Die Schneeprinzessin von der Schwertbraut
5: Der Klammwald (2)

//Ayrin öffnete die Augen.
Sie saß auf einem Thron aus Kristall in einem prachtvollen Thronsaal, dessen Kuppeldecke von kunstvoll geschliffenen Kristallsäulen getragen wurde, die an den äußeren Wänden mit Bögen verbunden waren. Sie wirkten wie gigantische Prismen und brachen das einfallende Licht der Sonne, so dass es der verspiegelte Boden tausendfach zurückwarf.
Zwischen den Säulen befanden sich keine Fenster. Die Mauern und Flachdächer einer schneeweißen Stadt leuchteten in der Sonne.
Eine angenehm leichte Brise ließ die fast durchscheinenden Vorhänge, die von den Bögen hingen, sanfte Wellen schlagen.
Ihr schienen dieser Ort und die Menschen um sie herum so vertraut.
Frauen und Männer in prächtigen Gewändern unbekannten Schnittes standen im Saal.
Sie schielte nach rechts. Dort stand ein hochgewachsener Mann. Schwarzes Haar umrahmte sein asketisches Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Er sah zu ihr. Stahlblaue Augen ruhten wohlwollend auf ihr.
Ayrin erkannte ihn sofort. Der Name dieses Mannes war Finor. Er war auch schon Anija im Traum begegnet.
Hastig blickte sie auf die andere Seite. Links vom Thron stand eine rothaarige Waldläuferin. Auch von ihr hatte sie gehört. Lanna war ihr Name. Sie war die Traumgestalt ihrer Schwester. Sie erschrak ein wenig.
Und sie, Ayrin, eine Magd, saß auf dem Thron des Goldenen Reiches. Erlebte sie diese Wirklichkeit als Schneeprinzessin?
"Habt Ihr Euch entschieden, Hoheit?" Eine weißgewandete Frau riss sie aus ihren Überlegungen.
Das leicht gewellte graue Haar floss ungebändigt ihren Rücken hinab bis zu ihrer Hüfte. Ihre Augen hatten einen seltsamen Violett-Ton. Das schmale Gesicht war, trotz der grauen Haare, vom Alter unberührt geblieben.
"Ja, Silfona", hörte sie sich sagen.
Silfona drehte sich in Richtung der schweren zweiflügligen Tür.
"Bittet General Orun herein! Prinzessin Anira wird ihn nun empfangen."
Die Wächter, die davor standen, nickten und öffneten sie. Die Flügel schwangen nach außen auf. Im Raum vor dem Saal stand ein hochgewachsener Mann in einer prächtigen schwarzen Paraderüstung. Er hatte ein anziehendes schmales Gesicht und blaue Augen. Sein Haar war platinblond und er trug es zu einem Zopf, der ihm über die Schulter bis zu der Fibel, die seinen scharlachroten Umhang hielt, fiel. Der einzige Makel, den sein Gesicht aufwies, war eine verblasste Narbe, die von seinem rechten Auge senkrecht bis zu seinem Kinn reichte. Seinen Helm hatte er unter den Arm geklemmt.
Langsam trat er ein. Die Flügel der Tür schlossen sich mit einem leisen Geräusch wieder. Er verharrte eine Weile mit gesenktem Haupt. Seine Schultern hoben und senkten sich im Takt seines Atems.
Dann hob er den Kopf. Ayrin blickte ihm direkt in die Augen. Gemächlichen Schrittes kam er durch das Spalier der anwesenden Personen auf sie zu.
Orun machte eine Verbeugung. Ein erwartungsvoller Ausdruck legte sich auf sein Gesicht.
Ayrin in Aniras Körper - oder war es doch ihr eigener? - stand auf. Sie sah ihm fest ins Gesicht, als sie sagte: "Ich danke Euch, General, aber ich muss ablehnen. Es..."
"NEIN!" Er warf seinen Helm auf den Boden. Spiegel barsten.
Ein Raunen ging durch die Menge.
"Orun, ich muss doch sehr bitten!" Finor war nun vorgetreten.
