Die Sonne ging auf und erhellte das Tal, in
dem die Spuren der letzten Nacht deutlich zu sehen waren. Gut, dass sie
schon weit genug weg gekommen war. Niemand würde sie mit diesem ...
Massaker in Verbindung bringen. Hoffte sie zumindest.
Nur zwei kleine Risse waren zu sehen an ihrer
Rüstung. Der eine im Leder vor dem Bauch, und ein zweiter im Leder
auf dem Rücken. Einer der Kämpfer hatte es doch tatsächlich
geschafft, sie auf die Klinge zu nehmen. Er hatte sie mit einem Stoß
durchbohrt, doch weiter hatte er es nicht geschafft, denn mit dem schlichten,
ungesegnetem Stahl der Menschen war diese Wunde leicht zu verkraften. Sie
war schon längst wieder verheilt und die Schlacht war geschlagen.
Kazahni hatte gewonnen, doch es erfreute sie nicht mehr so wie einst.
Etwas traurig sah sie von ihrem Lager aus
ins Tal, in dem sie letzte Nacht noch wie ein Berserker Blut vergossen
hatte. War es wirklich richtig? Sich vom Pfad des Schicksals abzuwenden
und vor seiner Bestimmung zu fliehen? Sie wollte es nicht. Zum ersten Mal
seit hunderten von Jahren wollte sie es nicht. Dieser Kampf in der letzten
Nacht... Es war nicht nötig gewesen, dass diese Menschen sterben mussten.
Das war es nie, aber es kümmerte sie sonst auch nicht.
Langsam erhob sie sich von dem Felsen, auf
dem sie saß, und ging den Weg am Rande des Tales weiter. Hinter ihr
fielen die Sonnenstrahlen des Morgens auf das Feld in dem kleinen Tal,
auf dem die Kadaver der Dämonen und Untoten sich schon zu zersetzen
begannen. Die Menschen, die dort lagen, hatten diesen Tod nicht verdient.
Sie wollten sich nur verteidigen. Sie waren einfach zur falschen Zeit am
falschen Ort gewesen. Dem Ort, an dem Kazahni des Nachts rastete und die
Dämonen anzog, wie Licht es mit Motten tat.
Es war etwas in ihr. Sie konnte es spüren,
auch wenn es noch tief verborgen in den dunkelsten Ecken ihres Bewusstseins
schlummerte. Mit dem Willen, die Heere zu verlassen, schon allein mit dieser
Idee, kam eine Stimme in ihren Kopf. Eine leise Stimme, fremd und doch
vertraut, von weit her, ganz leise. Sie versprach Antworten und wies ihr
den Weg. Die Neugierde zog sie schließlich voran.
Die Straße wurde wieder breiter und nachdem
Kazahni schon eine ganze Weile gelaufen war, passierte sie eine Kreuzung.
Der lange, graue Umhang bedeckte den Großteil ihres Körpers
und verhüllte ihre Gestalt. Nur ihr Kopf guckte noch hervor. Die langen,
schwarzen Haare waren zu einem dicken Zopf zusammen geknotet. Die toten,
leeren Augen blickten starr zu Boden. Der Kies knackte unter jeder ihrer
Bewegungen. Ihre Schritte waren klein und sie kam langsam voran, denn sie
musste nachdenken, eine ganze Menge nachdenken...
Es dauerte eine Weile, da kam ihr eine Kutsche
entgegen. Ein Händler, das sah sie sofort. Ob er halten würde?
Aber sie brauchte eigentlich nichts. Höchstens Informationen.
Vorsichtshalber zog sie ihre Kapuze über,
die einen Schatten über das Gesicht warf. So konnte niemand sie erkennen.
Die Kutsche hielt tatsächlich. Und das,
ohne das Kazahni irgendetwas dazu getan hätte. Sie blieb ebenfalls
stehen und als sie ihren Blick hob, beugte sich ein älterer Herr mit
nettem Lächeln vom Kutschbock zu ihr runter.
"Guten Morgen. Was macht eine Frau wie sie
so ganz verschleiert hier in dieser Gegend?"
Kazahni zögerte, dann fing sie an zu
sprechen, machte jedoch keine Bemühungen die Frage des Kutschers zu
beantworten.
"Wie weit ist es noch bis Nefarat?"
Trotz der Unfreundlichkeit, die ihm entgegen
gebracht wurde, blieb der Mann freundlich.
"Es ist nicht weit. Ihr seid auf dem richtigen
Weg. Geht einfach die Straße weiter runter, sie führt direkt
zum Haupttor der Stadt. Zu Fuß sind es schon ein paar Stunden, doch
heute kommt ihr garantiert noch an."
Kazahni sah in die Richtung, aus der der Mann
gekommen war. Ein paar Stunden... fast wäre sie einfach weiter gegangen,
doch dann fiel ihr eine Geste ein, die sie bei den Menschen auf ihrer Reise
beobachtet hatte.
"Danke..." kam zögernd über ihre
Lippen. Damit wandte sie sich ab und ging weiter. Der Mann auf dem Kutschbock
sah ihr noch kurz hinterher, dann zuckte er mit den Schultern und fuhr
weiter.
Die Straße wollte wirklich nicht enden.
Immer weiter führte sie geradeaus. Ein paar Häuser waren hin
und wieder am Rand aufgetaucht. Ansonsten nur Felsen, Wälder und ein
paar Dörfer weiter weg, von denen sie nur die Dächer gesehen
hatte.
Nun führte die Straße mitten durch
einen kleinen Wald. Es war sehr dunkel. Die Sonne des Mittags war hell
doch drang sie kaum durch das Blattwerk des dichten Waldes, der sie umgab.
