Sieben gegen Sieben von Itariss
Kapitel 3: Die Fronten

"Lasst uns gehen! Man wird uns sicher schon vermissen." 
Lonn nickte Riyonn und Imogen auffordernd zu. Daraufhin bahnten sie sich mühsam einen Weg durch das dichte Gebüsch, Gestrüpp und das Unterholz, dabei fiel nur wenig Licht durch das Blätterdach, sodass man nur mit Glück den Weg vor sich erkennen konnte.
Cios - Wall - nannten die Diebe der Gilde den sichelförmigen Wald, der Teras Andum und die Diebesstadt Revol Taron, die hauptsächlich vom Berauben anderer Städte, Dörfer, Handelskarawanen, die auf dem Weg zur Millionenstadt Kouwah die Straße um Teras Andum passieren mussten, und harmloser Wanderer lebte, zwischen zwei hohen schneebedeckten Gebirgszügen des Kmihon-Gebirges liegend, voneinander trennte. Gleichzeitig schloss der Cios die Grenze zwischen den Königreichen Randuin und Ganymed, die sonst vom Kmihon-Gebirge markiert wurde. Unter den Bewohnern Teras Andums verbreitete allein der Name des Sichelwaldes schon Angst und Schrecken. Sie verbanden das geheimnisvolle, unheimliche Äußere des Cios mit sämtlichen Märchen und Sagen, die mit Wäldern etwas zu tun hatten. So glaubten sie, teilweise gar nicht einmal so ungerechtfertigt, dass im Cios gefährliche und finstere Wesen hausten, manche vielleicht viel übler als nur Orcs oder die berüchtigten Riesenspinnen, mit denen man kleinen Kindern schon im zarten Alter das Fürchten vor dunklen großen Wäldern lehrte.
Für die Diebe aus Revol Taron war der Wald ihr größter Schutz, den sie hatten. Keiner der Städter würde es auch nur im Entferntesten wagen, den Wald zu betreten, selbst wenn sie etwas von Revol Taron ahnen könnten. Die einzige Vermutung über die Diebesstadt, die hin und wieder einmal in den Köpfen der Stadtoberhäupter umherwirbelte, war jene, dass die Diebe allerhöchstens ein kleines Lager inmitten des Cios hätten; zusätzlich hielten sie den Cios für größer und tiefer, als er war. Manche Städter glaubten, der Cios sei ein riesiger Wald, der in seinem Inneren abertausende unerklärliche und böse Geheimnisse berge. Darum nannten sie den Cios "Karaios" - Böses.
Einst war der Cios, oder Karaios, das Versteck des, aus sämtlichen Geschöpfen Valyars herausstechenden Wesens, des spinnenbeinigen Mutanten Taron Greyhand gewesen, der die Stadt Revol Taron gegründet hatte, und selbst der Führer der Diebesgilde war. Taron - ein Wesen, dessen Oberleib der eines Drows, eines Dunkelelfen war, und der den Unterleib einer Riesenspinne besaß.
"Riyonn?" Imogen stupste ihrem Bruder in den Rücken. "Was ist los? Du bist so seltsam verschwiegen seit wir dich gefunden haben." Sie hatte diese Bemerkung bis zu diesem Zeitpunkt verdrängt, weil sie sich nicht sicher gewesen war, ob sie ihn das fragen sollte. Doch nun musste sie es loswerden.
"Wieso seltsam?" Durch das Blätterdach des Waldes fiel ein Lichtstrahl auf Riyonns Gesicht, sodass Imogen es genau sehen konnte.
"Ich meine, du redest zwar sonst auch nicht besonders viel, aber immerhin hast du nicht ständig ins Leere gestarrt." Riyonn seufzte.
"Ich bin etwas verwirrt, das ist alles." Er versuchte über einen wild gewachsenen Himbeerstrauch zu klettern, ohne sich dabei die Haut aufzureißen. "Ich habe das Feuer um mich herum die meiste Zeit nämlich wirklich nicht gespürt. Ich war...", Riyonn unterdrückte die letzten Worte, die ihm auf der Zunge lagen. "...in einen Kampf mit einem Dämonen verwickelt, an einem schwarzen Ort, der scheinbar in meinen Gedanken bestehen soll", hatte er eigentlich noch sagen wollen, meinte aber, es sei vielleicht doch nicht so gut, Imogen in den Kampf einzuweihen.
