Als er am nächsten Morgen aufwachte, konnte Alex nicht sagen,
ob er erneut einer Jagd durch vollkommene Finsternis oder einem Sturz in
die unendliche Tiefe eines gähnenden Schlundes ausgesetzt gewesen
war; wenn ja, so konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Auch war sein
Vater, von seinen gehässigen Gedanken als schattenhafter Gesandter
der Hölle dargestellt, der ihm nach dem Leben trachtete, nicht in
sein Zimmer gestürmt und hatte ihn in die Realität zurückgeschüttelt.
Und als er herzhaft gähnte und seine Beine aus dem Bett schwang,
bemerkte Alex einen weiteren ungewöhnlichen Umstand, den er sogleich
auf seiner persönlichen Liste bizarrer Besonderheiten festhielt: Er
war putzmunter. Obgleich er diese Nacht nicht allzu viel Schlaf gefunden
haben konnte, hatte er das Gefühl, Bäume ausreißen zu können.
Nicht dass ihn dieser Umstand, und sei er auch noch so seltsam,
gestört hätte oder er ihm gar unerwünscht gewesen wäre.
Für die Englischprüfung heute konnte er jedes Quäntchen
an Energie, welches sich in seinem Körper finden ließ, gebrauchen.
In Boxershorts trat er aus seinem Zimmer, durchquerte das leere
Wohnzimmer und betrat das Bad. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihm, dass
sein Gefühl ihn nicht getrogen hatte: Das Konterfei eines vollkommen
munter wirkenden Doppelgängers blickte ihn an und schien nur so vor
Lebenskraft zu strotzen.
Fertig mit dem morgendlichen Ritual des Zähneputzens, ging
er in sein Zimmer zurück, zog sich ohne die allmorgendliche Hast an
- ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er keine Eile nötig hätte
- und packte die Schulutensilien, die auf seinem Schreibtisch verstreut
lagen, zusammen. Den Schulrucksack im Vorzimmer abgestellt, ging er in
die Küche, um sich für den bevorstehenden Englischtest zu stärken.
Seine Eltern saßen am kleinen Esstisch. Sein Vater las die
Zeitung und nippte ab und zu an der Tasse schwarzen Kaffee, die vor ihm
stand, seine Mutter hatte die leere Schale Müsli zur Seite gestellt
und strahlte auf, als ihr "kleiner Sonnenschein" (Klein? Sonnenschein?
Frechheit! Alex war immerhin schon sechzehn!) die Küche betrat.
"Guten Morgen, mein Schatz.", begrüßte sie ihn fröhlich.
Alex runzelte gespielt die Stirn. Was war los? Kein Sonnenschein?
Sein Vater sah auf, nickte seinem Sohn auf fast schon verschwörerische
Weise zu und konzentrierte sich dann wieder auf das Konglomerat aus Unwahrheiten,
Übertreibungen und gelegentlich auftauchenden wahren Fakten, welches
die Zeitung verbreitete. Alex legte seine Stirn abermals in fragende Falten,
begriff aber beinahe sofort darauf. Sein Vater hatte seiner Mutter scheinbar
nicht von gestern Nacht erzählt.
Er setzte sich an den Tisch und wurde prompt von seiner Mutter mit
einer Schüssel Cornflakes und Milch bedient. Sein Vater gönnte
sich einen weiteren Schluck Kaffee.
"Gibt’s was Neues?", fragte Alex und deutete mit einem Kopfnicken
auf die Zeitung.
"Nicht wirklich.", antwortete sein Vater, ohne den Kopf zu heben.
"Die Amis schicken wieder Soldaten in den Irak, in San Francisco gab’s
wieder mal ein Erdbeben ..." Er blätterte um und runzelte die Stirn,
bevor er weitersprach. "... Und heute Morgen gab es außerdem eine
schwere Überschwemmung in Bangladesch und Indien."
