Schattenläufer von V.Geist
Kapitel 4: Nefarat (1)

Die Sonne ging auf und erhellte das Tal, in dem die Spuren der letzten Nacht deutlich zu sehen waren. Gut, dass sie schon weit genug weg gekommen war. Niemand würde sie mit diesem ... Massaker in Verbindung bringen. Hoffte sie zumindest.
Nur zwei kleine Risse waren zu sehen an ihrer Rüstung. Der eine im Leder vor dem Bauch, und ein zweiter im Leder auf dem Rücken. Einer der Kämpfer hatte es doch tatsächlich geschafft, sie auf die Klinge zu nehmen. Er hatte sie mit einem Stoß durchbohrt, doch weiter hatte er es nicht geschafft, denn mit dem schlichten, ungesegnetem Stahl der Menschen war diese Wunde leicht zu verkraften. Sie war schon längst wieder verheilt und die Schlacht war geschlagen. Kazahni hatte gewonnen, doch es erfreute sie nicht mehr so wie einst.
Etwas traurig sah sie von ihrem Lager aus ins Tal, in dem sie letzte Nacht noch wie ein Berserker Blut vergossen hatte. War es wirklich richtig? Sich vom Pfad des Schicksals abzuwenden und vor seiner Bestimmung zu fliehen? Sie wollte es nicht. Zum ersten Mal seit hunderten von Jahren wollte sie es nicht. Dieser Kampf in der letzten Nacht... Es war nicht nötig gewesen, dass diese Menschen sterben mussten. Das war es nie, aber es kümmerte sie sonst auch nicht.
Langsam erhob sie sich von dem Felsen, auf dem sie saß, und ging den Weg am Rande des Tales weiter. Hinter ihr fielen die Sonnenstrahlen des Morgens auf das Feld in dem kleinen Tal, auf dem die Kadaver der Dämonen und Untoten sich schon zu zersetzen begannen. Die Menschen, die dort lagen, hatten diesen Tod nicht verdient. Sie wollten sich nur verteidigen. Sie waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Dem Ort, an dem Kazahni des Nachts rastete und die Dämonen anzog, wie Licht es mit Motten tat.
Es war etwas in ihr. Sie konnte es spüren, auch wenn es noch tief verborgen in den dunkelsten Ecken ihres Bewusstseins schlummerte. Mit dem Willen, die Heere zu verlassen, schon allein mit dieser Idee, kam eine Stimme in ihren Kopf. Eine leise Stimme, fremd und doch vertraut, von weit her, ganz leise. Sie versprach Antworten und wies ihr den Weg. Die Neugierde zog sie schließlich voran.

Die Straße wurde wieder breiter und nachdem Kazahni schon eine ganze Weile gelaufen war, passierte sie eine Kreuzung. Der lange, graue Umhang bedeckte den Großteil ihres Körpers und verhüllte ihre Gestalt. Nur ihr Kopf guckte noch hervor. Die langen, schwarzen Haare waren zu einem dicken Zopf zusammen geknotet. Die toten, leeren Augen blickten starr zu Boden. Der Kies knackte unter jeder ihrer Bewegungen. Ihre Schritte waren klein und sie kam langsam voran, denn sie musste nachdenken, eine ganze Menge nachdenken...
Es dauerte eine Weile, da kam ihr eine Kutsche entgegen. Ein Händler, das sah sie sofort. Ob er halten würde? Aber sie brauchte eigentlich nichts. Höchstens Informationen.
Vorsichtshalber zog sie ihre Kapuze über, die einen Schatten über das Gesicht warf. So konnte niemand sie erkennen.
Die Kutsche hielt tatsächlich. Und das, ohne das Kazahni irgendetwas dazu getan hätte. Sie blieb ebenfalls stehen und als sie ihren Blick hob, beugte sich ein älterer Herr mit nettem Lächeln vom Kutschbock zu ihr runter.
"Guten Morgen. Was macht eine Frau wie sie so ganz verschleiert hier in dieser Gegend?"
Kazahni zögerte, dann fing sie an zu sprechen, machte jedoch keine Bemühungen die Frage des Kutschers zu beantworten.
"Wie weit ist es noch bis Nefarat?"
Trotz der Unfreundlichkeit, die ihm entgegen gebracht wurde, blieb der Mann freundlich.
"Es ist nicht weit. Ihr seid auf dem richtigen Weg. Geht einfach die Straße weiter runter, sie führt direkt zum Haupttor der Stadt. Zu Fuß sind es schon ein paar Stunden, doch heute kommt ihr garantiert noch an."
Kazahni sah in die Richtung, aus der der Mann gekommen war. Ein paar Stunden... fast wäre sie einfach weiter gegangen, doch dann fiel ihr eine Geste ein, die sie bei den Menschen auf ihrer Reise beobachtet hatte.
"Danke..." kam zögernd über ihre Lippen. Damit wandte sie sich ab und ging weiter. Der Mann auf dem Kutschbock sah ihr noch kurz hinterher, dann zuckte er mit den Schultern und fuhr weiter.

Die Straße wollte wirklich nicht enden. Immer weiter führte sie geradeaus. Ein paar Häuser waren hin und wieder am Rand aufgetaucht. Ansonsten nur Felsen, Wälder und ein paar Dörfer weiter weg, von denen sie nur die Dächer gesehen hatte.
