Es waren einmal zwei Menschen, ein Junge und
ein Mädchen, die wurden zum selben Zeitpunkt geboren, was allerdings
niemand bemerkte und auch nie erfahren sollte, da sie in verschiedenen
Zeitzonen geboren worden waren. Der Junge wurde Sergeij genannt, das Mädchen
Melani. Beide wussten, was nicht verwunderlich sein wird, fast zweieinhalb
Jahrzehnte nichts voneinander. Bis Sergeij aus seinem kleinen, von der
technischen Zivilisation übersehenen Dorf in die Metropole kam, in
der Melani lebte. Er nahm einen Aushilfsjob an und immatrikulierte sich
an der hiesigen Universität. Dort begegneten sich die beiden...
Er hatte sich aus zurückgewiesener Liebe
umgebracht. War den Weg durch die Luft gegangen. Doch seine Liebe und ihr
Bedauern waren stärker gewesen als Tod und seine Sehnsucht nach ihr
hatte ihn in Tuonis Hallen nicht Ruhe finden lassen.
So war er als ruchloser Wiedergänger
zurückgekehrt; krank vor Hunger nach Zuneigung, Liebe - und Blut.
Schrecklich war er von Gestalt, groß und bleich, manchmal aufgedunsen
wie eine Wasserleiche, manchmal ausgedörrt wie ein Verdursteter. Aber
dieser Anblick wurde ohnehin nur seinen Opfern kurz vor deren Ableben zuteil
und ist deshalb nicht weiter wichtig. Er demütigte sich für sie.
Zwang sich selbst die schlimmsten Qualen auf. Allein, es war vergebens,
denn sein Metier war die Nacht und sein Begleiter der Nebel. Auch hatte
er Boten, Nachtfalter und staubkorngroße Aasfliegen, durch deren
Augen er sie beobachtete, nicht wissend, dass sie nichts mehr von ihm wissen
konnte.
Die Opfer, an denen er seinen Blutdurst stillte,
waren zumeist Männer aus ihrer unmittelbaren Umgebung. Er ließ
einzig die Köpfe zurück, deren Gesichter zu furchtverzerrten
oder vor Schmerzen wahnsinnigen Masken geworden waren. Manchmal nahm er
auch weibliche Opfer, wenn sein Sexualtrieb sich meldete, nicht ohne diese,
bevor er ihr Blut trank, so lange zu vergewaltigen, bis sie mit dem Tod
einen Erlöser willkommen hießen. Weil er die Frauen rein zufällig
auswählte (Prostituierte, Ehefrauen, die spät abends noch aufgebrochen
waren, um Zigaretten zu kaufen, Joggerinnen, die vor Sonnenaufgang unterwegs
waren...) und wohl auch, weil er von diesen gar nichts übrig ließ,
wurde niemand auf den Zusammenhang zwischen ihnen aufmerksam. Wohl aber
auf die Männer in ihrem Umfeld, weshalb sie Schwierigkeiten mit der
Polizei bekam. Doch ihre Alibis waren durchweg wasserdicht und die Polizeipsychologin
schätzte sie nicht als Serienmörderin ein. Da sie aber der einzige
Bezugspunkt zwischen den Toten war, wurde sie nebst ihrem sozialen Umfeld
überwacht. Man stellte fest, dass sämtliche Morde im Nebel verübt
wurden, sodass immer, wenn dieser aufzog, erhöhte Alarmbereitschaft
gegeben wurde. Manchmal war nicht der observierte Mann das wahre Opfer,
sondern einer der Polizisten aus der Überwachungsmannschaft, der sich
zu weit von den anderen entfernt hatte.
Jedoch wurde er, der von der Lokalen Zeitung
den Spitznamen Sorbek bekommen hatte, eines nachts unvorsichtig. So sehr,
dass ?erano, einer der Polizisten, auf Schussweite an ihn herankam.
Es war an einer Stelle in der Stadt, wo sich
sieben oder acht verwinkelte Gässchen trafen und einen kleinen Platz
bildeten. Dort stand er, Sorbek, hünenhaft groß und breit. Auf
dem Platz war der Nebel fast vollständig aufgelöst, sodass alles
ganz klar zu erkennen war. Er hielt sein Opfer derart am Kragen gepackt,
dass es mit den Füßen in der Luft hing, einem Schutzschild gleich
mit dem Rücken zu ?erano. Der Polizist drückte sich flacher als
irgend möglich an die Schatten spendende Hauswand. Seine Pupillen
weiteten sich, der Herzschlag begann zu rasen. Adrenalin überflutete
sein Denken. Er zwang sich, nicht flach zu atmen, nicht den Kopf zu verlieren,
und zog seine Pistole. Vorsichtig schob er den Kopf um die Ecke. Kein Zweifel:
Er hatte den Täter gefunden. Dieser hatte das Gesicht jetzt am Hals
seines Opfers, dessen Beine wild in der Luft zappelten. Die innere Anspannung
drohte ?erano zu zerreißen. So lange dieser Mann noch vor Sorbek
hing, konnte er nicht zugreifen. Aber war er überhaupt noch zu retten?
Ein Schrei wie aus dem tiefsten Abgrund der
Hölle erhob sich und hallte die Straßen entlang, wo er nach
kaum zehn Metern vom Nebel verschluckt wurde. Unendlich lange schien der
Aufschrei dieses gequälten Menschen zu dauern. ?erano musste die Augen
schließen. Sich die Ohren zuzuhalten wäre einer Selbstentwaffnung
gleichgekommen. Als er die Augen wieder öffnete und um die Ecke schielte,
stand der Hüne vornübergebeugt, breitbeinig auf dem Platz. Aus
seinem Mund tropfte etwas, das in der Nachtbeleuchtung schwarz schimmerte.
