Drei Tage der Wanderung waren vergangen. Das
Gebirge lag schon hinter ihnen. Jetzt war es nicht mehr weit. Shade wusste
immer noch nicht, was in der Kutsche war. Bei einer nächtlichen Rast
hatte er versucht sich an die Kutsche heran zu pierschen, doch es misslang
ihm. Die Wachen waren zu aufmerksam, also gab er es auf, bevor er noch
Ärger mit seiner Tat provozierte.
Hier unten war es wieder einigermaßen
warm, nicht so kalt und verschneit wie oben in den Bergen. Trotzdem waren
es noch keine besonders sommerlichen Temperaturen.
Die Gruppe der nordischen Reisenden trennte
sich an der Brücke ins Westland von ihnen. Sie gingen ihren Weg weiter
nach Norden. Shade war sich sehr sicher, dass mit denen etwas nicht stimmte.
Erstens war der Anführer der Truppe ihm nicht geheuer und er mochte
ihn nicht. Zweitens ist es noch nie vorgekommen, dass die Magiergilde und
die Gilde der Krieger im Norden zusammenarbeiteten. Und drittens hätten
sie nicht den Weg durch dieses verdammte Gebirge genommen, wenn sie nichts
zu verbergen hätten. Es gab genug sichere und befestigte Handelswege
in dieser Region. Doch die unterlagen strengsten Kontrollen.
Wie auch immer. Shade sah der Gruppe nach
und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sein Blick auf die
"Räder" der Kutsche fiel. Diese Kufen werden im Flachland nichts mehr
nutzen. Wenn sie nicht bald Räder auftreiben konnten, wäre die
Reise für sie sicher gelaufen.
Dann wandte er sich wieder dem Weg zu. Die
mächtige Brücke führte nach Westen über einen breiten
Fluss, der die Ebene vom Gebirge trennte. Dahinter ging die Straße
etwas Berg ab und führte in die weiten Ebenen des Westreiches.
Endlich, dachte sich Shade. Jetzt ist das
schlimmste überstanden.
"Komm schon!" sagte er zu Rio, die neben ihm
stand. "Gehen wir!"
Sie überquerten die Brücke und gingen
nebeneinander die Strasse entlang. Hier lag kein Schnee mehr, aber trotzdem
war es kalt. Sie hatten wirklich eine schlechte Jahreszeit erwischt, um
so weit zu reisen. Im Westen brach jetzt die Regenzeit an. Es hatte wohl
schon geregnet hier unten, denn die Strasse war schon matschig und tiefe
Spuren von Wagenrädern zeichneten sich in ihr ab. Es war früh
am Morgen. Die große Kapuze von Shades Kutte verdeckte zum Großteil
sein Gesicht. Rio sah ihn an. Er wirkte so düster. Und irgendwie in
Gedanken so unendlich weit weg. Er war schon immer so gewesen. Das lag
wohl in seiner Natur. Musste von seiner Abstammung kommen, dachte sie sich.
So sind die Dunkelelfen halt. Düster und geheimnisvoll. Aber irgendwas
stimmte jetzt nicht mit ihm.
Rio erinnerte sich. Als Shade und Kortas sie
auf der Durchreise mitnahmen. Ja, das waren noch Zeiten. Sie hatte diese
Männer so bewundert. Einfach vor sich hin zu leben. Als Söldner
durchs Land streifen. Städte von Dämonen und Ungeheuern befreien,
so wie sie es in Valorien getan hatten. Ob sie jemals wieder auf Kortas
treffen würden? Sicherlich. Er war ja ein Freund von Shade. Ein sehr
guter sogar. Er hatte Rio beigebracht, einen Heilzauber zu wirken. Aber
dieser Zauber war sehr schwach. Rio war zu jung und zu unerfahren, um große
Zauber anzuwenden, so wie Shade es manchmal tat. Rio fehlte außerdem
das gewisse Talent dazu. Aber sie war unglaublich stolz gewesen, als es
klappte. Sie hatte Shade sofort eine Wunde geheilt, als sie sich des Zaubers
sicher war. Na gut, es war ein Splitter, der einen kleinen Riss in Shades
rechte Hand gerissen hatte, als er trockenes Holz aufsammelte für
ein Lagerfeuer. Aber es hatte geholfen und er hatte sie dafür gelobt.
