Krieg der Götter von Roxana
5: Das Training

Er stand auf, wankte noch etwas benommen von der grauenhaften Nacht zu dem rechten freistehenden Fenster. Alex war so schwindelig, dass er sich an der Fensterbank abstützen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er sah aus dem Fenster und konnte nicht glauben, was er dort sah. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und blinzelte neugierig nach Osten genau in die Sonne. Entweder träumte er noch oder das, was gerade im Begriff war, die Burg zu überfliegen, war wirklich ein Drache!!! Aber wie war das möglich? Der Drache verschwand nun mit einem ohrenbetäubenden Getöse aus dem oberen Teil seines Gesichtsfeldes. Noch völlig entgeistert wandte sich Alex nun um und ging zu seinem Zuber, den eine dienstbare Fee mit warmem Wasser gefüllt hatte. Es gab hier wirklich noch eine Menge zu lernen. Alex wusch sich den Schweiß der Nacht so gut es ging mit dem Stück Seife ab. Die Zivilisation lernt man erst zu schätzen, wenn einem Dinge wie Duschgel nicht mehr zur Verfügung standen, schoss es ihm, während er sich abtrocknete, durch den Kopf. In ein übergroßes Handtuch gewickelt, begann er nun sein Zimmer näher zu untersuchen. Am Vortag hatte er kaum Zeit dafür gefunden und so war er nun froh, sich einige ruhige Minuten gönnen zu können. Er ging zu den Bücherregalen auf der linken Seite des Zimmers. Die dunkelbraunen Holzträger schienen gleich eine ganze Bibliothek zu enthalten. Auch wenn der erste Eindruck ein heilloses Chaos von Schriften vermuten ließ, waren die Bücher und Pergamente nach Sprachen und den dazugehörigen Buchstaben geordnet. Alex liebte Bücher und so war es nicht verwunderlich, dass er sich nach kurzer Zeit gleich mehrere Bücher in Deutsch herausgesucht hatte und nun völlig versunken an dem großen Schreibtisch saß und seine Lektüre studierte.
Als plötzlich eine Stimme sagte: "Was liest du denn da?"
Wie von der Tarantel gestochen schreckte Alex auf. Sein Herz raste, denn er hatte sich fast zu Tode erschreckt.
"Oh, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich dachte, du hättest gehört, wie ich herein gekommen bin. Entschuldige."
Im ersten Moment hatten die Worte sich für Alex wie ein tiefes bedrohliches Grollen angehört und die Bilder der vergangenen Nacht waren wie ein unheilvolles Echo zurück in sein Bewusstsein gedrungen. Doch jetzt erkannte Alex, dass Simon hinter ihm stand und interessiert über Alex´ Schulter in das aufgeschlagene Buch auf dem Schreibtisch blickte. Nun hatte sich Alex wieder einigermaßen von seinem Schrecken erholt und stand auf.
Er sagte: "Ich wollte mich nur ein bisschen umsehen und hab wohl darüber die Zeit vergessen."
"Das ist nicht schlimm. Ich wollte nur einmal nach dir sehen und dich wecken, aber du bist ja schon von alleine aufgestanden." Simon rettete sich in ein verlegenes Lächeln und Alex bemerkte nun erst, dass er immer noch nur in das große Handtuch gehüllt war. Simon drehte Alex schnell den Rücken zu und entfernte sich drei Schritte von dem Schreibtisch.
"Wenn du Kleidung suchst, findest du sie im Schrank", Simon deutete ohne sich Alex wieder zuzuwenden auf den großen Schrank neben den Bücherträgern, den Alex schon am Abend zuvor bemerkt hatte. "Im Übrigen werde ich jetzt erst einmal versuchen, ein kräftiges Frühstück aufzutreiben. Ich hoffe dich vollkommen angekleidet vorzufinden, wenn ich damit zurückkomme. Wir haben keine Zeit für so etwas."