Die Wunden, die Don Diaven ihm zugefügt hatte, machten sich seltsamerweise kaum bemerkbar, denn sie schmerzten nicht. Doch Riyonn wusste, dass sie da waren, er könnte sie mit der Hand ertasten, er konnte sie sehen, spürte das warme Blut über seine Schulter und seine Brust laufen. Wie das möglich sein konnte, wusste er sich jedoch nicht zu erklären. War es möglich, dass er die Schmerzen der Verletzungen, die er in dieser Schwärze verpasst bekommen hatte, auch nur dort erleiden konnte? Was waren das für sonderbare Dinge, die er nicht begriff, von Lich und Auserwählten, von Dagoras, Dämonen und diesem befremdlichen Ort gewesen? Was hatte es mit diesem warmen Strom in seinem Körper auf sich, der ihn plötzlich durchflossen und ermutigt hatte? War er wirklich auf einen verlorenen Teil von sich selbst gestoßen? Riyonn fühlte eine Veränderung in sich, als begann er sich zu einem anderen Menschen zu wandeln. Aber warum? Er selbst sah keine Möglichkeit, die das alles erklären könnte. Riyonn spürte das Zurückgezogen-Sein, die Wortkargheit und den Hang zum Allein-Sein in sich langsam ersterben. Oder war es nur so, dass sich seine angewöhnte Verschlossenheit aus ihm ausbaute? Aber etwas an dieser Wandlung irritierte ihn: er meinte einen Funken Böses darin zu erkennen. Vielleicht war es auch nur Einbildung – aber hätte er den Dagora sonst einfach so niederstechen können? Dabei war sich Riyonn beinahe todsicher, dass Don Diaven noch lebte.
Was passiert hier nur? Ich verstehe die Welt nicht mehr - nicht mehr so sehr wie vor wenigen Stunden.
Da erfasste ihn auf einmal das Gefühl von Furcht, als er seine Gedanken wieder so frei schweifen ließ, Furcht davor, Don Diaven könnte ihn nochmals zurück in diese Finsternis holen, um ihm den Gar aus zu machen. Zu seiner eigenen Beruhigung konzentrierte Riyonn sich auf seine Schritte über den laubbedeckten, unter seinen Füßen knirschenden Waldboden.
Schon bald hatte die kleine Gruppe das Ende des Walds erreicht. Vor ihnen ragte eine hohe Holzpalisade auf. Der Wall, der die Stadt Revol Taron umschloss. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Zwei Wachtposten versperrten den Weg durch das hölzerne Tor, den Eingang zur Diebesstadt Revol Taron. Sie musterten Lonn, Imogen und Riyonn mit emotionslosen Gesichtern.
"General Lonn, man hat Euch schon vermisst. Fast hätten sie Euch und Vieotans Kleinen auf die Verstorbenenliste gesetzt."
Wai Lonn lächelte ironisch und drückte sich zwischen den breitschultrigen, etwas stämmigen Posten hindurch und wies Riyonn und Imogen mit einer Handbewegung an ihm zu folgen. Imogen quetschte ihren schlanken Körper geschickt an den beiden Posten vorbei.
Die Wachen bogen sich vor Lachen. Riyonn schaute misstrauisch in die Gesichter der grölenden Wachen.
"Habt ihr zuviel getrunken, nach dem gestrigen Erfolg beim Raubzug?", fragte er grinsend, während er seine Ellenbogen in die Genitalien der Wächter rammte und sich so Durchgang verschaffte. Die sich vor Schmerz auf dem Boden windenden Posten hatten dem nichts mehr entgegenzusetzen und ließen Riyonn ungehindert passieren.