Auch wenn es mehr ein Scherz war und eine vollkommen unwichtige Wunde,
sie war in diesem Moment sehr stolz gewesen.
Das Mädchen sah sich etwas um. Sie war
noch nie zuvor im Westreich gewesen. Alle Welt schwärmte von diesem
Land, wie schön es hier sei und wie nett die Menschen hier doch alle
sein sollten. Es sah genau so aus wie im Osten auch. Ein paar mehr Bäume
vielleicht, aber sonst genau so. Und Menschen hatten sie hier noch keine
angetroffen, also konnte sie darüber nicht urteilen.
"Du, Shade."
Ein dumpfes "Ja" tönte unter der Kapuze
hervor, als hätte sie ihn aus den tiefsten Gedanken gerissen.
"Was werden wir denn machen, wenn wir in Nefarat
angekommen sind?"
Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Lange,
schwarze Haare und der Rand der Kapuze verdeckten es.
"Ich muss dort etwas erledigen!"
"Ein Auftrag?"
Shade zögerte erst.
"Ja, so was ähnliches."
Rio machte plötzlich ein enttäuschtes
Gesicht.
"Oh nein. Du kannst es einfach nicht lassen,
oder? Du hast doch in Valorien genug Geld bekommen um aufzuhören.
Was hast du denn damit gemacht? Du hast es doch nicht versoffen oder?"
Diese Frage war überflüssig. Rio
wusste das. Shade trank kein Alkohol. Nur manchmal, wenn alle zusammen
saßen und feierten sah sie ihn mal mit einem Bier in der Hand. Und
so viel Geld konnte nicht einmal ein Trunkenbold wie Rowland in so kurzer
Zeit versaufen. Wahrscheinlich hatte er das Geld noch. Aber er kämpfte
trotzdem weiter. Warum nur?
Shade antwortete nicht. Das hatte Rio auch
nicht erwartet. Und so zogen sie weiter.
Gegen Abend erreichten sie ein Wirtshaus. Es
war schon dunkel. Der Mond war verdeckt von dichten schwarzen Wolken. Es
ließ sich nur erahnen, dass er in dieser Nacht da sein würde.
Vom Wirtshaus her drang kein Lärm oder ähnliches. Kein Gesang
oder Leute, die sich laut unterhielten, wie es in solchen Gasthäusern
üblich war. Die Ställe hinter dem Haus waren geschlossen. Man
hatte sie geradezu verbarrikadiert. Das alles kam Shade sehr merkwürdig
vor. Als sie sich dem Gebäude näherten, erkannten die beiden
einen leichten Schein von Licht, der durch die Fenster des alten Hauses
drang. Rio meldete sich leise zu Wort.
"Sollen wir da übernachten? Sieht nicht
aus, als wenn da drin viel los wäre."
Shade sah zu dem Gebäude hinüber.
"Nun ja. Hauptsache, sie haben ein Zimmer
frei."
Die zwei verließen die Hauptstraße
und gingen auf das Haus zu. Rio wurde immer aufgeregter, je näher
sie dem Gebäude kamen.
"Hey, Shade. Weißt du noch in dem Wirtshaus
in Arikia? Die fiesen Typen dort?"
Shade erwiderte nichts. Aber das war auch
nicht nötig. Das Mädchen sprach einfach weiter.
"Die Ärger machen wollten. Aber da hatten
sie sich verschätzt. Den haben wir es ganz schön gezeigt was?"
In einer kumpelhaften Geste stieß sie
Shade mit dem Ellenbogen gegen den Oberschenkel und blickte mit übertrieben
grimmigem Grinsen zu ihrem Gefährten auf, der einfach nüchtern
weiter gerade aus lief.