Nun führte die Straße mitten durch einen kleinen Wald. Es war sehr dunkel. Die Sonne des Mittags war hell doch drang sie kaum durch das Blattwerk des dichten Waldes, der sie umgab. So lag dieser Teil der Straße im Dunkeln. Die Schatten waren Kazahni vertraut und es war ihr, als könne sie jeden einzelnen beim Namen nennen. Wieso hatte sie das Heer verlassen? Sie war in der Finsternis geboren und seit sie denken konnte hatte sie in ihr gelebt. Der Schritt unter die Sonne war so befremdend gewesen, dass es ihr im ersten Moment Angst gemacht hatte. Doch nun sah alles anders aus. Es war noch immer nicht ihre Welt, doch irgendetwas war ihr nun vertraut geworden. Es war nicht die Tatsache, dass sie die Erfahrung gemacht hatte, dass überall wo Licht ist auch Schatten existiert, nein es war ein Gefühl. Ein Gefühl, als kenne sie dies alles. Alles das, was sie eigentlich nun zum ersten Mal sah, wie Bäume, Menschen oder Tiere, die in Frieden lebten und miteinander spielten. Die Sonne, sie schien nicht mehr wie ein weit entferntes Übel, sondern strahle auf sie herab und im Gegensatz zu allen Erwartungen tat es gut. Sie wärmte, tauchte die Umgebung in Licht und ließ Leben gedeihen.
Leben. Noch etwas, was Kazahni vertraut vorkam. Wenn sie nur wüsste, wieso.
Kazahni... Sie ist es... Kazahni
Wie ein Flüstern kam es an ihr Ohr. Sie hatte damit gerechnet. Es war der Wald, der um sie herum stand. Wind pfiff leise durch die Blätter und zwischen den Stämmen der Bäume hindurch. Die Umgebung schien plötzlich mit einem finsteren Geist erfüllt. Nein, tausende von Geistern. Sie sammelten sich hier um auf die Nacht zu warten, deshalb war dieser Wald so dunkel.
Generälin ... Wo wollt ihr hin? ... nehmt uns mit ... wir werden folgen ...
Die Stimmen der geächteten Seelen wollten nicht verstummen. In der Ferne sah sie schon das Ende dieses Waldes, denn Licht schien in das Dunkel hinein.
"Wer seid ihr?" rief sie in die Finsternis zwischen den Bäumen und Sträuchern hinaus.
Wir sind die Krieger von Nefarat! ... Die Stadtwache ... Du hast uns getötet ... letzte Nacht
Die Stadtwache. Kazahni war wirklich nah dran. Endlich würde sie Antworten bekommen. Antworten auf ihre Fragen, die Fragen nach dem Warum und auch nach dem "Was". Denn das war es, was sie wirklich wissen wollte. Was war sie überhaupt?

Am späten Nachmittag hatte sie es geschafft. Das mächtige Stadttor Nefarats ragte vor ihr in den Himmel und die weit geöffneten Tore luden ein in diese Metropole der Händler und Feilscher. Luden ein zu einem Abenteuer auf den Straßen und in den Gassen der Großstadt anstelle von Sümpfen und düsteren Wäldern, wie Kazahni es gewohnt war.
Die Pferdewagen holperten an ihr vorbei auf das Tor zu oder kamen aus dem Tor heraus. Die unterschiedlichsten Waren aus den weitesten Ländern und Städten wurden in die Stadt gebracht, die der bedeutendste Handelsposten im Westreich war. Sie trat durch den Bogen des Tores und somit in eine neue, ihr fremde Welt. Laut, schrill. In allen bekannten Farben und Formen spielte das Theater des Lebens unaufhaltsam in den Straßen dieser Stadt. Und dies alles bemerkte sie schon jetzt, obwohl sie erst wenige Sekunden hier war. Es war so unglaublich faszinierend.
Kazahni zog ihren Umhang zusammen und verhüllte ihre Gestalt. Erst kam sie sich etwas trostlos und fremd vor in ihrem traurig grauen und schwarzen Gewand zwischen all diesen farbenfrohen und vielfältigen Ständen und Gestalten, doch schnell fiel dieses Gefühl von ihr ab und sie fühlte sich immer wohler hier, denn in dieser Masse von Formen und Kontrasten fiel selbst sie nicht mehr auf. Höchstens ein nackt durch die Straßen laufender Bergorg hätte hier noch Aufsehen erregt, doch das erschien eher unwahrscheinlich.
Sie stand nun auf der Hauptstraße des Südlichen Viertels und sah sich genau um. Wo sie hin musste, wusste sie nicht und sie dachte nicht daran jemanden hier nach Hilfe zu fragen. Was sollte sie denn sagen? Ich suche einen Ort, an den mich mein Gefühl leitet... Wohl kaum.
Etwas weiter die Strasse runter sah sie ein Schild. "Zur gebrochenen Lanze" Ein Gasthaus. Dort würde sie erst einmal kurz bleiben um vielleicht Informationen über diesen Ort zu bekommen. Diese sonderliche Stadt und ihre Einwohner. Vielleicht meldete sich ja irgendwann bei einem Stichwort wieder diese Stimme in ihrem Kopf.

Der Wagen schwankte stark hin und her. Bei jeder Unebenheit der Straße knarrte irgendwo ein Balken und Beutel, die von der Decke an dünnen Ketten herab hingen, schlugen zusammen.
Shade, Rio, Cehren und Leila saßen zusammen im hinteren Teil des großen Planwagens zwischen Kisten, Fässern und übervollen Säcken. Ein Händler aus Lefera hatte die Gruppe auf der Straße zwischen Lorandik und Nefarat aufgegabelt und nun versuchten sie, es sich im gut gefüllten Laderaum so bequem wie möglich zu machen. Shade hatte sich ein paar Säcke mit Mehl zurecht gelegt und schien in den graubraunen Bergen von Stoff zu versinken. Cehren saß im Schneidersitz an  eine große Kiste gelehnt, in der Kleider transportiert wurden. Rio und Leila saßen nah aneinander und schliefen. Sie hatten wenig geredet, seitdem Shade sie aus den Innereien des Dämonen gerettet hatte. Es muss schrecklich für sie gewesen sein. Leila schien die Erlebnisse nur sehr schwer zu verkraften. Bevor sie eingeschlafen war starrte sie nur trostlos und verloren auf den Boden vor ihr und wenn Shade sie angesprochen hatte, erschrak sie jedes Mal, als sei seine Stimme eine Explosion oder eine überraschende Lawine, bevor sie kurz und knapp eine Antwort gab. Nun waren die beiden eingeschlafen und Shade hoffte, dass es ihnen besser gehen würde, wenn sie wieder aufwachten!
