Runennacht von Michael Höfel
Kapitel 2 - Zeichen der Nacht

Als er am nächsten Morgen aufwachte, konnte Alex nicht sagen, ob er erneut einer Jagd durch vollkommene Finsternis oder einem Sturz in die unendliche Tiefe eines gähnenden Schlundes ausgesetzt gewesen war; wenn ja, so konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Auch war sein Vater, von seinen gehässigen Gedanken als schattenhafter Gesandter der Hölle dargestellt, der ihm nach dem Leben trachtete, nicht in sein Zimmer gestürmt und hatte ihn in die Realität zurückgeschüttelt.
Und als er herzhaft gähnte und seine Beine aus dem Bett schwang, bemerkte Alex einen weiteren ungewöhnlichen Umstand, den er sogleich auf seiner persönlichen Liste bizarrer Besonderheiten festhielt: Er war putzmunter. Obgleich er diese Nacht nicht allzu viel Schlaf gefunden haben konnte, hatte er das Gefühl, Bäume ausreißen zu können.
Nicht dass ihn dieser Umstand, und sei er auch noch so seltsam, gestört hätte oder er ihm gar unerwünscht gewesen wäre. Für die Englischprüfung heute konnte er jedes Quäntchen an Energie, welches sich in seinem Körper finden ließ, gebrauchen.
In Boxershorts trat er aus seinem Zimmer, durchquerte das leere Wohnzimmer und betrat das Bad. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihm, dass sein Gefühl ihn nicht getrogen hatte: Das Konterfei eines vollkommen munter wirkenden Doppelgängers blickte ihn an und schien nur so vor Lebenskraft zu strotzen.
Fertig mit dem morgendlichen Ritual des Zähneputzens, ging er in sein Zimmer zurück, zog sich ohne die allmorgendliche Hast an - ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er keine Eile nötig hätte - und packte die Schulutensilien, die auf seinem Schreibtisch verstreut lagen, zusammen. Den Schulrucksack im Vorzimmer abgestellt, ging er in die Küche, um sich für den bevorstehenden Englischtest zu stärken.
Seine Eltern saßen am kleinen Esstisch. Sein Vater las die Zeitung und nippte ab und zu an der Tasse schwarzen Kaffee, die vor ihm stand, seine Mutter hatte die leere Schale Müsli zur Seite gestellt und strahlte auf, als ihr "kleiner Sonnenschein" (Klein? Sonnenschein? Frechheit! Alex war immerhin schon sechzehn!) die Küche betrat.
"Guten Morgen, mein Schatz.", begrüßte sie ihn fröhlich. Alex runzelte gespielt die Stirn. Was war los? Kein Sonnenschein?
Sein Vater sah auf, nickte seinem Sohn auf fast schon verschwörerische Weise zu und konzentrierte sich dann wieder auf das Konglomerat aus Unwahrheiten, Übertreibungen und gelegentlich auftauchenden wahren Fakten, welches die Zeitung verbreitete. Alex legte seine Stirn abermals in fragende Falten, begriff aber beinahe sofort darauf. Sein Vater hatte seiner Mutter scheinbar nicht von gestern Nacht erzählt.
Er setzte sich an den Tisch und wurde prompt von seiner Mutter mit einer Schüssel Cornflakes und Milch bedient. Sein Vater gönnte sich einen weiteren Schluck Kaffee.
"Gibt’s was Neues?", fragte Alex und deutete mit einem Kopfnicken auf die Zeitung.
"Nicht wirklich.", antwortete sein Vater, ohne den Kopf zu heben. "Die Amis schicken wieder Soldaten in den Irak, in San Francisco gab’s wieder mal ein Erdbeben ..." Er blätterte um und runzelte die Stirn, bevor er weitersprach. "... Und heute Morgen gab es außerdem eine schwere Überschwemmung in Bangladesch und Indien."
Alex’ Mutter stand auf und trug ihre leere Schüssel zum Geschirrspülbecken. "Die armen Leute da unten haben es wirklich schwer.", sagte sie. "Hunger, Krankheit und dann auch noch immer wieder diese Unwetter und Überschwemmungen."
Kaum hatte Alex den letzten Löffel Cornflakes zu seinem Mund geführt und zeigte sich (halbwegs) satt, nahm ihm seine Mutter auch schon die Keramikschüssel weg und stellte ihm stattdessen in Alufolie eingepackte Sandwichs auf den Tisch - und zwar mit dieser typisch mütterlichen Und-das-wird-aufgegessen-Geste. Alex stöhnte innerlich auf. Er war seit Einsetzen der Pubertät noch nie wirklich aufsässig gewesen, aber wenn diese Bemutterung nicht bald ein Ende fand, würde er einen Aufstand anzetteln müssen, von dem sogar Che Guevara noch etwas lernen hätte können.