"Das tut mir aber leid", bemerkte Riyonn im Vorbeigehen weniger mitfühlend. Er war wieder da! Der Strom, er erfüllte Riyonns Bewegungen, machte mit ihm, was er wollte. Er hatte die Wachen nicht aus freien Stücken geschlagen, er war das nicht gewesen. Ein schwacher Ausdruck des Schreckens machte sich auf Riyonns Gesicht breit - damit verschwand das Gefühl auch schon wieder und Riyonn atmete erleichtert aus.
Lonn blickte den jungen Dieb kopfschüttelnd an.
"Respektloses Kind!", bemerkte er ein wenig abfällig. "Es war nicht nötig gewesen, das zu tun. Gut, möglicherweise haben sie ein wenig gefeiert und sind jetzt eben ein bisschen zu – aber das ist noch lange kein Grund, so eine Aktion daraus zu machen!"
Riyonn sah starr zu Boden. Doch Lonn war darüber schon wieder hinfällig geworden und legte ein zufriedenes Lächeln auf, als er die warmen Sonnenstrahlen seine Haut kitzeln spürte. 
Imogen blinzelte in die Sonne und gähnte.
"Du bist mir noch eine Antwort schuldig. Ich meine, eine vollständige Antwort. Was war los? Und was war das eben überhaupt?" Imogen blickte nun fragend in die grauen Augen ihres Bruders.
"Du hast es nicht nötig, mehr darüber zu erfahren!", ließ Riyonn sie kühl abblitzen.
"Schön. Jetzt bist du wenigstens wieder der Alte. Zu hochnäsig und zu sehr von seinen reinen `Männer-Angelegenheiten` überzeugt, um seiner Schwester einen Einblick in sein Privatleben zu verschaffen." Sie grinste. "Ach übrigens, du hast geschrieen."
"Wann?"
Imogen lachte leise. "Antwort gegen Antwort."
"Dann vergiss es."
Imogen verdrehte verärgert die Augen.
"Na gut, ich will ja nicht so sein. Im Feuer hast du geschrieen, als Lonn und ich dich gefunden haben. Du hattest den Mund zwar nicht geöffnet, noch irgendetwas anderes dabei bewegt, aber es war deine Stimme. Hast du davon nichts gemerkt?"
Riyonn schüttelte nachdenklich den Kopf. Sicher hatte er geschrieen, während er sich versucht hatte, dem Sog zurück in die Normalzeit zu widersetzen. Sollten seine Worte und Sätze, die er zu Don Diaven gesprochen hatte, etwa alle in der Normalwelt ebenfalls zu hören gewesen sein? Jedenfalls wollte Riyonn sich zunächst nicht mehr weiter mit diesen Überlegungen auseinandersetzen, erstens weil er einfach zu müde war, und zweitens, weil er es ohnehin nicht verstand.
"Geht nach hause, ruht euch aus und wascht euch bitte nach Möglichkeit. Aber ich vermute mal, dass ihr selbst nicht freiwillig so verschwitzt und verdreckt herumlaufen wollt. Ich werde uns bei Taron melden.", meinte Lonn, als sie die Hauptstraße der Diebesstadt entlanggingen, auf der, aufgrund des bis spät in die Nacht hinein gereicht habenden Raubzugs auf Teras Andum, so früh morgens noch nicht sonderlich viel Verkehr war. Lediglich einige Frauen auf dem Weg zum Markt, wo auch die Beutestücke verteilt und versteigert wurden, und Kinder, die sich keine Stunde des neuen Tags nehmen lassen wollten, um zu spielen, falls sie nicht jetzt schon in der Kaserne zu Räubern ausgebildet wurden.

* * *

Lonn steuerte auf ein großes steinernes Gebäude zu, das Haus Tarons. Vor der schweren Eichentüre postierten zwei Wächter, die dem General zum Gruß stumm zunickten. Wai Lonn betrat die düstere Eingangshalle.
"Man hat Euch vermisst, Lonn!" Durch die Dunkelheit der Halle leuchtete ein Paar orange Augen. Im Lichtstrahl eines kleinen spärlichen Fensters, des einzigen innerhalb des ganzen Raums, erkannte Wai Lonn acht riesige schwarze Spinnenbeine auf ihn zukommen.
"Taron! Zoran Vieotans Kinder waren noch im Feuer; ich hatte ihm geschworen, dass ich mich um die Kleinen kümmere."