Er sah aus dem schmalen Spalt, durch den sie den Planwagen betreten hatten, auf die dahin ziehende Schotterstraße. In Gedanken war er wieder in dieser Höhle, oder besser gesagt, in den Innereien des Dämonen. Er verstand nicht, warum er so schnell aufgegeben hatte. Es war nicht typisch für diese Art von Dämon so schnell aufzugeben. Shade hatte mit so einem Monster schon mal zu tun gehabt. Es war schon 40 Jahre her gewesen in Gwendaroth. Nahe des Tempels, in dem Shades Clan lebte, hatte ein Dämon die Kirche eines Dorfes befallen und versetzte die Anwohner, die dort wohnten, in Angst und Schrecken. Shades Clan konnte diese Entweihung der Kirche, in der Azuratha, der Gott des Krieges und der ehrwürdigen Kämpfer angebetet wurde, nicht dulden! Azuratha war schon immer der Schutzpatron aller Mitglieder des Clans gewesen. Shade konnte die Male nicht zählen, die er vor einem großen Kampf zu ihm gebetet hatte. Es dauerte einen ganzen Tag und vier tote Clanbrüder, um diese Bestie zu vertreiben! Die Erinnerung an damals schmerzte sehr. Shade musste sich ablenken, er wollte nicht weiter darüber nachdenken. Als er sich umsah, fiel sein Blick auf Cehren, der ruhig da saß und ebenfalls in Gedanken versunken schien. Er hatte die Gruppe ohne weiteres begleitet, als sie vom Gasthaus aus ihren Weg nach Nefarat fortsetzten. Dabei lebte er doch in der Festung, aus der auch der Druide stammte und die nicht weit vom Gasthaus weg zu sein schien.
"Cehren", sagte er vorsichtig und wartete eine Reaktion ab. Der Dunkelelf ihm gegenüber hob den Kopf und blickte ihn mit nichts sagenden Augen an.
"Ja?"
"Nun, ich danke dir, dass du mir im Wald den Rücken frei gehalten hast, aber ich frage mich, wieso du dich dazu entschieden hast, uns zu begleiten."
Cehren sah aus dem Spalt zwischen den Planen und Fellen am hinteren Ende des Wagens auf die Straße und nach einem Augenblick gab er Antwort.
"Ich wollte weg von den Druiden. Ich kenne die Welt außerhalb ihrer Festung kaum."
Shade war überrascht. Cehren hatte die ganze Reise über kein Wort gesprochen. Und nie hatte man ihm irgendeine Gefühlsregung angesehen. Nur im Wald, als er an Shades Seite gegen die Untoten gekämpft hatte. Cehren hatte eine unglaublich hasserfüllte Ausstrahlung gehabt.
"Warum", fragte Shade, "hast du nie die Feste verlassen?"
"Sie hielten mich dort fest." antwortete Cehren. "Karkalon, der Meister der Festung, wollte einen Krieger erschaffen. Einen perfekten Krieger. Diesem Experiment sollte ich zum Zwecke dienen."
Es war Shade neu, dass die Gilde der Druiden sich mit Krieg befasste, denn noch nie hatte er von einem Druidenkult gehört, der sich dem Kampf verschrieben hatte. Doch solche Neuigkeiten überraschten ihn immer weniger, denn schließlich hatte er im Gebirge schon gesehen, wie die Kriegergilde und die Magiergilde plötzlich zusammenarbeiteten. Er fragte sich, ob es einen Zusammenhang gab.
"Wie bist du zu den Druiden gekommen?"
"Ein Sklavenhändler verkaufte mich an Karkalon. Ich war noch sehr jung damals und erinnere mich kaum an diese Zeit."
Shade bemerkte nun eine Gefühlsregung bei Cehren. Das ganze Thema schien ihm unangenehm zu werden und so entschloss sich Shade dazu, nicht weiter Fragen zu stellen.
Doch nun fiel ihm etwas auf. Er hatte vorher nicht darauf geachtet und der Kampf mit dem Dämonen hatte zum Grossteil seine Gedanken beherrscht. Doch nun, da er von diesen Gedanken abgelenkt gewesen war, fiel ihm zum ersten Mal auf, welch ein Dunkelelf Cehren war. Seine weißen Haare, die wie angeboren wirkende stolze und aufrechte Haltung. Cehren war zweifelsohne ein Abkömmling der Kaschinen. Jenem Wandervolk der Dunkelelfen, die immer auf der Reise sind und immer weiter forschen, um ihr Wissen über Magie und Zauberei zu vertiefen und zu verbessern. Jenes Wandervolk, deren tote, zerrissene Körper vor dem Wald lagen, in dem der Dämon sich eingenistet hatte. Diese Reise brachte für Shade immer neue Rätsel hervor und er hoffte, sie in Nefarat lösen zu können.