Alex stand auf, rückte den Stuhl zurecht und ging ins Vorzimmer, um das "Lunchpaket" in seinem Schulrucksack zu verstauen und sich Schuhe und Jacke anzuziehen. Aus der Küche drang noch ein ebenso mütterliches wie gut gemeintes (manchmal verfließt eben doch die Grenze zwischen Bemutterung und mütterlicher Sorge) "Viel Glück in Englisch heute!", dann trat er aus der Wohnung und ging gemächlich das Stiegenhaus hinunter, um sich der letzten großen schulischen Hürde vor den Weihnachtsferien zu stellen.
Und um nebenbei auch noch die Welt zu retten.

Er hatte gerade noch den letzten Sitzplatz im Bus ergattern können - und musste somit ausgerechnet neben Clemens Gunner, dem größten Idioten seiner Klasse, sitzen! Kein Wunder, dass der Platz noch frei war...
Alex hatte der Option, neben ihm zu sitzen, der Alternative zu stehen den Vorzug gegeben in der Hoffnung, das verwöhnte Kind aus nicht gerade mit den Gläubigern im Konflikt liegende Haus möge ihn nicht ansprechen. Vorerst schien dieser Wunsch von einem unsichtbaren Lampengeist erfüllt worden zu sein, denn Clemens starrte wie hypnotisiert auf ein kleines Gerät mit einem LCD-Display und hatte die Kopfhörerstöpsel in den Ohren stecken.
Dasselbe gehässige Schicksal, das ihn gestern Nacht durch den Albtraum aus wabernder Finsternis hatte rennen lassen, ließ es nicht lange dabei bleiben und zerstörte nun endgültig die gute Laune, mit der er heute früh aus dem Bett gekrochen war.
"Servus, Alex. Mensch, wie geht’s dir?", fragte sein Sitznachbar Kaugummi kauend.
Alex stöhnte innerlich auf. Es wäre ja zu schön gewesen um wahr zu sein. Stattdessen antwortete er: "Ja, geht so." und hoffte, dass ihre an Fröhlichkeit und Ausgelassenheit kaum zu überbietende Konversation damit an ein Ende gelangt war.
Natürlich wurde er erneut in seiner Hoffnung enttäuscht.
"Und", fragte Clemens grinsend, "hast du dich für den Test heute ordentlich vorbereitet?"
"Klar.", gab Alex gelangweilt und ohne richtig zuzuhören zurück.
Der "Blade Gunner", wie er in der Schule oft mit viel Spott genannt wurde, grinste ihn noch rund eine Minute an, wobei er ungeniert schmatzte, dann nahm er die Stöpseln aus den Ohren und entfernte das Kabel der Kopfhörer aus einer in dem schwarzen Gerät eingelassenen Buchse, woraufhin in integrierten Boxen eine aufgeregte Männerstimme erklang.
"Guck mal", grinste Clemens und zeigte ihm das kleine handliche Gerät, "mein Vorweihnachtsgeschenk. Ein Portable TV."
Steck dir dein Portable TV doch sonst wo hin, dachte Alex und er musste sich bemühen, diese Gedanken nicht über seine Lippen gleiten zu lassen. Stattdessen streifte er das schlanke kleine Fernsehgerät mit einem so schlecht geschauspielerten interessierten Blick, dass selbst die Goldene Himbeere dafür zu schade gewesen wäre. "Interessant."
Clemens wäre natürlich nicht Clemens gewesen, hätte er es dabei belassen. Stattdessen hielt er Alex sein "Vorweihnachtsgeschenk" (Gott, wo gab es denn so etwas?) noch mehr hin, schien es ihm regelrecht genüsslich unter die Nase binden zu wollen.
Nur um dieser durch und durch idiotischen Situation halbwegs - psychisch - unbeschadet zu entgehen (was würde er jetzt für ein paar Runenwächter geben, die ihn durch vollkommene Dunkelheit jagten?), gestattete er sich, das Portable TV nun doch etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Das schwarze Gerät war klein und handlich, das hochauflösende Display zeigte ein gestochen scharfes Bild.