So lag dieser Teil der Straße im Dunkeln. Die Schatten waren Kazahni
vertraut und es war ihr, als könne sie jeden einzelnen beim Namen
nennen. Wieso hatte sie das Heer verlassen? Sie war in der Finsternis geboren
und seit sie denken konnte hatte sie in ihr gelebt. Der Schritt unter die
Sonne war so befremdend gewesen, dass es ihr im ersten Moment Angst gemacht
hatte. Doch nun sah alles anders aus. Es war noch immer nicht ihre Welt,
doch irgendetwas war ihr nun vertraut geworden. Es war nicht die Tatsache,
dass sie die Erfahrung gemacht hatte, dass überall wo Licht ist auch
Schatten existiert, nein es war ein Gefühl. Ein Gefühl, als kenne
sie dies alles. Alles das, was sie eigentlich nun zum ersten Mal sah, wie
Bäume, Menschen oder Tiere, die in Frieden lebten und miteinander
spielten. Die Sonne, sie schien nicht mehr wie ein weit entferntes Übel,
sondern strahle auf sie herab und im Gegensatz zu allen Erwartungen tat
es gut. Sie wärmte, tauchte die Umgebung in Licht und ließ Leben
gedeihen.
Leben. Noch etwas, was Kazahni vertraut vorkam.
Wenn sie nur wüsste, wieso.
Kazahni... Sie ist es... Kazahni
Wie ein Flüstern kam es an ihr Ohr. Sie
hatte damit gerechnet. Es war der Wald, der um sie herum stand. Wind pfiff
leise durch die Blätter und zwischen den Stämmen der Bäume
hindurch. Die Umgebung schien plötzlich mit einem finsteren Geist
erfüllt. Nein, tausende von Geistern. Sie sammelten sich hier um auf
die Nacht zu warten, deshalb war dieser Wald so dunkel.
Generälin ... Wo wollt ihr hin? ...
nehmt uns mit ... wir werden folgen ...
Die Stimmen der geächteten Seelen wollten
nicht verstummen. In der Ferne sah sie schon das Ende dieses Waldes, denn
Licht schien in das Dunkel hinein.
"Wer seid ihr?" rief sie in die Finsternis
zwischen den Bäumen und Sträuchern hinaus.
Wir sind die Krieger von Nefarat! ... Die
Stadtwache ... Du hast uns getötet ... letzte Nacht
Die Stadtwache. Kazahni war wirklich nah dran.
Endlich würde sie Antworten bekommen. Antworten auf ihre Fragen, die
Fragen nach dem Warum und auch nach dem "Was". Denn das war es, was sie
wirklich wissen wollte. Was war sie überhaupt?
Am späten Nachmittag hatte sie es geschafft.
Das mächtige Stadttor Nefarats ragte vor ihr in den Himmel und die
weit geöffneten Tore luden ein in diese Metropole der Händler
und Feilscher. Luden ein zu einem Abenteuer auf den Straßen und in
den Gassen der Großstadt anstelle von Sümpfen und düsteren
Wäldern, wie Kazahni es gewohnt war.
Die Pferdewagen holperten an ihr vorbei auf
das Tor zu oder kamen aus dem Tor heraus. Die unterschiedlichsten Waren
aus den weitesten Ländern und Städten wurden in die Stadt gebracht,
die der bedeutendste Handelsposten im Westreich war. Sie trat durch den
Bogen des Tores und somit in eine neue, ihr fremde Welt. Laut, schrill.
In allen bekannten Farben und Formen spielte das Theater des Lebens unaufhaltsam
in den Straßen dieser Stadt. Und dies alles bemerkte sie schon jetzt,
obwohl sie erst wenige Sekunden hier war. Es war so unglaublich faszinierend.
Kazahni zog ihren Umhang zusammen und verhüllte
ihre Gestalt. Erst kam sie sich etwas trostlos und fremd vor in ihrem traurig
grauen und schwarzen Gewand zwischen all diesen farbenfrohen und vielfältigen
Ständen und Gestalten, doch schnell fiel dieses Gefühl von ihr
ab und sie fühlte sich immer wohler hier, denn in dieser Masse von
Formen und Kontrasten fiel selbst sie nicht mehr auf. Höchstens ein
nackt durch die Straßen laufender Bergorg hätte hier noch Aufsehen
erregt, doch das erschien eher unwahrscheinlich.
Sie stand nun auf der Hauptstraße des
Südlichen Viertels und sah sich genau um. Wo sie hin musste, wusste
sie nicht und sie dachte nicht daran jemanden hier nach Hilfe zu fragen.
Was sollte sie denn sagen? Ich suche einen Ort, an den mich mein Gefühl
leitet... Wohl kaum.
Etwas weiter die Strasse runter sah sie ein
Schild. "Zur gebrochenen Lanze" Ein Gasthaus. Dort würde sie erst
einmal kurz bleiben um vielleicht Informationen über diesen Ort zu
bekommen. Diese sonderliche Stadt und ihre Einwohner. Vielleicht meldete
sich ja irgendwann bei einem Stichwort wieder diese Stimme in ihrem Kopf.
Der Wagen schwankte stark hin und her. Bei
jeder Unebenheit der Straße knarrte irgendwo ein Balken und Beutel,
die von der Decke an dünnen Ketten herab hingen, schlugen zusammen.
Shade, Rio, Cehren und Leila saßen zusammen
im hinteren Teil des großen Planwagens zwischen Kisten, Fässern
und übervollen Säcken. Ein Händler aus Lefera hatte die
Gruppe auf der Straße zwischen Lorandik und Nefarat aufgegabelt und
nun versuchten sie, es sich im gut gefüllten Laderaum so bequem wie
möglich zu machen. Shade hatte sich ein paar Säcke mit Mehl zurecht
gelegt und schien in den graubraunen Bergen von Stoff zu versinken. Cehren
saß im Schneidersitz an eine große Kiste gelehnt, in
der Kleider transportiert wurden. Rio und Leila saßen nah aneinander
und schliefen. Sie hatten wenig geredet, seitdem Shade sie aus den Innereien
des Dämonen gerettet hatte. Es muss schrecklich für sie gewesen
sein. Leila schien die Erlebnisse nur sehr schwer zu verkraften. Bevor
sie eingeschlafen war starrte sie nur trostlos und verloren auf den Boden
vor ihr und wenn Shade sie angesprochen hatte, erschrak sie jedes Mal,
als sei seine Stimme eine Explosion oder eine überraschende Lawine,
bevor sie kurz und knapp eine Antwort gab. Nun waren die beiden eingeschlafen
und Shade hoffte, dass es ihnen besser gehen würde, wenn sie wieder
aufwachten!