"Naja, ihr habt es denen gezeigt. Ich habe
zugesehen und aufgepasst, dass es sich nicht zu sehr zuspitzte."
Sie hob den rechten Zeigefinger, als wollte
sie jemanden tadeln und legte einen äußerst arroganten Gesichtsausdruck
auf.
"Wäret ihr zu sehr in Schwierigkeiten
geraten, wäre ich natürlich sofort hinter der Theke hervorgekommen
und hätte euch geholfen. So schnell schüchtert man eine Kämpfernatur
wie ich es bin ja nicht ein."
Ein kurzes, laut platschendes Geräusch
unterbrach ihre Geschichte. Matsch und Dreck spritzten empor. Shade blieb
stehen. Er verzog keine Miene, als hätte er fest mit so etwas gerechnet.
Er sah ruhig den Bolzen an, der etwa einen Schritt vor ihm im Boden steckte.
Dann hörte er ein knackendes Geräusch und wandte seinen Blick
der Tür des Hauses zu. Sie war einen Spalt geöffnet. Ein Mann
stand im Schatten dahinter, der gerade dabei war, hektisch und mit ungeübten
Handgriffen seine Armbrust nachzuladen. Er schien das nicht oft zu tun,
denn so lange brauchte kein halbwegs guter Schützer dafür. Shade
hätte in der Zeit bequem los laufen können, um den Angreifer
mit dem Schwert nieder zu strecken, hätte er das gewollt. Statt dessen
stand er einfach nur da und sah kühl zu dem Mann in der Tür rauf.
Die Kapuze bedeckte noch immer den Großteil seines Gesichtes.
Der Mann hatte endlich nachgeladen und legte
wieder neu an. Eine raue und gespielt unfreundliche Stimme drang an Shades
Ohr.
"Wer seid ihr, und was wollt ihr hier, Fremde?"
Diese Stimme war wirklich aufgesetzt. Das
merkte man sofort. Sie war zwar rau und tief, aber sie gehörte einem
Mann, der nicht wirklich etwas Böses zu tun im Stande war. Man hörte
heraus, dass sie verzweifelt manipuliert wurde, nur um dies zu verdecken.
"Wir sind nur zwei Reisende, die ein Lager
für die Nacht suchen, werter Herr."
Shade bemühte sich so freundlich wie
nur irgendwie möglich zu klingen. Die Tür öffnete sich etwas
und der Mann trat einen Schritt hervor. Er musterte die Figuren auf dem
Weg vor seinem Haus genau. Nach kurzem Zögern kam dann seine Antwort.
"Also gut. Ihr seht nicht aus wie die. Ich
will euch einmal vertrauen und euch herein lassen, aber kommt nicht auf
dumme Gedanken."
Die Armbrust sank ein Stück und der Mann
öffnete die Tür ganz.
Shade sah an sich herunter. Rio kauerte hinter
ihm und klammerte sich, immer noch starr vor Angst, an sein rechtes Bein.
Sie hatte sich sofort dorthin geflüchtet, als der Bolzen vor ihnen
in die Erde rammte und ihr einen ungeheuren Schrecken eingejagt hatte.
Shade konnte sich ein leichtes Lächeln
nicht verkneifen.
"Na", sagte er ruhig und mit einem gewissen
Anteil an Spott in der Stimme, "willst du deine Geschichte nicht weiter
erzählen?"
Sie saßen an der Bar des Gasthofs. Karniak,
der Gastgeber, hatte sie eingeladen etwas zu trinken. Ein Getränk
pro Person ging auf Kosten des Hauses. Der Wirt zeigte sich äußerst
freundlich und zuvorkommend, im Gegensatz zu der Begrüßung.
Es war nicht viel Betrieb. Ein paar Leute saßen an einem Tisch in
einer Ecke des Raumes, nahe am Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte.
