Schattenläufer von V.Geist
Kapitel 2 (1): Düstere Legenden (1)

Drei Tage der Wanderung waren vergangen. Das Gebirge lag schon hinter ihnen. Jetzt war es nicht mehr weit. Shade wusste immer noch nicht, was in der Kutsche war. Bei einer nächtlichen Rast hatte er versucht sich an die Kutsche heran zu pierschen, doch es misslang ihm. Die Wachen waren zu aufmerksam, also gab er es auf, bevor er noch Ärger mit seiner Tat provozierte. 
Hier unten war es wieder einigermaßen warm, nicht so kalt und verschneit wie oben in den Bergen. Trotzdem waren es noch keine besonders sommerlichen Temperaturen.
Die Gruppe der nordischen Reisenden trennte sich an der Brücke ins Westland von ihnen. Sie gingen ihren Weg weiter nach Norden. Shade war sich sehr sicher, dass mit denen etwas nicht stimmte. Erstens war der Anführer der Truppe ihm nicht geheuer und er mochte ihn nicht. Zweitens ist es noch nie vorgekommen, dass die Magiergilde und die Gilde der Krieger im Norden zusammenarbeiteten. Und drittens hätten sie nicht den Weg durch dieses verdammte Gebirge genommen, wenn sie nichts zu verbergen hätten. Es gab genug sichere und befestigte Handelswege in dieser Region. Doch die unterlagen strengsten Kontrollen.
Wie auch immer. Shade sah der Gruppe nach und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sein Blick auf die "Räder" der Kutsche fiel. Diese Kufen werden im Flachland nichts mehr nutzen. Wenn sie nicht bald Räder auftreiben konnten, wäre die Reise für sie sicher gelaufen. 
Dann wandte er sich wieder dem Weg zu. Die mächtige Brücke führte nach Westen über einen breiten Fluss, der die Ebene vom Gebirge trennte. Dahinter ging die Straße etwas Berg ab und führte in die weiten Ebenen des Westreiches.
Endlich, dachte sich Shade. Jetzt ist das schlimmste überstanden.
"Komm schon!" sagte er zu Rio, die neben ihm stand. "Gehen wir!"

Sie überquerten die Brücke und gingen nebeneinander die Strasse entlang. Hier lag kein Schnee mehr, aber trotzdem war es kalt. Sie hatten wirklich eine schlechte Jahreszeit erwischt, um so weit zu reisen. Im Westen brach jetzt die Regenzeit an. Es hatte wohl schon geregnet hier unten, denn die Strasse war schon matschig und tiefe Spuren von Wagenrädern zeichneten sich in ihr ab. Es war früh am Morgen. Die große Kapuze von Shades Kutte verdeckte zum Großteil sein Gesicht. Rio sah ihn an. Er wirkte so düster. Und irgendwie in Gedanken so unendlich weit weg. Er war schon immer so gewesen. Das lag wohl in seiner Natur. Musste von seiner Abstammung kommen, dachte sie sich. So sind die Dunkelelfen halt. Düster und geheimnisvoll. Aber irgendwas stimmte jetzt nicht mit ihm.
Rio erinnerte sich. Als Shade und Kortas sie auf der Durchreise mitnahmen. Ja, das waren noch Zeiten. Sie hatte diese Männer so bewundert. Einfach vor sich hin zu leben. Als Söldner durchs Land streifen. Städte von Dämonen und Ungeheuern befreien, so wie sie es in Valorien getan hatten. Ob sie jemals wieder auf Kortas treffen würden? Sicherlich. Er war ja ein Freund von Shade. Ein sehr guter sogar. Er hatte Rio beigebracht, einen Heilzauber zu wirken. Aber dieser Zauber war sehr schwach. Rio war zu jung und zu unerfahren, um große Zauber anzuwenden, so wie Shade es manchmal tat. Rio fehlte außerdem das gewisse Talent dazu. Aber sie war unglaublich stolz gewesen, als es klappte. Sie hatte Shade sofort eine Wunde geheilt, als sie sich des Zaubers sicher war. Na gut, es war ein Splitter, der einen kleinen Riss in Shades rechte Hand gerissen hatte, als er trockenes Holz aufsammelte für ein Lagerfeuer. Aber es hatte geholfen und er hatte sie dafür gelobt. Auch wenn es mehr ein Scherz war und eine vollkommen unwichtige Wunde, sie war in diesem Moment sehr stolz gewesen.
