seit seiner Geburt dazu auserwählt worden, ein Samurai zu werden. Er kennt keine Furcht, ist klug und stark, so dass ich allen Grund hätte, stolz auf ihn zu sein. Aber: Für wie alt hältst du ihn?" seufzte er.
Dommerjahn blickte den Jungen an und antwortete:
"Wenn ich ihn mir so ansehe und seine Statur berücksichtige, so scheint er mir ein Junge von elf Jahren zu sein."
Quetzalkoatlus musste seinem Meister innerlich zustimmen. Der Junge wirkte nicht älter als er selber.
Yono senkte traurig mit dem Kopf.
"Das ist das Problem," sagte er düster. "Mein Sohn wird im kommenden Jahr 16 Jahre alt. An diesem Geburtstag soll er in den Kriegerstand der Samurai aufgenommen werden und seine Schwerter bekommen. Wenn er aber so bleibt, wie er jetzt ist, wird das nicht geschehen. Mit dieser Schande wird er nicht leben können und sich selbst entleiben müssen."
"Wie kann ich euch helfen?" wollte Dommerjahn wissen.
"Die Traumwächter stehen im Ruf, alle Geheimnisse der Welt zu kennen," erwiderte Yono. "Wir hoffen, dass du in der Lage sein wirst, uns den Grund dafür mitzuteilen, warum mein Sohn nicht mehr weiter wächst und körperlich und geistig auf der Entwicklungsstufe eines Kindes stehen bleibt – und was wir dagegen tun können."
Dommerjahn nickte.
"Ich kann nun euer Leid verstehen. Für diesen Entwicklungsstopp kann es viele Gründe geben. Ich werde deinen Sohn gründlich untersuchen müssen, um die Ursache zu finden."
"Ich bin mit allem einverstanden," gab Yono zurück. "Tue, was du für richtig hältst."
"Dann bitte ich dich, die Höhle zu verlassen. Dein Sohn muss bei mir und meinem Gehilfen bleiben."
Yono gehorchte widerspruchslos und verließ die Höhle, deren Eingang sich hinter ihm schloss.
Dommerjahn winkte den Jungen zu sich heran.
"Wir werden nun zusammen träumen!" sagte er. Er richtete seine großen schwarzen Augen auf den Jungen und blickte ihn tief und fest an.
"Du wirst jetzt einschlafen und tief und fest Schlafen. Dein ganzes Leben wird an dir vorüberziehen. Einzelheiten, die du schon lange vergessen hast, Kleinigkeiten, die du nie wahrgenommen hast, werden dir ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Ich werde dich auf diesem Weg begleiten, dich lenken, leiten und beschützen."
"Warum musst du mich beschützen?" fragte der Junge. "Es sind doch nur Träume!"
Dommerjahn seufzte.
"Träume besitzen auf alle Menschen einen großen Einfluss. Sie sind sehr mächtig. Sie können deine Seele krank machen, dir deine Kraft rauben, deinen Verstand nehmen. Es gibt magische Wesen, die sich von den Träumen der Sterblichen nähren. Sie saugen ihre Kraft in sich auf, nehmen einen Teil ihrer Seele mit und schwächen sie so. Sie kommen nachts, wenn die Träumer am tiefsten schlafen, sie nicht bemerken und nehmen sich, was ihnen nicht gehört. Ein Mensch ohne seine Träume ist nur eine leere Hülle. Ein wandelndes Nichts. Seelenlos. Lass uns also sorgsam mit deinen Träumen umgehen. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil deiner selbst"
Hieronto schwieg und blickte nun seinerseits in die abgrundtiefen Augen des Traumwächters, die ihn wie zeitlose Brunnen anzogen. Ein Sog packte ihn und riss ihn mit sich in den Bann Dommerjahns des Traumwächters. Die Seele des Jungen verschmolz mit der des uralten Weisen.
Der junge Drache kannte all dies schon. Oft genug hatte er mit angesehen, wie ein Ratsuchender vom Blick des Alten regelrecht verschlungen wurde. Doch so unheimlich, wie es aussah, war es gar nicht. Dommerjahn musste mit seinem Klienten verschmelzen, wenn er ihn untersuchte. Nur so konnte er in die letzten Winkel des Bewusstseins des anderen gelangen.
Die Zeit verrann. Dommerjahn und der Junge blickten sich unverwandt an und rührten sich nicht. Steif und starr wie Statuen standen sie da als wären sie und die Welt mit ihnen eingefroren.
Dann endlich gab der Traumwächter die Seele des Jungen wieder frei. Erschöpft ließ er sich von seinem Diener zu einem Sessel führen. Das Kind indes sank auf den Boden, wo es weiterschlief.
"Hole jetzt bitte Yono herein," bat Dommerjahn.
Quetzalkoatlus lief so schnell er konnte vor die Höhle, deren Eingang sich wieder geöffnet hatte. Er wandte sich an den alten Samurai und winkte ihn herein.
"Die Krankheit deines Sohnes ist schwer zu heilen," eröffnete Dommerjahn dem Vater. "Ist dir an ihm etwas Besonderes aufgefallen? Hat er sich in seinem Verhalten verändert?"
Yono überlegte.
"Mir scheint, dass er in den letzten Jahren keine Fortschritte in der Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit gemacht hat. Er ist ein Kind geblieben. Aber das hatte ich ja schon gesagt."
"Gut," erwiderte Dommerjahn. "An was für einem Tag hat dein Sohn Geburtstag?"
"Es ist der 18. Oktober." antwortete Yono.
"Der 18. Oktober zählt zu den Geburtstagen mit einer besonderen magischen Kraft. Er ist der erste wichtige Tag des Frühherbstes," nickte Dommerjahn. "Ich kann dir jetzt sagen, was deinem Sohn fehlt: Jemand hat ihm seinen Geburtstag gestohlen."
Der alte Samurai blickte den Traumwächter an, als habe dieser den Verstand verloren.
"Was hast du gesagt? Man hat ihm was gestohlen?"
"Seinen Geburtstag!" gab dieser ruhig zurück. "Du hältst das sicherlich für Unsinn. Aber es ist nun einmal so. Es gibt in dieser Welt Dinge, von denen du dir keine Vorstellung machst, Yono. Du bist ein Krieger, der nur an das glaubt, das er anfassen oder mit seinem Schwert töten kann. Übernatürliches ist für dich fremd. Zu mir bist du nur gekommen, weil du völlig verzweifelt bist und nicht, weil du an meine Fähigkeiten glaubst. Du brauchst es nicht zuzugeben. Ich weiß, dass es so ist. Wenn dein Sohn aber wieder gesund werden will, so muss er sich seinen Geburtstag wiederholen! Er muss den Dieb aufsuchen, ihn eigenhändig töten und ihm dadurch das Gestohlene wieder abnehmen. Sonst wird er bis an sein Lebensende ein Kind bleiben."
Dommerjahn wies auf Quetzalkoatlus.
"Schau dir meinen Diener an! Fällt dir etwas an ihm auf?"
Yono brummte: "Er sieht etwas ungewöhnlich aus. Aber ich habe auf meinem Weg zu dir viele seltsame Völker kennen gelernt. Ich sehe nichts wirklich Außergewöhnliches an ihm."
"Und doch gehört er einer Art an, die mehr als nur außergewöhnlich ist. Er ist sogar ein Prinz seiner Art. Ein magisches Wesen, das übernatürliche Kräfte hat."
Yono blickte den schwarzen Jungen skeptisch an, sagte aber nichts.
Dommerjahn fuhr fort.
"Mein Diener ist kein geringerer als Quetzalkoatlus, der Sohn Quatzkotls, des Königs der Drachen!"
Kaum hatte Dommerjahn diese Worte ausgesprochen, nahm der Junge seine wahre Gestalt an. Vor dem Samurai tauchte plötzlich ein schwarzer, sechsbeiniger Drache auf.
Jeder andere Mensch hätte sicherlich auf der Stelle die Fassung verloren. Yono, der ein langes Leben als Krieger hinter sich hatte, reagierte mit seinen antrainierten Reflexen: Von einem Augenblick zum anderen hatte er sein Zweihandschwert in den Händen und ließ es durch die Luft zischen. Der Stahl der Klinge sauste durch die Luft und traf auf die Schuppen des Drachen.
Nun ist es so, dass Drachenschuppen, insbesondere die eines Drachen königlichen Geblüts, nicht von normalem, handgeschmiedetem Stahl verletzt werden können. Schwerter, die einen Drachen töten können, müssen unter Verwendung magischer Mittel hergestellt werden. Das Schwert Yonos war aus bestem Waffenstahl. Es konnte sogar Steine spalten, ohne auch nur eine Scharte davonzutragen. Mit der Härte der Schuppen des Drachen aber konnte es nicht konkurrieren. Die Waffe prallte zurück und wurde dem Krieger aus der Hand geschleudert. Yono wollte sofort nachsetzen, konnte sich aber zu seinem Entsetzen nicht mehr rühren. Es war ein Gefühl, als sei er von einer Sekunde zur anderen zu Stein geworden.
"Du hast einen schweren Fehler gemacht!" warf Dommerjahn ihm vor. "Du hast die Gesetze der Gastfreundschaft verletzt, indem du in meiner Gegenwart eine Waffe gezogen hast, um meinen Diener zu töten. Das ist unverzeihlich und muss bestraft werden! Zunächst jedoch zu deinem Sohn, denn die Strafe, die ich dir auferlegen werde, hängt mit ihm zusammen."
Dommerjahn entließ den Samurai aus seiner magischen Fessel. Niedergeschlagen blieb dieser regungslos stehen.
"Ich schäme mich wegen meiner Unbeherrschtheit. Es ist in der Tat absolut unverzeihlich!" flüsterte er.
Dommerjahn fuhr fort. Yono, Hieronto und der Drache hörten aufmerksam zu.
"Es gibt viele magische Wesen, die Sterblichen mit ihren Fähigkeiten Schaden zufügen können. Zum Teil tun sie das unabsichtlich. Zum Teil aber auch gezielt. Die Fürsten der Finsternis wie zum Beispiel Xusia oder Janus haben den Menschen die Seelen geraubt, um ihre eigene Macht zu stärken. Andere tun es, um Unsterblichkeit zu erlangen. Die Fürsten der Finsternis haben das nicht nötig, denn sie sind bereits unsterblich."
Bis auf Quetzalkoatlus verstanden die Zuhörer kein Wort von dem, was der Traumwächter sagte.
"Ich bin mir immer noch nicht ganz im Klaren darüber, wer Hierontos Geburtstag gestohlen haben könnte. In den Träumen des Jungen habe ich einen Schatten gesehen. Mehr nicht. Es gibt nicht viele Magier, die es vermögen, die Fähigkeiten eines Traumwächters zu blenden oder zu behindern," dachte Dommerjahn laut. "Mir fällt nur ein Name ein, aber dieser Name ist außerordentlich unangenehm, denn er steht für jemanden, der besonders skrupellos und charakterlos ist. Er ist hinterhältig und verschlagen, listenreich und gewalttätig. Er heißt Laurin!"
"Ich dachte, Laurin sei bereits tot!" entfuhr es Quetzalkoatlus.
"Wo steckt dieser Laurin?" stieß Yono zischend hervor. "Zeige ihn mir und ich schlage ihn in Stücke!"
"Stelle dir das nicht so einfach vor, Yono!" mahnte Dommerjahn. "Laurin ist ein magisches Wesen, das dir mit seinen Fähigkeiten weit überlegen ist. Laurin ist ein abtrünniger Zwerg, der vor vielen hundert Jahren sein Volk verlassen musste, weil es ihn verstieß. Seither streift er ruhelos umher und sucht nach Mitteln und Wegen, sich für diese Schmach zu rächen. Viele Jahre lang war es ruhig um ihn, so dass man annahm, er sei gestorben. Doch das ist nicht wahr. Wir Traumwächter wissen es besser. Laurin ist nie gestorben. Zwerge haben ein langes Leben und Laurin ist es immer wieder gelungen, seine natürliche Lebensspanne zu verlängern. Er hat Kontakt mit den Fürsten der Finsternis aufgenommen und war viele Jahre hindurch ein ergebener Diener Xusias, der bis zu seinem Tod einer der mächtigsten Fürsten der Finsternis war. In dieser Zeit ist es ihm auch gelungen, sich das Wissen über viele Zaubertränke anzueignen. Darunter auch solche, die das Leben verlängern. Doch kein Trank kann das ewige Leben bringen. Darum ist Laurin offenbar auf den Gedanken gekommen, sterblichen Kindern ihre Geburtstage zu stehlen. In der Nacht vor dem Geburtstag eines Kindes ist die magische Kraft dieses Tages besonders stark und wenn er ihn unmittelbar beim Eintreten in den neuen Tag raubt, kann er dessen Kraft für sich nutzbar machen. Wenn er 365 Geburtstage besitzt, hat er sein Ziel erreicht und ist unsterblich."
"Ich kann meine Frage nur wiederholen," brummte Yono. "Wo ist der Kerl, damit ich ihn in Stücke hauen kann?"
"Das ist das eigentlich Problem an der Sache," gab Dommerjahn zu. "Laurin streift in der meisten Zeit des Jahres ruhelos umher. Niemand weiß, wo seine eigentliche Behausung ist. Man braucht einen Ortungszauber, um ihn zu finden. Außerdem vermute ich, dass er sich in den Besitz des Mantels der Dunkelheit gebracht hat, einen Tarnmantel, der ursprünglich Xusia gehörte. Nur so kann ich mir erklären, dass ich im Traum Hierontos kein klares Bild Laurins gesehen habe. Ihr werdet ihn also nicht nur suchen und finden müssen, sondern müsst es auch schaffen, seine Unsichtbarkeit aufzuheben."
"Was sollen wir nun machen? Wie geht es weiter?" wollte Yono wissen, dem man ansah, dass er von dem ganzen magischen Zirkus immer noch nicht viel hielt.
"Ich kenne einen ganz hervorragenden Magier, der in der Lage ist, den Ortungszauber, den ihr braucht, herzustellen. Er heißt Merling und lebt im Siebengebirge. Dort müsst ihr hin. Mein Diener Quetzalkoatlus wird euch führen."
Quetzalkoatlus hüpfte das Herz vor Freude wie ein Lämmerschwanz! Das bedeutete, dass er nach Hause zu seinen Eltern und seinen Freunden durfte! Er nahm aber all seine Selbstbeherrschung zusammen, um die nötige Würde zu bewahren. Es schickte sich nicht für den Gehilfen eines Traumwächters, in unkontrollierte Jubelrufe auszubrechen.
Der Traumwächter fuhr fort.
"Nun meine Bedingungen, unter denen die Reise unternommen wird. Da du, Yono, durch deine Unbeherrschtheit die Gesetze der Gastfreundschaft missachtet hast, wirst du von nun an deine Schwerter nicht mehr ziehen können. Ich belege sie mit einem magischen Bann, der erst dann aufgehoben wird, wenn du auf den triffst, der dich im Schwertkampf besiegen wird."
Yono grunzte verächtlich. "Das wird nie geschehen. Im Schwertkampf bin ich noch nie geschlagen worden!"
Dommerjahn entgegnete nichts. Das Krummschwert des Samurai löste sich wie von Geisterhand geführt vom Boden, schwebte auf Yono zu und fuhr von selbst in die Scheide. Der Alte versuchte sofort, es wieder hinauszuziehen. Die Waffe saß aber fest, als sei sie mit der Scheide verschweißt.
"Und du, Hieronto, wirst, nachdem du deinen Geburtstag wieder bekommen hast, in das Land der aufgehenden Sonne zurückkehren. Wenn du die Samurai-Würde bekommen hast, wirst du zu mir zurückkehren und mir zehn Jahre lang als Gehilfe dienen," sprach Dommerjahn zu dem Jungen.
"Wenn du es wünscht, werde ich das selbstverständlich tun, denn ein Samurai ist ein Mann von Ehre. Aber wie kannst du sicher sein, dass ich das auch wirklich machen werde?" fragte Hieronto schüchtern.
"Alles wird so geschehen, wie ich es gesagt habe. Niemand kann sich den Anordnungen eines Traumwächters entziehen, mein Junge," gab Dommerjahn zurück.
Dann winkte er Quetzalkoatlus zu. "Ihr brecht sofort auf!" ordnete er an. "Yono und Hieronto können zu Pferde weiterreisen. Du selbst kannst deine Drachengestalt annehmen und fliegen. So werdet ihr schnell ins Siebengebirge kommen."
"Was ist mit meinen Samurai?" fragte Yono. "Dürfen sie uns begleiten?"
"Ihr werdet zu dritt reisen. Deine Leute werden hier auf euch warten. Ihnen wird nichts geschehen, denn sie stehen unter meinem Schutz."
"Es sind 50 auserlesene Elite-Samurai. Sie brauchen deinen Schutz nicht!" erklärte Yono stolz und schritt in Richtung Ausgang davon. Das Schmunzeln des Traumwächters bemerkte er nicht.
Als die drei die Höhle verlassen hatten, bemerkten sie, dass die 50 Samurai Yonos starr und steif wie Ölgötzen auf ihren Rössern saßen. Dommerjahn hatte sie ganz offensichtlich in einen magischen Tiefschlaf versetzt.
"Stasiszauber!" kommentierte Quetzalkoatlus kurz. "So wird ihnen die Wartezeit wenigstens nicht lang. Wenn sie wieder wach werden, wird für sie nur ein Lidschlag vergangen sein."
Yono und Hieronto wahrten ihre Würde, stiegen kommentarlos auf ihre Pferde und folgten dem jungen Drachen, der sich flügelschlagend in die Luft erhob, um ihnen den Weg zum Siebengebirge zu weisen.