Er sah aus dem schmalen Spalt, durch den sie
den Planwagen betreten hatten, auf die dahin ziehende Schotterstraße.
In Gedanken war er wieder in dieser Höhle, oder besser gesagt, in
den Innereien des Dämonen. Er verstand nicht, warum er so schnell
aufgegeben hatte. Es war nicht typisch für diese Art von Dämon
so schnell aufzugeben. Shade hatte mit so einem Monster schon mal zu tun
gehabt. Es war schon 40 Jahre her gewesen in Gwendaroth. Nahe des Tempels,
in dem Shades Clan lebte, hatte ein Dämon die Kirche eines Dorfes
befallen und versetzte die Anwohner, die dort wohnten, in Angst und Schrecken.
Shades Clan konnte diese Entweihung der Kirche, in der Azuratha, der Gott
des Krieges und der ehrwürdigen Kämpfer angebetet wurde, nicht
dulden! Azuratha war schon immer der Schutzpatron aller Mitglieder des
Clans gewesen. Shade konnte die Male nicht zählen, die er vor einem
großen Kampf zu ihm gebetet hatte. Es dauerte einen ganzen Tag und
vier tote Clanbrüder, um diese Bestie zu vertreiben! Die Erinnerung
an damals schmerzte sehr. Shade musste sich ablenken, er wollte nicht weiter
darüber nachdenken. Als er sich umsah, fiel sein Blick auf Cehren,
der ruhig da saß und ebenfalls in Gedanken versunken schien. Er hatte
die Gruppe ohne weiteres begleitet, als sie vom Gasthaus aus ihren Weg
nach Nefarat fortsetzten. Dabei lebte er doch in der Festung, aus der auch
der Druide stammte und die nicht weit vom Gasthaus weg zu sein schien.
"Cehren", sagte er vorsichtig und wartete
eine Reaktion ab. Der Dunkelelf ihm gegenüber hob den Kopf und blickte
ihn mit nichts sagenden Augen an.
"Ja?"
"Nun, ich danke dir, dass du mir im Wald den
Rücken frei gehalten hast, aber ich frage mich, wieso du dich dazu
entschieden hast, uns zu begleiten."
Cehren sah aus dem Spalt zwischen den Planen
und Fellen am hinteren Ende des Wagens auf die Straße und nach einem
Augenblick gab er Antwort.
"Ich wollte weg von den Druiden. Ich kenne
die Welt außerhalb ihrer Festung kaum."
Shade war überrascht. Cehren hatte die
ganze Reise über kein Wort gesprochen. Und nie hatte man ihm irgendeine
Gefühlsregung angesehen. Nur im Wald, als er an Shades Seite gegen
die Untoten gekämpft hatte. Cehren hatte eine unglaublich hasserfüllte
Ausstrahlung gehabt.
"Warum", fragte Shade, "hast du nie die Feste
verlassen?"
"Sie hielten mich dort fest." antwortete Cehren.
"Karkalon, der Meister der Festung, wollte einen Krieger erschaffen. Einen
perfekten Krieger. Diesem Experiment sollte ich zum Zwecke dienen."
Es war Shade neu, dass die Gilde der Druiden
sich mit Krieg befasste, denn noch nie hatte er von einem Druidenkult gehört,
der sich dem Kampf verschrieben hatte. Doch solche Neuigkeiten überraschten
ihn immer weniger, denn schließlich hatte er im Gebirge schon gesehen,
wie die Kriegergilde und die Magiergilde plötzlich zusammenarbeiteten.
Er fragte sich, ob es einen Zusammenhang gab.
"Wie bist du zu den Druiden gekommen?"
"Ein Sklavenhändler verkaufte mich an
Karkalon. Ich war noch sehr jung damals und erinnere mich kaum an diese
Zeit."
Shade bemerkte nun eine Gefühlsregung
bei Cehren. Das ganze Thema schien ihm unangenehm zu werden und so entschloss
sich Shade dazu, nicht weiter Fragen zu stellen.
Doch nun fiel ihm etwas auf. Er hatte vorher
nicht darauf geachtet und der Kampf mit dem Dämonen hatte zum Grossteil
seine Gedanken beherrscht. Doch nun, da er von diesen Gedanken abgelenkt
gewesen war, fiel ihm zum ersten Mal auf, welch ein Dunkelelf Cehren war.
Seine weißen Haare, die wie angeboren wirkende stolze und aufrechte
Haltung. Cehren war zweifelsohne ein Abkömmling der Kaschinen. Jenem
Wandervolk der Dunkelelfen, die immer auf der Reise sind und immer weiter
forschen, um ihr Wissen über Magie und Zauberei zu vertiefen und zu
verbessern. Jenes Wandervolk, deren tote, zerrissene Körper vor dem
Wald lagen, in dem der Dämon sich eingenistet hatte. Diese Reise brachte
für Shade immer neue Rätsel hervor und er hoffte, sie in Nefarat
lösen zu können.
Das Gasthaus war gut gefüllt und an jedem
Tisch saßen neue, Kazahni unbekannte befremdend wirkende Gestalten.