Alex’ Mutter stand auf und trug ihre leere Schüssel zum Geschirrspülbecken.
"Die armen Leute da unten haben es wirklich schwer.", sagte sie. "Hunger,
Krankheit und dann auch noch immer wieder diese Unwetter und Überschwemmungen."
Kaum hatte Alex den letzten Löffel Cornflakes zu seinem Mund
geführt und zeigte sich (halbwegs) satt, nahm ihm seine Mutter auch
schon die Keramikschüssel weg und stellte ihm stattdessen in Alufolie
eingepackte Sandwichs auf den Tisch - und zwar mit dieser typisch mütterlichen
Und-das-wird-aufgegessen-Geste. Alex stöhnte innerlich auf.
Er war seit Einsetzen der Pubertät noch nie wirklich aufsässig
gewesen, aber wenn diese Bemutterung nicht bald ein Ende fand, würde
er einen Aufstand anzetteln müssen, von dem sogar Che Guevara noch
etwas lernen hätte können.
Alex stand auf, rückte den Stuhl zurecht und ging ins Vorzimmer,
um das "Lunchpaket" in seinem Schulrucksack zu verstauen und sich Schuhe
und Jacke anzuziehen. Aus der Küche drang noch ein ebenso mütterliches
wie gut gemeintes (manchmal verfließt eben doch die Grenze zwischen
Bemutterung und mütterlicher Sorge) "Viel Glück in Englisch heute!",
dann trat er aus der Wohnung und ging gemächlich das Stiegenhaus hinunter,
um sich der letzten großen schulischen Hürde vor den Weihnachtsferien
zu stellen.
Und um nebenbei auch noch die Welt zu retten.
Er hatte gerade noch den letzten Sitzplatz im Bus ergattern können
- und musste somit ausgerechnet neben Clemens Gunner, dem größten
Idioten seiner Klasse, sitzen! Kein Wunder, dass der Platz noch frei
war...
Alex hatte der Option, neben ihm zu sitzen, der Alternative zu stehen
den Vorzug gegeben in der Hoffnung, das verwöhnte Kind aus nicht gerade
mit den Gläubigern im Konflikt liegende Haus möge ihn nicht ansprechen.
Vorerst schien dieser Wunsch von einem unsichtbaren Lampengeist erfüllt
worden zu sein, denn Clemens starrte wie hypnotisiert auf ein kleines Gerät
mit einem LCD-Display und hatte die Kopfhörerstöpsel in den Ohren
stecken.
Dasselbe gehässige Schicksal, das ihn gestern Nacht durch den
Albtraum aus wabernder Finsternis hatte rennen lassen, ließ es nicht
lange dabei bleiben und zerstörte nun endgültig die gute Laune,
mit der er heute früh aus dem Bett gekrochen war.
"Servus, Alex. Mensch, wie geht’s dir?", fragte sein Sitznachbar
Kaugummi kauend.
Alex stöhnte innerlich auf. Es wäre ja zu schön
gewesen um wahr zu sein. Stattdessen antwortete er: "Ja, geht so."
und hoffte, dass ihre an Fröhlichkeit und Ausgelassenheit kaum zu
überbietende Konversation damit an ein Ende gelangt war.
Natürlich wurde er erneut in seiner Hoffnung enttäuscht.
"Und", fragte Clemens grinsend, "hast du dich für den Test
heute ordentlich vorbereitet?"
"Klar.", gab Alex gelangweilt und ohne richtig zuzuhören zurück.
Der "Blade Gunner", wie er in der Schule oft mit viel Spott genannt
wurde, grinste ihn noch rund eine Minute an, wobei er ungeniert schmatzte,
dann nahm er die Stöpseln aus den Ohren und entfernte das Kabel der
Kopfhörer aus einer in dem schwarzen Gerät eingelassenen Buchse,
woraufhin in integrierten Boxen eine aufgeregte Männerstimme erklang.