Das Mädchen sah sich etwas um. Sie war noch nie zuvor im Westreich gewesen. Alle Welt schwärmte von diesem Land, wie schön es hier sei und wie nett die Menschen hier doch alle sein sollten. Es sah genau so aus wie im Osten auch. Ein paar mehr Bäume vielleicht, aber sonst genau so. Und Menschen hatten sie hier noch keine angetroffen, also konnte sie darüber nicht urteilen.
"Du, Shade."
Ein dumpfes "Ja" tönte unter der Kapuze hervor, als hätte sie ihn aus den tiefsten Gedanken gerissen.
"Was werden wir denn machen, wenn wir in Nefarat angekommen sind?"
Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Lange, schwarze Haare und der Rand der Kapuze verdeckten es.
"Ich muss dort etwas erledigen!"
"Ein Auftrag?"
Shade zögerte erst.
"Ja, so was ähnliches."
Rio machte plötzlich ein enttäuschtes Gesicht.
"Oh nein. Du kannst es einfach nicht lassen, oder? Du hast doch in Valorien genug Geld bekommen um aufzuhören. Was hast du denn damit gemacht? Du hast es doch nicht versoffen oder?"
Diese Frage war überflüssig. Rio wusste das. Shade trank kein Alkohol. Nur manchmal, wenn alle zusammen saßen und feierten sah sie ihn mal mit einem Bier in der Hand. Und so viel Geld konnte nicht einmal ein Trunkenbold wie Rowland in so kurzer Zeit versaufen. Wahrscheinlich hatte er das Geld noch. Aber er kämpfte trotzdem weiter. Warum nur?
Shade antwortete nicht. Das hatte Rio auch nicht erwartet. Und so zogen sie weiter.

Gegen Abend erreichten sie ein Wirtshaus. Es war schon dunkel. Der Mond war verdeckt von dichten schwarzen Wolken. Es ließ sich nur erahnen, dass er in dieser Nacht da sein würde. Vom Wirtshaus her drang kein Lärm oder ähnliches. Kein Gesang oder Leute, die sich laut unterhielten, wie es in solchen Gasthäusern üblich war. Die Ställe hinter dem Haus waren geschlossen. Man hatte sie geradezu verbarrikadiert. Das alles kam Shade sehr merkwürdig vor. Als sie sich dem Gebäude näherten, erkannten die beiden einen leichten Schein von Licht, der durch die Fenster des alten Hauses drang. Rio meldete sich leise zu Wort.
"Sollen wir da übernachten? Sieht nicht aus, als wenn da drin viel los wäre."
Shade sah zu dem Gebäude hinüber.
"Nun ja. Hauptsache, sie haben ein Zimmer frei."
Die zwei verließen die Hauptstraße und gingen auf das Haus zu. Rio wurde immer aufgeregter, je näher sie dem Gebäude kamen.
"Hey, Shade. Weißt du noch in dem Wirtshaus in Arikia? Die fiesen Typen dort?"
Shade erwiderte nichts. Aber das war auch nicht nötig. Das Mädchen sprach einfach weiter.
"Die Ärger machen wollten. Aber da hatten sie sich verschätzt. Den haben wir es ganz schön gezeigt was?"
In einer kumpelhaften Geste stieß sie Shade mit dem Ellenbogen gegen den Oberschenkel und blickte mit übertrieben grimmigem Grinsen zu ihrem Gefährten auf, der einfach nüchtern weiter gerade aus lief.