Dieses Feuer hüllte den Raum in eine gemütliche und beruhigende
Atmosphäre. An der Wand auf der anderen Seite stand ein etwas größerer
Tisch. Er war zum Teil von Schatten verdeckt, denn das Feuer war längst
nicht groß genug, um den ganzen Raum zu erhellen. An diesem Tisch
saßen zwei etwas finster wirkende Gestalten. Sie unterhielten sich
ruhig, teilweise schwiegen sie sich einfach an und löffelten Suppe.
Shade konnte ihre Gesichter nicht ganz erkennen, es schienen aber Menschen
zu sein.
Der Wirt erzählte ihnen von Räubern
und Rumtreibern, die in der Nacht die Gegend unsicher machten. Jemand soll
gesehen haben, wie diese Kerle Dämonen beschwören.
"Man sagt," holte der Wirt aus, "sie seien
mit dem Teufel persönlich im Bunde."
Shade hatte sich noch ein wenig umgesehen.
Die Leute an dem Tisch beim Kamin schienen eine recht lustige Gesellschaft
zu sein. Ein paar junge Knaben und hin und wieder ein Mädchen dabei.
Wahrscheinlich Bauern. Sie lachten und unterhielten sich laut. Nicht so
laut, wie es normalerweise üblich war in solchen Wirtshäusern,
aber im Vergleich zu der allgemeinen Stimmung hier war es doch recht munter.
Eine Weile saßen sie dort und mit der
Zeit wurde es stiller. Die Stimmen von dem Tisch mit den Bauern wechselten
von munterem Gerede in leises tuscheln. Ab und zu drang ein Kichern an
Shades Ohr. Er wagte einen kurzen Blick über die Schulter und bemerkte,
dass die Bauern näher zusammen gerückt waren und manche ständig
zu den zwei Gestalten rüber sahen, die an dem anderen Tisch saßen.
Als würden sie über sie lästern...
"Hey, Mönch," drang es plötzlich
zu Shade hinüber. Er sah noch einmal über die Schulter. Der Bauer
schien einen der Gestalten zu meinen.
"Wie geht es dir denn heute, Mönch?"
Wieder war ein Kichern zu vernehmen.
"Diese Narren."
Die Stimme kam von rechts. Shade wandte sich
wieder dem Wirt zu.
"Was meint ihr?"
"Sie suchen ständig streit mit der Gilde
der Druiden."
"Die Gilde der Druiden?"
Der Wirt machte eine ernste Miene.
"Ja. Sie leben schon lange in einer Festung
hoch in den Bergen nördlich von hier. Nie gab es Streit oder ähnliches
mit ihnen. Aber seit diese Sache mit der Dämonenbeschwörung war,
sind sie in Verruf gekommen."
Er sprach sehr leise, als wollte er nicht,
dass jemand ihn hörte. Mit einer kurzen Pause, die der Wirt nutzte,
um vorsichtig zu dem Tisch rüber zu schielen, unterbrach er seine
Geschichte. Dann fuhr er wieder fort.
"Es war ein komisches Wesen. Niemand hat es
wirklich gesehen, aber es muss sehr stark gewesen sein. Ein Bauernhof hier
in der Nähe wurde niedergebrannt. Es gab einen Überlebenden,
doch der berichtete nicht viel."
"Stand er unter Schock?"
"Nein"
Wieder eine kurze Pause.
"Als man ihn fand, da hatte er keine Zunge
mehr. Man sagt, der Dämon hätte sie mit sich genommen."
Rio verzog das Gesicht bei diesen Worten...
"Verstehe. Und warum werden nun die Druiden
verdächtigt?"
"Ganz einfach. Sie können beschwören..."
Der Abend verlief ruhig. Die Druiden schienen
keine Menschen zu sein, die sich leicht provozieren ließen, oder
dazu neigten, überstürzt Gewalt anzuwenden. Das war auch gut
so, denn gegen diese Bauern hätten sie vermutlich kaum eine Chance
gehabt, es sei denn, sie hätten ein paar spontane Beschwörungen
parat gehabt...
Der Wirt war sehr zuvorkommend gewesen. Ein
netter Mann, dachte sich Shade. Er hatte ihnen zwei Zimmer zum Preis von
einem überlassen, da Rio unbedingt ihr eigenes haben wollte.