***

Die Wegstecke vom Riesengebirge bis zum Siebengebirge zu überwinden war ein erkleckliches Stück Arbeit. Nicht nur die reine Entfernung bereitete den Reisenden viel Mühe, sondern darüber hinaus auch noch die schlechte Stimmung, die besonders Yono verbreitete. Dem alten Haudegen stieß es sauer auf, dass der Traumwächter seine Schwerter unbrauchbar gemacht hatte. Darum saß er meistens mürrisch schweigend auf seinem Ross und blickte äußerst grimmig drein. Hieronto war eigentlich ein ganz netter Junge. Er war freundlich und aufgeschlossen. Abends löcherte er Quetzalkoatlus mit Fragen. Und auf jede Frage, die er ihm beantwortete, fielen ihm wieder neue ein. Wie denn ein Drache und eine Hexe heiraten und Kinder bekommen konnten, wie ein Magier in einem Kochtopf magische Tränke zustandebringen konnte, wie ein Drache neun Köpfe haben konnte, ohne sie zu verknoten, wie man sich einen Troll vorstellen sollte, wie er denn zu seinem unmöglich auszusprechenden Namen gekommen sei und vieles mehr.
Quetzalkoatlus bemühte sich nach Kräften, den Wissensdurst des Jungen zu befriedigen. Doch da für jede beantwortete Frage zehn neue auftauchten, war das ein mühsames Unterfangen. Im Großen und Ganzen aber verlief die Reise ereignislos. Die beiden Reiter kamen naturgemäß nicht so schnell voran wie der flugfähige Drache, so dass dieser ständig vor und zurück fliegen musste und so einen viel größeren Weg zurücklegte als seine Begleiter.
Eines Abends, als Quetzalkoatlus und seine Weggefährten wieder einmal todmüde am flackernden Lagerfeuer ruhten, tauchte aus dem sie umgebenden Gebüsch plötzlich ein Trupp von gefährlich aussehenden Gestalten auf. Yono sprang auf, griff nach seinem Schwert – und fluchte, weil er es nicht aus der Scheide bekam. Hieronto blieb regungslos sitzen. Quetzalkoatlus aber nahm die Gestalt des Jungen an.
"Wer seid ihr und was wollt ihr von uns?" fragte er die Männer, die inzwischen einen engen Kreis um die drei geschlossen hatten.
"Wir kommen in Unfrieden!" grinste einer von ihnen, wobei er eine schwere Keule schwang. "Dieser Wald gehört uns. Wer passieren will, muss ein Wegegeld entrichten. Schließlich müssen auch wir von etwas leben."
Seine Kameraden, von denen nur zwei oder drei ein Schwert trugen, quittierten seine Rede mit lautem Gegröle.
"Dieser Wald gehört niemandem. Dies ist ein freier Weg, den jeder benutzen kann," widersprach der Drachenjunge.
"Das müssen wir aber besser wissen, denn wir sind in der Überzahl und haben daher Recht," gab der Räuber zurück. "Gebt uns euer Geld heraus. Dann werdet ihr schnell sterben. Wenn nicht, erwartet euch ein langsamer und qualvoller Tod." Er drehte den Kopf zu dem tobenden Yono, der immer noch versuchte, sein blockiertes Schwert zu ziehen.
"Was ist denn das für ein Clown? Er sieht sehr reich aus, scheint aber nicht alle Tassen im Schrank zu haben – oder hat ihm die Angst den Verstand genommen?"
Als Yono das hörte, wurde er plötzlich ruhig.
"Wenn dieser vermaledeite Dommerjahn dieses Schwert nicht mit einem Bann belegt hätte, würdet ihr alle schon in eurem Blute liegen!" zischte der Samurai. "Glaubt ja nicht, dass Yono Hatamoto, der oberste der Samurai des Landes der aufgehenden Sonne Angst vor euch Gesindel hat."
Der Räuberhauptmann horchte auf. 
"Ihr kennt den Traumwächter Dommerjahn?" fragte er. Als Yono nickte, meinte er: "Dann ist das natürlich etwas ganz anderes. Wer unter dem Schutz eines Traumwächters reist, hat freie Passage. Wir werden den Teufel tun und uns mit einem Traumwächter anlegen!"
Er winkte seinen Männern kurz zu. In Windeseile war die gesamte Bande wieder im Unterholz verschwunden.
Yono blickte ihnen verblüfft hinterher. Von diesem Tag an schien sich seine Stimmung zu verändern. Er war zwar so griesgrämig wie vorher, aber irgendwie hatte es den Anschein, als wäre sein Respekt vor dem langen Arm des Traumwächters gestiegen.

***

Nachdem sie das Riesengebirge hinter sich gelassen hatten, hielten sie sich Westwärts, wobei sie sich bemühten, ihren Weg durch Flusstäler zu nehmen, da die Reise so für die Pferde weniger anstrengend war. Nach etwa zwei Wochen erreichten sie das Ufer des Rheins. Quetzalkoatlus schlug vor, den Fluss zu überqueren, da der Weg auf der rechten Rheinseite ebener verlief als auf der linken. Yono und Hieronto schlossen sich seiner Meinung an. Nach kurzer Suche fanden sie auch eine Furt, die ihnen ein gefahrloses Überqueren des Stroms erlaubte. Von nun an ging die Reise zügiger voran und nach einer weiteren Woche erreichten sie schließlich das fruchtbare Tal, das sich am Fuße des Drachenfelsens erstreckte.
Yono betrachtete mit Wohlwollen die sorgsam gepflegten Felder, die sich vor ihm erstreckten. Auch die Bauernhöfe sahen sehr ordentlich aus.
"Mir scheint, dass König Richard seine Untertanen gut im Griff hat. Es zeigt sich immer wieder, dass eine strenge Hand auch die faulsten Bauern an die Arbeit bringt!" stellte er fest.
Doch Quetzalkoatlus widersprach ihm.
"König Richard ist ein sehr gütiger Herr. Die Bauern arbeiten in erster Linie für ihr eigenes Wohl. Die Steuern sind gering: Jeder zahlt das, was er freiwillig entbehren kann. Es ist für alle Seiten ein Leben in gegenseitiger Liebe und Achtung!"
Yono fletschte voller Verachtung die Zähne. Das schien ja ein bemerkenswert schwacher König zu sein! Ließ seine Bauern nach eigenem Gutdünken Steuern entrichten! Das grenzte ja schon an Mitbestimmung! Das hatte die Welt ja noch nicht gehört. Er selbst pflegte aus seinen Landleuten das Letzte herauszuholen und wer sich nicht demütig vor ihm in den Staub warf, der verlor auf der Stelle seinen Kopf. So machte man das und nicht anders!
Als die drei Reisenden durch die Bauernschaft kamen, wurden sie von den Leuten natürlich neugierig beäugt. Alle freuten sich, den kleinen Drachen wiederzusehen, der ihnen ans Herz gewachsen war. Als sie schließlich an der Fähre angekommen waren, welche die Bauernschaft mit der Stadt Königswinter auf der anderen Seite des Flusses verband, hatte sich dort schon eine ansehnliche Menschenmenge unter Führung des Dorfschultes versammelt.
"Es erfreut unsere Herzen, unseren Freund und Prinzen Quetzalkoatlus wiederzusehen!" begrüßte der Schulte den Drachen förmlich. Im Schloss wird gewiss ein Freudenfest gegeben werden. Wir haben bereits zwei Ochsen, mehrere Schweine und ein gutes Schock an Hühnern bereitgestellt. Wenn ihr nichts dagegen habt, könnt ihr sie gleich mitnehmen."
Yono machte ein Gesicht, als wollte er den Dorfschulte auf der Stelle enthaupten. Er, ein Samurai und ein Viehtreiber? Das wäre ja noch schöner! Wiederum bedauerte er, sein Schwert nicht benutzen zu dürfen.
Der Schulte wandte sich Quetzalkoatlus zu.
"Was ist denn das für einer?" flüsterte er. "Der macht ja ein Gesicht wie ein entzündeter Daumen."
"Ich hab’s gehört!" brüllte der Samurai voller Zorn. "Ich werde mich bei eurem König über euch beschweren. Den Kopf muss man euch nehmen!"
Die umstehenden Bauern waren einen solchen Ton nicht gewohnt, aber auch sehr tolerant, weil ihr König häufig wunderliche Gäste empfing. Sie blieben darum ruhig, obwohl es ihnen in den Fingern juckte, dem unfreundlichen Mann ihre Form von Anstand beizubringen. Die Menge zerstreute sich wieder, nachdem Quetzalkoatlus sich in angemessener Weise für den freundlichen Empfang bedankt hatte. Dann gingen er und seine Begleiter auf die Fähre. Das Vieh wurde von zwei Hirten nachgetrieben. Die schwankende Fahrt über den Rhein war kurz, aber weder im Sinne der Reiter noch des Getiers. Ängstlich muhend und quiekend drängte sich das Vieh an Bord zusammen, so dass die Fähre beängstigend ins Schwanken geriet. Doch einige deftige Knüffe der Bauern brachten das Viehzeug zur Vernunft. Nach wenigen Minuten war das andere Ufer erreicht. Aufatmend gaben Yono und Hieronto ihren Tieren die Sporen. Unter Führung des Drachen nahmen sie den Anstieg zur Burg in Angriff.

***

Tief in den Wäldern des Siebengebirges, fast an der Grenze des Finsterwaldes, lebte der Drache Quatzkotl mit seiner Gemahlin Cillie. Seit ihr Sohn Quetzalkoatlus in Diensten des Traumwächters Dommerjahn stand, war es mit dem Seelenleben des Elternpaares nicht mehr zum Besten bestellt. Insbesondere Quatzkotl litt sehr unter der Trennung von seinem Sohn. Oft saß er abends stundelang vor dem Höhleneingang und blickte hinaus auf die Wälder, deren dunkler Rücken sich schier endlos vor seinen Augen erstreckte. Wenn er sehr lange dort draußen saß, gesellte sich auch Cillie zu ihm. Teils, um ihn nicht allein zu lassen teils, weil sie seine Nähe brauchte.
"Wie geht es dir?" fragte sie dann.
"Es geht mir gut," antwortete er. "Aber ich vermisse ihn so!"
"Ich auch!" bestätigte sie dann.
So saßen sie dann bis in die Nacht hinein und gaben sich ganz ihrer melancholischen Stimmung hin.
An einem Morgen aber hörten sie vom Eingang der Höhle her das Geräusch schlagender Flügel. Cillie sah nach und schrie vor Glück auf: Ihr Sohn war da! Sie umarmte den kleinen Drachen, der inzwischen schon ein gutes Stück gewachsen war und rief nach ihrem Gatten, der auch nicht lange auf sich warten ließ.
Quatzkotl stürmte heran und stürzte sich auf seinen Sohn, als wollte er ihn auf der Stelle vor Freude erdrücken. Jedes andere Lebewesen wäre auch auf der Stelle dahin gewesen, denn nur ein Drachen ist in der Lage, echte Drachenliebe zu ertragen. Cillie stürzte sich nun ihrerseits auf das in Liebe verschlungene Knäuel, um ihren Teil zu der Wiedersehensfreude beizutragen. Bald reichte den Dreien der Aufenthalt auf dem Boden nicht mehr, um ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Sie stiegen steil in die Luft, umkreisten sich, ließen sich in haarsträubenden Sturzflügen absacken und fingen sich kurz vor dem Aufprall auf dem Boden wieder ab. Drachen sind ausgezeichnete, ja kühne Flieger, so dass die Familie eine beeindruckende Flugshow abgab. Für einige Bäume der Umgegend war dieser Eindruck aber bleibend. So mancher Wipfel wurde geknickt und der ein oder andere Feuerstoß verkohlte gleich ganze Baumgruppen. Endlich war die erste Welle der Wiedersehensfreude überstanden. Die Familie beruhigte sich wieder.
"Wie kommt es, dass du uns besuchen darfst?" keuchte Cillie ganz außer Atem.
Quetzalkoatlus berichtete, was in der letzten Zeit passiert war.
"Yono ist zurzeit auf Schloss Drachenburg. Richard möchte ihn erst mit unserer Welt vertraut machen, bevor er ihn mutterseelenallein zu Merling schickt," schloss er seinen Bericht.
Quatzkotl machte ein bedenkliches Gesicht.
"Laurin? Der Name gefällt mir überhaupt nicht! Ich erinnere mich noch gut an die Geschichten, die mir meine Mutter über den damaligen Skandal erzählt hat. Der Vorfall liegt zwar schon viele hundert Jahre zurück, aber die Verbannung Laurins muss damals viel Staub aufgewirbelt haben. Zwischenzeitlich habe ich nichts mehr von ihm gehört. Aber ein angenehmer Charakter ist er bestimmt nicht. Vor allem, wenn er andere ins Unglück stürzt."
"Ich kann leider nicht lange bei euch bleiben," erklärte Quetzalkoatlus. "Dommerjahn hat mich beauftragt, auf Yono und Hieronto aufzupassen, damit ihnen nichts passiert. Habt ihr keine Lust, mit auf das Schloss zu kommen? Richard lädt euch herzlich ein."
Das ließen sich Cillie und Quatzkotl natürlich nicht zweimal sagen. Drachen haben in der Regel kein Gepäck. Sie sind immer reisfertig. Die drei machten sich also sofort auf den Weg zum Schloss.

