Diese Geschichte ist ab 2006 am Drachentaler Wettbewerb leider nicht mehr teilnahmeberechtigt,
da sie in den vorherigen Jahren zu wenig Punkte erhalten hat.
 
Der Schattentänzer von Paul Tobias Dahlmann

Hoch ragten die grauen Basaltzinnen der Gevsteine in den Himmel. Noch höher hinauf aber ragten die Türme der Stadt Viomded, die auf ihrem höchsten Gipfel saß wie eine Krone auf dem Haupt eines alten Königs in einem fernen Reich. Doch über keinen Fußweg, so schmal er auch hätte sein mögen, war sie zu erreichen. Allein schlanke Luftschiffe, deren Segel im Dreieck angeordnet waren, konnten zu ihren Plätzen und Toren gelangen. Und wenn das geschliffene Holz und das glitzernde Metall dann erstmals seit Tagen wieder den Boden berührte, dann glitt es fließend auf weiße Marmorterassen. Und wo diese Terassen nicht an den fein zissellierten Fassaden verspielter großer Vielfamilienvillen mündeten, da liefen sie in reichen Gärten aus, die stets darauf warteten, dem Ermüdeten Erholung zu gewähren.

Am Rande eines dieser Gärten stand ein junger Mann namens Gehan Luhowerm. Er stand im Schatten eines Allfruchtbaumes und seine Hand langte gerade im Nebenher hinauf und pflückte eine süße Frucht, ohne ihren Platz am Baum je zuvor gekannt zu haben. Gehan biß hinein. Regelmäßig bewegte sich seine Gesichtshaut im metallischen Schimmern über seinen langgezogenen Wangenknochen. Ein leichter, kühler Luftzug strich durch sein halblanges, platinfarbenes Haar. Auch über seine Kleidung aus feinster Drommelheim-Seide. Andere Djinnen flanierten im hellen Grün eines alt gewordenen Frühlings auf schmalen breiten Wegen an ihm vorbei. Er beachtete sie nicht. Nicht die Schönheit ihrer immer jugendlich glitzernden Augen, nicht den hohen Sang ihrer melodischen Stimmen, nicht den Tanz, der ihr Gang war. Auch nicht die wunderschönen Züge und anziehenden Formen der jungen und ewigjungen Mädchen und Frauen. Seine Gedanken galten dem Schatten. Dem Schatten des Baumes, der ihn beschirmte, den Schatten der Nacht, die ihn verbargen, den Schatten der Sterne, die er nur träumen konnte. Nicht böse waren für ihn diese Schatten,  und keine Angst hatte er vor der Dunkelheit, keine vor der Nacht. Die Schatten waren seine Freunde und wo sie waren, da war er zuhause. In ihnen alleine konnte er sich sicher fühlen in seiner Freiheit. Und so suchte er des Baumes Schatten, meidend das Farbspiel des goldenen Lichtes eines sonnigen Tages.

Gehan trug einen Umhang. Er hob einen Arm und schlug die Kapuze über, so daß sie seinen Kopf vollständig verbarg. Sogleich verschwamm seine Gestalt im Dunkel, verschwand und wurde unsichtbar. Doch keinem fiel es auf. Und leise träumend tanzte er zu einer Villa, einem hohen Bau mit vielen Balkonen und Giebeln. Und keiner vermag sagen zu können, ob auf seinem Weg dorthin er den Schatten folgte oder die Schatten ihm. Sicher ist nur eines, daß er nämlich mit großem Geschick die Fassade erkletterte, bis er endlich das gesuchte Fenster erreicht hatte. Geschmeidig und ohne daß selbst eine der Zimmerpflanzen ihn mit ihren Pflanzensinnen erspürt hätte, schlüpfte er hindurch. In jenem Zimmer aber saß allein eine alte Frau vor einem Buch. Sie las da von Helden, las von Schönheit, las von besseren Zeiten. Ihr eigenes Leben hatte sie längst gelebt, viele hundert Jahre lang, ihre Hoffnungen hatte sie begraben und sie war sich ihrer selbst überdrüssig geworden. So hatte sie Gehan gebeten, daß er sie töten möge. Nicht sofort, hatte sie gesagt, sondern eines Tages, wenn Frieden ihr Herz beherrsche, möge er dies tun. Und Monate waren seit diesen Worten vergangen. Und an diesem schönen Tag schien unserem Schattentänzer die Zeit nun gekommen zu sein. Also tötete er die Alte, schnell und schmerzlos, ohne daß sie davon etwas hätte merken können. Warum aber auch sonst niemand bemerkte, daß der Tod der Alten ein widernatürlicher war, selbst die Götter nicht, das wird wohl auf ewig das Geheimnis von Gehans Berufsstand bleiben.
 

© Paul Tobias Dahlmann
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