Mit diesen harten Worten, die Simon für Alex Geschmack viel zu grob gesprochen hatte, verließ Simon schnellen Schrittes das Zimmer. Normalerweise wäre Alex über die Art und Weise, in der Simon ihn angewiesen hatte, sich anzuziehen, zornig gewesen, doch Alex glaubte Simon schon gut genug zu kennen, um zu wissen, dass dieser barsche Tonfall, nur über Simons Unsicherheit angesichts dieser äußerst peinlichen Situation hinwegtäuschen sollte. In diesem Moment glaubte Alex, Simon schon Jahre zu kennen. In Wirklichkeit waren es erst wenige Tage und doch konnte er Simons Verhaltensweise schon völlig durchschauen. Aber es gab noch viele Geheimnisse um den jungen Templer, die Alex nicht verstand und einige davon würde er niemals lösen können. Doch hinter Simons größtes Mysterium würde Alex kommen und dieses Geheimnis würde beide zusammenschweißen wie kein anderes Ereignis es je gekonnt hätte.
In Gedanken versunken, ging Alex zu dem ihm von Simon gewiesenem Kleiderschrank und öffnete ihn. Alex hätte erwartet, dass die Türen schwer zu öffnen seien, doch das Gegenteil war der Fall, die Türen glitten fast wie von Geisterhand bewegt auf und gaben den Blick auf mindestens zwanzig Schubladen, die angefüllt mit Kleidung waren, frei. In aller Eiligkeit und ohne groß darauf zu achten, was er nahm, suchte er sich Unterhose, Hose, ein weißes Hemd und einen dicken Wollwams, der ihn warm halten sollte, da er erbärmlich fror, heraus und zog alles schnell an. Die Hose war ihm am Bund etwas zu weit und so legte er nachträglich noch einen hellbraunen Gürtel aus gegerbtem Leder um. Alex beäugte sich noch ein paar Sekunden kritisch, dann wandte er sich um und ging zu dem Fenster, aus dem er vorhin geschaut hatte, als er glaubte einen Drachen (einen Drachen!!!) gesehen zu haben. Durch das Fenster drang die kühle Morgenluft ins Zimmer und trotz der ohnehin niedrigen Temperaturen blieb er einige Augenblicke vor dem Fenster stehen und ließ sich den Wind  um die Nase wehen.
"Eine schöne Aussicht, nicht wahr?"
Alex schrak schon wieder zusammen. Langsam sollte er sich wirklich daran gewöhnen, dass jeder in seinem Zimmer ein- und ausging wie es ihm beliebte, dachte er ärgerlich.
"Ich sehe, die Gewänder passen dir! Das freut mich!" Anaxor kam näher und musterte Alex, wie ein Künstler sein bestes Werk gemustert hätte.
"Ich hoffe, dass dieses Gemach dich zufrieden stellt", sagte er, nachdem Alex keine Anstalten machte, etwas zu erwidern.
"Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, warum ich überhaupt ein so großes Zimmer bekommen habe. Ich meine, bis gestern war ich noch so etwas wie euer Gefangener und jetzt lebe ich, wie ein König." Damit sprach er aus, was ihm schon seit gestern, als er diesen riesigen Raum betreten hatte, auf der Zunge brannte. 
"Du warst kein Gefangener, du bist kein Gefangener, warum sollten wir dir nicht die gleichen Vorteile, wie jedem anderen in diesem Turm, bieten. Und überdies sind diese Annehmlichkeiten auch mit Arbeit verbunden. Da du nun schon mal hier bist, kannst du genauso gut, wie jeder andere hier, eine Aufgabe übernehmen. Aber keine Angst, wir werden schon etwas finden, was du kannst und gerne tun würdest. Doch bevor wir uns daran machen, eine geeignete Beschäftigung für dich zu finden, musst du lernen, in dieser Welt zu überleben. Simon und Said werden deine Grundausbildung in Selbstverteidigung, Waffengebrauch, Reiten und den hier herrschenden Regeln übernehmen."
"Training? Aber wieso? Ich meine, na ja, also, ich kann doch zum Beispiel die Bibliothek ordnen oder die Lagerräume säubern. Dafür braucht man nicht kämpfen zu können." Bei dem Gedanken kämpfen zu lernen oder gar zu müssen, war in Alex eine kleine Hysterie ausgelöst worden. Er konnte nicht kämpfen, er wollte nicht kämpfen und erlernen wollte er es schon gar nicht.