"Guck mal", grinste Clemens und zeigte ihm das kleine handliche
Gerät, "mein Vorweihnachtsgeschenk. Ein Portable TV."
Steck dir dein Portable TV doch sonst wo hin, dachte Alex
und er musste sich bemühen, diese Gedanken nicht über seine Lippen
gleiten zu lassen. Stattdessen streifte er das schlanke kleine Fernsehgerät
mit einem so schlecht geschauspielerten interessierten Blick, dass selbst
die Goldene Himbeere dafür zu schade gewesen wäre. "Interessant."
Clemens wäre natürlich nicht Clemens gewesen, hätte
er es dabei belassen. Stattdessen hielt er Alex sein "Vorweihnachtsgeschenk"
(Gott, wo gab es denn so etwas?) noch mehr hin, schien es ihm regelrecht
genüsslich unter die Nase binden zu wollen.
Nur um dieser durch und durch idiotischen Situation halbwegs - psychisch
- unbeschadet zu entgehen (was würde er jetzt für ein paar Runenwächter
geben, die ihn durch vollkommene Dunkelheit jagten?), gestattete er sich,
das Portable TV nun doch etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Das schwarze
Gerät war klein und handlich, das hochauflösende Display zeigte
ein gestochen scharfes Bild.
"Seit ich eingeschaltet hab’, bringen die nur was über die
Flut in Indien.", klärte Clemens ihn auf; völlig unnötigerweise,
denn auf dem LCD-Bildschirm zeichneten sich die klaren Konturen von mehrere
Meter hohen Flutwellen ab, die über einen mit armseligen Hütten
übersäten Strand hereinbrachen und die bescheidenen Behausungen
samt den flüchtenden Bewohnern, kaum mehr als schwarze Punkte, unweigerlich
in die tödliche Tiefe des Meeres rissen. "Es ist unglaublich, was
sich da unten abspielt!", schrie eine gestaltenlose Stimme aus den eingelassenen
Lautsprechern. "Selbst das neue Tsunami-Frühwarnsystem hatte die indische
Regierung nicht vor dieser Katastrophe biblischen Ausmaßes warnen
können! Buchstäblich von einer Sekunde auf die andere rollten
plötzlich gigantische Wassermassen auf den Strand zu. Als die Menschen
die Welle bemerkten, begannen sie schreiend in Richtung Landesinnere zu
laufen! Experten können sich nicht erklären, wie der Tsunami
das Frühwarnsystem, das Seebeben registriert, umgehen konnte!"
Alex drehte die Lautstärke runter, um sich vollkommen auf das
Geschehen auf dem kleinen Display zu konzentrieren. Immer wieder brachen
sich die ungeheuren Wassermassen mit schier unmöglicher Kraft ihre
Bahnen gen Landesinnere, rissen die Palmen mit der schier spöttischen
Leichtigkeit von Göttern aus dem Boden, verschlangen die Hütten
und ihre fliehenden Bewohner mit beinahe dämonischer Gier und spülten
sie in den tiefen, feuchten Rachen des Ozeans.
"Der Wahnsinn, nicht?", fragte Clemens. Ob er damit nun auf das
von der Natur entfesselte schreckliche Szenario oder sein "Vorweihnachtsgeschenk"
anspielte, wusste Alex nicht zu sagen. Er konnte es nicht einmal, das grausame
Geschehen auf dem Bildschirm hielt ihn zu sehr in seinem Bann gefangen.
Irgendetwas an dieser Katastrophe schien ... merkwürdig. Es
war ein Gefühl, das Alex nicht in Worte zu kleiden vermochte. Er wusste
nicht einmal zu sagen, was genau diese Empfindung in ihm auslöste.
Und dann wusste er plötzlich, was ihn so gestört hatte.