***

Auf Schloss Drachenburg bemühte Yono sich unterdessen, seine Ungeduld zu zähmen. König Richard und sein seltsamer Hofstaat waren ihm gegenüber zum Glück so höflich, wie es sich gehörte. Außerdem war ihm eine komfortable Unterkunft zur Verfügung gestellt worden, so dass er, abgesehen von der bereits eben erwähnten Ungeduld, keinen Grund hatte, unzufrieden zu sein. Sein Sohn Hieronto hatte sich mit der bildhübschen Tochter des Königs angefreundet. Beide Kinder spielten leidenschaftlich gerne in den Ställen und Werkstätten des Schlosses. Yono sah seinen Sohn oft den ganzen Tag nicht. Die ganze Burg summte und brummte wie ein Bienenstaat, denn man war dabei, die Geburtstagsfeier Jannies vorzubereiten. Jannie würde in wenigen Tagen zwölf Jahre alt werden. Alt und Jung waren auf den Beinen, um aus diesem Ereignis einen ordentlichen Festtag zu machen.
Durch den Aufenthalt auf diesem Schloss waren Yonos Ansichten über Sinn und Unsinn von Magie sehr ins Wanken geraten. Er konnte seine Augen nicht mehr davor verschließen, dass es so etwas wie Magie geben musste! Der Traumwächter, den er ursprünglich für einen ausgebufften Hochstapler gehalten hatte und den er nie aufgesucht hätte, wenn er noch einen anderen Hoffnungsschimmer gehabt hätte, hatte sich als mächtiger Zauberer entpuppt, der sein Schwert dauerhaft lahmgelegt hatte. Quetzalkoatlus schien ein echter Drache zu sein: Er konnte fliegen, Feuer speien und sah auch wie ein Drache aus. Wenn auch wie ein kleiner. Seine Bereitschaft, an die Existenz von Magie zu glauben, war aber erst in den letzten Nächten gewachsen: Ein fahles Gespenst war in Begleitung eines wandelnden Skelettes in seinem Zimmer aufgetaucht. Yono war kein ängstlicher Mensch, aber dieser nächtliche Besuch hatte die Standhaftigkeit seines Nervenkostüms doch sehr geprüft! Wie er am nächsten Tag erfahren hatte, hießen die beiden Spaßvögel George und Mischa und waren die Maskottchen der Burg. Der König hatte ihn gebeten, sich doch beim Auftauchen der beiden zu fürchten, um ihnen eine Freude zu machen.
"Du musste wissen, Yono, dass die beiden herzensgut sind. Sie freuen sich so, wenn sich jemand vor ihnen fürchtet!" hatte er ihm zugeflüstert.
Yono setzte seine Überlegungen fort.
Jannie, die Tochter des Königs hatte eine magische Begabung: Ein guter Mensch, der ihr über das Haar strich, hatte fortan Glück. Diese Begabung war ihr selbst schon mehrmals fast zum Verhängnis geworden, da sich in der Vergangenheit zwei Fürsten der Finsternis für dieses Talent interessiert hatten und für ihre Zwecke nutzbar machen wollten. Yono bemühte sich, diese Gedanken nicht weiter zu vertiefen, da sie ihn zu Abgründen führen würden, in die er zum jetzigen Zeitpunkt nicht blicken wollte.
Plötzlich erfüllte ein Sausen und Brausen die Luft. Yono sah in den Himmel und sah drei beeindruckende Silhouetten an der Luft. Zwei große und eine kleine: Langgestreckte, geschmeidige Körper, zähnestarrende Mäuler, große Köpfe auf schlanken Hälsen. Riesige Schwingen bewegten sich mit sausendem Schlag auf und ab durch die Luft. Das mussten erwachsene Drachen sein! Yono war sich im Klaren darüber, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing, wenn diese Flieger dort droben ihm Böses wollten. Kein Mensch hat eine Chance gegen einen Drachen, wenn dieser sich erst einmal in der Luft befindet! Die Bewohner des Schlosses aber blieben gleichmütig stehen, um sich die Ankömmlinge in Ruhe zu betrachten. Es drohte also keine Gefahr! Die Drachen waren rasch herangekommen. Mit donnerndem Flügelschlag setzten sie im Schlosshof auf. Und der Anblick dieser drei Ungeheuer, wie sie grün, rot und schwarz mit hoch erhobenen Köpfen und glühenden Augen vor ihm standen, war es dann auch schließlich, der ihn fast endgültig davon überzeugte, in einem Land mit echter, lebendiger Magie zu sein. Diese Monstren konnten kein Blendwerk sein! Das waren echte, lebende und gefährliche Drachen. Die drei Ungeheuer verwandelten sich: Der grüne in einen hochgewachsenen, muskulösen Mann mit goldener Haut und Bernsteinaugen, der rote in eine zierliche Frau und der schwarze in den Jungen, den er bereits kannte.
"Quetzi!" rief die Prinzessin aus dem Heuschober heraus. "Komm, mach mit! Hieronto und ich spielen Heuspringen!"
Der Junge ließ sich das nicht zweimal sagen. Mit einem Aufschrei stürzte er sich in die Scheune. Nur das Gekicher und Gegacker der spielenden Kinder war noch zu hören.
Der Goldene wandte sich an Yono.
"Du musst der Samurai Yono Hatamoto sein!" sagte er. "Ich bin Quatzkotl, der König der Drachen. Neben mir steht Cillie, meine Gemahlin."
Yono verbeugte sich steif, wie es seiner Erziehung entsprach. Er war von der Erscheinung der beiden Drachen so beeindruckt gewesen, dass er sich nicht dazu durchringen konnte, eine Erwiderung von sich zu geben.
"Yono wird sich gleich auf den Weg zu Merling machen. Er hat ein ernstes Problem," erläuterte Richard, der sich zu ihnen gesellt hatte.
"Ich weiß," gab der Goldene zurück. "Quetzi hat mir schon alles berichtet."
Zu Yono gewandt sagte er: "Ich hoffe, dass Merling auch dieses Mal helfen kann. Der Name Laurin hat einen üblen Beigeschmack."
Yono konnte seine Ungeduld kaum noch zügeln: "Wie komme ich denn zu Merling hin?" fragte er.
"Du musst, sobald du die Burg durch das Tor verlassen hast, deine Schritte in den Wald richten. Gehe immer in die Richtung, in der der Wald am dichtesten steht. Wenn die Bäume so dicht und dunkel sind, dass du weder vor noch zurück kannst, bist du am Ziel," erklärte Richard. "Jetzt, wo du die Magie akzeptiert hast, wirst du Merling finden."
"Das hier scheint echte Magie zu sein," gab Yono zu. "Aber bis ich öffentlich zugebe, dass ich an Magie glaube, brauche ich noch mehr Beweise. Es ist alles noch sehr neu für mich. Wie lange werde ich brauchen?"
"Für dich werden mehrere Tage vergehen. Für uns werden es aber nur einige Minuten sein. Du wirst also zu Jannies Geburtstagsfeier rechtzeitig zurück sein."
Yono nahm die Worte gelassen hin. Langsam wunderte er sich über gar nichts mehr. Der Abschied von seinem Sohn ging überstürzt vor sich, weil dieser schnellstens wieder mit seinen neuen Freunden spielen wollte, so dass keine Zeit verloren wurde. Er verließ die Burg durch das Tor und wandte sich direkt auf den Wald zu, der dunkel und abweisend vor ihm emporwuchs. Angesichts des unbrauchbaren Schwertes war ihm ziemlich unwohl, als er sich an die Eroberung der Dunkelheit machte.
Richard und seine Freunde blieben vor dem Tor stehen, da sie wussten, dass Yono in wenigen Augenblicken wieder auftauchen würde. So war es, bisher wenigstens, immer für die Zurückgebliebenen gewesen, denn der Weg zu Merling war ein magischer Weg. Und wirklich! Schon tauchte Yono wieder auf. Doch zu ihrer Verwunderung war er nicht allein. Er hatte zwei Begleiter.

***

Der Weg zu Merlings Behausung war selbst für einen Samurai, der Anstrengungen und Entbehrungen gewohnt war, äußerst beschwerlich. Yono hielt sich genau an die Anweisungen, die Richard ihm gegeben hatte. Immer richtete er seine Schritte dahin, wo die Bäume am dichtesten standen. Nach zwei Tagen, in denen Hunger und Durst stetig angewachsen waren, hatte Yono sich daran gemacht, die Beeren und Früchte der Gewächse des Waldes zu essen, um nicht zu verhungern. Seinen Durst löschte er mit dem morgendlichen Tau auf den Blättern oder mit Hilfe dünner Rinnsale, die den Waldboden kreuzten. Endlich war es soweit! Er konnte weder vor noch zurück. Mit Mühe quetschte er sich durch die einzige Lücke des inzwischen stockdunklen Waldes und fand sich auf einer großen Lichtung wieder, in deren Mitte sich ein seltsam verbautes Haus erhob. Das musste die Hütte des Magiers Merling sein!
"Ich bin Yono Hatamoto, oberster Samurai des Landes der aufgehenden Sonne!" rief er. "Ich suche den Magier Merling, denn ich habe ein Problem, dessen Lösung mir mehr Wert ist als mein Leben!"
"Nun schreie doch nicht so!" keifte eine Stimme zurück. "Ich bin zwar alt, aber nicht taub!"
Das Haus teilte sich und heraus trat eine verhutzelte kleine Männergestalt. Wenn Yono einen alterwürdigen Bilderbuchmagier erwartet hatte, so wurde er bitter enttäuscht. Merling war ein unscheinbarer menschenscheuer Griesgram, mit dem nicht immer gut Kirschen essen war.
"So einen Vogel wie dich habe ich ja noch nie gesehen," knurrte der Gnom Yono an. "Brauchst du einen neuen Anzug oder was führt dich her, hä?"
Yono raffte den letzten Rest seiner in letzter Zeit überbeanspruchten Selbstbeherrschung zusammen. Er hatte es nicht bis hierher geschafft, um jetzt aufzugeben. Er blieb ruhig und erzählte dem Magier, weshalb er hergekommen war.
Dieser hob pfiffig die Augenbrauen.
"So, du warst bei Dommerjahn? Und der hat dich schnurstracks zu mir geschickt? Wusste ich doch, dass auch die Traumwächter nicht alles wissen können! Du hast Glück, dass ich Laurin nicht gut leiden kann, Yono. Warte bitte einen Moment. Ich werde eben meinen Kessel holen!"
Yono hatte weder von Merlings sagenhaftem Kessel gehört, noch hatte er ihn jemals gesehen, so dass er nicht vorgewarnt war, als Merling unter großem Ächzen und Stöhnen einen Riesenkessel, den Schrecken aller sauberen Hausfrauen, aus einer Ecke seiner Behausung hervorzerrte. Yono, der sehr viel Wert auf Sauberkeit legte, war von dem schmutzstarrenden Kochgeschirr ganz und gar nicht angetan. Seiner Meinung nach eignete es sich eher als Nachtgeschirr. Angesichts seiner neugewonnenen Toleranz anderen gegenüber, schwieg er jedoch. Er wollte es sich mit dem kleinen Zauberer nicht verderben.
Merling verfrachtete den Topf in die Mitte der Lichtung und begann, laut zu überlegen.
"Hmmm! Zuerst sollte ich den aktuellen Stand von Laurins Entwicklung erforschen. Meine letzten Informationen sind schon mindestens 60 Jahre alt. In der Zwischenzeit kann sich einiges getan haben. Dann sollte ich die zukünftige Entwicklung extrapolieren. Wo er sich zurzeit aufhält ist im Moment von sekundärer Bedeutung."
Yono hatte das Gemurmel Merlings natürlich mitbekommen und setzte zu einem Protest an:
"Für mich ist es sehr wichtig, dass ich Laurins Aufenthaltsort kenne!" widersprach er. "Ich muss den Geburtstag meines Sohnes zurückholen und..."
Merling hob abrupt die Hand und verbot dem Samurai energisch den Mund: "Misch dich nicht in meine Arbeit ein, Yono! Das kann ich nicht leiden. Setz dich hin und schweig! Sonst kommst du in den Topf!"
Diese Drohung reichte. Yono hielt den Mund. Er verfolgte die Aktivitäten des Magiers jedoch weiter. Wenn auch mit einer aufkommenden Gänsehaut.
Unter stetigem Gemurmel verschwand dieser in seiner Hütte und kam mit mehreren Beuteln im Arm zurück.
"Eine alte Zeitung für das Geschehene und eine Alraunenwurzel für das Zukünftige. Dazu etwas Raupenseide für die Solidität der Verbindung."
Er warf noch andere, undefinierbare Gegenstände in den Topf. Yono sah mit immer größer werdenden Augen zu. Schließlich goss Merling mehrere Eimer Wasser hinein, entzündete ein Feuer unter dem Gefäß und ließ das Ganze aufkochen. Es entstand eine gelblich schleimige Masse, in der dicke Blasen ölig aufblubberten. Nach etwa einer halben Stunde gab er noch einen halb verfaulten Karpfen hinzu. Das Blubbern des Topfinhaltes nahm zu, steigerte sich zu ohrenbetäubendem Lärm, der letztendlich in einer gewaltigen Explosion gipfelte: Der Inhalt des Kübels flog in die Höhe und verteilte sich auf die Umgegend. Yonos Gesicht wurde hellgrün. Als er sah, wie Merling nach einem Glas griff, in den Topf langte, eine silbrig schimmernde Flüssigkeit herausschöpfte und mit sichtlichem Wohlbehagen trank, wurde ihm schlecht. Er wandte sich ab und erleichterte sich am Waldrand.
"Hey, Yono, altes Haus!" rief Merling ihm zu. "Möchtest du auch einen Schluck? Mein Zaubertrank steigert die Denkfähigkeit enorm!"
"Bei allen guten und bösen Geistern: Nein!" würgte Yono.
"Warum nicht? Magst du keinen Fisch?"
Yono enthielt sich einer Antwort, weil es hinter ihm im Gebüsch laut knackte und polterte. Lautes Schnaufen und Grunzen zeugte davon, dass sich etwas Großes schwerfällig näherte. Yono zog sich vorsichtshalber auf die Mitte der Lichtung zurück, obwohl er dabei dem stinkenden Kochtopf gefährlich nahe kam. Merlin blieb zu seiner Verwunderung völlig ruhig. Genüsslich schlürfte er eine erneute Portion seines Gebräus herunter, als habe er es mit gutem Wein zu tun.
"Da kommt was!" erklärte Yono beunruhigt.
"Ich höre es!" gab Merling unbeeindruckt zurück. "Möchtest du wirklich nichts? Der Fisch ist wirklich lecker!"
In diesem Moment brach ein beängstigendes Ungeheuer aus dem Wald. Es ging auf zwei Beinen, war doppelt so groß wie Yono und extrem breitschultrig. Dicke Muskelwülste traten knotig aus den Gliedmaßen hervor. Der riesige Schädel mit dichtem, verfilzten Haar, fliehender Stirn und breitem Maul vervollständigten das Bild einer primitiven, brutalen Mischung aus Affe und Bär. Reflexartig griff Yono zum Schwert. Doch vergebens. Es löste sich nicht aus der Scheide.
"Immer Gemach, Yono!" beruhigte Merling den Samurai. "Das ist nur Knurps, der Troll. Ich habe mit ihm gerechnet." 
An den Troll gewandt rief er: "Was ist los, Knurps? Solltest du nicht bei der Weißen Alraune sein und sie bewachen?"
Knurps freute sich, dass Merling ihn sofort erkannt hatte und lächelte.
Wenn ein Troll lächelt und man befindet sich in seiner Nähe, so ist es immer empfehlenswert, starke Nerven zu haben, denn wenn ein Troll das Maul öffnet, so entblößt er plumpe, schwärzliche Zahnstummel und gibt einen bestialischen Gestank frei, der jedem Menschen den Atem nimmt. Darüber hinaus sind Trolle in der Regel äußerst aggressiv.
Zum Glück war Knurps eine Ausnahmeerscheinung. Als jugendlicher Troll war er bei Merling aufgewachsen und so schon früh in Kontakt mit Menschen gekommen. Er war also halb zahm, soweit man den Begriff "zahm" überhaupt mit einem Troll in Verbindung bringen kann. Er war sogar ein guter Freund Jannies, wobei er sich darüber hinwegsetzte, dass Trolle kleine Mädchen normalerweise leidenschaftlich gerne fressen.
"Alraune sagt, Jannie wichtiger! Alraune sagt, ohne Augen sehen besser! Alraune sagt, auf Dornen achten" grunzte er undeutlich.
Merling runzelte die Stirn. Die Alraune verklausulierte ihre Weissagungen in der Regel so, dass man sie kaum deuten konnte. Aus dem Mund des Trolls aber klangen sie noch unverständlicher. Dennoch waren sie wichtig! Der Zaubertrank hatte seine geistigen Fähigkeiten enorm gesteigert. Den ersten Teil der Botschaft konnte er sofort richtig einordnen. Gefahr für Jannie war im Verzuge! Doch nicht nur die Prinzessin war in Gefahr. Wenn er die Zeichen richtig deutete, bahnte sich eine große Umwälzung der magischen Kräfte an, die ihnen allen viel Verdruss bringen würde. Er musste sich beeilen. Noch konnte das Unglück verhindert werden! Aber die Zeit war knapp.
"Knurps, komm her!" rief er in befehlendem Ton. "Du schulterst den Kochtopf. Warte! Ich hole noch ein paar Zutaten, die ich später brauchen werde!"
Er zeigte auf den Samurai. "Das ist Yono. Ein Freund. Tue ihm also nichts. Er mag übrigens keinen Fisch!"
Er lief in sein Haus und kam mit einer bemerkenswerten Menge von Säckchen und Beuteln zurück. Er warf seine Last in den Topf. Dass sich noch Reste seines Tranks darin befanden, störte ihn offensichtlich nicht.
Knurps lud sich den schweren Bottich mühelos auf die Schultern. Gemeinsam gingen die drei in den Wald, um zu Schloss Drachenburg zu gehen.