"Seit ich eingeschaltet hab’, bringen die nur was über die Flut in Indien.", klärte Clemens ihn auf; völlig unnötigerweise, denn auf dem LCD-Bildschirm zeichneten sich die klaren Konturen von mehrere Meter hohen Flutwellen ab, die über einen mit armseligen Hütten übersäten Strand hereinbrachen und die bescheidenen Behausungen samt den flüchtenden Bewohnern, kaum mehr als schwarze Punkte, unweigerlich in die tödliche Tiefe des Meeres rissen. "Es ist unglaublich, was sich da unten abspielt!", schrie eine gestaltenlose Stimme aus den eingelassenen Lautsprechern. "Selbst das neue Tsunami-Frühwarnsystem hatte die indische Regierung nicht vor dieser Katastrophe biblischen Ausmaßes warnen können! Buchstäblich von einer Sekunde auf die andere rollten plötzlich gigantische Wassermassen auf den Strand zu. Als die Menschen die Welle bemerkten, begannen sie schreiend in Richtung Landesinnere zu laufen! Experten können sich nicht erklären, wie der Tsunami das Frühwarnsystem, das Seebeben registriert, umgehen konnte!"
Alex drehte die Lautstärke runter, um sich vollkommen auf das Geschehen auf dem kleinen Display zu konzentrieren. Immer wieder brachen sich die ungeheuren Wassermassen mit schier unmöglicher Kraft ihre Bahnen gen Landesinnere, rissen die Palmen mit der schier spöttischen Leichtigkeit von Göttern aus dem Boden, verschlangen die Hütten und ihre fliehenden Bewohner mit beinahe dämonischer Gier und spülten sie in den tiefen, feuchten Rachen des Ozeans.
"Der Wahnsinn, nicht?", fragte Clemens. Ob er damit nun auf das von der Natur entfesselte schreckliche Szenario oder sein "Vorweihnachtsgeschenk" anspielte, wusste Alex nicht zu sagen. Er konnte es nicht einmal, das grausame Geschehen auf dem Bildschirm hielt ihn zu sehr in seinem Bann gefangen. Irgendetwas an dieser Katastrophe schien ... merkwürdig. Es war ein Gefühl, das Alex nicht in Worte zu kleiden vermochte. Er wusste nicht einmal zu sagen, was genau diese Empfindung in ihm auslöste.
Und dann wusste er plötzlich, was ihn so gestört hatte.
Seit dem Moment, als Alex das Portable TV in die Hand genommen hatte, hatte im unteren Teil des Displays eine Laufschrift eingesetzt, die mit langsamer Geschwindigkeit von rechts nach links floss und durch eine monotone Endlosschleife die Neuigkeiten immer wieder in schriftlicher Form präsentierte.
Nur dass es keine Neuigkeiten waren.
Zeichenketten, deren Glieder keinesfalls dem lateinischen Alphabet entsprungen waren, zogen in eintöniger Wiederkehr am unteren Bildschirmrand dem linken Rand entgegen, nur um zu verschwinden und am rechten wiedergeboren zu werden. Mit offenem Mund betrachtete Alex erstaunt dieses fließende Sammelsurium an Schriftzeichen, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Ein Blick in die obere rechte Bildschirmecke zeigte ihm, dass auch das Logo des Fernsehkanals sich seiner lateinischen - normalen! - Buchstaben entledigt und mit den mysteriösen Zeichen eingekleidet hatte.
Und dann, mit der unendlichen Gewissheit eines Gottes, begriff Alex. Es waren die Zeichen der Runenwächter. Er konnte sich selbst nicht erklären, woher er dieses Wissen bezog, wusste aber gleichzeitig, dass es unumstößlich und von solch kosmischer Wahrheit war, dass es jeden noch so geringen Zweifel daran im Keim zu ersticken vermochte. Er versuchte sich von diesem Anblick, der einem grotesken Mysterium glich, loszureißen, aber es gelang ihm nicht. Die Runenwächter hatten aus der Welt der Nachtmahre heraus ihr unsichtbares Netz nach ihm geworfen, in deren Fäden sich Alex nun endgültig verfangen hatte.
Seine Finger begannen zu zittern, erst leicht, dann immer stärker. Eine Heerschar eisiger Tausendfüßler hatte die Rolle der Gänsehaut übernommen, die ihm nun den Rücken hinaufkroch. Vor seinen Augen öffnete sich erneut ein gähnender Schlund aus massiver Dunkelheit und geronnener Schwärze, der beunruhigend viel Ähnlichkeit mit jenem aus seinem Albtraum hatte. Sie haben dich verfolgt, durchfuhr es Alex mit einem Schauder, den als leicht zu bezeichnen wohl die größte Untertreibung in der Geschichte der Menschheit gewesen wäre. Sie haben dich bis hierher verfolgt. Ihre Macht reicht weit über die Grenzen zwischen Realität und Traum hinaus, bis in die Wirklichkeit. Du bist ihnen einmal entkommen. Das passiert kein zweites Mal.