Nun war Tarons Gesicht in dem Lichtstrahl sichtbar. Tiefe Narben zogen sich über das leichengraue Gesicht des Elfen, dessen leblos und schlangenartig blickende Augen den General in ihren Blick einbannten. Die eisblauen langen Haare hatte sich der Mutant in Rastas flechten lassen.
"Als General habt Ihr die Verantwortung für alle Eure Untergebene, nicht nur für Zorans Findlinge", erregte Taron sich, seine Augen blitzten auf. "Trotz allem, wobei ich mich insbesondere auf General Nimbuns recht lebensmüden Ausrutscher beziehe, ist der Überfall geglückt, Ihr habt mein Lob. Eigentlich gelte ja mir das größte Lob, da ich es war, der diesen genialen und präzisen Plan entwickelte."
Bei einem finsteren kalten Lächeln zeigte der Mutant seine spitzen Zähne. "Kann man Euch, Imogen und Riyonn wieder von der Vermisstenliste streichen, Lonn, oder seid Ihr alleine zurückgekehrt?"
"Sie sind auf dem Weg zu Zorans Haus, falls Ihr das meint." Wai Lonn mochte den sonderlichen Mutanten mit seiner unüberbietbaren Arroganz und Selbstverliebtheit nicht. Taron war zwar der Anführer, besaß trotz seiner manchmal etwas wahnsinnigen Ideologien und Vorstellungen eine große Überzeugungskraft, wenn er den Diebesgenerälen einen seiner Pläne für einen Raubzug auftischte, doch kaum war sein Gesicht von den Dieben abgewandt, konnte man fest damit rechnen, dass sie heftig über den Anführer diskutierten, meist der Ansicht waren, es wäre Zeit, dass der Mutant seinen Thron in Revol Taron verlasse und der Stadt den Rücken kehre. Innerlich teilte Lonn oftmals diese Meinung, sprach es jedoch nie aus, weil er wusste, Taron konnte vielleicht nicht überall hinsehen, aber sein Gehör war sehr gut und immer gespitzt. Hinzu kam Juizul Arm, der Nachtwächter, Schreiber und Mädchen für alles in Tarons Dienst, der ebenfalls stets beide Augen und Ohren offenhielt für alle Intrigen, Verschwörungen, Stadtgespräche und was sonst für Taron von Interesse sein konnte.
"Aber ja doch, selbstverständlich. Ihr dürft Euch entfernen, mein treuer General.", wies der Mutant immer noch grinsend Wai Lonn an zu gehen.
Beim Hinausgehen bemerkte der General, wie müde er inzwischen geworden war. Gähnend schlug er den Weg zu den Pferdeställen der Diebesgilde ein. Das lange hölzerne Gebäude widerspiegelte das Sonnenlicht in den roten Dachziegeln. An einer der Boxen stoppte Lonn. Vor ihm stand ein großes kraftstrotzendes schwarzes Pferd, eine Züchtung Revol Tarons, ein Revolaner. Der Hengst hatte graue Fesseln, einen weißen Fleck neben der Kuppe und besaß eine schnittförmige Narbe über dem rechten Auge, ein Andenken aus einer Fehde mit Händlern aus Kouwah. Ninelives war sein Name. Wai Lonn hatte den Hengst von seinem Vater Rei Lonn geerbt. Ninelives wieherte leise und rieb seinen Kopf an Lonns Brust.
"Hast du mich vermisst, mein Guter?", fragte der General und lächelte, wobei sich in seinen Wangen Grübchen bildeten. Ninelives schnaubte auf und blies seinen warmen Atem in Lonns Gesicht.

* * *

Riyonn und Imogen schlenderten gemächlich den Weg zu Zorans Haus entlang. Müde blinzelte Riyonn in die Sonne.
"Der Tagesstern ist stark heute."
Imogen seufzte kaum hörbar. "Eingebildeter Möchtegern-Poet. Wirst du mir irgendwann eine Antwort geben, Riyonn?"