***

Die Überraschung der Burgbewohner war groß, als Yono mit Merling und Knurps an seiner Seite zurückkehrte. Insbesondere, weil Merling als menschenscheu galt und selbst zu Quetzalkoatlus Taufe nur mit Gewalt aus seinem Wald geholt werden konnte.
Der kleine Magier wies alle Fragen, die ihm Richard und die anderen stellten, von sich.
"Keine Zeit!" murrte er. "Lasst mich in den Hof. Da werde ich alles erklären!"
Irritiert folgten ihm alle in den Burghof. Knurps stellte den Topf mit der Öffnung nach unten auf den Boden, so dass eine Plattform entstand. Merling stellte sich oben auf. Die Kunde, dass Merling aus eigenem Antrieb zur Burg gekommen war und jetzt eine Erklärung abgeben wollte, hatte sich in Windeseile in der Burg verbreitet. Alle Bewohner des Schlosses strömten auf den Hof, um auch ja kein Wort des Magiers zu verpassen. Als Merling anhob zu sprechen, war es trotz der Fülle so still, dass nur das Gesummse der Schmeißfliegen um den Kopf des Trolls zu hören war. Die Tierchen waren von dem tierhaften Gestank des Ungeheuers einfach hingerissen.
"Liebe Burgbewohner, liebe Freunde!" begann Merling. "Der Traumwächter Dommerjahn hat den Samurai Yono Hatamoto zu mir geschickt, damit ich ihm helfe, seinen Sohn zu dem Mann zu machen, der er werden würde, wenn ihm Laurin nicht seinen Geburtstag gestohlen hätte. Hieronto muss seinen Geburtstag zurückbekommen. Sonst wird er für alle Zeiten ein Kind bleiben. Dazu muss der verbannte Zwerg Laurin lokalisiert, bekämpft und vernichtet werden. Doch das ist nicht alles!"
Merling drehte sich um und schaute die Menge intensiv an, als wolle er sich davon überzeugen, dass ihn jeder einzelne seiner Zuhörer auch wirklich beachtete.
"Die Weiße Alraune hat mir über Knurps eine Botschaft geschickt, die zusammen mit dem, was ich mit Hilfe eines Zaubertranks in Erfahrung gebracht habe, eine existenzbedrohende Gefahr für uns und unsere Welt offenbart."
Er wandte sich an den Troll: "Knurps, wiederhole, was die Alraune gesagt hat."
Knurps war stolz darauf, für einen Moment im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen.
"Alraune sagt, Jannie wichtiger! Alraune sagt, ohne Augen sehen besser! Alraune sagt, auf Dornen achten!" stieß er mit einer übelriechenden Atemwolke hervor.
"Warum ist Jannie wichtiger als mein Sohn?" wollte Yono wissen. "Können wir uns nicht zuerst im meinen Sohn kümmern?"
Merling schaute ihn an.
"Das will ich dir erklären, alter Samurai!" erwiderte Merling. "Jannie wird in drei Tagen ihr zwölftes Lebensjahr vollenden. Nicht jedem ist sofort klar, dass dies ihr dreizehnter Geburtstag ist. Der dreizehnte Geburtstag eines Kindes mit magischen Fähigkeiten ist ein Tag besonderer Magie. Wenn Laurin es schafft, Jannie diesen Tag zu stehlen, ist er im Besitz von 365 Geburtstagen. Dann wird er unsterblich sein. Und vor allen Dingen: Ein neuer Fürst der Finsternis!"

***

Er lebte allein. Seit vielen hundert Jahren schon lebte er allein. Im Laufe dieser langen Zeit hatte er sich daran gewöhnt, keinen Kontakt mehr mit anderen seiner Art zu haben. Wenn auch nur oberflächlich. Tief im Inneren seiner dunklen Seele quälte ihn die fehlende Verbindung zu seinem Volk sehr. Zu Beginn seiner Einsamkeit, hatten ihn in der Nacht Träume verfolgt, in denen er Seite an Seite mit seinen Brüdern in den Bergwerken der Zwerge Gold und Edelsteine schürfte, wie es ihrer Natur entsprach. Er träumte auch von dem Verrat, den er an seinem Volk begangen hatte, als er einen Teil der Schätze, die er fand, für sich selbst abzweigte und nicht die Schatzkammern der Allgemeinheit füllte, wie es sein musste. Mit der Zeit  kehrten die Träume seltener wieder. Doch ganz verschwanden sie nie, so dass ihn eine stete, unstillbare Sehnsucht nach seinem Volk erfüllte. Genau das war auch Sinn seiner Verbannung gewesen. Ein Zwerg, der von seinem Volk verstoßen wird, verkümmert wie eine Pflanze, der das Licht genommen wird. Doch er hatte es seinen Richtern gezeigt! Er, der Verbrecher, lebte immer noch. Aber die, die ihn verurteilt und verjagt hatten, waren schon lange tot. Er hatte das Glück gehabt, von Xusia, einem Fürsten der Finsternis, als Diener aufgenommen zu werden. Als Diener eines Fürsten der Finsternis war er zwar nicht mehr als dessen Sklave gewesen, aber er hatte ihm dennoch lange Zeit gedient und sich auf diese Weise vieles von dessen Wissen angeeignet. Er war dabei selbst ein Magier geworden. Als Xusia dann von Quatzkotl getötet worden war, hatte er noch lange Zeit allein im Schloss seines alten Meisters verbracht, um sich weiter dem Studium der Magie zu widmen. Als er schließlich nichts mehr lernen konnte, hatte er sich daran gemacht, sein großes Ziel, das ihm schon lange vor Augen schwebte, zu erreichen: Er wollte selbst ein Fürst der Finsternis werden. Das musste natürlich geheim und verborgen vor sich gehen, denn die anderen Fürsten der Finsternis würden nicht dulden, dass ein verbannter Zwerg anstrebte, in ihre Reihen aufzusteigen. Er hielt sich also weiter versteckt, arbeitete seinen Plan sorgfältig aus und tat, was er machen musste in aller Heimlichkeit, so dass er nicht weiter auffiel. Mit Hilfe seiner Kenntnisse war es ihm schon zu Beginn seiner Dienstzeit bei Xusia gelungen, einen Zaubertrank zu entwickeln, der seine an sich schon hohe Lebenserwartung fast ins Unermessliche steigerte. Der Trank ermöglichte ihm, über Hunderte von Jahren zu überleben. Xusia hatte zum Glück nicht weiter auf seinen Diener geachtet, sonst wäre ihm aufgefallen, dass dieser ein selbst für einen langlebigen Zwerg, beachtlich langes Leben führte. Auch die körperlichen Veränderungen, die mit der Einnahme des Tranks einhergingen, fielen ihm nicht weiter auf: Im Laufe der Jahre nämlich wurde er dünn und dünner. Seine ehemals kräftigen Zwergenarme, die mühelos schwerste Werkzeuge handhaben konnten, verloren ihre Muskeln, schrumpften zu dürren, astähnlichen Fortsätzen. Die ehemals weiße Haut bildete sich zu einer braunschwarzen, knorpeligen Hülle aus. Schließlich war er zu dem geworden, das er auch heute noch war: Ein ausgemergeltes bräunliches Etwas, das in keiner Weise mehr an den früheren stolzen Zwerg erinnerte, der sich mit seinem ganzen Volk überworfen hatte. Dafür stand er jetzt aber auch kurz vor dem Ziel, das er mit all seiner Energie angestrebt hatte. Ihm fehlte nur noch ein einziger Geburtstag und er hatte die endgültige Unsterblichkeit erlangt. Und diesen Geburtstag würde er sich bald holen! In wenigen Stunden würde er sich in den Mantel der Dunkelheit hüllen, seinen Hort verlassen und das Kind aufsuchen, das seinen dreizehnten Geburtstag hergeben musste. Unsichtbar und entschlossen wie er war, würde ihn niemand aufhalten können. Denn er war Laurin, der zukünftige Fürst der Finsternis.