Hier eine Gruppe von Kriegern, die ihre Breitschwerter, Schilde und Bögen
an die Seite des großen Tisches gelehnt hatten, um nun belebte Diskussionen
über vergangene Abenteuer zu führen, während sie klobige,
bis zum Rand gefüllte Glaskrüge schwenkten, und dort eine Gruppe
Mönche, die ihre Krüge auf dem Tisch vor sich anstarrten und
nur selten ein leises Wort miteinander sprachen. Kazahni entschied sich
dafür, erst einmal ruhig die Situation zu überblicken, denn ihr
Instinkt für Gefahr und Bedrohungen schlug hier, in dieser neuen ungewohnten
Umgebung Daueralarm. Sie schritt durch einen schmalen Weg zwischen den
Tischen an betrunkenen, singenden und sich unterhaltenden Menschen vorbei
zu einem kleinen, leeren Tisch in einer etwas dunkleren Ecke des Raumes,
wo sie sich schließlich setzte. Zögernd nahm sie ihr Schwert
unter dem Gewand hervor und lehnte es an die Seite ihres Tisches, wie sie
es bei den Kriegern gesehen hatte. Dabei achtete sie darauf, dass es immer
in Reichweite war, denn im Gegensatz zu den meisten Gästen fühlte
sie sich nicht sicher und geborgen in diesem Raum, sondern eher bedroht,
wie auf einem Schlachtfeld. Sie sah sich einen Moment lang um, doch nichts
hier regte in ihr die Stimme zum Sprechen an, die sie an diesen Ort geführt
hatte. Plötzlich spürte sie eine Präsenz neben sich. Ein
Leben, dessen Aura sie sofort spürte. Instinktiv griff sie nach dem
Griff ihres Schwertes, doch gerade rechtzeitig kam sie zur Besinnung und
sah neben sich.
Eine zierliche, dennoch aufrechte junge Frau
war an den Tisch getreten und blickte freundlich, wenn auch etwas erschrocken
in die toten Augen der Kriegerin. Dann begann sie zu sprechen:
"Willkommen in der gebrochenen Lanze. Was
darfs denn sein?"
Kazahni war durcheinander. Sie zog die Hand
zurück und legte sie mit der anderen Hand zusammen in den Schoß.
Sie war verwirrt und wusste nichts Genaues auf die Frage zu antworten,
doch nach kurzem Mustern der Situation kam ihr in den Sinn, dass die Getränke
und das Essen, welches die Gäste verzehrten, irgendwo her kommen musste.
War dieser Mensch der Beauftragte, der die Speisen überbrachte?
"Was die Männer dort drüben in ihren
Krügen haben. Was ist das?"
Die kleine Frau blickte zu dem Tisch mit den
Kriegern hinüber und antwortete schließlich etwas verdutzt:
"Nun, das ist Bier. Das verkaufen wir hier
am meisten..."
Kazahni überlegte kurz.
"Gut. Ich nehme das auch."
Mit einem Kopfnicken verabschiedete die junge
Frau sich und ging zu einem länglichen Tisch, wo sie kurz mit einem
dicken, kahlköpfigen Mann sprach. Dann ging sie weiter an Tische,
wo Gäste sie heranwinkten um ihre Bestellungen aufzugeben.
Rio war wach geworden. Sie lag auf dem Rücken
und starrte die Decke des Wagens an, der leicht schaukelnd die Straße
nach Nefarat hinunter fuhr. Sie musste immer wieder an den Dämon denken,
der sie im Wald verschlungen hatte. Diese Leere, die sie gespürt hatte.
Diese ewige, kalte Leere. Sie bekam Angst, als sie sich zurück dachte
in die Eingeweide dieser Kreatur, doch auf eine merkwürdige Art und
Weise erfüllte sie dieser Gedanke mit Neugierde. Wo wäre das
Ende dieser ewigen Finsternis gewesen? Was wäre wohl mit ihrem Geist
geschehen, hätte Shade sie nicht befreit? Fragen wie diese surrten
ihr ständig durch den Kopf, doch sie konnte nicht sonderlich lange
darüber nachdenken, denn mit der Zeit vertrieb die Angst wieder die
Neugier und sie brauchte Ablenkung.
Sie sah sich in dem kleinen wankenden Raum
um. Leise Geräusche der stahlbeschlagenen Räder, welche die Kutsche
über die mit Schotter geebnete Straße trugen, drangen in den
Innenraum ein und hin und wieder knackte ein Ast, der unter die schweren
Räder kam. Rio lag noch immer auf den Fellen, die sie in der Kutsche
entdeckt und sich zurecht gelegt hatte, und Leila, die nah neben ihr lag,
schlief noch immer. Sie schien gut und tief im Schlaf versunken zu sein
ohne Albträume und mit ruhiger Atmung. Rio hoffte, das würde
so bleiben, denn Leila schien sehr mitgenommen zu sein von den Ereignissen
im Inneren des Dämons, was ihr auch niemand übel nehmen konnte.
Rio selbst wunderte es, dass sie so gut damit umgehen konnte, wenngleich
ihre Gedanken auch ständig an diesen verfluchten Ort zurück wanderten.
Irgendwann, so hoffte sie, würde sie
das alles vergessen haben.
Auf dem Tisch standen nun zwei Gläser.
Das eine war ein großer Krug mit gelblicher Flüssigkeit, die
als Bier bezeichnet wurde, und in dem anderen, etwas kleinerem Glas,
welches Kazahni mit der rechten Hand umschloss, war normales, klares Wasser,
welches sie bestellt hatte, um den Geschmack des Bieres weg zu spülen,
den Kazahni nur als scheußlich bezeichnen konnte. Dennoch war sie
fasziniert von diesen Geschmäckern, in deren Genuss sie vorher
nicht mal ansatzweise gekommen war. Alles, was sie in den letzten vierhundert
Jahren zu sich genommen hatte, war Wasser gewesen, aus dem der tote Körper
die Frische zog, die Energie um sich am zerfallen zu hindern. Und das tat
er sehr gut, denn man konnte Kazahni rein optisch nicht von einem noch
lebenden Menschen unterscheiden, auch wenn sie etwas blass war. Alles,
was sich verändert hatte, waren die Augen gewesen. Sie waren nicht
grün, blau, gelb oder braun, wie bei anderen Menschen. Ihre Augen
wirkten leblos und waren dennoch faszinierend für die, die sie erblickten.