"Alex, jeder in Calthain hat dieses Training absolviert. Es dient zum eigenen Schutz. Schau, bei einem Angriff kann niemand auf dich acht geben und man kann nie sagen, ob diese Mauern den Feind aufhalten. Die einzige Sicherheit, die du in einem solchen Fall hast, ist ein Schwert und das nötige Wissen um seine Anwendung." Anaxor schien zu spüren, wie viel Angst Alex vor dem Kämpfen hatte, denn er versuchte ruhig zu sprechen und Alex mit viel Geduld dazu zu bringen, doch noch eine Waffe in die Hand zu nehmen. Anaxor konnte Alex nicht beruhigen und doch war Alex jetzt schon eher bereit, sich unter den Fittichen von Simon und... na ja wie auch immer er hieß, ausbilden zu lassen, wenn auch mit Widerwillen. Er begriff die Notwendigkeit und außerdem war er 15 Jahre, also nicht mehr in dem Alter, in dem er einen Babysitter gebraucht hätte!! Nun trat ein Schweigen ein, denn sowohl Anaxor als auch Alex hingen ihren Gedanken, wenn sie auch verschiedenster Natur waren, hinterher.
In diese fast schon unheimliche Stille platzte Simon wie ein Orkan rein.
"Ich habe dir nicht zu viel Essen mitgebracht, denn vor dem Reiten..." Er beendete diesen Satz nicht, sondern blieb wie angewurzelt in der Tür stehen und hätte um ein Haar das Tablett mit Alex´ Frühstück fallen lassen.
"Oh, Anaxor, ich wusste nicht, dass du hier bist. Bitte entschuldige."
"Ich habe mich zu entschuldigen. Du sollst den Jungen ausbilden und ich komme schon vor dem Frühstück und störe dich. Im Übrigen wollte ich nur sehen, wie es Alex geht, mehr nicht. Da es ihm augenscheinlich gut geht, gehe ich jetzt lieber." Anaxor hatte Simon gar nicht erst weiter zu Wort kommen lassen, sondern war beim Sprechen zur Tür gegangen und wollte das Zimmer schon verlassen, als er sich ein letztes Mal umwandte und sagte: "Möge dein Tag erfolgreich enden und dir Zufriedenheit bescheren, Alex aus Llandrindod Wells." Nun ging er mit schnellen und bestimmten Schritten davon. Das allerdings verwirrte Alex schon wieder. Doch als er eine entsprechende Frage nach der Bedeutung der letzten Worte Anaxors stellen wollte, sagte Simon rasch: "Er hat dich versucht zu überreden, das Training freiwillig zu absolvieren."
Alex sah Simon dermaßen verblüfft an, dass ihm höchstwahrscheinlich die Frage: Woher weißt du das? förmlich vom Gesicht abzulesen war, denn nach einer Weile, in der sich Simon an Alex´ fassungslosem Blick ergötzte, sagte er weiter: "Nun, das war nicht schwer zu erraten. Du bist nicht gerade ein sehr waffenfähiger Typ und überdies auch nicht sonderlich kräftig. Daraus wiederum schließe ich, dass in euren so genannten Schulen kein besonderer Wert weder auf Kraft noch auf Geschicklichkeit oder sonstiges gelegt wird. Jetzt guck nicht so drein, als ob ich der Pontifex Maximus wäre. Iss etwas, sonst können wir mit dir kleinem Senker nicht viel anfangen." Er lachte, kam zum Tisch und schob Alex das Tablett mit dem Essen hin.
Alex war nicht so recht nach Lachen, also setzte sich Alex und begann das Essen in sich hinein zu stopfen. Er konnte sich das nicht erklären! Zu Hause hatte er nie richtigen Hunger gehabt und nur etwas gegessen, wenn seine Mutter allzu aufdringlich mit ihrer Forderung, er müsse essen, gewesen war. Hier hingegen vertilgte er Mengen... 
Simon sah ihm nicht wie die Male zuvor einfach nur beim Essen zu, sondern langte ebenfalls kräftig zu. Allerdings aß er nicht ganz soviel wie Alex. Alex ließ sich dessen ungeachtet nicht weiter von dieser Tatsache beirren. Schließlich hatte er die ganze Nacht nichts gegessen. Komisch kam ihm seine plötzliche Gier nach allem Essbarem jedoch schon vor, vor allem wenn man bedachte, dass er die meisten Dinge auf dem Tablett gar nicht mochte. Das Frühstück bestand aus Haferbrei, Brot, gekochten Bohnen, gebratenen Eiern, Speck, verschiedenem rohem Gemüse wie Gurken und Möhren, Obst, Hartkäse, zwei Hammelkeulen und Honigmilch. Nicht gerade das, was man sich unter einem normalen Frühstück vorstellt, aber darauf nahm Alex keine Rücksicht. Alex schätzte, dass sie eine knappe Stunde mit dem Essen verbrachten. Nach Simons  Angaben gerade genug Zeit, um eine halbe Portion wie Alex gerade lang genug zu stärken, um das Reiten zu überstehen.