"Naja, ihr habt es denen gezeigt. Ich habe zugesehen und aufgepasst, dass es sich nicht zu sehr zuspitzte."
Sie hob den rechten Zeigefinger, als wollte sie jemanden tadeln und legte einen äußerst arroganten Gesichtsausdruck auf.
"Wäret ihr zu sehr in Schwierigkeiten geraten, wäre ich natürlich sofort hinter der Theke hervorgekommen und hätte euch geholfen. So schnell schüchtert man eine Kämpfernatur wie ich es bin ja nicht ein."
Ein kurzes, laut platschendes Geräusch unterbrach ihre Geschichte. Matsch und Dreck spritzten empor. Shade blieb stehen. Er verzog keine Miene, als hätte er fest mit so etwas gerechnet. Er sah ruhig den Bolzen an, der etwa einen Schritt vor ihm im Boden steckte. Dann hörte er ein knackendes Geräusch und wandte seinen Blick der Tür des Hauses zu. Sie war einen Spalt geöffnet. Ein Mann stand im Schatten dahinter, der gerade dabei war, hektisch und mit ungeübten Handgriffen seine Armbrust nachzuladen. Er schien das nicht oft zu tun, denn so lange brauchte kein halbwegs guter Schützer dafür. Shade hätte in der Zeit bequem los laufen können, um den Angreifer mit dem Schwert nieder zu strecken, hätte er das gewollt. Statt dessen stand er einfach nur da und sah kühl zu dem Mann in der Tür rauf. Die Kapuze bedeckte noch immer den Großteil seines Gesichtes.
Der Mann hatte endlich nachgeladen und legte wieder neu an. Eine raue und gespielt unfreundliche Stimme drang an Shades Ohr.
"Wer seid ihr, und was wollt ihr hier, Fremde?"
Diese Stimme war wirklich aufgesetzt. Das merkte man sofort. Sie war zwar rau und tief, aber sie gehörte einem Mann, der nicht wirklich etwas Böses zu tun im Stande war. Man hörte heraus, dass sie verzweifelt manipuliert wurde, nur um dies zu verdecken.
"Wir sind nur zwei Reisende, die ein Lager für die Nacht suchen, werter Herr."
Shade bemühte sich so freundlich wie nur irgendwie möglich zu klingen. Die Tür öffnete sich etwas und der Mann trat einen Schritt hervor. Er musterte die Figuren auf dem Weg vor seinem Haus genau. Nach kurzem Zögern kam dann seine Antwort.
"Also gut. Ihr seht nicht aus wie die. Ich will euch einmal vertrauen und euch herein lassen, aber kommt nicht auf dumme Gedanken."
Die Armbrust sank ein Stück und der Mann öffnete die Tür ganz.
Shade sah an sich herunter. Rio kauerte hinter ihm und klammerte sich, immer noch starr vor Angst, an sein rechtes Bein. Sie hatte sich sofort dorthin geflüchtet, als der Bolzen vor ihnen in die Erde rammte und ihr einen ungeheuren Schrecken eingejagt hatte.
Shade konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen.
"Na", sagte er ruhig und mit einem gewissen Anteil an Spott in der Stimme, "willst du deine Geschichte nicht weiter erzählen?"

Sie saßen an der Bar des Gasthofs. Karniak, der Gastgeber, hatte sie eingeladen etwas zu trinken. Ein Getränk pro Person ging auf Kosten des Hauses. Der Wirt zeigte sich äußerst freundlich und zuvorkommend, im Gegensatz zu der Begrüßung. Es war nicht viel Betrieb. Ein paar Leute saßen an einem Tisch in einer Ecke des Raumes, nahe am Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte. Dieses Feuer hüllte den Raum in eine gemütliche und beruhigende Atmosphäre. An der Wand auf der anderen Seite stand ein etwas größerer Tisch. Er war zum Teil von Schatten verdeckt, denn das Feuer war längst nicht groß genug, um den ganzen Raum zu erhellen. An diesem Tisch saßen zwei etwas finster wirkende Gestalten. Sie unterhielten sich ruhig, teilweise schwiegen sie sich einfach an und löffelten Suppe. Shade konnte ihre Gesichter nicht ganz erkennen, es schienen aber Menschen zu sein.