Das Gasthaus war gut gefüllt und an jedem Tisch saßen neue, Kazahni unbekannte befremdend wirkende Gestalten. Hier eine Gruppe von Kriegern, die ihre Breitschwerter, Schilde und Bögen an die Seite des großen Tisches gelehnt hatten, um nun belebte Diskussionen über vergangene Abenteuer zu führen, während sie klobige, bis zum Rand gefüllte Glaskrüge schwenkten, und dort eine Gruppe Mönche, die ihre Krüge auf dem Tisch vor sich anstarrten und nur selten ein leises Wort miteinander sprachen. Kazahni entschied sich dafür, erst einmal ruhig die Situation zu überblicken, denn ihr Instinkt für Gefahr und Bedrohungen schlug hier, in dieser neuen ungewohnten Umgebung Daueralarm. Sie schritt durch einen schmalen Weg zwischen den Tischen an betrunkenen, singenden und sich unterhaltenden Menschen vorbei zu einem kleinen, leeren Tisch in einer etwas dunkleren Ecke des Raumes, wo sie sich schließlich setzte. Zögernd nahm sie ihr Schwert unter dem Gewand hervor und lehnte es an die Seite ihres Tisches, wie sie es bei den Kriegern gesehen hatte. Dabei achtete sie darauf, dass es immer in Reichweite war, denn im Gegensatz zu den meisten Gästen fühlte sie sich nicht sicher und geborgen in diesem Raum, sondern eher bedroht, wie auf einem Schlachtfeld. Sie sah sich einen Moment lang um, doch nichts hier regte in ihr die Stimme zum Sprechen an, die sie an diesen Ort geführt hatte. Plötzlich spürte sie eine Präsenz neben sich. Ein Leben, dessen Aura sie sofort spürte. Instinktiv griff sie nach dem Griff ihres Schwertes, doch gerade rechtzeitig kam sie zur Besinnung und sah neben sich.
Eine zierliche, dennoch aufrechte junge Frau war an den Tisch getreten und blickte freundlich, wenn auch etwas erschrocken in die toten Augen der Kriegerin. Dann begann sie zu sprechen:
"Willkommen in der gebrochenen Lanze. Was darfs denn sein?"
Kazahni war durcheinander. Sie zog die Hand zurück und legte sie mit der anderen Hand zusammen in den Schoß. Sie war verwirrt und wusste nichts Genaues auf die Frage zu antworten, doch nach kurzem Mustern der Situation kam ihr in den Sinn, dass die Getränke und das Essen, welches die Gäste verzehrten, irgendwo her kommen musste. War dieser Mensch der Beauftragte, der die Speisen überbrachte?
"Was die Männer dort drüben in ihren Krügen haben. Was ist das?"
Die kleine Frau blickte zu dem Tisch mit den Kriegern hinüber und antwortete schließlich etwas verdutzt:
"Nun, das ist Bier. Das verkaufen wir hier am meisten..."
Kazahni überlegte kurz.
"Gut. Ich nehme das auch."
Mit einem Kopfnicken verabschiedete die junge Frau sich und ging zu einem länglichen Tisch, wo sie kurz mit einem dicken, kahlköpfigen Mann sprach. Dann ging sie weiter an Tische, wo Gäste sie heranwinkten um ihre Bestellungen aufzugeben.

Rio war wach geworden. Sie lag auf dem Rücken und starrte die Decke des Wagens an, der leicht schaukelnd die Straße nach Nefarat hinunter fuhr. Sie musste immer wieder an den Dämon denken, der sie im Wald verschlungen hatte. Diese Leere, die sie gespürt hatte. Diese ewige, kalte Leere. Sie bekam Angst, als sie sich zurück dachte in die Eingeweide dieser Kreatur, doch auf eine merkwürdige Art und Weise erfüllte sie dieser Gedanke mit Neugierde. Wo wäre das Ende dieser ewigen Finsternis gewesen? Was wäre wohl mit ihrem Geist geschehen, hätte Shade sie nicht befreit? Fragen wie diese surrten ihr ständig durch den Kopf, doch sie konnte nicht sonderlich lange darüber nachdenken, denn mit der Zeit vertrieb die Angst wieder die Neugier und sie brauchte Ablenkung.
Sie sah sich in dem kleinen wankenden Raum um. Leise Geräusche der stahlbeschlagenen Räder, welche die Kutsche über die mit Schotter geebnete Straße trugen, drangen in den Innenraum ein und hin und wieder knackte ein Ast, der unter die schweren Räder kam. Rio lag noch immer auf den Fellen, die sie in der Kutsche entdeckt und sich zurecht gelegt hatte, und Leila, die nah neben ihr lag, schlief noch immer. Sie schien gut und tief im Schlaf versunken zu sein ohne Albträume und mit ruhiger Atmung. Rio hoffte, das würde so bleiben, denn Leila schien sehr mitgenommen zu sein von den Ereignissen im Inneren des Dämons, was ihr auch niemand übel nehmen konnte. Rio selbst wunderte es, dass sie so gut damit umgehen konnte, wenngleich ihre Gedanken auch ständig an diesen verfluchten Ort zurück wanderten.
Irgendwann, so hoffte sie, würde sie das alles vergessen haben.

Auf dem Tisch standen nun zwei Gläser. Das eine war ein großer Krug mit gelblicher Flüssigkeit, die als Bier bezeichnet wurde, und in dem anderen, etwas kleinerem Glas, welches Kazahni mit der rechten Hand umschloss, war normales, klares Wasser, welches sie bestellt hatte, um den Geschmack des Bieres weg zu spülen, den Kazahni nur als scheußlich bezeichnen konnte. Dennoch war sie fasziniert von diesen Geschmäckern, in deren Genuss sie vorher nicht mal ansatzweise gekommen war. Alles, was sie in den letzten vierhundert Jahren zu sich genommen hatte, war Wasser gewesen, aus dem der tote Körper die Frische zog, die Energie um sich am zerfallen zu hindern. Und das tat er sehr gut, denn man konnte Kazahni rein optisch nicht von einem noch lebenden Menschen unterscheiden, auch wenn sie etwas blass war. Alles, was sich verändert hatte, waren die Augen gewesen. Sie waren nicht grün, blau, gelb oder braun, wie bei anderen Menschen. Ihre Augen wirkten leblos und waren dennoch faszinierend für die, die sie erblickten. Dunkelrote Pupillen umgaben sich mit einem dunklen, metallischen Silber, welches von verschwindend dünnen roten Fäden durchzogen wurde. An diesem Detail wurde sie immer von Menschen unterschieden, auch wenn niemand genau zu sagen wusste, welcher "Rasse" Kazahni angehören mochte. Schließlich glaubte man in einer Stadt wie dieser fest daran, dass Tote unter der Erde ihr zuhause hatten, und nicht in einer Gaststube Bier tranken.