Nun begann sich das Bild des tragbaren Fernsehgeräts zu verformen. Die Flutwellen, die hier als Vasallen von Mutter Natur in ihrem Namen Menschenleben ausgelöscht und dieses Vakuum dafür mit umso mehr Schmerz ausgefüllt hatte, schlugen wirr um sich, vollführten einen Reigen, als verspotteten sie die Schwerkraft der Erde und führten Newtons Gravitationstheorie ad absurdum - und zogen sich plötzlich ohne großes Aufsehen ins Meer zurück, als wäre ihnen die destruktive Lust an ihrem Tanz vergangen. Nicht einmal eine Minute später wies die Küste kein Indiz auf, das auch nur irgendwie in Verbindung mit der vernichtenden Katastrophe, die die Natur vom Zaun gebrochen hatte, stand.
Dafür ein umso deutlicheres Zeichen, das von dem jegliche physikalischen Grundsätze ignorierenden Reigen der Unmöglichkeit zeugte.
Als hätte ein verspielter Riese den Strand zu seinem Sandkasten gemacht und mit dem Finger zusammenhangslose Buchstaben ohne Sinn in den Sand gemalt, zierte, auf dem hochauflösenden LCD-Display grauenvoll überdeutlich zu sehen, eine Folge aus drei mysteriösen Schriftzeichen den von Hütten und Menschen gesäuberten Strand.

"Ihr habt bis zum Beginn der Pause Zeit, sprich fünfzig Minuten." Das war das Startsignal für die Schüler, die bis jetzt mit der beschriebenen Seite nach unten liegenden Angabezettel umzudrehen.
Dem dadurch erzeugten Rascheln, schon fast so etwas wie ein obligatorisches Geräusch zu Beginn einer jeden schriftlichen Prüfung, folgte ein schon fast unheimlicher Moment der Stille, in welchem die Schüler die scheinbar nie enden wollende Liste aus Fragen und Aufgaben durchsahen (und der eine oder andere schon mit dem Gedanken an Kapitulation spielte).
Nervosität lag wie ein übler Geruch in der Luft, verbreitete sich im Klassenzimmer wie der Gestank in Schweiß gebadeter Turnschuhe. Quelle dieses Ohnmacht fördernden Odeurs an seelischer Anspannung war ein in verkrampfter Haltung dasitzender Schüler mit Namen Alex Berger. Er versuchte das Zittern seiner Hand zu unterdrücken, einerseits um die Antworten und englischen Texte in - halbwegs - leserlicher Schrift zu Papier bringen zu können, andererseits damit ihn seine Klassenkameraden nicht noch für einen verkappten Epileptiker hielten.
Nach dem schrecklichen Schauspiel, welches sich auf Clemens’ Portable TV abgespielt hatte, hatte er die ganze Fahrt über nichts gesagt und war dann mit einer Blässe im Gesicht bei der Haltestelle vor der Schule ausgestiegen, vor der jede Wasserleiche den Hut gezogen hätte. Beim Austeilen der Angabezettel hatte der Englischlehrer Alex’ Leichenmiene registriert (die jeder Blinder, selbst jeder Augäpfelamputierter einfach hätte bemerken müssen) und ihn gefragt, ob er sich nicht ins Krankenzimmer legen möchte, doch Alex hatte nur verneint und gemeint, es ginge ihm sowieso gut (womit er sich wohl einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde unter der Kategorie "Dämlichste Lüge der Welt" gesichert hatte).
Alex schloss die Augen und atmete - hörbar - tief durch. Heute früh ist er so putzmunter wie noch nie zuvor in seinem Leben aufgestanden, die schmerzenden Wunden, welche der Albtraum mit giftigen Krallen in seine Seele geschlagen hatte, waren genesen und obwohl er gestern Nacht mit einem Schrei aufgewacht war, der einem Splatter-Movie hätte entsprungen sein können, war dieser Nachtmahr nur mehr die Erinnerung an einen "schlechten Traum" gewesen.
Doch er hatte sich getäuscht. Es war kein Albtraum gewesen. Er konnte sich dieses schaurige Mysterium mit den geheimnisvollen Zeichen nicht erklären, umso weniger noch, da Clemens, der den Bericht über die Mega-Welle mitgeschaut hatte, Alex versichert hatte, dass da keine bizarren Symbole vorgekommen waren. Keine kryptische Laufschrift, kein verändertes Channel-Logo, kein den Gesetzen der Physik spottender Reigen der Flut und vor allem keine groß in den Sand geschriebene Nachricht irgendwelcher Runenwächter.