"Kein Problem", hatte er gesagt. Und so waren
sie nun in zwei Zimmern, die allerdings durch eine Tür, sollte mal
etwas passieren, miteinander verbunden waren.
Shade lag auf seinem Bett. Die Sache mit dem
Dämon ließ ihm keine Ruhe. Welch ein Ungeheuer konnte das sein,
das einen Bauernhof, anscheinend aus keinem besonderen Grund, einfach so
abbrannte und den Leuten die Zunge raus schnitt.
Was solls, dachte er sich und versuchte einzuschlafen
und nach kurzer Zeit gelang es auch.
Es war mitten in der Nacht, als Shade plötzlich
wach wurde. Draußen war es finster und es hatte wieder angefangen
zu regnen. Dicke Tropfen prallten gegen das Fenster. Die Kerze in dem Glas
auf dem Nachttisch war immer noch nicht abgebrannt. Aber sie war schon
sehr schwach und vermochte kaum noch das ganze Zimmer zu erleuchten. Doch
sie hüllte die Umgebung in ein warmes, angenehmes, rötlich schimmerndes
Licht.
Das Geräusch, welches Shade aufgeweckt
hatte, war ein dumpfes, irgendwie zaghaftes Klopfen an der Tür. Shade
stand auf und zog sich seine Hose an. Mit einem leichten Gähnen machte
er sich auf den Weg. Er öffnete die schwere Eichenholztür einen
Spalt und sah auf den Gang hinaus.
Das Licht im Gang war nicht viel stärker
als das im Zimmer. Nur unmittelbar vor der Tür zu Shades Gemach war
es heller. Dort stand eine junge Frau. Sie hatte sich einen schweren Ledermantel
umgeworfen, der sie unter seinem Gewicht zu erdrücken schien. Darunter
war noch das weiße Schlafgewand zu erkennen. Sie schien nicht gerade
eine längere Reise zu planen.
"Was ist denn?"
Shade versuchte freundlich zu wirken gegenüber
dieser jungen und doch recht hübschen Dame. Aber so richtig schien
ihm das nicht zu gelingen. Das zarte und etwas blasse Gesicht zwischen
den schwarzen, schulterlangen Locken strahlte ein hohes Maß an Schüchternheit
und auch etwas Angst aus.
"Es tut mir leid, wenn ich euch geweckt habe,
werter Herr..."
Ja das hat sie, dachte sich Shade. Doch jetzt,
wo er wieder etwas wacher war und sich an das Licht der Kerzen gewöhnt
hatte, erkannte er erst richtig den Ausdruck dieses Gesichtes.
Einem so hübschen und scheinbar unschuldigem
Wesen konnte selbst einer wie er nicht böse sein. Er zwang sich selbst,
so freundlich und einfühlsam wie nur irgendwie möglich zu wirken.
"Ist schon gut. Worum geht es denn?"
"Also..." fing das Mädchen an. "Wir,
also ich und meine Freunde, haben da hinten, am Ende des Ganges ein Zimmer
zusammen."
Sie deute kurz auf eine geöffnete Tür,
weiter hinten den Flur herunter. Dann fuhr sie fort:
"Wir wollten schlafen, aber da hat uns plötzlich
was davon abgehalten. Jemand ist am Fenster vorbei gegangen. Wir haben
seinen Schatten bemerkt. Aber als wir raus sahen, um zu sehen, wer da ist,
war keiner mehr da."
Sie sah mit großen ängstigen Augen
in Shades Gesicht.
"Der Wirt war es nicht. Den haben wir auch
schon wach gemacht. Und die Mönche haben auch was bemerkt. Wir befürchten,
dass es die Räuber sein könnten."
Sie blickte nach rechts und links den Gang
runter. Dann kam sie einen Schritt näher.