Seit dem Moment, als Alex das Portable TV in die Hand genommen hatte,
hatte im unteren Teil des Displays eine Laufschrift eingesetzt, die mit
langsamer Geschwindigkeit von rechts nach links floss und durch eine monotone
Endlosschleife die Neuigkeiten immer wieder in schriftlicher Form präsentierte.
Nur dass es keine Neuigkeiten waren.
Zeichenketten, deren Glieder keinesfalls dem lateinischen Alphabet
entsprungen waren, zogen in eintöniger Wiederkehr am unteren Bildschirmrand
dem linken Rand entgegen, nur um zu verschwinden und am rechten wiedergeboren
zu werden. Mit offenem Mund betrachtete Alex erstaunt dieses fließende
Sammelsurium an Schriftzeichen, die er noch nie in seinem Leben gesehen
hatte. Ein Blick in die obere rechte Bildschirmecke zeigte ihm, dass auch
das Logo des Fernsehkanals sich seiner lateinischen - normalen! - Buchstaben
entledigt und mit den mysteriösen Zeichen eingekleidet hatte.
Und dann, mit der unendlichen Gewissheit eines Gottes, begriff Alex.
Es waren die Zeichen der Runenwächter. Er konnte sich selbst nicht
erklären, woher er dieses Wissen bezog, wusste aber gleichzeitig,
dass es unumstößlich und von solch kosmischer Wahrheit war,
dass es jeden noch so geringen Zweifel daran im Keim zu ersticken vermochte.
Er versuchte sich von diesem Anblick, der einem grotesken Mysterium glich,
loszureißen, aber es gelang ihm nicht. Die Runenwächter hatten
aus der Welt der Nachtmahre heraus ihr unsichtbares Netz nach ihm geworfen,
in deren Fäden sich Alex nun endgültig verfangen hatte.
Seine Finger begannen zu zittern, erst leicht, dann immer stärker.
Eine Heerschar eisiger Tausendfüßler hatte die Rolle der Gänsehaut
übernommen, die ihm nun den Rücken hinaufkroch. Vor seinen Augen
öffnete sich erneut ein gähnender Schlund aus massiver Dunkelheit
und geronnener Schwärze, der beunruhigend viel Ähnlichkeit
mit jenem aus seinem Albtraum hatte. Sie haben dich verfolgt, durchfuhr
es Alex mit einem Schauder, den als leicht zu bezeichnen wohl die größte
Untertreibung in der Geschichte der Menschheit gewesen wäre. Sie
haben dich bis hierher verfolgt. Ihre Macht reicht weit über die Grenzen
zwischen Realität und Traum hinaus, bis in die Wirklichkeit. Du bist
ihnen einmal entkommen. Das passiert kein zweites Mal.
Nun begann sich das Bild des tragbaren Fernsehgeräts zu verformen.
Die Flutwellen, die hier als Vasallen von Mutter Natur in ihrem Namen Menschenleben
ausgelöscht und dieses Vakuum dafür mit umso mehr Schmerz ausgefüllt
hatte, schlugen wirr um sich, vollführten einen Reigen, als verspotteten
sie die Schwerkraft der Erde und führten Newtons Gravitationstheorie
ad absurdum - und zogen sich plötzlich ohne großes Aufsehen
ins Meer zurück, als wäre ihnen die destruktive Lust an ihrem
Tanz vergangen. Nicht einmal eine Minute später wies die Küste
kein Indiz auf, das auch nur irgendwie in Verbindung mit der vernichtenden
Katastrophe, die die Natur vom Zaun gebrochen hatte, stand.
Dafür ein umso deutlicheres Zeichen, das von dem jegliche physikalischen
Grundsätze ignorierenden Reigen der Unmöglichkeit zeugte.
Als hätte ein verspielter Riese den Strand zu seinem Sandkasten
gemacht und mit dem Finger zusammenhangslose Buchstaben ohne Sinn in den
Sand gemalt, zierte, auf dem hochauflösenden LCD-Display grauenvoll
überdeutlich zu sehen, eine Folge aus drei mysteriösen Schriftzeichen
den von Hütten und Menschen gesäuberten Strand.