Unter ihm lag reglos der andere Mann, in einer schwarzen Blutlache, das
Gesicht in den Nacken gedreht.
Nahezu lautlos drehte ?erano sich um die Ecke
und legte die Waffe auf Sorbek an. Nur drei Meter. Der Hüne musste
ihn gehört haben, denn er richtete sich auf. Aus seinen roten Augen
schrie der leere Wahnsinn so laut, dass der Polizist automatisch abdrückte,
bevor er denken oder der andere sich bewegen konnte. Der Wiedergänger
fiel mit ausgebreiteten Armen nach hinten und schlug geräuschlos auf.
Die Zeit schien anzuhalten.
Die Nebel zogen aus den Seitengassen heran,
wie Wasser in einer Badewanne sich auf den Abfluss zubewegt. Sie sammelten
sich über der Stelle, an welcher der Leichnam liegen musste, wurden
nahezu greifbar dicht - und verschwanden von einem Augenblick auf den anderen.
Als ?erano aus seiner Erstarrung erwachte,
sah er, dass weder Sorbek, noch sein letztes Opfer mehr da waren.
Verschwunden in den Tiefen der Zeit, dachte
er um sich gleich darauf selbst für diesen mythischen Gedanken zu
schelten.
Die Morde hörten von diese Nacht an auf.
Aber Sorbek ist immer noch da. Er kann nicht ganz von dieser Welt gehen.
Und jedes Mal, wenn ein Liebender von der Frau seines Herzens zurückgewiesen
wird, versucht er, durch die Wunde in der Seele wieder in einen Körper
einzudringen, denn seine Sehnsucht ist noch immer da und quälender,
als je. Und jedes Mal, wenn Nebel durch eine Stadt ziehen, ist die Polizei
in erhöhter Bereitschaft...
Melani nahm einen tiefen Schluck Rotwein. Ihr
Mund war ausgetrocknet; was wunder, hatte sie seiner Erzählung doch
mit offenem Munde gelauscht.
"Das ist dein großes Geheimnis? Du denkst
dir hinter verschlossener Tür solche Schauergeschichten aus, und verbietest
mir und den Kindern, in dein Arbeitszimmer zu gehen, damit wir sie nicht
lesen? Was soll das, Sergeij?"
Er nahm beschwichtigend ihre Hand und berührte
sie mit seinen weichen Lippen. Auch nach zwölf Jahren Ehe fühlte
er sich noch manchmal wie ein kleiner Junge vor ihr.
"Weißt du, Melani, vielleicht habe ich
dir nicht genug vertraut, aber die Sache ist so: In meiner Heimat wird,
wie du weißt, sehr viel Wert auf das Geschichtenerzählen gelegt
und ich bin mit dieser Tradition aufgewachsen und habe sie im Blut. Aber
vieles von dem, was mir so immer mal wieder einfällt, kann ich den
Kindern nicht erzählen. Und ich weiß nicht, ob du mit jemandem,
dem derartige Geschichten in den Kopf gehen, etwas zu tun haben möchtest.
Ich wollte dich nicht schockieren." Sie wollte etwas sagen, aber er ahnte,
was kommen würde und wollte dem vorgreifen um am Schluss nicht billig
zu wirken: "Irgendwann kamen mir Zweifel am Sinn der Aktion. Wozu Märchen,
die keiner hört? Und das ewige Versteckspiel kam mir auch albern vor.
Also alles oder Nichts. Ich bitte dich, mir zu verzeihen."
Sie lächelte, sagte ihm, dass es nichts
zu verzeihen gebe weil alles seine Zeit habe, auch und gerade Geschichten.
"Aber viererley wüsste ich gerne noch: Wer ist Tuoni und von wem hast
du den Namen Sorbek genommen?"
"Ich danke dir.
Tuoni ist eine Gestalt der finnischen Nationaldichtung.
Der Wächter des Totenreiches. Sorbek kommt von Sobek, einem altägyptischen
Krokodils- und Feldgott. Ich dachte, der Spitzname passt, weil Krokodile
auch nicht viel von dem übrig lassen, was sie fressen."
"Warum veröffentlichst du deine Geschichten
nicht?"
Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarre,
bevor er antwortete: "Ich habe lange darüber nachgedacht. Aber wozu?
Wir verdienen beide sehr gut und die Konkurrenz in der Schriftstellerei
ist groß. Und selbst wenn ich erfolgreich wäre; dann müsstest
du deinen Mann mit seiner Leserschaft teilen." Nein, das wollte sie nicht.
Sie sahen sich so schon viel zu wenig, da beide fast im Flugzeug wohnten.
"Und deine letzte Frage, meine Herzkönigin?"
"Willst du mir mehr von deinen Geschichten
erzählen, mein Hofkavalier und Dichterfürst?"
Er grinste und das Herz sang in seiner Brust,
dass er seine geheimen Umtriebe endlich mitteilen durfte.
Das klassische Quartett des Restaurants spielte
den letzten Walzer des Abends an, jenes Stück, zu dem Melani das erste
Mal mit Sergeij getanzt hatte. Sie waren das einzige Paar auf dem Tanzboden
und diese Sommernacht gehörte allein ihnen...
© Uriel
Sakarhim
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