Danach erhob sich Simon und erklärte, dass sie nur noch einen Freund abholen würden und dann sofort mit dem Training beginnen würden.
Also gingen sie ohne weiteres Federlesen aus dem Raum wandten sich jedoch nicht nach links in die Richtung, aus der sie gekommen waren, sondern wandten sich nach rechts. Nach Alex´ Meinung war das sowieso kein großer Unterschied, denn der Gang, durch den sie nun gingen, unterschied sich in rein gar nichts von dem, den sie benutzt hatten, um zu Alex´ Zimmer zu gelangen. Überhaupt ähnelte der Innenturm in vielerlei Hinsicht dem Äußeren. Die Gänge waren genauso duster und nur mit roh unverputzten Steinen verkleidet und es waren Fenster in die von Alex linke Wand eingelassen. Der Unterschied bestand jedoch darin, dass eben diese Fenster wesentlich größer und vor allen Dingen höher waren. Sie gaben den Blick auf eine Art Halle frei, die wohl in ihrer Höhe vom Erdgeschoss bis fast zu der Plattform am oberen Ende des Innenturms reichte. Vielleicht befanden sich auch noch zwei oder drei Stockwerke über der Halle, bis der Turm in dieser flachen Ebene endete, aber das wusste Alex nicht genau. Durch die Fenster jedenfalls drang ein seltsames blaues Licht in den Flur, das alles rundherum beleuchtete. Es kam Alex schon fast so vor, als breite das Licht sich in einer Art Nebel aus, der alles durchdringt, denn so sehr er sich auch bemühte, Alex konnte keinen Schatten, keine düstere Ecke und keine dunkle Nische entdecken. Zu gern wäre er diesem Licht und vor allem seiner augenscheinlichen Quelle in dieser Halle auf den Grund gegangen, doch er fürchtete, wenn er zu einem der Fenster gehen würde und hinunter schaute, würde ihn Simon für einen kompletten Spinner halten (wenn er das nicht sowieso schon tat). Endlich blieb Simon vor einer Tür stehen. Doch anstatt anzuklopfen und abzuwarten, ob man hereingebeten wird, stieß Simon die Tür mit einer derartigen Wucht auf, dass diese prompt mit der Rückseite gegen das Mauerwerk klatschte. Der Raum, der dahinter zum Vorschein kam, war weitaus schlichter, wenn auch nicht kleiner als Alex Zimmer. Doch was Alex weitaus mehr erstaunte, war die Säbelspitze, die schon wieder auf ihn und diesmal auch auf Simon gerichtet war. Geführt wurde dieses Monstrum von einem Krummsäbel von einem Sarazenen. Einem Tuareg der schwarz-blauen Kleidung nach zu urteilen. Der Mann (oder Junge) war kaum älter als Simon, von schlanker, wenn nicht magerer Statur. Er trug eine schwarze weite Hose, ein ebenfalls weites jedoch tief dunkelblaues Hemd, einen nachtschwarzen Mantel, dazu passende schwarze Schuhe, deren Spitzen leicht nach oben gekrümmt waren. Über allem thronte natürlich der schwarze Turban.
Simon ließ sich allerdings keineswegs von der Tatsache, dass die Säbelspitze nicht einmal zehn Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war, auch nur im Geringsten beeindrucken. Er sagte nur ganz gelassen: "Salam aleikum."
Daraufhin geschah nichts. Der Mann bewegte sich nicht und keine einzige Wimper zuckte. Die Zeit schien einen Augenblick stillzustehen. Als Alex schon glaubte, es würde nichts mehr passieren, senkte der Mann plötzlich in einer eleganten Bewegung den Säbel und sagte: "Aleikum e salam, mein Freund." Dann lachten beide und umarmten sich kurz.