***

Als Merling seinen Vortrag beendet hatte, herrschte zunächst tiefe Betroffenheit. Zwar konnte nicht jeder der Anwesenden die ganze Tragweite dessen, was hier geschah, nachvollziehen, aber jeder hatte zumindest eines verstanden: Jannie musste vor dem sich anbahnenden Unheil beschützt werden. Nur zu gut saßen ihnen allen noch die Schrecken der Zeit in den Gliedern, zu der die Prinzessen von Xusia entführt worden und Unglück über das ganze Land gekommen war. Nein! Vergleichbares durfte nicht wieder passieren. Yonos Belange interessierten da nur am Rande. Sein und Hierontos Problem würde sich ohnehin im gleichen Zuge lösen wie Jannies.
Quatzkotl sah auf seinen Sohn herab, der schon längere Zeit unruhig hin und her gezappelt war. Er kannte seinen Sohn gut genug, um zu erkennen, dass er Fragen hatte.
"Nun, was ist denn, Quetzi?" fragte er.
"Ich verstehe die ganze Aufregung nicht, Papi," sagte dieser. "Dass Laurin vernichtet werden muss, leuchtet mir schon ein. Aber was ist so schlimm daran, dass er ein Fürst der Finsternis werden will? Xusia ist bereits seit vielen Jahren tot und Janus für immer und ewig außer Gefecht gesetzt. Wenn jetzt ein neuer Fürst hinzukommt, ist das zwar nicht schön, aber warum sollte darum unsere ganze Welt gefährdet sein?"
Quatzkotl lächelte seinen Sohn liebevoll an.
"Das kann ich dir sagen, mein Junge. Unsere Welt lebt davon, dass das Gleichgewicht der magischen Kräfte einigermaßen stabil gehalten wird. Auf der obersten Ebene der Magie befinden sich die Traumwächter. Die Fürsten der Finsternis, als Vertreter der schwarzen Magie, sind ihr Gegenpol. Zwischen diesen beiden Herrschergruppen tummelt sich eine Unzahl von guten und bösen Magiern und magischen Wesen, die sich in Zahl, Einfluss und Macht in etwa die Waage halten. Insbesondere die Träumwächter und Fürsten der Finsternis achten genau darauf, dass das auch so bleibt. Zwar versucht sowohl die eine als auch die andere Seite, die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu verschieben. Aber immer behutsam und vorsichtig, damit die Existenz der Magie nicht ernstlich gefährdet wird. Durch den Tod Xusias und der Vergiftung Janus ist dieses Gleichgewicht der Kräfte aus dem Lot gebracht worden. Nicht so, dass diese Welt aus den Fugen geraten wird, aber doch merklich. Die verlorene Balance muss wieder hergestellt werden. Da die Seite der Fürsten geschwächt ist, müssen diese nun für einen Ausgleich sorgen. Aber dieser Ausgleich muss von Seiten der Fürsten kommen. Nur sie allein können bestimmen, wer das Zeug hat, einer der ihren zu werden. Laurin drängt sich jetzt in diesen Kreis. Er hat für einen Zwerg schon viel zu lange gelebt. Allein die Tatsache, dass er sich überhaupt anmaßt, ein Fürst der Finsternis werden zu wollen, spricht dafür, dass er wahnsinnig geworden ist. Jetzt stelle dir einmal vor, er würde es wirklich schaffen! Ein machtgieriger, wahnsinniger Zwerg an der Spitze der schwarzen Magie. Er würde seinen Machthunger bedenkenlos und ohne Rücksicht auf das magische Gleichgewicht ausleben. Die Magie würde zusammenbrechen. Kannst du das verstehen?"
Der Jungdrache nickte.
"Ja," sagte er. "Keine Trolle mehr, keine Hexen, keine Drachen! Unvorstellbar. Das muss verhindert werden."
"Genau so ist es, mein Sohn," gab Quatzkotl zurück. "Laurin muss gefunden und vernichtet werden."
Ihre Aufmerksamkeit wandte sich wieder Merling zu.
"Als erste Maßnahme müssen die Tore dieser Burg geschlossen werden," verlangte er. "Das Innere der Burg wird von allen Helden verteidigt, die zur Verfügung stehen. Jannie wird die Tage bis zu ihrem Geburtstag im Inneren des Schlosses verbringen. Sie muss eine persönliche Leibwache erhalten. Die besten Schwertkämpfer des Landes dürfen sie Tag und Nacht nicht aus den Augen lassen."
"Ich bin der beste Schwertkämpfer meines Volkes!" rief Yono. "Niemand hat mich jemals im Schwertkampf besiegt. Ich bin bereit, im innersten Kreis der Bewacher zu stehen. Aber mein Schwert ist nutzlos, weil der Traumwächter es mit einem Fluch belegt hat."
"Dem kann abgeholfen werden," schmunzelte Merling. "Dein Schwert ist nur solange nutzlos, bis du auf den triffst, der dich im Schwertkampf schlagen wird. Ich kenne da jemanden, der den Fluch auflösen wird."
"Das ist unmöglich!" behauptete Yono fest. "Ich bin durch viele Länder gezogen, habe viele Völker kennen gelernt. Aber nirgendwo ist mir ein Mann begegnet, der sich mit mir messen konnte."
Merling antwortete ihm nicht. Stattdessen sagte er zu Quetzalkoatlus:
"Mach dich auf den Weg in den Finsterwald, Junge. Hole El Pitto Gnomo. So einen wie ihn können wir jetzt gut gebrauchen."
Der junge Drache ließ sich das nicht zweimal sagen. Mit einem Grinsen auf dem Gesicht verwandelte er sich wieder in einen Drachen, hob ab und verschwand in der Nachmittagssonne.
Yono fühlte sich zurückgesetzt und zog sich mit grimmigem Gesicht in seine Gemächer zurück.
Merling focht das nicht an.
"Ruhe jetzt!" verlangte er. "Knurps, drehe bitte den Topf um. Ich muss jetzt einen Ortungszauber herstellen."
Der Schlosshof war in Sekundenschnelle leergefegt. Merlings Zauberkünste waren wohlbekannt. Daher zog es jedermann vor, zu verschwinden, um nicht in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Nur Richards Frau wagte einen schwachen Protest.
"Das geht doch nicht, dass er hier seinen Zauberschleim kocht!" jammerte sie. "Wir bereiten doch die Geburtstagsfeierlichkeiten vor! Wer soll denn den ganzen Dreck wieder wegwischen?"
Doch niemand wollte auf sie hören. Am allerwenigsten Merling, der sich bereits an die Arbeit gemacht hatte.
"Geraspelte Adleraugen, weil die alles sehen. Getrocknete Eulenaugen, weil die auch nachts gut sehen. Fledermaushirn, weil das auch Informationen verarbeiten kann, die niemand sehen kann. Etwas Salamanderschleim, weil der so gut klebt."
Er hielt inne und überlegte.
"Da war doch noch etwas?" dachte er laut.
"Was ist?" fragte Quatzkotl, der sich als einziger nicht verflüchtigt hatte.
"Mir ist, als hätte ich eine wichtige Information vergessen," gab Merling zurück. "Etwas Wesentliches. Es huschte an mir vorüber, als ich die Zutaten zusammenstellte."
"Du hattest gerade von Augen, sehen und dem Verarbeiten von Informationen gesprochen," versuchte der Drache zu helfen.
Über Merlings Gesicht huschte ein Lächeln.
"Jetzt hab‘ ich’s! 'Ohne Augen sehen besser' und 'auf Dornen achten'" lautet die Botschaft der Alraune. "Mir ist nur noch nicht klar, was sie uns damit sagen will. Hast du eine Idee?"
Quatzkotl schüttelte nachdenklich den Kopf. "Nicht die Spur. Wie soll man ohne Augen besser sehen?"
"Wir müssen es herausfinden! Denk nach!" sagte Merling bestimmt. "Wenn die Alraune uns etwas mitteilt, dann ist das auch wichtig. Schade, dass sie kein Gehirn besitzt. Die Verständigung mit ihr wäre um ein Vielfaches besser."
In der Zwischenzeit hatten Merlings Braubemühungen gute Fortschritte gemacht. Der Inhalt des Kessels begann zu brodeln. Quatzkotl zog sich vorsichtshalber etwas zurück. Denken konnte er auch aus der Entfernung. Die abstoßende Flüssigkeit blubbste nun verstärkt stinkende Blasen aus, worauf einige Fenster im Schloss abrupt geschlossen wurden. Schließlich gab es den üblichen Knall, als der Topfinhalt explodierte. Doch diesmal verteilte er sich nicht mehr oder weniger gleichmäßig in der Umgebung, sondern blieb in der Luft hängen. Verwundert stellte Quatzkotl fest, dass die breiige Masse eine farbige, absolut natürlich wirkende Landkarte gebildet hatte, in der eine Stelle durch einen leuchtenden Punkt besonders hervorgehoben wurde.
"Eine Landkarte!" sagte er ehrfürchtig.
"Was dachtest du denn?" grummelte Merling. "Hast du etwa an eine Pizza erwartet?"
"Wenn ich das richtig interpretiere, dann markiert dieser Punkt die Stelle, an der wir Laurin finden können?" fragte Richard, der jetzt auch hinzugetreten war.
"Das ist die Teufelsschlucht und genaugenommen der Punkt, an dem Laurin sich im Moment aufhält," verbesserte Merling. "Quatzkotl, du solltest dich schnellstens auf den Weg machen, um dem Wahnsinnigen das Lebenslicht auszublasen. Nimm am besten Cillie mit. Eine Hexe und ein Drachen sollten mit dem Zwerg fertig werden. Beeilt euch! Es gibt keine Garantie dafür, dass Laurin sich noch lange dort aufhalten wird."
Als Quatzkotl und Cillie sich auf den Weg gemacht hatten, wandte Merling sich an Richard. 
"Hole bitte Mischa herbei. Er soll den Flaschengeist mitbringen!"
Richard beeilte sich, dem Wunsch des Magiers nachzukommen. Merling hatte das Kommando übernommen und er wollte es ihm auch nicht streitig machen. Der Alte wusste genau, was er wollte.
Mischa war ein lebendes Skelett, das, wie bereits erwähnt, zusammen mit George, dem Gespenst, die Gruselabteilung des Schlosses bildete. Außerdem war Mischa der Hauslehrer Jannies. Seit einiger Zeit war er Eigentümer einer kleinen Flasche, die einen klugen, aber garstigen Geist enthielt: Den Flaschengeist Hitzliputzli. Er wusste auf fast jede Frage eine Antwort, rückte aber nur damit heraus, wenn ihm gerade danach war. Zu früheren Zeiten war er freigiebiger mit seinen Auskünften gewesen, da er damals noch einen Anspruch auf die Seele seines letzten Besitzers gehabt hatte. Das heißt, dass er dann, wenn sein jeweils aktueller Eigentümer starb, dessen Seele bekam. Hitzliputzlis Pech war, dass Mischa bereits tot war und insofern keine Seele mehr hatte. Der Flaschengeist fühlte sich daher betrogen und kam seinen Pflichten nur noch sehr unwirsch und unvollkommen nach. Mischa und George hofften, den kleinen Geist mit der Zeit freundlicher zu stimmen. Nicht ganz zu unrecht, denn sie hatten dafür ja unbegrenzt Zeit.
Richard brauchte Mischa nicht lange zu suchen. Er war bei Jannie und gab eine Stunde Mathematik.
"Mischa, bist du so gut und gehst mal zu Merling?" bat Richard ihn. "Nimm bitte Hitzliputzli mit. Merling hat etwas mit ihm vor!"
Hilfsbereit wie er nun mal war, machte Mischa sich sofort auf. Er wäre zwar lieber bei Jannie geblieben, da er die Mathematik leidenschaftlich liebte, aber wenn Merling nach ihm verlangte, war das natürlich wichtiger. Als er in den Hof gelangte, wurde er schon ungeduldig empfangen.
"Nun mach schon! Kannst du deine Knochen nicht schneller schwingen? Die Zeit drängt! Wo ist der Flaschenkasper?"
Mischa wusste, wann es klug war zu schweigen. Statt einer Antwort hielt er dem Magier die Flasche mit Hitzliputzli hin.
Merling nahm sie und sagte: "Hitzliputzli Flaschengeist, zeige dich. Sag was du weißt!"
Das milchige Glas wurde durchsichtig. Innen wurde ein Männchen sichtbar, das ständig auf und ab hüpfte.
"Was willst du von mir, alter Griesgram?" rief der Kleine frech.
"Ich habe hier einen Topf mit einem Ortungstrank. Ich möchte, dass du ihn trinkst."
"Warum?"
"Weil wir dich als Ortungsgerät für Laurin brauchen, Dummkopf!"
"Ich habe mit Laurin nichts zu schaffen!" lehnte der Geist ab. "Laurin ist allein euer Problem!"
"Das denkst aber nur du!" gab Merling zurück. "Denk mal darüber nach, was passieren wird, wenn Laurin erst einmal Fürst der Finsternis geworden ist!"
"Wo ist der Saft?" sagte der Geist schnell.
Merling öffnete die Flasche einen Spalt und tauchte sie kurz in die Flüssigkeit ein. Als er sie wieder herauszog, stand Hitzliputzli bis zum Bauch im Zaubertrank. Alle waren der Meinung, dass diese Portion für längere Zeit ausreichen müsste. Mischa bekam den Auftrag, ständig in der Burg umher zu patrouillieren und Geist und Flasche immer bei sich zu führen. Der Ortungsbereich erstreckte sich leider nur über wenige Meter. Somit war ein ständiges Abtasten der Umgebung wichtig.
Merling reckte sich. Es war geschafft! Mehr konnte er im Moment nicht tun.

***

Als die beiden Drachen die Gegend erreichte, in der Laurin laut Merlings Zauberkarte sein sollte, dämmerte es bereits. Quatzkotl und Cillie machte das aber nichts aus, denn Drachen sehen auch in der Dunkelheit ganz ausgezeichnet. Um ihre Ankunft nicht zu verraten, hatten sie ihr Ziel aus großer Höhe angeflogen und glitten nun im Segelflug sanft abwärts. Bis auf ein leises Pfeifen des Windes verursachten ihre gewaltigen Schwingen kein Geräusch. Sie umkreisten die Teufelsschlucht mehrmals, wobei sie ihre feinen Sinne konzentriert auf das Gebiet unter sich richteten. Aber abgesehen von vereinzelten Wildtieren, die hier lebten, entdeckten sie nichts.
"Wir sollten in die Schlucht hinein!" schlug Cillie vor. "Von hier oben aus werden wir nichts finden."
Da Quatzkotl keine Einwände hatte, steuerten sie den Eingang der Teufelsschlucht an, wo sie landeten. Gemeinsam krochen sie, sorgsam in alle Richtungen witternd und lauschend, schlangengleich über den Boden. Am Boden der Schlucht war es inzwischen stockdunkel geworden, wenngleich die Sonne oberhalb des Hanges noch schien. Mühsam bahnten sie sich ihren Weg durch Geröll, vorbei an abgestorbenen Baumstämmen. Es war feucht und kalt. Schließlich weitete sich die Enge zu einem ausgedehnten Talkessel, der von hohen Hängen eingeschlossen war. Rechts von ihnen gähnte ein Loch im Felsen: Der Eingang zu einer Höhle.
"Vorsicht jetzt!" zischte Quatzkotl. "Er kann noch drinnen sein. Von jetzt an müssen wir besonders aufpassen."
Cillie nickte ihm zu. Sie trennten sich. Quatzkotl machte einen Bogen nach rechts, um sich der Höhle seitlich zu nähern. Cillie nahm die andere Richtung. Wie vorher auch achteten sie auf das kleinste Geräusch, denn sie mussten davon ausgehen, dass Laurin den Mantel der Dunkelheit tragen und dadurch unsichtbar sein würde. Wenn er aber an ihnen vorbei wollte, musste er beim Gehen unbedingt ein Geräusch machen. Der Mantel verbarg ihn vor ihren Blicken aber nicht vor ihrem feinen Gehör. Das Anschleichen ging wegen der gebotenen Vorsicht nur langsam vor sich, so dass einige Minuten vergingen, bis sie die kurze Strecke bis zum Höhleneingang zurückgelegt hatten. Dann gab es nur noch einen Weg: Den Weg hinein.
Drachen haben normalerweise von anderen Lebewesen nichts zu befürchten, denn ihre Haut besteht aus stahlharten Schuppen. Sie sind zäh, besitzen unglaubliche Körperkräfte, ein scharfes Gebiss und dolchartige Klauen. Von ihrem Feuer, dem nur Diamanten widerstehen können, ganz zu schweigen. Dennoch war ihnen nicht wohl in ihrer Drachenhaut, als sie in die Eingangstrichter eindrangen, waren Sie doch jetzt im unmittelbaren Revier eines verrückten Magiers. Niemand konnte wissen, welche üblen Tricks er kannte. Langsam wanden sie sich durch die niedrigen Gänge des Berges. Nur ihr schweres Atmen war zu hören. Nichts geschah. Nach vielen Metern erblickten sie die ersten Anzeichen dafür, dass Laurin in dieser Höhle gewesen war: Der Gang ging in eine große Grotte über, an deren Wänden Bücherregale befestigt waren. In der Mitte stand ein großer Kessel, gefüllt mit einer gelblichen Flüssigkeit.
"Nichts berühren!" raunte Quatzkotl seiner Cillie zu, die schon Anstalten machte, den Topf näher zu untersuchen. "Wir können hier auf alles Mögliche stoßen. Auch auf Dinge, die selbst uns gefährlich werden können."
Cillie war klug genug, ihr Temperament zu zügeln. Nach kurzer, eingehender Untersuchung stand fest, dass Laurin sich hier nicht mehr aufhielt. Sie waren trotz aller Eile zu spät gekommen.