Der Wirt erzählte ihnen von Räubern und Rumtreibern, die in der Nacht die Gegend unsicher machten. Jemand soll gesehen haben, wie diese Kerle Dämonen beschwören.
"Man sagt," holte der Wirt aus, "sie seien mit dem Teufel persönlich im Bunde."
Shade hatte sich noch ein wenig umgesehen. Die Leute an dem Tisch beim Kamin schienen eine recht lustige Gesellschaft zu sein. Ein paar junge Knaben und hin und wieder ein Mädchen dabei. Wahrscheinlich Bauern. Sie lachten und unterhielten sich laut. Nicht so laut, wie es normalerweise üblich war in solchen Wirtshäusern, aber im Vergleich zu der allgemeinen Stimmung hier war es doch recht munter.
Eine Weile saßen sie dort und mit der Zeit wurde es stiller. Die Stimmen von dem Tisch mit den Bauern wechselten von munterem Gerede in leises tuscheln. Ab und zu drang ein Kichern an Shades Ohr. Er wagte einen kurzen Blick über die Schulter und bemerkte, dass die Bauern näher zusammen gerückt waren und manche ständig zu den zwei Gestalten rüber sahen, die an dem anderen Tisch saßen. Als würden sie über sie lästern...
"Hey, Mönch," drang es plötzlich zu Shade hinüber. Er sah noch einmal über die Schulter. Der Bauer schien einen der Gestalten zu meinen.
"Wie geht es dir denn heute, Mönch?"
Wieder war ein Kichern zu vernehmen.
"Diese Narren."
Die Stimme kam von rechts. Shade wandte sich wieder dem Wirt zu.
"Was meint ihr?"
"Sie suchen ständig streit mit der Gilde der Druiden."
"Die Gilde der Druiden?"
Der Wirt machte eine ernste Miene.
"Ja. Sie leben schon lange in einer Festung hoch in den Bergen nördlich von hier. Nie gab es Streit oder ähnliches mit ihnen. Aber seit diese Sache mit der Dämonenbeschwörung war, sind sie in Verruf gekommen."
Er sprach sehr leise, als wollte er nicht, dass jemand ihn hörte. Mit einer kurzen Pause, die der Wirt nutzte, um vorsichtig zu dem Tisch rüber zu schielen, unterbrach er seine Geschichte. Dann fuhr er wieder fort.
"Es war ein komisches Wesen. Niemand hat es wirklich gesehen, aber es muss sehr stark gewesen sein. Ein Bauernhof hier in der Nähe wurde niedergebrannt. Es gab einen Überlebenden, doch der berichtete nicht viel."
"Stand er unter Schock?"
"Nein"
Wieder eine kurze Pause.
"Als man ihn fand, da hatte er keine Zunge mehr. Man sagt, der Dämon hätte sie mit sich genommen."
Rio verzog das Gesicht bei diesen Worten...
"Verstehe. Und warum werden nun die Druiden verdächtigt?"
"Ganz einfach. Sie können beschwören..."

Der Abend verlief ruhig. Die Druiden schienen keine Menschen zu sein, die sich leicht provozieren ließen, oder dazu neigten, überstürzt Gewalt anzuwenden. Das war auch gut so, denn gegen diese Bauern hätten sie vermutlich kaum eine Chance gehabt, es sei denn, sie hätten ein paar spontane Beschwörungen parat gehabt...
Der Wirt war sehr zuvorkommend gewesen. Ein netter Mann, dachte sich Shade. Er hatte ihnen zwei Zimmer zum Preis von einem überlassen, da Rio unbedingt ihr eigenes haben wollte.