"Vor wem hattest du Angst? Nach Calthain hat sich bis jetzt kein Goblin verirrt." Simon schlug dem Tuareg freundschaftlich auf die Schulter. Dieser ging erst gar nicht auf die Spitze in Simons Worten ein, sondern sagte: "Ihr seid ziemlich früh da. Ich hatte noch nicht mit euch gerechnet."
"Ja, unser Frühaufsteher hier schien schon lange wach zu sein, als ich zu ihm kam, da konnten wir uns die ganze Weckerei sparen."
Der Araber sah erst Simon an, wandte dann aber den Blick und musterte Alex lange genau, wenn nicht sogar misstrauisch.
"Das ist also der Junge, den wir ausbilden sollen. Findest du nicht, dass er zu schwächlich ist?"
Während dieser Worte hatte der Tuareg Alex weiterhin gemustert.
"Ja, das ist Alex und ich habe nicht entschieden, dass er ausgebildet werden soll." Simon sah ein bisschen verärgert aus, sah aber ein, dass das Gespräch in dieser Richtung nichts mehr bringen würde und schien sich nun plötzlich wieder an seine Manieren zu erinnern, denn er sagte: "Ach, Alex, das ist übrigens Said und er ist, wie du unschwer erkennen kannst, ein ungläubiger Muselmane." Den letzten Teil hatte er weniger an Alex als viel mehr an Said gerichtet, der nun seinerseits mit der Beherrschung kämpfte.
Mit wutunterdrückter Stimme sagte der: "Ich heiße Said Ibn Raschid Ibn Daoud Ibn..." 
"Ja, schon gut, deinen ganzen Stammbaum kannst du ihm später erläutern, wir haben dafür jetzt keine Zeit." Simon war Said mit einer unwilligen Geste ins Wort gefahren und drängte nun zur Tür.
"Ihr könnt euch darüber noch lange genug erzählen, jetzt sollten wir langsam anfangen, sonst bricht die Dämmerung erneut herein, bevor wir begonnen haben." Damit ging er aus dem Raum und dachte nicht im geringsten daran, auf die beiden anderen zu warten. Said und Alex folgten ihm hastig, doch Simon hatte schon einen gehörigen Vorsprung. Said schien es nicht eilig zu haben, denn er ging zwar zügig, rannte jedoch nicht wie Simon den Gang entlang.
Nach einer Weile sagte er: "Ich bin kein Ungläubiger, wie dir Simon weismachen will. Ich glaube, seit ich im Elysium bin, nur noch an unsere Sache, aber das bedeutet nicht, dass ich nicht immer noch zu Allah bete." Er hatte dies ganz ruhig und ernst gesagt, ohne Alex auch nur einmal anzusehen. Er hatte geradeaus gestarrt, als finde er sonst seinen Weg nicht.
Jetzt ergriff Alex zum ersten Mal, seit er den Araber kennen gelernt hatte, das Wort: "Ich habe darüber nicht zu urteilen. Ich meine, ich respektiere Religion, aber da ich keiner angehöre, bevorzuge ich auch keine. Ich denke nicht, dass irgendwer das Recht dazu hat, über Religion ein gut oder schlecht zu verhängen."
Der Sarazene wandte den Kopf und sah Alex direkt in die Augen.
"Du sprichst sehr weise für dein Alter." Diese Worte, die Said langsam und in seiner eigentümlichen gebrochenen Sprache sagte, hallten noch lange in Alex´ Kopf nach.