Zögernd setzte sie den großen Krug an und nahm einen Schluck daraus, den sie sofort mit etwas Wasser hinunter spülte. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, was der Grund sein mochte, warum man ein solches Getränk erfunden hatte, wenn Wasser doch vollkommen reichte um zu leben. Kazahni hatte auch davon gehört, dass Menschen Früchte auspressten und den Saft tranken, was sich schon besser anhörte als dieses Gesöff.
Sie trank den Krug leer und daraufhin leerte sie auch das Glas in einem Zug. Schließlich entschloss sie sich dazu zu gehen, denn hier ließen die Stimmen nichts von sich hören und darauf wartete sie ja letzten Endes. Als sie gerade nach ihrem Schwert griff und aufstehen wollte trat wieder die Frau an den Tisch. Sie lächelte freundlich.
"Kann ich noch etwas bringen?"
Kazahni sah nachdenklich auf die beiden Gläser, bevor sie antwortete.
"Nein... Danke."
"Gut. Das sind dann ein Bier und ein Wasser. Macht drei Silbergroschen!"
Sie lächelte noch immer freundlich, doch schwang in ihrem Blick auch etwas ängstliches, verunsichertes mit, als sie plötzlich bemerkte, dass die Frau vor ihr immer noch die Hand auf den Knauf ihres Schwertes gelegt hielt und sie emotionslos aus merkwürdig gefärbten Augen  ansah. Erst nach einer kurzen Weile des Schweigens bemerkte das Mädchen im Gesicht der Fremden einen fragenden Ausdruck.
Kazahni war etwas verwirrt. Sie wusste nichts von Silbergroschen oder dergleichen. Es wollte ihr nicht in den Sinn, warum man Silber mit sich rum tragen sollte, wenn Stahl doch viel härter und sicherer war. Ein Kettenhemd aus Silber wäre doch reinste Verschwendung von Körperkraft. Und selbst wenn. Ihr fiel kein Grund ein, wieso sie ihr dieses Silber, wenn sie denn welches hätte, geben sollte. Dann sah sie noch einmal zum Tisch und auf die beiden geleerten Gläser. War es eine Art Tausch? Silber gegen Nahrung? Sicher, sie hatte von Menschen gehört, die Waren gegen Metall in Form kleiner Scheiben tauschten. Geld, soweit sie sich erinnern konnte. Aber Nahrung war Leben. Leben im Tausch gegen Metall? Als Tote wusste sie das Leben nur gering zu schätzen, aber es war doch mehr wert als ein paar Münzen aus Silber. Wo sie herkam, in den Heeren, teilte man Wasser, wenn man welches hatte, und in den seltensten Fällen tauschte man Wasser gegen eine Waffe ein, doch Waffen bedeuteten in dieser Welt genauso das Leben wie alles andere, denn wer sich nicht verteidigen konnte, hatte sein Leben schon verwirkt.
Kazahni sah wieder zu der jungen Frau auf und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht was passieren würde wenn sie etwas falsches tat. Sie könnte dieser Frau den Kopf von den Schultern schlagen. Sie könnte jedem hier im Raum den Kopf von den Schultern schlagen nur war Mord in dieser großen Stadt, in der man Leben mit Metall kaufen konnte, ein großes Verbrechen. Die Frau wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger und langsam verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. Die Augen zuckten zwischen Kazahnis Gesicht und dem Schwert, auf dessen Knauf immer noch ihre Hand lag, hin und her.
Als Kazahni grade in den Sinn kam, ein Blutbad zu veranstalten ohne Zeugen zu hinterlassen, packte sie eine große, kräftige Hand an der Schulter. Wäre der Griff etwas fester gewesen, hätte die Untote wahrscheinlich aus purem Reflex mit roher Gewalt reagiert, ihr Schwert war schließlich in Reichweite. Doch so sah sie nur kurz an dem Mann hoch, der sich neben sie gestellt und lachend die Hand auf ihre Schulter gelegt hatte. Er gab der Frau drei silberne Metallstücke und mit den Worten: "Meine kleine Freundin hier hat eine lange Reise hinter sich und ist noch etwas verwirrt. Ich bitte das zu entschuldigen!" schien er die junge Bardame besänftigt zu haben. Nachdem er sich selbst noch ein Bier bestellt hatte, ging die Frau wieder. Der Mann setzte sich lächelnd. Er war ein Abenteurer, das sah man sofort an seiner hünenhaften Gestalt und dem langen, wilden Haar, welches an den Seiten kurz geschoren war und hin und wieder von silbern glänzenden Metallstücken verziert wurde, die in die Strähnen eingeflochten worden waren. Sein Gesicht zeigte sehr maskuline und harte Züge welche hin und wieder von Narben vergangener Kämpfe durchzogen wurden, die aber nicht entstellend wirkten. Nein, sie passten ganz gut ins Gesamtbild. Der Mann lachte kurz und dann fing er an zu sprechen.