Dunkelrote Pupillen umgaben sich mit einem dunklen, metallischen Silber,
welches von verschwindend dünnen roten Fäden durchzogen wurde.
An diesem Detail wurde sie immer von Menschen unterschieden, auch wenn
niemand genau zu sagen wusste, welcher "Rasse" Kazahni angehören mochte.
Schließlich glaubte man in einer Stadt wie dieser fest daran, dass
Tote unter der Erde ihr zuhause hatten, und nicht in einer Gaststube Bier
tranken.
Zögernd setzte sie den großen Krug
an und nahm einen Schluck daraus, den sie sofort mit etwas Wasser hinunter
spülte. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, was der Grund sein
mochte, warum man ein solches Getränk erfunden hatte, wenn Wasser
doch vollkommen reichte um zu leben. Kazahni hatte auch davon gehört,
dass Menschen Früchte auspressten und den Saft tranken, was sich schon
besser anhörte als dieses Gesöff.
Sie trank den Krug leer und daraufhin leerte
sie auch das Glas in einem Zug. Schließlich entschloss sie sich dazu
zu gehen, denn hier ließen die Stimmen nichts von sich hören
und darauf wartete sie ja letzten Endes. Als sie gerade nach ihrem Schwert
griff und aufstehen wollte trat wieder die Frau an den Tisch. Sie lächelte
freundlich.
"Kann ich noch etwas bringen?"
Kazahni sah nachdenklich auf die beiden Gläser,
bevor sie antwortete.
"Nein... Danke."
"Gut. Das sind dann ein Bier und ein Wasser.
Macht drei Silbergroschen!"
Sie lächelte noch immer freundlich, doch
schwang in ihrem Blick auch etwas ängstliches, verunsichertes mit,
als sie plötzlich bemerkte, dass die Frau vor ihr immer noch die Hand
auf den Knauf ihres Schwertes gelegt hielt und sie emotionslos aus merkwürdig
gefärbten Augen ansah. Erst nach einer kurzen Weile des Schweigens
bemerkte das Mädchen im Gesicht der Fremden einen fragenden Ausdruck.
Kazahni war etwas verwirrt. Sie wusste nichts
von Silbergroschen oder dergleichen. Es wollte ihr nicht in den Sinn, warum
man Silber mit sich rum tragen sollte, wenn Stahl doch viel härter
und sicherer war. Ein Kettenhemd aus Silber wäre doch reinste Verschwendung
von Körperkraft. Und selbst wenn. Ihr fiel kein Grund ein, wieso sie
ihr dieses Silber, wenn sie denn welches hätte, geben sollte. Dann
sah sie noch einmal zum Tisch und auf die beiden geleerten Gläser.
War es eine Art Tausch? Silber gegen Nahrung? Sicher, sie hatte von Menschen
gehört, die Waren gegen Metall in Form kleiner Scheiben tauschten.
Geld, soweit sie sich erinnern konnte. Aber Nahrung war Leben. Leben im
Tausch gegen Metall? Als Tote wusste sie das Leben nur gering zu schätzen,
aber es war doch mehr wert als ein paar Münzen aus Silber. Wo sie
herkam, in den Heeren, teilte man Wasser, wenn man welches hatte, und in
den seltensten Fällen tauschte man Wasser gegen eine Waffe ein, doch
Waffen bedeuteten in dieser Welt genauso das Leben wie alles andere, denn
wer sich nicht verteidigen konnte, hatte sein Leben schon verwirkt.
Kazahni sah wieder zu der jungen Frau auf
und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht was passieren
würde wenn sie etwas falsches tat. Sie könnte dieser Frau den
Kopf von den Schultern schlagen. Sie könnte jedem hier im Raum den
Kopf von den Schultern schlagen nur war Mord in dieser großen Stadt,
in der man Leben mit Metall kaufen konnte, ein großes Verbrechen.
Die Frau wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger und langsam verschwand
das Lächeln aus ihrem Gesicht. Die Augen zuckten zwischen Kazahnis
Gesicht und dem Schwert, auf dessen Knauf immer noch ihre Hand lag, hin
und her.
Als Kazahni grade in den Sinn kam, ein Blutbad
zu veranstalten ohne Zeugen zu hinterlassen, packte sie eine große,
kräftige Hand an der Schulter. Wäre der Griff etwas fester gewesen,
hätte die Untote wahrscheinlich aus purem Reflex mit roher Gewalt
reagiert, ihr Schwert war schließlich in Reichweite. Doch so sah
sie nur kurz an dem Mann hoch, der sich neben sie gestellt und lachend
die Hand auf ihre Schulter gelegt hatte. Er gab der Frau drei silberne
Metallstücke und mit den Worten: "Meine kleine Freundin hier hat eine
lange Reise hinter sich und ist noch etwas verwirrt. Ich bitte das zu entschuldigen!"
schien er die junge Bardame besänftigt zu haben. Nachdem er sich selbst
noch ein Bier bestellt hatte, ging die Frau wieder. Der Mann setzte sich
lächelnd. Er war ein Abenteurer, das sah man sofort an seiner hünenhaften
Gestalt und dem langen, wilden Haar, welches an den Seiten kurz geschoren
war und hin und wieder von silbern glänzenden Metallstücken verziert
wurde, die in die Strähnen eingeflochten worden waren. Sein Gesicht
zeigte sehr maskuline und harte Züge welche hin und wieder von Narben
vergangener Kämpfe durchzogen wurden, die aber nicht entstellend wirkten.
Nein, sie passten ganz gut ins Gesamtbild. Der Mann lachte kurz und dann
fing er an zu sprechen.