"Kein Problem", hatte er gesagt. Und so waren sie nun in zwei Zimmern, die allerdings durch eine Tür, sollte mal etwas passieren, miteinander verbunden waren.
Shade lag auf seinem Bett. Die Sache mit dem Dämon ließ ihm keine Ruhe. Welch ein Ungeheuer konnte das sein, das einen Bauernhof, anscheinend aus keinem besonderen Grund, einfach so abbrannte und den Leuten die Zunge raus schnitt.
Was solls, dachte er sich und versuchte einzuschlafen und nach kurzer Zeit gelang es auch.

Es war mitten in der Nacht, als Shade plötzlich wach wurde. Draußen war es finster und es hatte wieder angefangen zu regnen. Dicke Tropfen prallten gegen das Fenster. Die Kerze in dem Glas auf dem Nachttisch war immer noch nicht abgebrannt. Aber sie war schon sehr schwach und vermochte kaum noch das ganze Zimmer zu erleuchten. Doch sie hüllte die Umgebung in ein warmes, angenehmes, rötlich schimmerndes Licht.
Das Geräusch, welches Shade aufgeweckt hatte, war ein dumpfes, irgendwie zaghaftes Klopfen an der Tür. Shade stand auf und zog sich seine Hose an. Mit einem leichten Gähnen machte er sich auf den Weg. Er öffnete die schwere Eichenholztür einen Spalt und sah auf den Gang hinaus.
Das Licht im Gang war nicht viel stärker als das im Zimmer. Nur unmittelbar vor der Tür zu Shades Gemach war es heller. Dort stand eine junge Frau. Sie hatte sich einen schweren Ledermantel umgeworfen, der sie unter seinem Gewicht zu erdrücken schien. Darunter war noch das weiße Schlafgewand zu erkennen. Sie schien nicht gerade eine längere Reise zu planen.
"Was ist denn?"
Shade versuchte freundlich zu wirken gegenüber dieser jungen und doch recht hübschen Dame. Aber so richtig schien ihm das nicht zu gelingen. Das zarte und etwas blasse Gesicht zwischen den schwarzen, schulterlangen Locken strahlte ein hohes Maß an Schüchternheit und auch etwas Angst aus.
"Es tut mir leid, wenn ich euch geweckt habe, werter Herr..."
Ja das hat sie, dachte sich Shade. Doch jetzt, wo er wieder etwas wacher war und sich an das Licht der Kerzen gewöhnt hatte, erkannte er erst richtig den Ausdruck dieses Gesichtes.
Einem so hübschen und scheinbar unschuldigem Wesen konnte selbst einer wie er nicht böse sein. Er zwang sich selbst, so freundlich und einfühlsam wie nur irgendwie möglich zu wirken.
"Ist schon gut. Worum geht es denn?"
"Also..." fing das Mädchen an. "Wir, also ich und meine Freunde, haben da hinten, am Ende des Ganges ein Zimmer zusammen."
Sie deute kurz auf eine geöffnete Tür, weiter hinten den Flur herunter. Dann fuhr sie fort:
"Wir wollten schlafen, aber da hat uns plötzlich was davon abgehalten. Jemand ist am Fenster vorbei gegangen. Wir haben seinen Schatten bemerkt. Aber als wir raus sahen, um zu sehen, wer da ist, war keiner mehr da."
Sie sah mit großen ängstigen Augen in Shades Gesicht.
"Der Wirt war es nicht. Den haben wir auch schon wach gemacht. Und die Mönche haben auch was bemerkt. Wir befürchten, dass es die Räuber sein könnten."
Sie blickte nach rechts und links den Gang runter. Dann kam sie einen Schritt näher.
"Ihr scheint ein Krieger zu sein. Ein recht starker sogar. Ich bitte euch, seht euch draußen um. Mein Bruder und zwei seiner Freunde sind auch schon raus gegangen, aber sie sind noch nicht wieder zurück..."