"Guten Tag, hübsches Kind. Hättest fast ganz schön Ärger gekriegt, was?"
Kazahni zog wieder die Hand vom Griff ihres Schwertes zurück und entspannte sich wieder. Der von Muskeln übersäte Kerl ihr gegenüber hätte sicher sehr gefährlich werden können, doch momentan schien er nicht in Kampfeslaune zu sein. Er nahm eine schwere Streitaxt von seinem Rücken und lehnte sie an die Tischkante neben Kazahnis Schwert. Einen großen runden Schild, den er ebenfalls auf den Rücken geschnallt hatte, ließ er dort und es schien ihn nicht zu stören, als er sich an die Lehne des Holzstuhles lehnte auf dem er saß und der ohnehin wirkte, als wäre er viel zu klein für den Mann.
Er musterte Kazahni kurz und fing wieder an, laut zu lachen. Dann sprach er mit tiefer und durchdringender Stimme weiter.
"Ich bin Ragnor, ein Abenteurer aus den mittleren Gebirgen."
Kazahni erwiderte seinen Blick emotionslos und wusste nichts mit der Situation anzufangen, denn es wurde nicht offensichtlich, wie ihr die Bekanntschaft mit einem Abenteurer aus den Berglanden helfen könnte.
"Was willst du von mir?"
"Oh, nun duzen wir uns schon. Es geht ja schnell voran!"
Er lachte. Ein sehr selbstbewusster Mensch, dachte sich Kazahni, die nicht wusste, ob sie weiter reden oder einfach aufstehen und gehen sollte. Sehr selbstbewusst, oder sehr dumm!
"Nun," fuhr Ragnor fort "Ihr... Du sahst mir aus wie eine Dame in Schwierigkeiten. Da wollte ich helfen. Außerdem scheinst du abenteuerlustig zu sein."
"Wer sagt das?"
"Ach komm. Einen Abenteurer erkenne ich auf hundert Meter Entfernung. Ich bin schließlich selbst schon einer so lange wie ich denken kann."
"Dein sechster Sinn scheint dich hin und wieder zu täuschen!"
Kazahni entschied sich dazu einfach zu gehen und den Kerl hier mit seinem Bier sitzen zu lassen. Er würde ihr nicht helfen. Als sie aufstand und gerade ihr Schwert schultern wollte sah der Hüne zu ihr auf und lächelte. Sie hatte gerade den ersten Schritt in Richtung Tür gemacht, als Ragnor etwas sagte, was sie zum Zögern brachte.
"Nun, wenn du hier in Nefarat großes Abenteuer suchst bist du wahrscheinlich auf falscher Fährte. Aber es gibt da eine kleine Gruppe, die sich selbst Totengräber nennen. Sie könnten interessant für dich sein."
Bei dem Namen klingelte es plötzlich und Kazahni setzte sich wieder. Ragnor grunzte vergnügt und lächelte sie freundlich an.
"Wieso meinst du, sie wären interessant für mich?"
Er lachte wieder.
"Nun, ich kenne deine Sorte. Düster, ruhig und ohne nennenswerte Manieren."
Er beugte sich über den Tisch und als er das gut rasierte Kinn auf die übereinander gelegten Handflächen legte und mit den dicken Ellenbogen auf der Tischplatte abstützte, änderte sich sein Lächeln von offen und freundlich zu geheimnisvoll und verwegen. Ruhig, aber sehr deutlich sprach er weiter.
"Ja, ich hatte schon mit welchen zu tun, die dir sehr ähnlich waren, auch sie kannte ich nicht wirklich gut, doch eines wurde mir schnell klar: Sie waren gefährlich. Abenteurer einer anderen Sorte. Einer weitaus ernsteren und düsteren Art."
Kazahni wusste, was er meinte. Sie Hatte solche Abenteurer einst in den Heeren ausgebildet und nun suchte sie kurz nach dem Wort, welches Menschen für sie benutzten.
"Auftragsmörder" sagte sie, ohne sich auch nur im Geringsten darum zu kümmern, ob sie belauscht wurden oder jemand in der Nähe war, der bei solch gewagten Themen die Ohren spitz machen könnte. 
"Ja, wenn du an solchen Abenteuern Interesse haben solltest... Nun, ich kann dir verraten, wo du sie findest."
"Und du denkst, ich würde Aufträge von solch düsteren Gestalten annehmen?"
Ragnor sah sich kurz um und versicherte sich, dass niemand ihnen zuhörte. Dann wandte er sich wieder Kazahni zu und nun schien sein Gesichtausdruck noch verwegener und zum ersten Mal schwang etwas Gefährliches in seinen Zügen mit.
"Nun ja, ehrlich gesagt, habe ich einen Auftrag angenommen von einem Mann, der sie tot sehen will."
Das überraschte Kazahni nun, auch wenn sie das in ihren Zügen zu verstecken wusste und Ragnor diese Tatsache nicht mitbekam. Doch sie wusste instinktiv, dass sie diese dunkle Vereinigung treffen musste. Ob sie sie nun töten sollte oder nicht war einerlei. Das würde sich später herausstellen.
"Ich bin ganz Ohr!"

Die Gruppe war aus dem Planwagen gestiegen, der seinen Weg zu einem der großen Marktplätze der Stadt suchte und nun standen sie auf der großen Hauptstraße, die die östlichen Stadtviertel miteinander verband. Ein Geschäft nach dem anderen konnte man hier vorfinden und die Gebäude waren teilweise bis zu fünf Stockwerken hoch. Halt eine Großstadt mit viel Geld. Die grob geschlagenen und reichlich mit Mörtel verarbeiteten Steinblöcke der Wände ließen die Gebäude sehr stabil und massiv wirken. Die obersten Stockwerke dagegen waren meist aus Holz und ab dem Dritten Stock gingen fast überall von Haus zu Haus Streben und Brücken, manche Für Massen gedacht, massiv und breit, andere nur Hängebrücken zwischen zwei Häusern. Auf den kleineren Gebäuden schien es weiter zu gehen mit den Geschäften und Märkten. Dort tummelten sich Menschen, Elfen und Bürger aller Art um Waren und Güter aller Art zu kaufen oder zu verkaufen. Es wirkte als hätte die ganze Stadt mehrere Etagen.