Nun gingen sie an einer der sechs Ecken eine schmale Wendeltreppe hinunter und immer weiter abwärts. Kam es Alex nur so vor oder waren sie tatsächlich schon viel weiter hinunter gestiegen, als sie gestern an Treppen aufwärts gegangen waren? Noch eigenartiger fand Alex allerdings, dass Simon nach einer Weile zwar kurz zurückschaute, um festzustellen, ob sie ihm folgten, allerdings machte er daraufhin keine Anstalten, langsamer zu werden oder auf sie zu warten, sondern im Gegenteil, er schien seine Schritte noch zu beschleunigen. Irgendwann, nach einer halben Ewigkeit wie es Alex erschien, waren sie am Ende der Treppen angekommen. Simon war nirgendwo auszumachen, das war aber, angesichts des Chaos, das hier unten herrschte, kein Wunder. Said trat wieder an Alex Seite, denn der Treppengang war so schmal gewesen, dass er hinter Alex gehen musste, lächelte ihm aufmunternd zu und ging dann zielstrebig durch das ganze Gewirr. Dieses wurde durch aufgeregt durcheinander laufende Knechte und Mägde, die so ziemlich alles, was man sich vorstellen konnte, von einem Ort an einem anderen transportierten, damit wieder andere es zurückbringen konnten, verursacht. Dazwischen standen Tische, Stühle und Stapel von Feuerholz, sodass man, sofern einem nicht an einem Sturz in den Dreck gelegen war, um diese Gegenstände einen bizarren Slalom gehen musste. Said schien das alles gar nicht wahrzunehmen. Er steuerte zielgenau auf die andere Seite des Raumes zu, in der, wie Alex nun erkennen konnte, Simon damit beschäftigt war, drei Knappen oder Knechten oder was sie auch waren Anweisungen zu erteilen. Als Said und Alex bei ihm angekommen waren, sagte er gerade:  "...Ventus und Said nimmt Scirocco." Jetzt bemerkte Simon, dass seine beiden verschollenen Begleiter wieder zu ihm gestoßen waren. Er sah Alex einen Moment nachdenklich an, dann wandte Simon sich abermals an die Diener und sagte: "Und Erin. Bringt sie fertig gesattelt und gezäumt auf den Trainingsplatz. Das wäre dann alles."
Bei diesen Worten verneigten sich die Knappen flüchtig, wandten sich um und verschwanden schnell, um die ihnen aufgetragenen Dinge schnellst möglich zu besorgen.
Alex war ein bisschen schockiert sowohl über den herrischen Ton, den Simon anschlug, als auch darüber, dass die drei Knappen Simon gegenüber mehr als nur Respekt oder Unterwürfigkeit entgegenbrachten. Es schien, als würden sie regelrecht ehrfürchtig sein. Simon schien ein bedeutenderer und wichtigerer Mann zu sein, als Alex vermutet hatte.
Nun sagte Simon, der plötzlich wie ausgewechselt schien, vergnügt: "Wir sollten jetzt ebenfalls auf den Übungsplatz gehen, sonst sind noch die Waffen eher an Ort und Stelle als ihre Besitzer."
Das Wort Waffen machte Alex auf schmerzhafte Weise wieder bewusst, wozu dieses Training eigentlich gedacht war: Er sollte kämpfen lernen. Wieder stieg, bei dem Gedanken zu töten, Panik in ihm auf, doch bevor sie vollends Gewalt über ihn erlangen konnte, sagte Said mit seiner beruhigenden tiefen Stimme: "Es wäre nicht das erste Mal, bei dem das der Fall wäre."
Diese Bemerkung schien Simon sehr zu erzürnen. Simon nahm sie anscheinend als Provokation und das folgende betretene Schweigen verstärkte Alex´ Vermutung, dass hinter dieser Anspielung mehr steckte als beide zugaben. Um den in der Luft hängenden Streit zu vermeiden, sagte Alex: "Wo liegt der Übungsplatz denn überhaupt?" Eine dämliche Frage, zugegeben, aber sie hatte die gewünschte Wirkung. Simon wandte den Blick mit einem Ruck von Said ab und sah nun Alex an. Er lächelte sogar und sagte: "Du scheinst es ja nicht mehr abwarten zu können. Folge mir, es ist nicht allzu weit."

Der Übungsplatz lag, nicht wie Alex vermutet hatte, innerhalb der Mauern des gewaltigen Turms, sondern an einer der Außenmauern des Cathain. Im Großen und Ganzen bestand er aus einer Koppel und einer eingegrenzten freien Rasenfläche, in deren Mitte etwas, das aussah wie ein Materpfahl, stand. 
Als erstes müsse Alex Kraft bekommen, da waren sich Said und Simon einig. Also musste Alex seine Ausdauer damit beweisen zwanzig Runden um den Platz zu rennen, als Erwärmung (oder Sklaventreiberei, da war sich Alex nicht so sicher).
In dieser Zeit brachten die Knappen dann auch die Ausrüstung bestehend aus Holz- sowie Metallschwertern, mehreren Sandsäcken, Schilden, Pfeil und Bogen, einem Aussatz, der aus dem "Materpfahl" einen gängigen Roland machte, und wie Alex es befürchtet hatte drei gesattelte und gezäumte Pferde.