"Ihr habt bis zum Beginn der Pause Zeit, sprich fünfzig Minuten."
Das war das Startsignal für die Schüler, die bis jetzt mit der
beschriebenen Seite nach unten liegenden Angabezettel umzudrehen.
Dem dadurch erzeugten Rascheln, schon fast so etwas wie ein obligatorisches
Geräusch zu Beginn einer jeden schriftlichen Prüfung, folgte
ein schon fast unheimlicher Moment der Stille, in welchem die Schüler
die scheinbar nie enden wollende Liste aus Fragen und Aufgaben durchsahen
(und der eine oder andere schon mit dem Gedanken an Kapitulation spielte).
Nervosität lag wie ein übler Geruch in der Luft, verbreitete
sich im Klassenzimmer wie der Gestank in Schweiß gebadeter Turnschuhe.
Quelle dieses Ohnmacht fördernden Odeurs an seelischer Anspannung
war ein in verkrampfter Haltung dasitzender Schüler mit Namen Alex
Berger. Er versuchte das Zittern seiner Hand zu unterdrücken, einerseits
um die Antworten und englischen Texte in - halbwegs - leserlicher Schrift
zu Papier bringen zu können, andererseits damit ihn seine Klassenkameraden
nicht noch für einen verkappten Epileptiker hielten.
Nach dem schrecklichen Schauspiel, welches sich auf Clemens’ Portable
TV abgespielt hatte, hatte er die ganze Fahrt über nichts gesagt und
war dann mit einer Blässe im Gesicht bei der Haltestelle vor der Schule
ausgestiegen, vor der jede Wasserleiche den Hut gezogen hätte. Beim
Austeilen der Angabezettel hatte der Englischlehrer Alex’ Leichenmiene
registriert (die jeder Blinder, selbst jeder Augäpfelamputierter einfach
hätte bemerken müssen) und ihn gefragt, ob er sich nicht
ins Krankenzimmer legen möchte, doch Alex hatte nur verneint und gemeint,
es ginge ihm sowieso gut (womit er sich wohl einen Eintrag im Guinness-Buch
der Rekorde unter der Kategorie "Dämlichste Lüge der Welt" gesichert
hatte).
Alex schloss die Augen und atmete - hörbar - tief durch. Heute
früh ist er so putzmunter wie noch nie zuvor in seinem Leben aufgestanden,
die schmerzenden Wunden, welche der Albtraum mit giftigen Krallen in seine
Seele geschlagen hatte, waren genesen und obwohl er gestern Nacht mit einem
Schrei aufgewacht war, der einem Splatter-Movie hätte entsprungen
sein können, war dieser Nachtmahr nur mehr die Erinnerung an einen
"schlechten Traum" gewesen.
Doch er hatte sich getäuscht. Es war kein Albtraum gewesen.
Er konnte sich dieses schaurige Mysterium mit den geheimnisvollen Zeichen
nicht erklären, umso weniger noch, da Clemens, der den Bericht über
die Mega-Welle mitgeschaut hatte, Alex versichert hatte, dass da keine
bizarren Symbole vorgekommen waren. Keine kryptische Laufschrift, kein
verändertes Channel-Logo, kein den Gesetzen der Physik spottender
Reigen der Flut und vor allem keine groß in den Sand geschriebene
Nachricht irgendwelcher Runenwächter.
In einem inneren Rodeo warf er diesen Gedanken ab, rief sich innerlich
zur Ordnung. Bestimmt gab es für alles eine logische Erklärung.
Die Verfolgung über stockfinstere Flure und der darauf folgende Fall
in die Tiefe war ein ganz normaler Albtraum gewesen, das Wort Runenwächter
irgendeine diabolische Ausgeburt seiner von Stephen King und Dean Koontz
geprägten Phantasie und das mit den Symbolen in der Fernsehreportage
eine Art... "Rückfall" in Form eines Tagtraumes. Na bitte, damit hatte
er schon eine rationale, einleuchtende Erklärung für den ganzen
Albtraum.