Die Truppe um Shade wanderte die Straße entlang. Vorbei am Trubel und dem Lärm der Läden und Gasthöfe, vorbei an all den Gestalten, die aus allen Regionen in und um Eliasa zu kommen schienen. Verkäufer grölten Preise in die Menge und redeten ihre Waren gut. Aus den Kneipen und Wirtshäusern hörte man feiernde Menschen, manchmal die Klänge von Lauten oder anderen hier beliebten Instrumenten. Straßenmusiker saßen an fast jeder Ecke, sangen und spielten. Rio sah sich um. An Shades Seite war sie in ihrem noch sehr jungen Leben schon weit gereist, hatte Menschen und Kreaturen aller Art und aller Rassen gesehen, doch hier versammelten sich Gestalten, die ihr noch vollkommen fremd waren. Männer und Frauen aus dem Süden. Selten traf man sie in diesen kalten Regionen an, doch hier waren viele von ihnen. Sie verkauften ihre exotischen Waren, oder kauften Waren, die hier üblich waren, doch für sie fremd und exotisch wirken mussten. Und dann waren da Orks aller Gattungen und Clans, die mit Packtieren durch die Straßen zogen, die entfernt an überzüchtete Bullen erinnerten. Seit ihrer Begegnung mit dem Dämon hatte Rio sich noch nicht so sehr wieder von ihren Gedanken ablenken können, wie an diesem Ort. Es war einfach beeindruckend.
Shade sah sich genau um. Es war lange her, seit er das letzte mal hier war. Es hatte sich vieles verändert. Fast die ganze Stadt schien ein bis zwei Stockwerke aufgebaut zu haben, und der Gasthof, den er suchte, war in einer kleinen Gasse versteckt, die er in all dem Gewimmel leicht hätte übersehen können. Doch schließlich fand er die kleine Straße und die anderen folgten ihm. Cehren sah sich noch einmal um. Er mochte diese Stadt nicht so recht. Er fühlte sich unsicher unter so vielen Menschen, was man ihm allerdings kaum ansah. Er war es einfach nicht gewohnt.
Umso weiter sie in die kleine Gasse gingen, desto weiter schien der Lärm und das Leben entfernt zu sein. Immer weniger Menschen kamen ihnen entgegen und irgendwann sahen sie niemanden mehr auf der Straße. Als sie etwa eine halbe Stunde gegangen waren, fand Shade endlich das lang ersehnte Schild, des Gasthofs "Zum Schwarzen Drachen". Es war ein recht großes Gebäude, das perfekt mit der Umgebung verschmolz. Etwa drei Etagen hoch, aus massiven Steinbrocken gebaut und oben mit Holz verkleidet. Türen und Fensterahmen waren aus massivem Holz gezimmert. Die Fenster waren undurchsichtig, grob gegossen und kaum Licht drang durch sie hindurch.
Schade ging die Stufen zur Tür hoch und sah sich noch mal um. Die Anderen folgten ihm zögernd, als der Dunkelelf die schwere Tür öffnete und eintrat.
Drinnen war es dunkel. Von dem Gang, der vor ihnen lag, sahen Shade und seine Kameraden nur Umrisse. Ein schwaches Licht kam von irgendwo her, nur von wo wusste noch niemand zu sagen. Shade ging ein paar Schritte in den Gang hinein. Cehren ging ihm langsam nach. Er warf einen Blick durch einen breiten Durchgang auf der rechten Seite. Es schien die Bierstube zu sein. Schwaches Licht fiel durch die dicken, halb durchsichtigen Fenster ein, doch es vermochte den Raum nicht vollkommen zu erhellen. In dem großen Kamin auf der anderen Seite des Raums war kein Feuer entfacht.
"Nicht viel Betrieb, hm?"
Shade ging weiter. Rio und Natalia blieben an der Tür zurück. Die Junge Frau schlang ihre Arme um das Mädchen, die von der Stille sichtlich beunruhigt schien. Cehren folgte Shade bis zum Ende des Ganges. Dann sagte er leise und kalt, wie es seine Art war:
"Hier ist niemand. Vielleicht ist dieses Gasthaus noch nicht mal mehr bewohnt... Bist du sicher, dass du dich nicht vertan hast?"
Ohne sich umzudrehen, schüttelte Shade leicht den Kopf und antwortete, während er sich weiter umsah.
"Es ist das richtige Haus. Ich erkenne alles wieder. Beim letzten Mal war es nur etwas... belebter, verstehst du?"
Kurz herrschte wieder Stille, dann wandte sich Shade an Cehren.
"Ich werd mich mal weiter oben umsehen."
Als er die Treppe am Ende des Flurs zur Hälfte gegangen war, drehte er sich um und sah zu seinen Gefährten zurück.
"Was ist? Kommt ihr mit?"

Das zweite Stockwerk war ebenso leer wie das erste. Alle Türen waren verschlossen und es gab kaum Licht. Doch als sie sich etwas genauer umsahen fand Cehren eine Treppe, die in ein weiteres Stockwerk empor führte. Shade erinnerte sich sofort. Bei seinem letzten Aufenthalt hier hatte man ihn auch nach oben geführt, wo er dann sein Versprechen gab, das er nun einlösen wollte. Die Vier nahmen die Treppe ins dritte Stockwerk. Sie knarrte und knackte bei jeder einzelnen Stufe. Der Türbogen oben war schon alt. Sehr alt. Hier wurde wirklich seit all den Jahren nichts verändert. Und es waren viele Jahre, deswegen würde es Shade nicht wundern, wenn Nerophan ihn nicht mehr erkennen würde...