"Ihr scheint ein Krieger zu sein. Ein recht
starker sogar. Ich bitte euch, seht euch draußen um. Mein Bruder
und zwei seiner Freunde sind auch schon raus gegangen, aber sie sind noch
nicht wieder zurück..."
Das Mädchen hatte sichtlich Angst. Shade
dachte kurz nach. Ehrensache. Schließlich war es ja auch in seinem
Interesse, dass er sich um seine eigene, Rios, und die Sicherheit des Wirtes
kümmerte. Das war das mindeste, was er für den netten Mann tun
konnte.
"Warte kurz!"
Shade ging ins Zimmer zurück.
Das Mädchen hielt die Tür auf. Sie
schien sich wirklich zu fürchten. Es sah aus, als wollte sie mit ins
Zimmer, um nicht auf dem Flur alleine zu sein. So weit wie die Tür
es zuließ drängte sie sich über die Schwelle und drückte
sich an die Tür. Als die Tür wieder ganz geöffnet wurde,
hätte sie fast das Gleichgewicht verloren. Erschrocken blickte sie
zu Shade auf.
Er hatte sein Schwert in der einen Hand und
machte mit der anderen eine Geste, die das Mädchen aufforderte voran
zu gehen. Sie gingen den Flur entlang, um die Ecke am Ende und dann die
Stufen in den Eingangsbereich runter. Ein anderes, blondes Mädchen
saß dort an der Tür und sah durch einen Spalt heraus in die
Dunkelheit.
"Sie macht sich sicher schon Sorgen!"
Shade war in Gedanken gerade ganz woanders
gewesen. In seinem schönen warmen Bett. Die Bemerkung des Mädchens
neben ihm hatte er erst gar nicht wahrgenommen.
"Was?"
"Die Blonde da. An der Tür. Ihr Name
ist Hilda. Ihr Verlobter ist ein Freund meines Bruders. Auch er ist gerade
hinausgegangen..."
"Verstehe!"
Das schwarzhaarige Mädchen lief rüber
zu Hilda und sprach sie an. Shade wusste nicht genau, was er tun sollte.
Er ging einfach auf die Tür zu um raus zu sehen, doch in dem Moment
blieb er stehen. Im Augenwinkel hatte er zwei Gestalten gesehen. Er blickte
in die Richtung und sah die zwei Mönche im Halbdunkel an einem massiven
Holzpfeiler lehnen. Sie unterhielten sich leise und als sie bemerkten,
dass sie beobachtet wurden, hielten sie ein und sahen zu Shade rüber.
Er nickte ihnen nur kurz zur Begrüßung zu und sie nickten zurück.
Das Mädchen kam zurück und griff
nach Shades freier Hand.
"Kommt. Es eilt!"
Sie erreichten die Tür. Hilda stand dort.
"Faranim" rief sie immer wieder und lauschte
ab und zu, ob sie eine Antwort bekam.
"Hört doch!" sagte das andere Mädchen
zu Shade. Er trat näher an die Tür und lauschte in die Dunkelheit
hinaus. Zwischen den Geräuschen der aufprallenden Regentropfen und
des Windes, der leise und kaum vernehmbar um die Bäume wehte, hörte
er von Zeit zu Zeit ein leichtes sehr schwaches Stöhnen heraus. Er
konnte nicht definieren, von wo es kam oder was der Grund dafür war.
Aber normal war es nicht.
"Ich werd mal nachsehen!" sagte er zu den
beiden Mädchen, die ihn mit hoffnungsvollen Blicken ansahen, öffnete
die Tür etwas und ging heraus.
Die Stufen waren schnell genommen. Shade ging
ein paar Schritte, dann sah er sich um.
Ein paar Bäume standen rechts vom Haus.
Das konnte er in der Dunkelheit noch erkennen. Als er seinen Blick nach
links wandte, dachte er dort so was wie Felsen zu erkennen, zumindest sah
es im schwachen Mondlicht so aus. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass
er etwas übersehen hatte. Ein wichtiges Detail hatte er vergessen...
Er sah in den Himmel auf und da wurde ihm klar, was er vergessen hatte.