"Vergesst nicht, mir wem Ihr sprecht!" Auch Lanna hatte einen Schritt nach vorn gemacht.
"Es darf nicht sein." Er versuchte, seine Stimme so ruhig als möglich zu halten. Jedoch in seinen Augen spiegelten sich Wahnsinn und Hass. Oruns Gesicht verzog sich zu einer hasserfüllten Fratze.
"Du gehörst mir!" Er kam immer näher, die Hände nach ihr ausgestreckt.
Anira wich zurück. Finor und Lanna zogen ihre Waffen und stellten sich vor sie.
"Orun! Zurück!", donnerte Finor und ging auf ihn zu.
"NEIN! Sie gehört mir, keinem sonst!" Sein Atem ging schneller.
Orun versuchte, sich an Lanna vorbeizudrängen, jedoch Finor packte ihn von hinten und riss die Arme des Generals zurück.
"Gernot, Arn! Helft mir!"
Beide waren sich, was Größe und Kraft anging, ebenbürtig.
Zwei Männer, die etwas weiter weg vom Thron standen, kamen sofort herbei. Ayrin erkannte sie. Auch von ihnen hatte Anija geträumt. Gernot, ein sehniger Krieger mit braunem Haar, und Arn, noch ein halbes Kind. Finor umschlang Oruns Oberkörper. Sie griffen nach Oruns Armen.
"Elwen, Kiria! Nehmt ihm die Waffen ab!" Arn hatte alle Mühe, den kräftigen Arm festzuhalten.
Eine Alwin und eine kleine Menschenfrau stürzten herbei. Elwen machte seinen Schwertgurt los und Kiria zog ihm einen Dolch aus dem Stiefel.
"Bringt sie außer Reichweite!" Finor und die zwei anderen zerrten den zornigen General aus dem Thronsaal.
"ANIRA! Du wirst bereuen, dass du mich abgewiesen hast! Ich verfluche dich, Drachenhexe!"
"SCHWEIG!" Der alte Léar hatte sich nun auch eingemischt. "Ich dulde nicht, dass du Ihre Hoheit beleidigst!"
Anira sank auf ihren Thron. Die Umstehenden flüsterten miteinander. Worte der Empörung schwebten in der Luft. Ayrin bekam Angst. Sie schloss die Augen.\\

Das Erste, was Ayrin nach ihrem Aufwachen bemerkte, war das verschleierte Gesicht einer Frau. Goldplättchen hielten den blaugrünen Schleier in der Stirn und ein halbtransparentes meergrünes Tuch bedeckte ihr Gesicht bis über die Nase. Einzig und allein ihre strahlenden blauen Augen waren zu erkennen.
Ihre geschickten Hände bereiteten Umschläge aus Kräutersud und legten sie ihr auf die Stirn.
Ayrin versuchte, sich aufzusetzen. Doch die verschleierte Frau drückte sie mit sanfter Gewalt auf die Erde.
Sie drehte sich in Richtung Feuer. "Sie ist wach." Dann stand sie auf und ging zur Feuerstelle.
Sofort kamen Anija, Rys, Ghim, Daimyon, Hauptmann Loan und Rem zu Ayrin.
"Ich dachte schon, es wäre aus mit dir..." Anija kniete zu ihrer Schwester und strich ihr ein paar nasse Strähnen aus der Stirn.
"Geht es dem Mädchen gut?" Auch Eris kam angewatschelt. Sie neigte sich zu Ayrin hinunter, die sich plötzlich sehr schlecht fühlte.
"Es tut mit Leid, Frau Eris... Das Wasser für Ihre Hoheit..."
"Ruhig, mein Kind... Das konnte niemand vorhersehen. Hauptsache, dir geht es gut. Ruh dich nun aus. Anija wird deine Pflichten mittragen."
Anija nickte.
"Wie bin ich hergekommen? Ich erinnere mich nur noch an diesen Mann und Daimyon hat mit ihm gekämpft... Dann wurde mir schwarz vor Augen."