Das Mädchen hatte sichtlich Angst. Shade dachte kurz nach. Ehrensache. Schließlich war es ja auch in seinem Interesse, dass er sich um seine eigene, Rios, und die Sicherheit des Wirtes kümmerte. Das war das mindeste, was er für den netten Mann tun konnte.
"Warte kurz!"
Shade ging ins Zimmer zurück.
Das Mädchen hielt die Tür auf. Sie schien sich wirklich zu fürchten. Es sah aus, als wollte sie mit ins Zimmer, um nicht auf dem Flur alleine zu sein. So weit wie die Tür es zuließ drängte sie sich über die Schwelle und drückte sich an die Tür. Als die Tür wieder ganz geöffnet wurde, hätte sie fast das Gleichgewicht verloren. Erschrocken blickte sie zu Shade auf.
Er hatte sein Schwert in der einen Hand und machte mit der anderen eine Geste, die das Mädchen aufforderte voran zu gehen. Sie gingen den Flur entlang, um die Ecke am Ende und dann die Stufen in den Eingangsbereich runter. Ein anderes, blondes Mädchen saß dort an der Tür und sah durch einen Spalt heraus in die Dunkelheit.
"Sie macht sich sicher schon Sorgen!"
Shade war in Gedanken gerade ganz woanders gewesen. In seinem schönen warmen Bett. Die Bemerkung des Mädchens neben ihm hatte er erst gar nicht wahrgenommen.
"Was?"
"Die Blonde da. An der Tür. Ihr Name ist Hilda. Ihr Verlobter ist ein Freund meines Bruders. Auch er ist gerade hinausgegangen..."
"Verstehe!"
Das schwarzhaarige Mädchen lief rüber zu Hilda und sprach sie an. Shade wusste nicht genau, was er tun sollte. Er ging einfach auf die Tür zu um raus zu sehen, doch in dem Moment blieb er stehen. Im Augenwinkel hatte er zwei Gestalten gesehen. Er blickte in die Richtung und sah die zwei Mönche im Halbdunkel an einem massiven Holzpfeiler lehnen. Sie unterhielten sich leise und als sie bemerkten, dass sie beobachtet wurden, hielten sie ein und sahen zu Shade rüber. Er nickte ihnen nur kurz zur Begrüßung zu und sie nickten zurück.
Das Mädchen kam zurück und griff nach Shades freier Hand.
"Kommt. Es eilt!"

Sie erreichten die Tür. Hilda stand dort.
"Faranim" rief sie immer wieder und lauschte ab und zu, ob sie eine Antwort bekam.
"Hört doch!" sagte das andere Mädchen zu Shade. Er trat näher an die Tür und lauschte in die Dunkelheit hinaus. Zwischen den Geräuschen der aufprallenden Regentropfen und des Windes, der leise und kaum vernehmbar um die Bäume wehte, hörte er von Zeit zu Zeit ein leichtes sehr schwaches Stöhnen heraus. Er konnte nicht definieren, von wo es kam oder was der Grund dafür war. Aber normal war es nicht.
"Ich werd mal nachsehen!" sagte er zu den beiden Mädchen, die ihn mit hoffnungsvollen Blicken ansahen, öffnete die Tür etwas und ging heraus.

Die Stufen waren schnell genommen. Shade ging ein paar Schritte, dann sah er sich um.
Ein paar Bäume standen rechts vom Haus. Das konnte er in der Dunkelheit noch erkennen. Als er seinen Blick nach links wandte, dachte er dort so was wie Felsen zu erkennen, zumindest sah es im schwachen Mondlicht so aus. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er etwas übersehen hatte. Ein wichtiges Detail hatte er vergessen... Er sah in den Himmel auf und da wurde ihm klar, was er vergessen hatte. Den Regen. Er prasselte in dicken Tropfen aus den Wolken und das nicht zu knapp. Außerdem war es nicht gerade warm... Im Gegenteil. Es war sogar sehr kalt draußen und in Shade kam plötzlich der Gedanke auf, dass er sich vielleicht doch besser mehr hätte anziehen sollen, als nur eine Hose und seine Stiefel. 