Er atmete noch einmal tief durch, dann öffnete er die Augen
und wandte sich den Angabezetteln zu. Er konnte regelrecht spüren,
wie das Leben in sein Gesicht zurückkehrte und der Totenblässe,
die sogar einem Michael Jackson die Show gestohlen hätte, den Garaus
machte. Mit großer Freude stellte er fest, dass auch das Zittern
vollkommen einer ruhig geführten Hand gewichen war.
Nun denn, dachte Alex und warf einen Blick auf seine Armbanduhr,
die ihm verriet, dass er ganze fünfzehn Minuten mit sich selbst gekämpft
hatte, wenigstens ein Vierer muss drinnen sein. Von neuem Leben
erfüllt und mit aus der psychischen Versenkung zurückgekehrtem
Eifer machte er sich an die Arbeit.
Fünf Minuten vor dem Pauseläuten war Alex fertig, alle
Aufgaben waren gelöst - und nebenbei hatte er auch noch einen neuen
persönlichen Rekord aufgestellt; eine schriftliche Englischprüfung
in nur dreißig Minuten. Er warf noch einen kurzen, aber mit aller
Konzentration beladenen Blick auf den Angabezettel und versicherte sich,
dass er in der Eile keine Aufgabe übersehen hatte, dann legte er ihn
zur Seite und wandte sich den beschriebenen Zetteln zu, um das Geschriebene
durchzulesen und eventuell - nein, ganz sicher - vorhandene Fehler grammatischer,
orthografischer oder sonstiger Natur auszumachen und auszumerzen.
Doch kaum hatte er begonnen sich den Essay zur ersten Aufgabe durchzulesen,
breitete sich plötzlich ein pulsierendes Gefühl der Unsicherheit
aus. Irgendetwas war... seltsam. Alex konnte dieses Gefühl
nicht benennen, er vermochte nicht die Quelle dieses rätselhaften
Unbehagens zu identifizieren. Aber eines stand mit der Unerschütterlichkeit
des Relativitätsprinzips fest: Irgendetwas stimmte nicht.
Dann erkannte Alex den Grund seiner unheimlichen Beklommenheit.
Und schrie auf.
Er wusste nicht, wie es geschehen konnte - entweder hatten sich
die Buchstaben verwandelt oder er hatte schon die ganze Zeit, ohne es zu
merken, in dieser Schrift geschrieben -, aber alles, was er geschrieben
hatte, war in diesen mysteriösen Zeichen verfasst.
Von Passanten und den von Kaufhaus zu Warenhaus (und umgekehrt) eilenden
Fußgängern nicht beachtet, stand eine Gestalt vor dem großen
Schaufenster eines Elektrofachgeschäftes, das lediglich von der Eingangstür
unterbrochen war und mit Flachbildfernsehern en masse Käufer anzuziehen
versuchte wie Licht die Motten. Immer wieder brachten sie die Berichte
über die Hand in Hand mit dem Tod einhergegangene Flutwelle und die
bestürzenden Bilder von Menschen, die von einer gigantischen nassen
Faust gepackt und in das gierige Maul des Meeres gezogen wurden - und von
Dingen, die die Menschen gar nicht wahrnahmen, sondern lediglich ihm zu
sehen gestattet waren: kryptische Symbole, um deren Bedeutung er nur allzu
gut wusste, wie von der unsichtbaren Hand eines Titans in den Sand geschrieben.
Die Zeichen der Nacht, die sich unaufhaltsam ihren Weg aus den namenlosen
Gefilden jenseits der Wirklichkeit in diese Dimension bahnte.
Und die nur der Runenmeister aufzuhalten vermochte.
© Michael
Höfel
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