Als er nun endlich mit der Erwärmung fertig war und erschöpft auf die Knie sank, griff Simon nach einem der Holzschwerter und sagte: "Gut und jetzt verteidige dich!"
Ohne weiteren Kommentar griff er nun an und das war nur der Anfang...

Als nun die Dämmerung einsetzte, war noch lange kein Ende abzusehen. Said ließ einfach ein paar Fackeln holen und dann ging es weiter. Alex schätzte, dass es so ungefähr gegen Mitternacht gewesen sein musste, als Simon endlich sagte, dass für heute Schluss sei. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Alex keine einzige Waffe in die Hand bekommen, was ihn im nachhinein nicht gerade erleichterte, denn Saids und Simons Technik bestand darin, ihm zuerst beizubringen, wie er sich gegen einen viel stärkeren bewaffneten Gegner wehren konnte. Folglich war Alex den ganzen Tag, abgesehen von drei Pausen, die ihm gegönnt wurden, von den beiden verprügelt worden.
Er fühlte sich, als hätte jemand jede einzelne Faser seines Köpers in Säure getränkt und er wollte nicht wissen, wie er sich erst am nächsten Tag fühlen würde.
Simon und Said schien das wirklich harte Training jedoch überhaupt nichts auszumachen, was allerdings auch kein Wunder war, denn die beiden hatten sich immer abgewechselt und schienen darüber hinaus die Ausdauer von Zehnkämpfern zu besitzen.
Alex war völlig erschöpft in sein Zimmer gegangen. Dort erwartete ihn allerdings noch eine Überraschung. Jemand hatte ihm ein Nachtmahl sowie einen Krug mit einer dampfenden wohlriechenden Flüssigkeit geschickt. Anbei eine Nachricht, die lautete:

Ich weiß, dass die beiden grausam sind.
Mach dir nichts aus ihren "Methoden".
Du hältst dich wirklich gut und irgendwann wirst du es ihnen beweisen.
Der Trunk wird dir helfen, dich zu entspannen. Trink alles und geh dann zu Bett.
Geruhsame Nacht und angenehme Träume.
Cathleen.

Alex war froh, dass wenigstens sie sich noch um ihn kümmerte, ohne ihn zu quälen. Er wusch seinen geschundenen Körper und zog dann ein langes Hemd als Nachthemd an. Obwohl er allein war und absolut keinen Hunger verspürte, aß er doch eine Kleinigkeit und leerte danach den Krug. Er glaubte, es Cathleen irgendwie schuldig zu sein. Danach löschte er das gesamte Licht in seinem Zimmer und ging zum Fenster. Er sah hinaus über die Ebene, die nun vom Glanz der Sterne und einem seltsam klaren Mond erhellt wurde. Die Nacht war kalt und so wandte sich Alex nach kurzer Zeit wieder um und stieg in sein Bett. Er fühlte sich noch so aufgekratzt, dass er glaubte, noch Stunden wachliegen zu müssen, doch Cathleens Trank tat seine Wirkung, sodass Alex schon nach kurzer Zeit in einen langen traumlosen Schlaf fiel.

Nach zwei Wochen intensivem Training wusste sich Alex schon recht gut zu verteidigen. Er konnte nun mit Schwert, Streitaxt und Schild umgehen. Er konnte sich nicht nur auf einem Pferd halten, sondern richtig reiten und sogar im Ritt Pfeile abschießen. Es machte ihm auch keine Probleme mehr, die zwanzig Runden zu laufen. Im Gegenteil manchmal lief er einfach weiter, bis Said sagte, er würde ihm den Kopf abschlagen, liefe er noch mehr.
Kämpfen war ihm anfangs noch schwer gefallen, doch mittlerweile machte es ihm auf gewisse Weise sogar Spaß. Alex wusste ab dem Zeitpunkt, an dem er ein richtiges Schwert heben sollte, auch, warum er die vielen Kraftübungen hatte machen müssen. Er konnte sich immer noch nicht vorstellen, eine dieser Waffen gegen ein lebendes Wesen zu gebrauchen und es zu töten, aber die Handhabung zu erlernen und das Wissen zu benutzen, waren in seinen Augen zwei verschiedene Dinge.