***

Er hatte seine Höhle verlassen und war bereits auf dem Weg zu Schloss Drachenburg. Natürlich hatte er bemerkt, dass ein Ortungszauber auf ihn angesetzt worden war. Ihm war sofort klar geworden, dass er nun keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Ein Magier, der einen Ortungszauber so ausrichten konnte, dass er ihn, Laurin, anpeilte, war auch stark genug, um ihm unangenehmen Ärger zu machen. Er ging davon aus, dass in absehbarer Zeit ein Suchkommando auftauchen würde, um ihn zu fassen. Vielleicht würde dieses sogar aus Drachen bestehen. Drachen waren mächtige Wesen, mit denen er selbst als angehender Fürst der Finsternis nichts zu tun haben wollte. Jetzt hieß es schnell zu handeln! Er legte sich den Mantel der Dunkelheit um und wurde unsichtbar. Anschließend versorgte er sich mit allem, was er brauchte und trat vor die Höhle. Sein Ziel war zwei Tagesreisen entfernt. Normalerweise. Mit seinem überalterten und schwachen Körper würde er das in dieser Zeit aber nicht schaffen. Aus diesem Grunde wendete er einen Transportzauber an, der ihm half, schneller in unmittelbare Nähe seines Ziels zu kommen: Schloss Drachenburg, wo Jannie, die Tochter König Richards, in zwei Tagen zwölf Jahre alt werden würde.

***

Am Nachmittag des folgenden Tages hatten die Verteidiger der Burg ihre Positionen bezogen. Das Burgtor war geschlossen und das schwere Eisengitter hinuntergelassen worden. Auf den Mauern standen Posten, die das Umland im Auge behielten. Mischa wanderte unermüdlich mit Hitzliputzlis Flasche in der Burg herum. Der kleine Geist hatte versprochen, sich sofort zu melden, wenn er das Gefühl bekommen sollte, dass Laurin in der Nähe war. Der Rest der Mannschaft hatte sich auf strategisch wichtige Stellen verteilt. Da die Burgmauern durch einen Zauber unüberwindbar waren, machten sie sich nicht allzu viel Sorgen: Laurin hatte keine Chance, hineinzukommen.
Die Bauern des Landes steuerten auch ihren Sicherheitsbeitrag bei. Mit Mistgabeln und Dreschflegeln bewaffnet hatten sie einen weiten Ring um die Burg gelegt, der jeden auch noch so kleinen Zugangspfad absperrte. Die Lücken zwischen den einzelnen Wachen waren zwar teilweise recht groß, aber die Landleute zeigten immerhin ihren guten Willen und ihre Treue zum Königshaus.
Yono sah den Aufmarsch der Verteidigungskräfte mit Wohlwollen. König Richard mochte ein unorthodoxer Herrscher sein, aber ein Trottel war er nicht. Er hatte seine Verteidiger gut organisiert. Nach menschlichem Ermessen hatte Laurin keine Chance. Der einzige Wermutstropfen, der auf seine Seele fiel, war, dass er sein Schwert immer noch nicht benutzen konnte. Was sollte ein Samurai in einer belagerten Festung, wenn er im Ernstfall nicht standesgemäß kämpfen konnte? Ganz in Gedanken versunken ging er die große Treppe hoch, um in sein Zimmer zu gehen, als er von einem seltsamen Männchen aufgehalten wurde. Das Kerlchen war wirklich sehr klein und reichte ihm kaum bis zum Gürtel seiner Hose. Sein Gesicht war braun und hager und wurde von einer spitzen Nase, die sich über einem breiten, schmallippigen Mund befand, beherrscht. Große, bösartige Schlitzaugen funkelten unter buschigen Brauen hervor. Bekleidet war das Männchen mit einem braunen Umhang, dessen Kapuze weit über den Kopf gezogen war. Desweiteren trug es eine lange ledrige Hose, welche die kurzen, krummen Beinchen bedeckte. Der kleine Kerl besaß einen langen nackten Schwanz, der ihm aus seinem verlängerten Rücken wuchs und mit seiner dreieckigen Spitze unruhig hin und her zuckte. Über den Schultern erhoben sich große Schmetterlingsflügel. Mit knochigen Spinnenfingern stützte er sich auf ein riesiges Zweihandschwert, das trotz des Dämmerlichts hell blitzte.
"Ich möchte gerne in mein Zimmer. Lass mich bitte vorbei!" bat Yono höflich, da er inzwischen wusste, dass auch die unscheinbarsten Wesen in diesem Land oft über Kräfte verfügten, die man besser nicht herausforderte.
Der Winzling aber grinste nur und sagte:
"Ich bin El Pitto Gnomo, der Anführer der Finsterwald-Kobolde. "An mir kommt keiner vorbei!"
Jetzt war es mit der Selbstbeherrschung des alten Samurai vorbei. Mit einem blitzartigen Reflex riss er sein Schwert aus der Scheide und wollte gerade mit aller Macht auf den Kleinen einschlagen, als er plötzlich stutzte: Er hatte ja sein Krummschwert in der Hand! Ungläubig starrte er es an. Der Bann war gebrochen! Er warf einen Blick auf den vor ihm stehenden Zwerg.
"Der Fluch des Traumwächters existiert nicht mehr!" stammelte er.
"Weißt du noch, wodurch der Zauber aufgelöst wird?" schmunzelte El Pitto Gnomo.
"Wenn ich auf den treffe, der mich im Schwertkampf besiegen wird!" flüsterte Yono. "Das kannst du aber nicht sein. Du bist doch ein Zwerg!"
Der Kleine grinste hämisch.
"Nicht Zwerg. Kobold, wenn‘s recht ist, bitteschön! Du brauchst aber keine Angst vor mir zu haben. Ich mache es heute auf die sanfte Tour, Yono!"
Der Samurai ließ prüfend die Klinge durch die Luft sausen – und griff unvermittelt mit einem lauten Kampfschrei an. Er wollte seinem Gegner gleich von Anfang an zeigen, wer hier der Bessere war. Ein erfahrener Samurai gegen einen kleinen Wicht! Für ihn war das Ergebnis der Auseinandersetzung von vornherein klar.
El Pitto Gnomo nahm die Herausforderung ohne zu zögern an. Er riss sein Zweihandschwert hoch und fing die Hiebe seines Gegners in der ihm eigenen, unnachahmlichen Leichtigkeit ab. Schon nach dem ersten direkten Kontakt merkte Yono, dass er auf einen vollendeten Meister der Schwertkampfkunst getroffen war. Der Samurai wendete alle Tricks an, die er kannte, versuche es mit purer, mörderischer Kraft, mit Schnelligkeit, mit Geschicklichkeit, fintete, schlug, machte Ausfälle, tat alles, was er im Laufe seines Lebens gelernt hatte. Doch der Kleine war ihm immer eine Nasenlänge voraus. Er schien jeden seiner Schritte vorauszuahnen und konterte mit unglaublicher Geschicklichkeit jeden Angriff aus. Härter und verbissener wurde der Kampf. Yono umkreiste seinen Gegner. Schlug zu. Schlug wieder und wieder zu. Doch El Pitto Gnomo wehrte alles ab und grinste dabei. Wer den Kobold kannte, der merkte aber schnell, dass dieser nur spielte, denn er griff selbst nicht an. Er erwartete die Aktionen seines Gegners, ließ ihn sich austoben und wehrte nur ab. Es war ihm deutlich anzumerken, dass ihm die Geschichte Spaß machte. Schließlich aber wurde es ihm zu bunt. Mit einem blitzartigen Vorstoß unterlief er die Deckung Yonos. Ein einziger, kraftvoller Hieb und das Schwert des Samurai flog durch die Luft. Yono war entwaffnet. Er hatte verloren.
Ungläubig starrte er auf seine leere Hand.
"Was war das?" staunte er. "Wie hast du das gemacht? Ich bin noch nie geschlagen worden. Ich bin der beste Schwertkämpfer meines Volkes!"
El Pitto Gnomo grinste.
"Ich habe es dir doch gesagt: An mir kommt keiner vorbei!"
Richard hatte die Auseinandersetzung aus der Ferne beobachtet. Er trat jetzt hinzu.
"Lass es dir nicht zu Herzen gehen, Yono. Ich habe euch zugesehen und kann dir mit gutem Gewissen sagen, dass es in meinem Land niemanden gibt, der dir im Schwertkampf gleichkommt. Du könntest jeden im Zweikampf schlagen. El Pitto Gnomo aber ist mit dem Schwert nicht zu bezwingen. An ihm kommt wirklich niemand vorbei!"
Yono verstand und lachte laut auf.
"Der Schwertkampf ist sein magisches Talent!" erkannte er. "Gegen die Kraft der Magie ist kein Kraut gewachsen. Das habe ich jetzt in aller Deutlichkeit erkannt. Ich werde mich nie wieder abfällig über die Magie äußern. Ich bin nun davon überzeugt, dass es sie wirklich gibt. Ich gebe euch mein Wort, dass ich diese Tatsache nie wieder bestreiten werde!"

***

Am nächsten Morgen fanden sie den Toten. Es handelte sich um einen Bauern, der sich dem äußeren Wachring angeschlossen hatte. Sein Fehlen war aufgefallen, als die Wachen mit Verpflegung versorgt werden sollten. Er lag verkrümmt auf dem Rücken und starrte mit leeren Augen anklagend in die Morgensonne. In seinem Hals steckte ein dünner, spitzer, dornartiger Pfeil. Man brachte ihn in den Innenhof des Schlosses, damit Merling ihn untersuchen konnte. Der Magier schaute sich den Mann genau an, drehte ihn herum und fühlte ihn vorsichtig ab.
"Ich kann nichts Außergewöhnliches an ihm entdecken," gab er bekannt. "Der Dorn ist zu winzig, als dass er lebenswichtige Körperteile verletzt hätte. Ich vermute, dass er vergiftet ist."
"Das lässt vermuten, dass Laurin den Pfeil abgeschossen hat," meinte Quatzkotl, der mit Cillie wieder zurückgekehrt war und bereits von Laurins Verschwinden berichtet hatte.
"Warum sollte er das tun? Er würde uns doch nur unnötig auf sich aufmerksam machen," überlegte Cillie. "Mit seinem Tarnmantel hätte er die Absperrung problemlos überwinden können. Die Wachen würden ihn selbst dann nicht bemerken, wenn er vor ihrer Nase einen Tango tanzen würde."
"Vielleicht will er gerade das: Uns auf sich aufmerksam machen. Was wissen wir schon, was in seinem verrückten Hirn vor sich geht," knurrte Merling. "Wir sollten das Gift analysieren. Vielleicht sehen wir dann klarer. Ich werde einen Trank brauen, der..."
"Nein! Nur das nicht schon wieder!" riefen Richard, Quatzkotl und Cillie im Chor. "Fragen wir Hitzliputzli. Vielleicht kann er uns helfen."
Merling schwieg beleidigt. Diese Aufregung um seine Kochkünste konnte er nicht nachvollziehen.
Mischa wurde gerufen. Dieser stellte sich mit der Flasche vor den Toten und rief:
"Hitzliputzli, Flaschengeist. Zeige dich. Sag was du weißt."
Die Flasche wurde durchsichtig. Der Flaschengeist sprang wie gewohnt auf und ab.
"Was wollt ihr denn schon wieder von mir?"
Da Mischa den Flaschengeist gerufen hatte, übernahm er auch das Reden.
"Schau dir bitte diesen Mann an, Hitzliputzli. Bitte sage uns, woran er gestorben ist."
"An einem Giftdorn! Das sieht man doch!"
"Was ist das für ein Gift, das hier verwendet wurde?"
"Das ist das Gift eines Buschmeisters! Das sieht man doch!"
"Was ist ein Buschmeister?"
"Der Buschmeister ist die giftigste Schlange der Welt. Sie lebt in den Wäldern Südamerikas. Die Einheimischen nennen sie Succururu. Ihr Biss tötet auf der Stelle. Der Mann war tot, ohne den Dorn überhaupt zu spüren. Er hat nichts gemerkt."
"Wer, meinst du, könnte diesen Pfeil abgeschossen haben?"
"Der Dorn ist aus einem Blasrohr verschossen worden. Das Gift ist extrem schlecht zu beschaffen und muss magisch behandelt werden, damit es an einem Pfeil kleben bleibt, aber seine Giftigkeit trotzdem behält. Für mich gibt es nur einen, der über genug Wissen verfügt, um das zu bewerkstelligen. Das ist Laurin!"
Sie schauten sich betroffen an. Jetzt war es heraus! Laurin war wirklich hier. In unmittelbarer Nähe. Unsichtbar und mit einer tödlichen Waffe versehen.