"Ich hab dich hergebracht. Du bist zusammengebrochen. Rys hat mir von einem geheimen Eingang zu einem unterirdischen Tempel erzählt, einem seltsamen Stein und einem Schwert, das nur du tragen kannst." Dai hatte sich neben sie gesetzt.
"Wo..." Sie blickte panisch nach allen Seiten.
"Bei deinen Sachen. Die Prinzessin hat vielleicht getobt, als wir dich bewusstlos herbrachten." Er lächelte freudlos.
"Ich nehme nicht an, dass sie dies aus Sorge um mich tat..."
"Ihr ging es um das Quellwasser..." Ghim brummte missmutig.
"Ein Herrscher ist für seine Untertanen verantwortlich. Er hat sich um ihr Wohl zu kümmern", stellte Rem ausdruckslos fest.
"Ist das bei eurem Volk so?" Ayrin war unwohl bei dem Gedanken, einfach nur dazuliegen.
Die Zwillinge nickten.
"Das Volk dient dem Herrscher, indem es ihn mit Feldfrüchten und Wild versorgt, und im Gegenzug schützt der Herrscher sein Volk mit seiner ganzen Macht."
Rys hatte sich nun auch zu Ayrin gekniet.
"Du wirst schon wieder." Rys legte Ayrin ihre Hand auf die Schulter.
"Wer ist die Frau, die mir geholfen hat?" Ayrin nickte in Richtung Feuerstelle, wo sich die Fremde gerade an einem Mörser zu schaffen machte.
"Ihr Name ist Kaia. Sie tauchte einfach so aus dem Wald auf, nachdem wir dich hergebracht hatten." Dai musterte sie misstrauisch.
"Sie trägt seltsame Gewänder..." Ayrin schaute noch eine Weile zu Kaia. Diese hantierte immer noch mit Mörser und Stößel. Ab und an gab sie etwas Moos in den Mörser. Etwas später füllte sie das zermahlte Moos in einen irdenen Becher und goss heißes Wasser darüber. Dann stand sie auf und kam wieder zu Ayrin.
Kaia lächelte: "Ich komme aus einem Land, weit im Süden. Dort ist dies", sie berührte ihr Gewand mit einer Hand, "die übliche Bekleidung der Frauen." Sie kniete sich zu ihr.
"Woher wusstet Ihr..."
Kaia rührte mit einem Silberlöffelchen, welches sie aus ihrem Ärmel gezaubert hatte, in dem Becher.
"Sagen wir, ich habe einen sechsten Sinn dafür. Hier trink, aber pass auf, es ist heiß. Der Trunk wird dich schlafen lassen und deine Kräfte wieder herstellen."
Sie stützte Ayrins Kopf mit einer Hand und führte mit der anderen den Becher an ihren Mund. Scharfer Geruch drang an ihre Nase. Sie nippte vorsichtig daran. Dann verzog sie das Gesicht. "Es schmeckt furchtbar bitter..."
Kaia nickte. "Ich weiß. Aber versuch, noch etwas zu trinken."
Angewidert leerte Ayrin den Becher. Eine angenehme Wärme breitete sich in ihr aus. Ihre Glieder wurden schwer und langsam glitt sie in einen erholsamen Schlaf.

Als Ayrin am nächsten Morgen erwachte, ging es ihr schon viel besser. Sie fühlte sich nicht mehr schwach und ihr erster Gedanke galt der seltsamen Vision, die sie in ihrer Bewusstlosigkeit hatte. Sie stand auf, rollte ihre Decken zusammen und ging auf die Suche nach ihrer Schwester. Sie musste sich unbedingt mit Anija unterhalten.

Missmutig rührte Anija im Eintopf herum. Die Heilerin Kaia saß neben ihr auf einem Stein und säuberte ihre Tiegelchen in einer Schüssel. Beide sahen auf.
"Schwesterchen!" Anija ließ die Kelle fallen und stürmte auf Ayrin zu. Sie umarmten sich. "Komm mit, du bist sicher hungrig." Anija zog Ayrin mit ans Feuer. "Setz dich. Ich geb’ dir was." Ohne auf eine Antwort ihrer Schwester zu warten, füllte Anija eine Holzschüssel mit Eintopf, steckte einen Löffel hinein und drückte sie ihr in die Hand.