In einem inneren Rodeo warf er diesen Gedanken ab, rief sich innerlich zur Ordnung. Bestimmt gab es für alles eine logische Erklärung. Die Verfolgung über stockfinstere Flure und der darauf folgende Fall in die Tiefe war ein ganz normaler Albtraum gewesen, das Wort Runenwächter irgendeine diabolische Ausgeburt seiner von Stephen King und Dean Koontz geprägten Phantasie und das mit den Symbolen in der Fernsehreportage eine Art... "Rückfall" in Form eines Tagtraumes. Na bitte, damit hatte er schon eine rationale, einleuchtende Erklärung für den ganzen Albtraum.
Er atmete noch einmal tief durch, dann öffnete er die Augen und wandte sich den Angabezetteln zu. Er konnte regelrecht spüren, wie das Leben in sein Gesicht zurückkehrte und der Totenblässe, die sogar einem Michael Jackson die Show gestohlen hätte, den Garaus machte. Mit großer Freude stellte er fest, dass auch das Zittern vollkommen einer ruhig geführten Hand gewichen war.
Nun denn, dachte Alex und warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die ihm verriet, dass er ganze fünfzehn Minuten mit sich selbst gekämpft hatte, wenigstens ein Vierer muss drinnen sein. Von neuem Leben erfüllt und mit aus der psychischen Versenkung zurückgekehrtem Eifer machte er sich an die Arbeit.
Fünf Minuten vor dem Pauseläuten war Alex fertig, alle Aufgaben waren gelöst - und nebenbei hatte er auch noch einen neuen persönlichen Rekord aufgestellt; eine schriftliche Englischprüfung in nur dreißig Minuten. Er warf noch einen kurzen, aber mit aller Konzentration beladenen Blick auf den Angabezettel und versicherte sich, dass er in der Eile keine Aufgabe übersehen hatte, dann legte er ihn zur Seite und wandte sich den beschriebenen Zetteln zu, um das Geschriebene durchzulesen und eventuell - nein, ganz sicher - vorhandene Fehler grammatischer, orthografischer oder sonstiger Natur auszumachen und auszumerzen.
Doch kaum hatte er begonnen sich den Essay zur ersten Aufgabe durchzulesen, breitete sich plötzlich ein pulsierendes Gefühl der Unsicherheit aus. Irgendetwas war... seltsam. Alex konnte dieses Gefühl nicht benennen, er vermochte nicht die Quelle dieses rätselhaften Unbehagens zu identifizieren. Aber eines stand mit der Unerschütterlichkeit des Relativitätsprinzips fest: Irgendetwas stimmte nicht.
Dann erkannte Alex den Grund seiner unheimlichen Beklommenheit.
Und schrie auf.
Er wusste nicht, wie es geschehen konnte - entweder hatten sich die Buchstaben verwandelt oder er hatte schon die ganze Zeit, ohne es zu merken, in dieser Schrift geschrieben -, aber alles, was er geschrieben hatte, war in diesen mysteriösen Zeichen verfasst.

Von Passanten und den von Kaufhaus zu Warenhaus (und umgekehrt) eilenden Fußgängern nicht beachtet, stand eine Gestalt vor dem großen Schaufenster eines Elektrofachgeschäftes, das lediglich von der Eingangstür unterbrochen war und mit Flachbildfernsehern en masse Käufer anzuziehen versuchte wie Licht die Motten. Immer wieder brachten sie die Berichte über die Hand in Hand mit dem Tod einhergegangene Flutwelle und die bestürzenden Bilder von Menschen, die von einer gigantischen nassen Faust gepackt und in das gierige Maul des Meeres gezogen wurden - und von Dingen, die die Menschen gar nicht wahrnahmen, sondern lediglich ihm zu sehen gestattet waren: kryptische Symbole, um deren Bedeutung er nur allzu gut wusste, wie von der unsichtbaren Hand eines Titans in den Sand geschrieben.
Die Zeichen der Nacht, die sich unaufhaltsam ihren Weg aus den namenlosen Gefilden jenseits der Wirklichkeit in diese Dimension bahnte.
Und die nur der Runenmeister aufzuhalten vermochte.
 

© Michael Höfel
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Und sicher schon bald geht es hier weiter zum 3. Kapitel...

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