"Guten Tag, hübsches Kind. Hättest
fast ganz schön Ärger gekriegt, was?"
Kazahni zog wieder die Hand vom Griff ihres
Schwertes zurück und entspannte sich wieder. Der von Muskeln übersäte
Kerl ihr gegenüber hätte sicher sehr gefährlich werden können,
doch momentan schien er nicht in Kampfeslaune zu sein. Er nahm eine schwere
Streitaxt von seinem Rücken und lehnte sie an die Tischkante neben
Kazahnis Schwert. Einen großen runden Schild, den er ebenfalls auf
den Rücken geschnallt hatte, ließ er dort und es schien ihn
nicht zu stören, als er sich an die Lehne des Holzstuhles lehnte auf
dem er saß und der ohnehin wirkte, als wäre er viel zu klein
für den Mann.
Er musterte Kazahni kurz und fing wieder an,
laut zu lachen. Dann sprach er mit tiefer und durchdringender Stimme weiter.
"Ich bin Ragnor, ein Abenteurer aus den mittleren
Gebirgen."
Kazahni erwiderte seinen Blick emotionslos
und wusste nichts mit der Situation anzufangen, denn es wurde nicht offensichtlich,
wie ihr die Bekanntschaft mit einem Abenteurer aus den Berglanden helfen
könnte.
"Was willst du von mir?"
"Oh, nun duzen wir uns schon. Es geht ja schnell
voran!"
Er lachte. Ein sehr selbstbewusster Mensch,
dachte sich Kazahni, die nicht wusste, ob sie weiter reden oder einfach
aufstehen und gehen sollte. Sehr selbstbewusst, oder sehr dumm!
"Nun," fuhr Ragnor fort "Ihr... Du
sahst mir aus wie eine Dame in Schwierigkeiten. Da wollte ich helfen. Außerdem
scheinst du abenteuerlustig zu sein."
"Wer sagt das?"
"Ach komm. Einen Abenteurer erkenne ich auf
hundert Meter Entfernung. Ich bin schließlich selbst schon einer
so lange wie ich denken kann."
"Dein sechster Sinn scheint dich hin und wieder
zu täuschen!"
Kazahni entschied sich dazu einfach zu gehen
und den Kerl hier mit seinem Bier sitzen zu lassen. Er würde ihr nicht
helfen. Als sie aufstand und gerade ihr Schwert schultern wollte sah der
Hüne zu ihr auf und lächelte. Sie hatte gerade den ersten Schritt
in Richtung Tür gemacht, als Ragnor etwas sagte, was sie zum Zögern
brachte.
"Nun, wenn du hier in Nefarat großes
Abenteuer suchst bist du wahrscheinlich auf falscher Fährte. Aber
es gibt da eine kleine Gruppe, die sich selbst Totengräber
nennen. Sie könnten interessant für dich sein."
Bei dem Namen klingelte es plötzlich
und Kazahni setzte sich wieder. Ragnor grunzte vergnügt und lächelte
sie freundlich an.
"Wieso meinst du, sie wären interessant
für mich?"
Er lachte wieder.
"Nun, ich kenne deine Sorte. Düster,
ruhig und ohne nennenswerte Manieren."
Er beugte sich über den Tisch und als
er das gut rasierte Kinn auf die übereinander gelegten Handflächen
legte und mit den dicken Ellenbogen auf der Tischplatte abstützte,
änderte sich sein Lächeln von offen und freundlich zu geheimnisvoll
und verwegen. Ruhig, aber sehr deutlich sprach er weiter.
"Ja, ich hatte schon mit welchen zu tun, die
dir sehr ähnlich waren, auch sie kannte ich nicht wirklich gut, doch
eines wurde mir schnell klar: Sie waren gefährlich. Abenteurer einer
anderen Sorte. Einer weitaus ernsteren und düsteren Art."
Kazahni wusste, was er meinte. Sie Hatte solche
Abenteurer
einst in den Heeren ausgebildet und nun suchte sie kurz nach dem Wort,
welches Menschen für sie benutzten.
"Auftragsmörder" sagte sie, ohne sich
auch nur im Geringsten darum zu kümmern, ob sie belauscht wurden oder
jemand in der Nähe war, der bei solch gewagten Themen die Ohren spitz
machen könnte.
"Ja, wenn du an solchen Abenteuern
Interesse haben solltest... Nun, ich kann dir verraten, wo du sie findest."
"Und du denkst, ich würde Aufträge
von solch düsteren Gestalten annehmen?"
Ragnor sah sich kurz um und versicherte sich,
dass niemand ihnen zuhörte. Dann wandte er sich wieder Kazahni zu
und nun schien sein Gesichtausdruck noch verwegener und zum ersten Mal
schwang etwas Gefährliches in seinen Zügen mit.
"Nun ja, ehrlich gesagt, habe ich einen Auftrag
angenommen von einem Mann, der sie tot sehen will."
Das überraschte Kazahni nun, auch wenn
sie das in ihren Zügen zu verstecken wusste und Ragnor diese Tatsache
nicht mitbekam. Doch sie wusste instinktiv, dass sie diese dunkle Vereinigung
treffen musste. Ob sie sie nun töten sollte oder nicht war einerlei.
Das würde sich später herausstellen.
"Ich bin ganz Ohr!"