Schweigend löffelte Ayrin das Frühstück.
"Anija, ich..." Ayrins Stimme war leiser als gewöhnlich.
Die Angesprochene rührte weiter im Eintopf herum.
"Hm?"
"Schwester, ich hatte einen seltsamen Traum..."
Das Wort Traum ließ Anija aufhorchen; sie legte die Kelle quer über den Kessel und drehte sich ruckartig zu ihrer jüngeren Schwester um.
"Wie meinst du das?", fragte sie vorsichtig mit einem Blick auf Kaia. Diese schien jedoch nichts gehört zu haben und putzte weiter ihre Tiegel.
"Er war deinem sehr ähnlich..." Sie starrte auf ihren Eintopf.
Weiter kam sie nicht. Eine helle, herrische Stimme durchbrach die morgendliche Stille. Die dazugehörige schlanke Person - Prinzessin Séanizza - schritt energisch auf sie zu, gefolgt von Eris.
"Magd!", fuhr sie Ayrin an. "Wie kannst du es wagen, zu ruhen!?"
Ayrin schreckte hoch, dabei verschüttete sie ihren Eintopf, der beinahe auf den Saum des Reisegewandes der Prinzessin spritzte. Vor ihren Satinpantöffelchen bildete sich eine kleine Pfütze, welche aber sofort im Erdreich versickerte. Dass Ayrin sich die Hand leicht verbrüht hatte, würdigte Séanizza keines Blickes. Sie zerrte das Mädchen grob auf die Füße. Vor Schreck ließ sie die Schale mit den Resten des Eintopfes fallen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Fleck, der sich auf dem himmelblauen Stoff des Kleides bildete.
Séanizza hob die Hand und ließ sie heftig auf Ayrins Wange sausen.
"Du ungeschicktes Ding! Sieh nur, was du angerichtet hast!" Das königliche Gesicht war wutverzerrt.
Anija rutschte die Kelle aus der Hand. Sie ließ Eintopf, Eintopf sein und hastete zu ihrer Schwester und der tobenden Prinzessin.
"Bitte, Herrin!" Anija hob flehend die Hände. "Meine Schwester hat es nicht absichtlich getan. Ihr geht es noch nicht so gut. Seid gnädig..."
"Lasst gut sein, meine Liebe." Prinz Hagir war ebenfalls hinzugekommen, als er die aufgebrachte Stimme seiner Verlobten vernommen hatte. "Das Mädchen ist noch nicht ganz gesund. Denkt daran, Ihr seid für sie verantwortlich. Zurückschicken könnt Ihr sie nicht mehr. Lasst sie wieder richtig gesund werden. Außerdem", fügte er mit einem zynischen Lächeln hinzu, "lohnt es nicht, sich an einer Magd die Finger schmutzig zu machen."
Beide gingen davon und ließen eine wütende Anija, eine den Tränen nahe Ayrin und eine sichtlich verwirrte Kaia zurück.
Kaia stand auf und trat hinter Ayrin. Vorsichtig legte sie ihr eine Hand auf die Schulter. Anija drehte sich ruckartig zu ihrer Schwester um und drückte sie sanft.
"Komm, erzähl mir von deinem Traum."
Kaia kniete sich nieder und hob die Schüssel auf. Dann gesellte sie sich zu den Schwestern, die bereits wieder am Feuer saßen.
Nun war es an Ayrin, den Traum detailliert zu schildern. Anija und sie entdeckten seltsame Parallelen.
Ayrin blickte in den Himmel. Nach und nach kamen die Soldaten und Söldner, um sich ihr Frühstück zu holen. In ein bis zwei Stunden würden sie das Lager abschlagen und der Weg führte dann weiter in die Ausläufer des Klammwaldes, die tief in die Echo-Klamm reichten: Ins Rote Gebirge.
 

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Und sicher geht es hier bald weiter zum 6. Kapitel...

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