***

Bei seiner Ankunft wurde Laurin unangenehm überrascht. Die Burg befand sich im Alarmzustand. Offensichtlich erwartete man ihn schon! Er verwünschte seine körperliche Schwäche, der es zu verdanken war, dass er trotz des Reisezaubers so lange bis hierhin gebraucht hatte. Die Bewohner der Burg hatten dadurch Zeit genug gehabt, sich auf sein Kommen vorzubereiten. Doch er war bereit, die Herausforderung anzunehmen! Bei näherem Hinsehen stellte sich aber heraus, dass der äußere Wachring um die Burg nur aus Bauernburschen bestand. Unerfahrene Tölpel, die sich laut unterhielten und für ihn keine Gefahr darstellten. Er würde kein Problem damit haben, an ihnen vorbei zu kommen. Doch da kam ihm der Gedanke, dass es der ganzen Geschichte eine gewisse Würze verleihen könnte, wenn er seine Anwesenheit offen kundtun würde. Warum sollten sie nicht wissen, dass er bereits da war und durch ihre Reihen spazieren konnte, wie es ihm beliebte? Der Gedanke gefiel ihm so gut, dass er ihn sogleich in die Tat umsetzte. Er zog sein Blasrohr aus einer Falte seines Gewandes und nahm einen etwas abseits stehenden Posten aufs Korn. Der Mann fiel sofort um und rührte sich nicht mehr. Schnell wie ein Schatten huschte Laurin an ihm vorbei. Nach wenigen Minuten hatte er die Burgmauern erreicht, die als unüberwindbar galten. Doch es gab da einen Dornbusch, der einen geheimen Zugang bewachte, der nur einigen wenigen Eingeweihten bekannt war. Laurins Gesicht verzog sich zu einem hässlichen Grinsen, als er feststellte, dass er unbewacht war. Wie dumm sie doch waren! Entweder hatten sie nicht in Erwägung gezogen, dass er, Laurin, über den Geheimgang informiert war, oder sie hatten ihn selbst vergessen! Nun, ihm konnte das jedenfalls einerlei sein. Als es dunkelte ging er auf den Dornbusch zu. Aus seinem Mantel zog er einen Beutel, der ein dickkörniges Pulver enthielt. Er bestäubte damit den Busch und sang leise:
"Trolle, Hölle, Drachenblut, lässt du mich durch, geht es dir gut!"
Normalerweise funktionierte der Zauber nur in einer Neumondnacht. Aber Dank der speziellen Zusammensetzung des Pulvers reagierte der Dornbusch auch so: Er teilte sich und gab den Weg zu einem Durchgang frei, der ohne Umwege in den Schlosshof führte. Laurin kam in einem Winkel zwischen Pferdestall und Heuschober heraus, der ihm einen guten Rundumblick gewährte. Er runzelte die Stirn, als er feststellte, dass er es im Gegensatz zu den Bauern des äußeren Rings innerhalb der Burg mit erfahrenen und erstklassigen Kämpfern zu tun hatte: Quatzkotl, der Drachenkönig, war da. Ebenso El Pitto Gnomo, der unvergleichliche Schwertkämpfer, sowie Knurps, der riesenhafte Troll. König Richard, der Vater Jannies, und Cillie die Hexe waren auch nicht zu verachten. Ferner gab es noch einige bewaffnete Knappen des Königs und einen alten Samurai, den er auf keinen Fall unterschätzen durfte. Samurai galten als vorzügliche Schwertkämpfer. Laurin würde sich vorsehen! Außerdem war der alte Magier Merling mit von der Partie. Jetzt war ihm auch klar, wer den Ortungszauber hervorgebracht hatte, mit dem sein Aufenthaltsort verraten worden war. Merling war zwar ein Sonderling, genoss aber in Magierkreisen einen erstklassigen Ruf. Schade, dass Merling auf der falschen Seite stand und seine Fähigkeiten für armselige Sterbliche verschwendete. Aus ihm hätte mehr werden können. Laurin beobachtete das Treiben der Verteidiger noch eine Weile, um sich ein Bild über ihre Strategie machen zu können. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das derzeitige Handeln relativ planlos war. Merling führte das Kommando, war aber kein Stratege. König Richard wäre die bessere Wahl gewesen oder noch besser Quatzkotl. Na ja, ihm konnte es nur recht sein. So war es für ihn einfacher. Plötzlich prallte er zurück: Ein Skelett mit einer kleinen Flasche in der Hand kam auf ihn zu! Das seltsame Gespann kam ihm verdächtig vor. Laurins feine Sinne nahmen ein schwaches Ortungsfeld war, das auf ihn abgestimmt war. Ah! So ein Einfaltspinsel war Merling also doch nicht. Er hatte einen Flaschengeist mit einem Ortungszauber versehen und ließ ihn jetzt durch die Burg tragen. Man traute ihm also durchaus zu, in die Burg einzudringen. Doch so gefährlich wie Merling vielleicht dachte, war der Flaschengeist trotz des Ortungszaubers nun doch wieder nicht. Der Wirkungskreis des Zaubers war nur gering und zudem sehr schwach. Von ihm drohte keine Gefahr. Das Skelett dagegen war viel gefährlicher. Er würde es beizeiten beseitigen. Er hatte noch einen Giftdorn dabei. Das magisch verstärkte Schlangengift würde seine Wirkung auch bei dem Skelett-Mann tun. Laurin tauchte tief hinein in die schwarzen Schatten der Gebäude und verschwand eilends aus der Reichweite der Flasche.

***

Am nächsten Morgen wurde Mischa vermisst. Höchst beunruhigt durchsuchten alle Verteidiger der Burg jeden Winkel des Schlosses. Mischa galt als äußerst zuverlässig. Außerdem war seine tiefe Zuneigung zu Jannie unbestritten. Es war sicher, dass er schon alleine Jannies wegen seine Pflichten nicht vernachlässigen würde.
"Vielleicht war er müde und hat sich ein wenig aufs Ohr gelegt!" dachte Hieronto laut.
"Unmöglich!" sagte Jannie bestimmt. "Mischa lebt doch gar nicht richtig. Er kann nicht müde werden. Nein! Ihm ist bestimmt etwas passiert!"
Es dauerte längere Zeit, bis sie auf ihn stießen. Mischa lag reglos auf dem Boden. Die Flasche war seiner Hand entglitten. Sie lag leer und zersplittert neben ihm.
Der herbeigeeilte Merling untersuchte ihn.
"Es ist ihm nichts ernstliches passiert!" atmete er auf. "Zum Glück ist er bereits tot, so dass ihn das Gift nicht umbringen konnte. Er ist nur gelähmt. Wie lange dieser Zustand anhalten wird, kann ich leider nicht vorhersagen. Ich habe keine Erfahrung mit vergifteten Skeletten."
"Und was ist mit Hitzliputzli? Seine Flasche ist zerstört!" rief Jannie, die ein Herz für Gespenster und Geister hatte.
Merling schüttelte traurig den Kopf.
"Ich glaube, dass der Flaschengeist nicht mehr existiert. Ohne seine Flasche kann er ebenso wenig existieren, wie George ohne die Burg. Als Geist ist er an seine Behausung gebunden."
Betroffen schwiegen sie alle. Hitzliputzli war zwar kein angenehmer Geselle gewesen, aber irgendwie gehörte er doch zu ihnen. Jetzt hatte Laurin schon wieder jemanden auf dem Gewissen.
Mit vereinten Kräften schleppten sie den regungslosen Mischa in die Scheune, wo sie ihn ins Heu legten. Diese fürsorgliche Behandlung war eigentlich unnötig, da es für Mischa egal war, ob er weich oder hart, nass oder trocken lag. Aber sie konnten nicht anders: Mischa war einer der ihren und sollte es möglichst gemütlich haben.
Als sich wieder alle im Hof zusammengefunden hatten, schauten sie sich hilf- und ratlos an.
"Wie ist er nur in die Burg gekommen?" fragte Richard. "Die Mauern sind doch unüberwindlich."
"Im Moment ist die Beantwortung dieser Frage nicht von Wichtigkeit!" gab Quatzkotl zu bedenken. "Laurin hat unsere Sicherheitsvorkehrungen allesamt überwunden und ist jetzt mitten unter uns. Wir müssen uns überlegen, was wir jetzt noch tun können, um zu verhindern, dass er Jannie schadet!"
"Kannst du nicht die Wirkung des Tarnmantels neutralisieren?" schlug Quatzkotl vor. "Wenn ich Laurin wenigstens sehen würde, dann würde ich ihm schon ordentlich einheizen!"
Merling schüttelte den Kopf.
"Daran habe ich auch schon gedacht. Der Mantel der Dunkelheit ist ein Werk Xusias. Ich weiß nicht genug über seine Beschaffenheit, um einen Gegenzauber entwickeln zu können."
"Dann lass uns Jannie an einen sicheren Ort bringen," riet Richard. "Hier in der Burg kann niemand mehr für ihren Schutz garantieren."
"Wohin willst du sie denn bringen?" entgegnete Merling. "Und wie willst du verhindern, dass Laurin uns folgt? Wir würden es nicht einmal merken, wenn er hinter uns her käme. Wir wissen ja nicht einmal, wie nah er an Jannie heran muss, um sein Werk zu vollenden. Muss er sie berühren? Braucht er sie nur anzusehen? Für mich ist nur eins sicher: Die Entfernung zwischen ihm und seinem Opfer darf nicht zu groß sein. Sonst hätte er sich nicht die Mühe zu machen brauchen, hierher zu kommen. Solange sie in ihrem Zimmer ist, haben wir wenigstens den zu beobachtenden Raum unter Kontrolle und so immerhin eine geringe Chance, ihm das Handwerk zu legen."
"Und was machen wir in Jannies Zimmer?" warf Yono ein. "In sechs Stunden ist Mitternacht. Sollen wir uns mit gezogenen Schwertern an ihrem Bett postieren und Löcher in die Luft hauen? Wie soll ich einem Gegner, den ich nicht sehen kann, den Kopf nehmen? Was nützt es mir, wenn ich nur vermuten kann, dass er mit mir in einem Zimmer ist?"
Sie schauten einander ratlos an. Bisher war alles, was sie getan hatten, zwecklos gewesen. Der äußere Ring, die Mauern der Burg und der Ortungszauber: Nichts hatte geholfen. Wie sollten sie diesem mächtigen und listenreichen Feind noch beikommen?

***

Während sie da noch mit hängenden Köpfen herumstanden, pochte es laut am Burgtor. Es war ein donnerndes, dumpfes Geräusch, das sie sofort aufschreckte.
Der Torwächter öffnete einen kleinen Sehspalt, um nachzusehen, wer da so vehement Einlass begehrte. Als er sich zu den anderen umdrehte, war sein Gesicht kreidebleich geworden. Er öffnete mühsam den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus. Stattdessen schwankte er, als sei er betrunken, verlor schließlich das Bewusstsein und fiel der Länge nach hin. War schon wieder ein Giftpfeil im Spiel? Noch bevor auch nur einer der Zuschauer reagieren konnte, sprang, wie von Geisterhand bewegt, das Eisengitter rasselnd hoch. Das Tor schwang weit auf und herein kam eine schauerliche Gestalt, die jenseits des Fassbaren lag:
Ein Reiter auf einem gewaltigen, weißen Schlachtross ritt in den gepflasterten Hof. Er war vom Kopf an in einen langen purpurfarbenen Umhang gehüllt, der weit über die Kruppe des Pferdes hinunterhing. An seinen Rändern war der Umhang mit seltsamen goldenen Symbolen bestickt. In der einen Hand hielt er einen zepterartigen Gegenstand, an dessen Spitze eine grünliche Flamme blass flackerte. Die andere Hand führte den Zügel. Geisterhaft langsam und dabei völlig lautlos trabte das Ross über das Pflaster. Beim Näherkommen erkannten sie, dass das Tier kein Schimmel war. Der weiße Schimmer rührte daher, dass das Pferd ein Skelett-Tier war, an dem kein Fetzen Fleisch mehr hing. Dennoch wirkte es wild, stark, ausdauernd und kräftig. Kurz vor den Zuschauern blieb es stehen und schaute sie mit blicklosen Augen an. Die Hufe schwebten einige Zentimeter über dem Boden. Kein Wunder, dass es so lautlos herangekommen war!
Der Reiter bot einen noch entsetzlicheren Anblick als sein Tier. Mumienhafte Haut spannte sich wie schwarzes Pergament über erschreckend dürre Gliedmaßen. Rotglühende Augen beherrschten ein grausames Gesicht. Die Nase fehlte, als sei sie schon vor langer Zeit abgehackt worden. Der Mund war eingefallen und zahnlos. Als er so reglos vor ihnen stand, ein Abbild des Todes und des Schreckens, ging ein Geruch wie alte, vermoderte Erde von ihm aus.
Merling war der Erste aus der Gruppe, der zu einer Reaktion fähig war.
"Ich habe von ihnen gehört," flüsterte er kaum hörbar. "Aber ich habe nicht geglaubt, dass es sie wirklich gibt. Freunde, haltet euch fest. Vor uns steht einer der mächtigsten Vasallen der Fürsten der Finsternis. Vor uns steht ein Todesritter!"
Alle reagierten so, wie es ihre im Laufe ihres Lebens erworbenen Instinkte vorgaben: Quatzkotl nahm seine Drachengestalt an, entfachte das Feuer in seinem Bauch zu mächtiger Glut und bog den langen Hals zurück, bereit, die Schreckensgestalt mit seinem Drachenfeuer zu vernichten. Yono und El Pitto Gnomo zogen ihre Schwerter und stellten sich dem Ungeheuer entgegen. Cillie verhielt sich abwartend. Sie wusste, dass sie jederzeit eine passende Gestalt annehmen konnte. Merling wartete ebenso ab. Die Kinder liefen schreiend ins Schloss. Die sonst so mutigen Knappen Richards waren unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen. Selbst Knurps, der normalerweise zu dumm war, um so etwas wie Angst zu verspüren, drückte sich scheu in eine Ecke.
Die finstere Reitergestalt blieb von den Reaktionen der Burgbewohner unberührt. Starr und kalt blickte sie auf die Umstehenden herunter.
Richard nahm all seinen Mut zusammen und trat auf den Todesritter zu.
"Ich bin König Richard, der Herr dieser Burg. Seid uns willkommen! Was führt einen Diener der Fürsten der Finsternis an meinen Hof?"
Der Todesritter öffnete seinen schwarzverbrannten Mund und stieß knarrend und fauchend einige Laute aus, die sich anhörten wie: "Man nennt mich Saul. Mein Herr Theron sendet mich zu euch. Die Herren der Finsternis sind der Meinung, dass der Zwerg Laurin es nicht verdient, in den erlauchten Kreis der Fürsten aufgenommen zu werden und daher vernichtet werden muss. Darüber hinaus ist mein Herr der Ansicht, dass ihr nicht über ausreichende Fähigkeiten verfügt, um mit Laurin fertig zu werden. Ich habe die Erlaubnis, ihn auf meine Weise zu erledigen."
"Was ist, wenn wir die Meinung deines Herren nicht teilen?" fragte Richard, wobei er sich Mühe geben musste, das Zittern seiner Stimme zu verbergen.
Saul stieß ein raues Lachen aus.
"Nun, ich denke, wir ziehen grundsätzlich an einem Strang. Wenn Ihr Eure Tochter retten wollt, muss Laurin aufgehalten werden. Und außerdem..." Er musterte den König mit erbarmungslosem Blick. "Wie wollt ihr mich aufhalten? Meint ihr, mit einem Drachen, einer handvoll Schwertkämpfer, einem Magier und einer Hexe könntet ihr einen Todesritter beeindrucken? Nein! Ich werde Laurins Seele essen. Er gehört mir. Nur mir allein!"
Richard warf Merling vorsichtig einen fragenden Blick zu. Dieser zuckte ergeben mit den Schultern.
"Lass ihn gewähren, Richard. Es lohnt nicht, sich gegen ihn aufzulehnen. Mit vereinten Kräften könnten wir ihn vielleicht bezwingen. Aber wofür? Und zu welchem Preis? Viele von uns müssten ihr Leben lassen. Aber er hat doch Recht! Wir sitzen alle in einem Boot. Laurin ist selber Schuld. Er hat es verdient. Wenn ich ehrlich sein will, würde ich mich lieber selbst in meinem eigenen Topf kochen, als von einem Todesritter gejagt zu werden."
Richard war Merling für diese Worte dankbar. Er konnte sich etwas Angenehmeres vorstellen, als gegen dieses Ungeheuer anzutreten. Er drehte sich wieder zu Saul um.
"Seid unser Gast, Saul. Steigt ab und kommt in unsere Mitte!"
Der Todesritter verzog sein abstoßendes Gesicht zu einem harten Grinsen und hob den Umhang, der ihn und sein Pferd weitestgehend bedeckte, an. Richard stellte zu seinem Entsetzen fest, dass der Todesritter fest mit seinem Reittier verwachsen war. Er und sein Skelett-Tier waren eins! Er konnte gar nicht absteigen, selbst wenn er es gewollt hätte.
"Ihr seht, ich bin in keiner Beziehung mit einem von euch zu vergleichen. Wenn ich mir ansehe, wir planlos ihr versucht, mit Laurin fertig zu werden, bin ich nicht überrascht, dass er bereits mitten unter euch ist. Die Alraune hat euch Hinweise genug gegeben, aber ihr ward geistig nicht in der Lage, sie zu begreifen. Dass Jannie in Gefahr ist, habt ihr noch begriffen, weil euer Magier Merling ja wenigstens halbwegs seine fünf Sinne beieinander hat. Aber das war es auch schon. 'Ohne Augen sehen mehr' heißt nichts anderes, als dass Mischa, euer Skelettfreund, seine Umgebung mit magischer Kraft sieht und Laurin hätte orten können. Ihr hättet ihn nur mit Jannie in einen Raum bringen müssen, dann hätte er Laurin bei einer Annährung bemerkt. 'Auf Dornen achten' hieß selbstverständlich nicht, dass ihr euch vor den Giftdornen des Zwerges hättet in Acht nehmen müssen. Gemeint war der Dornbusch draußen vor den Mauern der Burg, der den geheimen Zugang bewacht. Richard selbst hatte ihn vor Jahren benutzt, als er heimlich an Eisenfaust vorbei hier hineingelangte. Ihr seht, ihr seid komplett unfähig, diese Situation zu beherrschen. Seid froh, dass ich jetzt hier bin."
Er reckte seinen Leichenkörper, worauf sein Ross nervös herumtänzelte. Der Geruch nach Erde und Fäulnis verstärkte sich.
"Laurin wird inzwischen bemerkt haben, dass die Fürsten der Finsternis einen ihrer Vasallen zu eurer Unterstützung entsandt haben. Damit er sich nicht darauf einstellen kann, werdet ihr von nun an alles tun, was ich euch sage: Bringt Jannie jetzt auf ihr Zimmer. El Pitto Gnomo, der Samurai und sein Sohn werden sie dort nicht aus den Augen lassen. Der Troll stellt sich vor die Tür. Der Drache und sein Sohn halten sich in Bereitschaft. Alle anderen schreiten in Zweiertrupps die Burgmauern ab!"
"Was ist, wenn wir uns nicht daran halten?" fragte Merling, der sich über die Überheblichkeit des Untoten ärgerte.
"Ihr könnt machen, was ihr wollt. Ich werde mir die Seele des Zwerges auf jeden Fall holen. Ob ihr das Kind retten wollt oder nicht, müsst ihr selbst entscheiden. Mir ist das vollkommen egal."