Die Gruppe war aus dem Planwagen gestiegen,
der seinen Weg zu einem der großen Marktplätze der Stadt suchte
und nun standen sie auf der großen Hauptstraße, die die östlichen
Stadtviertel miteinander verband. Ein Geschäft nach dem anderen konnte
man hier vorfinden und die Gebäude waren teilweise bis zu fünf
Stockwerken hoch. Halt eine Großstadt mit viel Geld. Die grob geschlagenen
und reichlich mit Mörtel verarbeiteten Steinblöcke der Wände
ließen die Gebäude sehr stabil und massiv wirken. Die obersten
Stockwerke dagegen waren meist aus Holz und ab dem Dritten Stock gingen
fast überall von Haus zu Haus Streben und Brücken, manche Für
Massen gedacht, massiv und breit, andere nur Hängebrücken zwischen
zwei Häusern. Auf den kleineren Gebäuden schien es weiter zu
gehen mit den Geschäften und Märkten. Dort tummelten sich Menschen,
Elfen und Bürger aller Art um Waren und Güter aller Art zu kaufen
oder zu verkaufen. Es wirkte als hätte die ganze Stadt mehrere Etagen.
Die Truppe um Shade wanderte die Straße
entlang. Vorbei am Trubel und dem Lärm der Läden und Gasthöfe,
vorbei an all den Gestalten, die aus allen Regionen in und um Eliasa zu
kommen schienen. Verkäufer grölten Preise in die Menge und redeten
ihre Waren gut. Aus den Kneipen und Wirtshäusern hörte man feiernde
Menschen, manchmal die Klänge von Lauten oder anderen hier beliebten
Instrumenten. Straßenmusiker saßen an fast jeder Ecke, sangen
und spielten. Rio sah sich um. An Shades Seite war sie in ihrem noch sehr
jungen Leben schon weit gereist, hatte Menschen und Kreaturen aller Art
und aller Rassen gesehen, doch hier versammelten sich Gestalten, die ihr
noch vollkommen fremd waren. Männer und Frauen aus dem Süden.
Selten traf man sie in diesen kalten Regionen an, doch hier waren viele
von ihnen. Sie verkauften ihre exotischen Waren, oder kauften Waren, die
hier üblich waren, doch für sie fremd und exotisch wirken mussten.
Und dann waren da Orks aller Gattungen und Clans, die mit Packtieren durch
die Straßen zogen, die entfernt an überzüchtete Bullen
erinnerten. Seit ihrer Begegnung mit dem Dämon hatte Rio sich noch
nicht so sehr wieder von ihren Gedanken ablenken können, wie an diesem
Ort. Es war einfach beeindruckend.
Shade sah sich genau um. Es war lange her,
seit er das letzte mal hier war. Es hatte sich vieles verändert. Fast
die ganze Stadt schien ein bis zwei Stockwerke aufgebaut zu haben, und
der Gasthof, den er suchte, war in einer kleinen Gasse versteckt, die er
in all dem Gewimmel leicht hätte übersehen können. Doch
schließlich fand er die kleine Straße und die anderen folgten
ihm. Cehren sah sich noch einmal um. Er mochte diese Stadt nicht so recht.
Er fühlte sich unsicher unter so vielen Menschen, was man ihm allerdings
kaum ansah. Er war es einfach nicht gewohnt.
Umso weiter sie in die kleine Gasse gingen,
desto weiter schien der Lärm und das Leben entfernt zu sein. Immer
weniger Menschen kamen ihnen entgegen und irgendwann sahen sie niemanden
mehr auf der Straße. Als sie etwa eine halbe Stunde gegangen waren,
fand Shade endlich das lang ersehnte Schild, des Gasthofs "Zum Schwarzen
Drachen". Es war ein recht großes Gebäude, das perfekt mit der
Umgebung verschmolz. Etwa drei Etagen hoch, aus massiven Steinbrocken gebaut
und oben mit Holz verkleidet. Türen und Fensterahmen waren aus massivem
Holz gezimmert. Die Fenster waren undurchsichtig, grob gegossen und kaum
Licht drang durch sie hindurch.
Schade ging die Stufen zur Tür hoch und
sah sich noch mal um. Die Anderen folgten ihm zögernd, als der Dunkelelf
die schwere Tür öffnete und eintrat.
Drinnen war es dunkel. Von dem Gang, der vor
ihnen lag, sahen Shade und seine Kameraden nur Umrisse. Ein schwaches Licht
kam von irgendwo her, nur von wo wusste noch niemand zu sagen. Shade ging
ein paar Schritte in den Gang hinein. Cehren ging ihm langsam nach. Er
warf einen Blick durch einen breiten Durchgang auf der rechten Seite. Es
schien die Bierstube zu sein. Schwaches Licht fiel durch die dicken, halb
durchsichtigen Fenster ein, doch es vermochte den Raum nicht vollkommen
zu erhellen. In dem großen Kamin auf der anderen Seite des Raums
war kein Feuer entfacht.
"Nicht viel Betrieb, hm?"
Shade ging weiter. Rio und Natalia blieben
an der Tür zurück. Die Junge Frau schlang ihre Arme um das Mädchen,
die von der Stille sichtlich beunruhigt schien. Cehren folgte Shade bis
zum Ende des Ganges. Dann sagte er leise und kalt, wie es seine Art war:
"Hier ist niemand. Vielleicht ist dieses Gasthaus
noch nicht mal mehr bewohnt... Bist du sicher, dass du dich nicht vertan
hast?"
Ohne sich umzudrehen, schüttelte Shade
leicht den Kopf und antwortete, während er sich weiter umsah.
"Es ist das richtige Haus. Ich erkenne alles
wieder. Beim letzten Mal war es nur etwas... belebter, verstehst du?"
Kurz herrschte wieder Stille, dann wandte
sich Shade an Cehren.
"Ich werd mich mal weiter oben umsehen."
Als er die Treppe am Ende des Flurs zur Hälfte
gegangen war, drehte er sich um und sah zu seinen Gefährten zurück.
"Was ist? Kommt ihr mit?"
Das zweite Stockwerk war ebenso leer wie das
erste. Alle Türen waren verschlossen und es gab kaum Licht. Doch als
sie sich etwas genauer umsahen fand Cehren eine Treppe, die in ein weiteres
Stockwerk empor führte. Shade erinnerte sich sofort. Bei seinem letzten
Aufenthalt hier hatte man ihn auch nach oben geführt, wo er dann sein
Versprechen gab, das er nun einlösen wollte. Die Vier nahmen die Treppe
ins dritte Stockwerk. Sie knarrte und knackte bei jeder einzelnen Stufe.