Sie kamen in einen kleinen Raum, der voll gestellt war mit Utensilien für den Haushalt, wie Besen, Eimern oder anderen Sachen, von denen weder Shade noch Cehren Ahnung hatten. Sie waren Krieger keine Hausfrauen. Deshalb fragte Cehren im ersten Augenblick auch etwas verwundert, was sie denn in einer solchen Abstellkammer suchten. Es würde sich ja kaum ein alter und anscheinend überaus weiser Magier hier zwischen Besen und Schneeschaufeln versteckt halten. Shade ignorierte diese Bemerkung, stellte ein paar Eimer zur Seite und öffnete eine weitere Tür, die in der Wand kaum zu erkennen war. Sie führte in einen größeren Raum. Er war randvoll mit Regalen, in denen jede Menge Sachen gelagert waren, die auf einen Magier oder zumindest einen guten Druiden schließen ließen. Kräuter aller Arten, Wurzeln, Bücher im Überschuss und Gläser mit Körperteilen und kleinen eingelegten Kreaturen darin. Es war geradezu unheimlich.
Ein kleiner Gang führte zu einer weiteren Tür. Eine Flügeltür, die halb offen stand. Von innen schien ein Licht heraus.
"Da, seht ihr?"
Shade deutete auf die Tür.
"Es ist doch jemand hier."
Sie gingen auf die Tür zu, als sich plötzlich ein großer Schatten vor das Licht legte. Eine dunkle Gestalt war aus der Tür getreten und im Schimmer des Lichtes aus dem anderen Raum konnte man erkennen, dass es ein Mensch war. Ein Südländer mit schwarzer Hautfarbe. Er musste sich ducken, damit er nicht mit dem Kopf gegen die Decke stieß. Cehren trat einen Schritt zurück zu Rio und Leila. Leila beugte sich etwas vor und flüsterte Cehren ins Ohr.
"Der sieht nicht aus wie ein alter, weiser Magier!"
Die Stimme des Hünen, der nun den Weg versperrte, ertönte. Sie war tief und ruhig. Gleichzeitig schwang jedoch der Hauch einer Drohung in seinen Worten mit.
"Wer seid ihr, und was wollt ihr hier?"
Shade, der nicht beeindruckt schien, antwortete kühl und gelassen.
"Ich bin Shade, das sind meine Weggefährten, Freunde von mir. Ich komme, um den großen Meister Nerophan zu sprechen."
Der Riese verneigte sich kurz vor Shade. Dann sprach er wieder.
"Es wurde mir gesagt, dass ihr kommen würdet. Seid unser Gast, Shade vom Clan der Tarun’Dai. Tritt ein. Deine Gefährten können dich nicht begleiten."
Er machte eine Geste in den Raum hinein, als winke er jemanden heraus. Kurz darauf kam ein untersetzter bärtiger Mann mit einer auffällig großen Nase heraus. Er schien trotz seines Alters noch sehr vital und man merkte ihm an, dass er ein fröhlicher Mensch war, schon mit den ersten Worten, die er sprach. Und Shade erkannte ihn sofort wieder.
"Was? Ah Kundschaft, welch Seltenheit hier in unserem Haus. Es freut mich, wirklich. Kommt mit runter, ihr seid sicher hungrig!"
Mit einem Lächeln auf den Lippen ging der Mann an Shade vorbei und hätte den Dunkelelfen dabei glatt übersehen. Shade sah ihm kurz nach.
"Gwimbart?"
Der Mann blieb kurz vor der Tür stehen und drehte sich um. Mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck trat er wieder ein paar Schritte an Shade heran.
"Trügen mich meine alten Augen, oder bist du es wirklich?"
Shade lächelte kurz und das reichte, um den alten Mann zu überzeugen.
"Shade!!! Das gibt’s ja nicht. Dass ich dich mal wieder sehe nach all den Jahren. Wer hätte das gedacht. Was führt dich hier her? Ein Auftrag? Wilde Abenteuer?"
Wieder entlockte es Shade ein Lächeln.
"Nein, Gwimbart, alter Freund. Ich hatte damals versprochen, dass ich zurück kommen würde. Und zwar genau an diesem Tag. Weißt du nicht mehr?"
Gwimbart schien kurz zu überlegen.
"Ah, nach all den Jahren vergisst man so etwas manchmal. Ich bin nur ein Mensch. Unser Verstand lässt mit der Zeit nach. Nicht wie ihr Dunkelelfen."
Er machte eine kurze Pause. Dann fuhr er mit einem Grinsen im Gesicht fort.
"Ich freue mich aber, dich hier wieder zu sehen. willkommen in unserem Haus!"
Mit den Worten schloss er das Gespräch und wandte sich dem Rest der Truppe zu.
"So, kommt mit, ich werde euch was auftischen. Mal sehen, was noch so rum liegt unten. Mein Gott, ihr müsst verhungern."
Noch aus den Gängen des zweiten Stockwerks schallte Gwimbarts Geplapper empor und Shade sah ihm lächelnd hinterher. Plötzlich spürte er eine große schwere Hand auf seiner Schulter. Als er sich umdrehte sah er in das Gesicht des Südmenschen, der die Tür bewachte. Shade nickte nur und betrat dann das Zimmer.
 

© V.Geist
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Und schon geht es weiter zum 2. Teil des 4. Kapitels: Nefarat (2. Teil)

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