***

Als er den Todesritter auftauchen sah, krampften sich seine vertrockneten Eingeweide vor Furcht zusammen. Ihm war sofort klar, was das zu bedeuten hatte: Die Fürsten der Finsternis hatten sich gegen ihn gestellt und den Untoten auf ihn angesetzt! In einem ersten Impuls dachte er daran, seinen Plan aufzugeben. Es war besser, den Rest seines Lebens in Einsamkeit zu verbringen und irgendwann friedlich zu sterben, als diesem Ungeheuer da unten in die Fänge zu geraten. Die Todesritter Therons waren ihm schon immer unheimlich gewesen. Dann und wann hatte er sie gesehen, wenn Xusia ihn mit zu den Treffen der anderen Fürsten genommen hatte. Theron hatte häufig eine Schar seiner Vasallen mitgebracht und während die Fürsten ihre Pläne schmiedeten, hatten sich die Ritter abartigen Vergnügungen hingegeben, die selbst ihm, dem doch wahrlich nichts heilig war, Schauer über den Rücken gejagt hatten.
Als er aber den ersten Schrecken überwunden hatte und wieder klar denken konnte, besann er sich eines Besseren. Er befand sich bereits im Schlafzimmer des Mädchens. Ein geräumiger, heller Raum, der auch als Spielzimmer diente. Laurin überlegte. Wenn er es richtig anfing, würde ihn der Todesritter nicht lokalisieren können. Er musste dessen magische Sinne verwirren. Vor den Augen der anderen deckte ihn der Mantel der Dunkelheit. Sie würden ihn, solange er ihn trug, nicht sehen können. Darüber hinaus war das Skelett ausgeschaltet. Er hatte also immer noch eine gute Chance, sein Vorhaben auszuführen. Zeit genug, seine Vorbereitungen zu treffen, hatte er auch, denn die Schlafenszeit war noch nicht gekommen. Der Zwerg reckte seine verdorrten Ärmchen. Seine borkigen Finger zeichneten magische Runen in die Luft. Sanfter Gesang erfüllte den Raum Laurin begann ein Gewirr von magischen Fäden zu ziehen, das das Gemach wie das dichte Gespinst einer Spinne einhüllte. Solange er sich inmitten dieses Gewebes aufhielt, würde der Todesritter ihn nicht wahrnehmen können. Nach etwa einer Stunde war das Ritual vollzogen. Laurin betrachtete sein Werk mit Wohlgefallen: Es war perfekt! Es hatte sich gelohnt, dass er sich über Jahrhunderte dem Studium der magischen Kräfte gewidmet hatte. Sein Wissen kam dem eines Fürsten der Finsternis schon sehr nahe. Dem des Magiers Merling war es bereits um Längen überlegen.

***

Als es Abend geworden war, wurde es Zeit für Jannie, schlafen zu gehen. Es verstand sich von selbst, dass die Prinzessin unter den gegebenen Umständen keine Lust verspürte, zu Bett zu gehen. Nach längerem, guten Zureden ihrer Eltern sah sie aber ein, dass sie nun ihrem Geburtstag entgegenschlafen musste. Außerdem war sie trotz allem sehr müde. Bewacht von ihren Beschützern krabbelte sie in ihr Bett. Bald schlief sie ein.
Die Zeit schritt voran. Yono, El Pitto Gnomo und Hieronto standen in unmittelbarer Nähe des Bettes und beobachteten konzentriert den Raum. Doch sie konnten nichts Ungewöhnliches feststellen.
Es wurde 23 Uhr. Noch immer war nichts geschehen. Vermutlich war Laurin in unmittelbarer Nähe und bereitete sich auf den Diebstahl des Geburtstages vor. Doch sie konnten ihn nicht sehen.
Yono stieß einen Fluch aus. So hilflos hatte er sich noch nie in seinem Leben gefühlt.

***

Als seine Zeit gekommen war, hangelte er sich innerhalb seines magischen Gespinstes voran. Absolut geräuschlos schwebte er durch den Raum, bis er sich über dem Ruhebett des Mädchens befand. Er musste an sich halten, um jetzt nicht aus Ungeduld einen Fehler zu begehen. Die Schwertkämpfer waren unmittelbar in seiner Nähe. Wenn sie jetzt auf den Gedanken kamen, wild um sich zu schlagen, konnten sie ihn zufällig treffen. Der Mantel schützte ihn nur vor ihren Blicken, nicht vor ihren Schwertern. Nur noch wenige Minuten. Er brauchte keinen körperlichen Kontakt mit dem unter ihm liegenden Kind herzustellen. Die Verbindung musste auf rein geistiger Ebene hergestellt werden. Laurin konzentrierte sich. Er begann die magischen Fäden zu ziehen, die seinen Geist mit dem des Mädchens verknüpfen würden. Jetzt! Endlich war es soweit. Er machte sich daran, den notwendigen geistigen Kontakt herzustellen.
In wenigen Augenblicken würde er ein unsterblicher Fürst der Finsternis sein.

***

Die Tür zum Schlafraum Jannies krachte auf.
"Bringt das Kind sofort hier raus! Los! Los! Verliert keine Zeit!" schnarrte der Todesritter, der plötzlich in der Tür stand.
El Pitto Gnomo stellte keine Fragen, sondern reagierte unverzüglich. Er nahm die Schlafende auf den Arm und verließ das Zimmer. Yono und Hieronto deckten den Rückzug. Innerhalb weniger Sekunden war der Raum verlassen.

***

Er konnte es nicht fassen! Sie hatten das Mädchen in letzter Sekunde weggebracht! Er war verwirrt. Das plötzliche Abreißen der sich aufbauenden Verbindung trübte sein Denkvermögen. Nein! Das durfte einfach nicht sein! Es war doch alles so wunderbar gelaufen! Er war sich doch schon so sicher gewesen. Er musste sofort hinterher!
Laurin rannte zur Tür, ließ sein schützendes magisches Gewebe zurück. Es nützte ihm jetzt sowieso nichts mehr. Er lief auf den Flur. Er wandte sich nach links, weil der Kobold sich auch in diese Richtung gewandt hatte. Doch das, was er sah, war nicht der Kobold! Der Todesritter stand unmittelbar vor ihm. Trotz seiner Verwirrung erkannte Laurin jetzt, dass er sich hatte dazu hinreißen lassen, einen entscheidenden Fehler zu begehen! Einen tödlichen! Seinen letzten!
Der Todesritter hob sein Zepter.
"Nein!" kreischte Laurin in höchster Not. "Nein!"

***

Die wenigen Minuten, vom plötzlichen Auftauchen des Todesritters bis zum Tode Laurins prägten sich Yono für den Rest seines Lebens unauslöschlich ein: Sie hatten kaum den Flur erreicht, als in den sonst so eiskalten Saul urplötzlich Leben kam. Seine rotglühenden Augen flackerten. Er hob blitzschnell sein Zepter.
"Harrrr!" schnarrte er, als eine grünliche Flamme aus der Spitze des Gegenstandes fuhr, etwas Unsichtbares umhüllte und damit dessen Konturen kenntlich machte. Die Flamme knisterte und loderte dann hell auf. Der Tarnmantel verkohlte. Ein kümmerliches, kleines und verdorrtes Wesen wurde sichtbar, das wie am Spieß schrie und verzweifelt mit dürren Ärmchen herumfuchtelte. In den Blick des Todesritters trat die pure Gier. Mehr denn je sah er wie ein jagendes Raubtier aus. Sein Gesicht verzerrte sich in Vorfreude auf den bevorstehenden Genuss. Wieder streckte er das Zepter vor.
Laurins Entsetzensschreie überschlugen sich.
"Nein! Nicht den Todesmantel! Nicht! Bitteee!!" kreischte er mit überkippender Stimme.
Er versuchte zu fliehen. Doch wohin? Vor ihm der Todesritter und hinter ihm der Samurai mit seinem Sohn. In seiner Panik sprang der Zwerg vor und zurück, drehte sich im Kreis, schrie und schrie in tiefster Verzweiflung. Das Schreien wollte kein Ende nehmen. Doch der Tod kam und es gab keine Möglichkeit, dem grausigen Jäger zu entkommen.
"Harrr!" schnarrte der Todesritter wieder.
Aus dem Zepter löste sich ein gelber Nebel, der sich scharf knisternd zweiteilte, sich Laurin unaufhaltsam von zwei Seiten nährte und ihn dann umschloss als sei er ein Mantel.
"Hier! Nimm das Schwert!" rief Yono und warf seinem Sohn das Krummschwert zu.
Hieronto reagierte so, wie es dem Abkömmling einer alten Samurai-Erblinie zustand. Er fing die Waffe sicher auf, nahm ohne Nachzudenken die erforderliche Position ein und schwang die Klinge im genau richtigen Bogen auf Laurin zu. Im einzig richtigen Augenblick gab er dem Hieb mit einer geschmeidigen Drehung seines Oberkörpers den nötigen zusätzlichen Schwung. Die Schneide des Zweihandschwertes traf exakt im richtigen Winkel den Hals Laurins und nahm ihm den Kopf. Im selben Moment zog sich der Todesmantel zusammen.
Laurin starb in dieser Sekunde zweimal: Sowohl durch den Streich des Jungen als auch durch den Todesmantel des Untoten.
Saul öffnete gierig den Schlund und sog den Todesmantel samt Inhalt mit einem Ausdruck höchster Verzückung ein. Seine Augen leuchteten wie rote Sonnen.
"Harrr!" schnarrte er schmatzend.
Dann war alles vorbei. Von Laurin blieb nichts zurück.

***

Am nächsten Tag sah die Welt schon wieder anders aus. Die Schrecken der vergangenen Nacht saßen zwar noch allen Beteiligten in den Knochen, aber im Großen und Ganzen war die Stimmung deutlich besser als noch am vergangenen Tag. Jannie, die zum Glück gut geschlafen hatte, konnte ihren Geburtstag ohne Sorgen feiern und sich über ihre Geschenke freuen, die, zumindest für Kinder, immer noch das Wichtigste an so einem Tag sind. Doch auch die Erwachsenen hatten allen Grund, zufrieden zu sein. Richard und seine Gemahlin, weil es Jannie gut ging, und die anderen, weil nicht nur Laurin, sondern auch Saul verschwunden war. Der Todesritter hatte sich unmittelbar nach seiner entsetzlichen Mahlzeit davon gemacht. Natürlich, ohne Lebewohl zu sagen. Aber wer wird das auch von einem Untoten erwarten? Alle bemühten sich jedenfalls, ihn so schnell wie möglich zu vergessen. Ob ihnen das gelingen würde, stand allerdings auf einem anderen Blatt.
Yono platzte natürlich vor Stolz über die Tapferkeit seines Sohnes. Unmittelbar nach dem Tode Laurins hatte er ihn umarmt und die fachmännische Ausführung der Enthauptung gelobt. Samurai haben eben andere Vorstellungen von dem, was ein Kind mit zwölf Jahren können sollte, als andere Menschen.
Alles in allem war Jannies Geburtstagsfest schön: Es wurde tüchtig gegessen und getrunken. Die Kinder spielten Adralatsch, Kontakto oder Heuspringen und die Erwachsenen erzählten sich wilde Geschichten aus ihrer Jugendzeit.
Den Höhepunkt erreichte die Feier aber, als sich El Pitto Gnomo mit einem Weinkrug erhob und unter lauten Beifallsbekundungen bekannt gab, dass in Bälde ein kleiner Kobold das Licht der Welt erblicken würde.
"Mit oder ohne Schwert?" fragte Yono anzüglich. Die Antwort ging in dem prustenden Gelächter der Zecher unter. Richards Gemahlin tat, als habe sie den tieferen Sinn der Worte nicht verstanden. Das zarte Erröten ihres Gesichts zeugte aber vom Gegenteil.
Aber das wird noch eine ganz andere Geschichte.
 

© W. H. Asmek
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
.
www.drachental.de