Der Türbogen oben war schon alt. Sehr alt. Hier wurde wirklich seit
all den Jahren nichts verändert. Und es waren viele Jahre, deswegen
würde es Shade nicht wundern, wenn Nerophan ihn nicht mehr erkennen
würde...
Sie kamen in einen kleinen Raum, der voll
gestellt war mit Utensilien für den Haushalt, wie Besen, Eimern oder
anderen Sachen, von denen weder Shade noch Cehren Ahnung hatten. Sie waren
Krieger keine Hausfrauen. Deshalb fragte Cehren im ersten Augenblick auch
etwas verwundert, was sie denn in einer solchen Abstellkammer suchten.
Es würde sich ja kaum ein alter und anscheinend überaus weiser
Magier hier zwischen Besen und Schneeschaufeln versteckt halten. Shade
ignorierte diese Bemerkung, stellte ein paar Eimer zur Seite und öffnete
eine weitere Tür, die in der Wand kaum zu erkennen war. Sie führte
in einen größeren Raum. Er war randvoll mit Regalen, in denen
jede Menge Sachen gelagert waren, die auf einen Magier oder zumindest einen
guten Druiden schließen ließen. Kräuter aller Arten, Wurzeln,
Bücher im Überschuss und Gläser mit Körperteilen und
kleinen eingelegten Kreaturen darin. Es war geradezu unheimlich.
Ein kleiner Gang führte zu einer weiteren
Tür. Eine Flügeltür, die halb offen stand. Von innen schien
ein Licht heraus.
"Da, seht ihr?"
Shade deutete auf die Tür.
"Es ist doch jemand hier."
Sie gingen auf die Tür zu, als sich plötzlich
ein großer Schatten vor das Licht legte. Eine dunkle Gestalt war
aus der Tür getreten und im Schimmer des Lichtes aus dem anderen Raum
konnte man erkennen, dass es ein Mensch war. Ein Südländer mit
schwarzer Hautfarbe. Er musste sich ducken, damit er nicht mit dem Kopf
gegen die Decke stieß. Cehren trat einen Schritt zurück zu Rio
und Leila. Leila beugte sich etwas vor und flüsterte Cehren ins Ohr.
"Der sieht nicht aus wie ein alter, weiser
Magier!"
Die Stimme des Hünen, der nun den Weg
versperrte, ertönte. Sie war tief und ruhig. Gleichzeitig schwang
jedoch der Hauch einer Drohung in seinen Worten mit.
"Wer seid ihr, und was wollt ihr hier?"
Shade, der nicht beeindruckt schien, antwortete
kühl und gelassen.
"Ich bin Shade, das sind meine Weggefährten,
Freunde von mir. Ich komme, um den großen Meister Nerophan zu sprechen."
Der Riese verneigte sich kurz vor Shade. Dann
sprach er wieder.
"Es wurde mir gesagt, dass ihr kommen würdet.
Seid unser Gast, Shade vom Clan der Tarun’Dai. Tritt ein. Deine Gefährten
können dich nicht begleiten."
Er machte eine Geste in den Raum hinein, als
winke er jemanden heraus. Kurz darauf kam ein untersetzter bärtiger
Mann mit einer auffällig großen Nase heraus. Er schien trotz
seines Alters noch sehr vital und man merkte ihm an, dass er ein fröhlicher
Mensch war, schon mit den ersten Worten, die er sprach. Und Shade erkannte
ihn sofort wieder.
"Was? Ah Kundschaft, welch Seltenheit hier
in unserem Haus. Es freut mich, wirklich. Kommt mit runter, ihr seid sicher
hungrig!"
Mit einem Lächeln auf den Lippen ging
der Mann an Shade vorbei und hätte den Dunkelelfen dabei glatt übersehen.
Shade sah ihm kurz nach.
"Gwimbart?"
Der Mann blieb kurz vor der Tür stehen
und drehte sich um. Mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck trat er
wieder ein paar Schritte an Shade heran.
"Trügen mich meine alten Augen, oder
bist du es wirklich?"
Shade lächelte kurz und das reichte,
um den alten Mann zu überzeugen.
"Shade!!! Das gibt’s ja nicht. Dass ich dich
mal wieder sehe nach all den Jahren. Wer hätte das gedacht. Was führt
dich hier her? Ein Auftrag? Wilde Abenteuer?"
Wieder entlockte es Shade ein Lächeln.
"Nein, Gwimbart, alter Freund. Ich hatte damals
versprochen, dass ich zurück kommen würde. Und zwar genau an
diesem Tag. Weißt du nicht mehr?"
Gwimbart schien kurz zu überlegen.
"Ah, nach all den Jahren vergisst man so etwas
manchmal. Ich bin nur ein Mensch. Unser Verstand lässt mit der Zeit
nach. Nicht wie ihr Dunkelelfen."
Er machte eine kurze Pause. Dann fuhr er mit
einem Grinsen im Gesicht fort.
"Ich freue mich aber, dich hier wieder zu
sehen. willkommen in unserem Haus!"
Mit den Worten schloss er das Gespräch
und wandte sich dem Rest der Truppe zu.
"So, kommt mit, ich werde euch was auftischen.
Mal sehen, was noch so rum liegt unten. Mein Gott, ihr müsst verhungern."
Noch aus den Gängen des zweiten Stockwerks
schallte Gwimbarts Geplapper empor und Shade sah ihm lächelnd hinterher.
Plötzlich spürte er eine große schwere Hand auf seiner
Schulter. Als er sich umdrehte sah er in das Gesicht des Südmenschen,
der die Tür bewachte. Shade nickte nur und betrat dann das Zimmer.
© V.Geist
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