Auf ein mal riss ihn dieses Geräusch aus seinen Gedanken. Dieses Stöhnen.
"Hallo?"
Shade ging ein Stück. Er fror etwas. Das kalte Wasser lief aus den Haaren über die Stirn und das Gesicht am Hals herunter und über den nackten, muskulösen Oberkörper des Kriegers.
Er rief noch mal.
"Hallo?"
Wieder dieses Stöhnen. Shade ging weiter. Langsam und vorsichtig. Das Geräusch kam von den Felsen auf der linken Seite des Hauses. Das Mondlicht gab nicht viel von der Umgebung preis.
Doch Shade war sich sicher, dort einen Menschen liegen zu sehen. Ja natürlich. Als er näher kam konnte er die Umrisse eines Menschen erkennen, der auf dem Boden kauerte. Er schien sich nicht zu bewegen. Gab nur ständig dieses Stöhnen von sich.
Shade ging näher ran. Seine Stiefel hinterließen tiefe Spuren im aufgeweichten Boden. Es war ein Mann. Recht jung. Wohl einer der Bauern die raus gegangen waren, dachte sich Shade. Doch wieso lag er hier?
Er kniete sich neben den Jungen. Er schien keine großen Verletzungen zu haben. Aber er lag auf dem bauch. 
"Hey. Alles in Ordnung?"
Der Kopf drehte sich etwas und sah Shade an. Es schien so, als wollte er sich aufrichten. Doch war er sehr schwach. Shade half ihm sich aufzurichten.
"Was ist denn passiert?"
Keine Antwort. Nur wieder dieses unerträglich klägliche Stöhnen.
"Hey!"
Ein schrei von der Seite ließ Shade herumwirbeln. Fast hätte er vor Schreck den Jungen wieder in den Matsch fallen lassen.
Ein weiterer Junge stand da. Durchnässt und frierend. Er schien äußerst besorgt. "Nareid!"
Er eilte zu den beiden rüber und ließ sich in den Matsch fallen.
"Was ist mit ihm?"
Shade schüttelte den Kopf.
"Ich weiß es nicht."
Ein Blitz durchzog plötzlich den Himmel. Gefolgt von einem mächtigen, markerschütternden Donner erhellte er für Momente die Nacht, um dann wieder in den fast schwarzen Wolken des Gewitters zu verschwinden. Dieser kurze Moment hatte gereicht.
Im Licht des Blitzes hatte Shade erkannt, dass der Regen schon längst das Gesicht des Jungen, dessen Name wohl Nareid war, vom Matsch gesäubert hatte. Das, was im schwachen Mondlicht noch wie Dreck aussah, entpuppte sich nun als Blut, welches dem Jungen in Strömen aus dem Mund und dann über das Kinn floss.
"Verdammt!" rief er und riss den Jungen aus seinen Gedanken, der noch immer erschrocken zum Himmel aufblickte.
Er drehte sich um und sah Shade an. "Was?"
"Wir müssen ihn rein bringen. Schnell!"
Der andere Junge schien noch nicht zu begreifen, sah sich immer wieder verwirrt und mit Angst in den Augen um, denn sein erster Gedanke war, dass Shade irgendwo einen Feind erspäht hatte, den er nicht bemerkte. Als er sich fragend umdrehte, war Shade schon mit dem Jungen im Arm bis zur Tür des Hauses gelaufen. Und dort, im Licht, das aus der Tür in die Nacht fiel, sah er nun auch das Blut, das vom Kinn seines Kameraden lief...
 

© V.Geist
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Und schon geht es weiter zum 2. Teil des 2. Kapitels...

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