An diesem Tag war er schon mit Said stundenlang geritten. Simon war etwas später dazu gestoßen und sie hatte mit ein paar einfachen Schwertübungen angefangen. Angriffe parieren, selbst angreifen und den Gegner entwaffnen.
Said saß auf der Koppelbegrenzung und sah Simon und Alex bei ihren Übungen zu. Sie kämpften mit richtigen Schwertern und es gab keine Regeln. Der Kampf dauerte bereits eine halbe Stunde und Said rief Alex immer wieder Tipps zu, als Alex in der Ferne ein Rauschen hörte. Er ließ sich dadurch nicht weiter stören, denn Simon griff mit unverminderter Härte und Schnelligkeit an. Das Rauschen schwoll zu einem fast ohrenbetäubenden Brausen an und dann sah Alex den Grund für diesen Lärm: Es war ein großes dunkel schimmerndes Geschöpf mit weiten lederartigen, nachtschwarzen Flügeln, das schnell wie der Wind  heransauste. Ein Drachen. Ein lebender, riesiger, fliegender Drachen!! Er ließ seinen soeben geführten Streich fahren und starrte wie betäubt auf das riesige Tier. Simon wich dem Stoß aus und führte seinerseits reflexartig einen Hieb, der genau auf Alex Kopf zielte, aus. Er bemerkte erst zu spät, dass Alex nicht zur Verteidigung bereit war.
Jetzt schien alles in Zeitlupe abzulaufen. Alex spürte Gefahr und obgleich sein Geist immer noch von der imposanten Erscheinung am Himmel gefesselt war, schien sein Köper einen eigenen Willen entwickelt zu haben, der ihn zwang, seinen Gegner anzusehen. Als er den Hieb sah, kam es ihm nicht so vor, als rase das Schwert auf ihn zu. Vielmehr bewegte es sich erschreckend... langsam. Alex riss sein eigenes Schwert über seinen Kopf und parierte gerade noch den Schlag. Simon prallte völlig verwirrte zurück und wäre um ein Haar gestürzt. Said war vollkommen entsetzt aufgesprungen und schaute Alex nur ungläubig an.
Simon sagte: "Was war das? Bei allen Göttern, was war das? Alex was hast du da eben getan?"
Alex wusste nicht zu antworten. Was hatte er denn getan? Er hatte einen mit Sicherheit tödlichen Streich abgewehrt, aber genau das hatten sie ihm doch beigebracht.
"Du hast dich schneller bewegt als das Auge erfassen kann, mein Freund.", sagte Said.
"Was? Das ist lächerlich. Niemand kann sich so schnell bewegen", sagte Alex, aber er war sich nicht sicher, denn ihm war alles wie in einer Zeitlupe vorgekommen...

Nun breitete sich wieder unbehagliches Schweigen aus. Said und Simon starrten Alex immer noch an, sodass er rot anlief.
In diese eher peinliche Situation platzte ein Junge von etwa elf Jahren herein. Er rannte, als ob er den Teufel persönlich gesehen hätte. Als er bei ihnen angekommen war, sagte er zu Said gewandt: "Mein Herr, ein Bote ist soeben eingetroffen und man wünscht eure Anwesenheit. Die Herrin wird sobald wie möglich einen Rat einberufen. Es scheinen jedoch keine guten Nachrichten zu sein, die zur Erörterung stehen. Deswegen ist es sehr dringlich." Er war völlig außer Atem und doch redete er sehr schnell und aufgeregt. Dann wandte er sich an Simon und fügte hinzu: "Auch nach euch verlangt sie und der Junge soll zu ihr kommen." Er deute auf Alex, was dieser etwas irritierend fand, denn ein  elf Jähriger hatte ihn noch nie als "Jungen" bezeichnet.
Simon und Said schien diese Ablenkung nur recht, denn sie schnallten sich ohne jeglichen Kommentar ihre Waffengürtel um und folgten dem Jungen, der nun bereits wieder zum Turm zurück eilte.
Gedankenversunken schloss sich nun auch Alex an.
Ein Bote? Sehr seltsam. Aber am meisten beschäftigte ihn dieser Rat. Er schien sehr bedeutsam zu sein. Er hätte Said oder Simon gerne danach gefragt, aber er wusste, dass er keine Antwort erhalten würde.
Zum Teufel aber was hatte er mit diesem ganzen Krieg überhaupt zu schaffen?
 

© Roxana
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