Den Regen. Er prasselte in dicken Tropfen aus den Wolken und das nicht
zu knapp. Außerdem war es nicht gerade warm... Im Gegenteil. Es war
sogar sehr kalt draußen und in Shade kam plötzlich der Gedanke
auf, dass er sich vielleicht doch besser mehr hätte anziehen sollen,
als nur eine Hose und seine Stiefel.
Auf ein mal riss ihn dieses Geräusch
aus seinen Gedanken. Dieses Stöhnen.
"Hallo?"
Shade ging ein Stück. Er fror etwas.
Das kalte Wasser lief aus den Haaren über die Stirn und das Gesicht
am Hals herunter und über den nackten, muskulösen Oberkörper
des Kriegers.
Er rief noch mal.
"Hallo?"
Wieder dieses Stöhnen. Shade ging weiter.
Langsam und vorsichtig. Das Geräusch kam von den Felsen auf der linken
Seite des Hauses. Das Mondlicht gab nicht viel von der Umgebung preis.
Doch Shade war sich sicher, dort einen Menschen
liegen zu sehen. Ja natürlich. Als er näher kam konnte er die
Umrisse eines Menschen erkennen, der auf dem Boden kauerte. Er schien sich
nicht zu bewegen. Gab nur ständig dieses Stöhnen von sich.
Shade ging näher ran. Seine Stiefel hinterließen
tiefe Spuren im aufgeweichten Boden. Es war ein Mann. Recht jung. Wohl
einer der Bauern die raus gegangen waren, dachte sich Shade. Doch wieso
lag er hier?
Er kniete sich neben den Jungen. Er schien
keine großen Verletzungen zu haben. Aber er lag auf dem bauch.
"Hey. Alles in Ordnung?"
Der Kopf drehte sich etwas und sah Shade an.
Es schien so, als wollte er sich aufrichten. Doch war er sehr schwach.
Shade half ihm sich aufzurichten.
"Was ist denn passiert?"
Keine Antwort. Nur wieder dieses unerträglich
klägliche Stöhnen.
"Hey!"
Ein schrei von der Seite ließ Shade
herumwirbeln. Fast hätte er vor Schreck den Jungen wieder in den Matsch
fallen lassen.
Ein weiterer Junge stand da. Durchnässt
und frierend. Er schien äußerst besorgt. "Nareid!"
Er eilte zu den beiden rüber und ließ
sich in den Matsch fallen.
"Was ist mit ihm?"
Shade schüttelte den Kopf.
"Ich weiß es nicht."
Ein Blitz durchzog plötzlich den Himmel.
Gefolgt von einem mächtigen, markerschütternden Donner erhellte
er für Momente die Nacht, um dann wieder in den fast schwarzen Wolken
des Gewitters zu verschwinden. Dieser kurze Moment hatte gereicht.
Im Licht des Blitzes hatte Shade erkannt,
dass der Regen schon längst das Gesicht des Jungen, dessen Name wohl
Nareid war, vom Matsch gesäubert hatte. Das, was im schwachen Mondlicht
noch wie Dreck aussah, entpuppte sich nun als Blut, welches dem Jungen
in Strömen aus dem Mund und dann über das Kinn floss.
"Verdammt!" rief er und riss den Jungen aus
seinen Gedanken, der noch immer erschrocken zum Himmel aufblickte.
Er drehte sich um und sah Shade an. "Was?"
"Wir müssen ihn rein bringen. Schnell!"
Der andere Junge schien noch nicht zu begreifen,
sah sich immer wieder verwirrt und mit Angst in den Augen um, denn sein
erster Gedanke war, dass Shade irgendwo einen Feind erspäht hatte,
den er nicht bemerkte. Als er sich fragend umdrehte, war Shade schon mit
dem Jungen im Arm bis zur Tür des Hauses gelaufen. Und dort, im Licht,
das aus der Tür in die Nacht fiel, sah er nun auch das Blut, das vom
Kinn seines Kameraden lief...
© V.Geist
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bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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