Als wenn er die Frage nicht gehört hätte, sah Riyonn auf den staubigen Weg. "Es müsste mal wieder regnen. So trocken war es seit Jahren nicht."
"Lenk nicht von meiner Frage ab! Gib mir doch wenigstens darauf eine Antwort."
Riyonn grinste, als fühlte er sich ertappt. "Später vielleicht, Imogen. Jetzt brauche ich erst eine handvoll Schlaf", meinte er gähnend.
Imogen legte den Kopf schief. "Ich weiß nicht, was du für ein Problem hast. Du brauchst doch nur ja oder nein zu antworten, alter Starrkopf. Stattdessen weichst du bewusst immer vom Thema ab. Was bist du? Ein stummer Schafsbock, oder der Riyonn, den ich kenne, und der plant, der größte Dieb des Zeitalters zu werden? Du bist doch sonst auch großzügig beim Erzählen deiner Erlebnisse, wenn sie dich in ein gutes Licht rücken."
"He! Das mit dem Dieb habe ich nie behauptet!", entgegnete Riyonn erregt. Aus den Augenwinkeln verfolgte er Imogen, die vor Verärgerung ganz rot im Gesicht wurde.
"Na gut. Brauchst nichts zu sagen!"
"Ja!"
Imogen fuhr erstaunt herum. "Was Ja?"
Riyonn lachte. "Ja zu deiner Frage, Dummerchen!"
"Idiot!", fauchte Imogen.
Als die beiden das Haus erreichten blickte Imogen starr und wortlos auf die Tür, ohne Anstalten zu machen einzutreten. 
"Da fällt mir ein, wo ist Vater?", fragte Riyonn beiläufig.
Gerade eben diese eine Frage war Imogen auch in den Sinn gekommen, beim Anblick des Hauses von Zoran. Sie hatte versucht, den Tod Zorans bis jetzt zu verdrängen. Aber Riyonn hatte das Recht davon zu erfahren. Seufzend riss sie sich zusammen.
"Er ist... tot!"
Erschrocken verließ das Grinsen Riyonns Gesicht.
"A...aber wieso?" Vor seinem Inneren Auge spielten sich sämtliche Vorstellungen von der Todesszene ab.
"Ich weiß es nicht. Ich will es auch gar nicht wissen. Frag doch General Lonn, er war dabei. Dabei hat er Zoran versprochen, auf uns aufzupassen und für uns zu sorgen."
Schweigend öffnete Riyonn die Türe. Der morsche Holzfußboden knirschte und knarrte als er seinen Fuß darauf setzte. Beide sprachen nicht, blickten mit traurigen Gesichtern zu Boden. Riyonn fasste sich aber seltsamerweise ziemlich schnell wieder und schluckte den Gedanken an Zoran einfach hinunter. Oder war es wieder das Fremde in ihm, das ihn dazu zwang?
"Lass uns schlafen. Wir helfen uns selbst nicht damit, wenn wir in Traurigkeit versinken. Vater hätte das auch nicht gewollt.", startete Riyonn den Versuch Imogen zu trösten.
Sich darüber wundernd, weshalb ihr Bruder so schnell schon über den Verlust Zorans hinweg gekommen war, folgte Imogen ihm ins Haus. Hinter sich schloss sie die Türe wieder.
"Hast du Hunger?", fragte Riyonn sie mit einem Blick Richtung Küche. Imogen aber schüttelte den Kopf. Ihr erschien das Haus plötzlich so leer, verlassen, Zoran fehlte einfach. Als er zuhause gewesen war, brachte er jeden mit seinem forschen Ton sofort dazu irgendwelche Aufgaben zu erledigen, die gerade mal eben zu tun waren, sodass keinem die Zeit blieb, um über irgendetwas nachzudenken. Meist waren es Ausbesserungen am Dach, kochen, kehren oder Besorgungen gewesen. Jedenfalls hatte der alte strenge Mann immer etwas gefunden, selbst wenn er ihnen einfach nur irgendwelche Kampfübungen aufgebrummt hatte.
"Gehst du dich waschen?", wollte Imogen von Riyonn wissen, während sie noch unschlüssig neben dem Eingang stand.
"Zu müde, um jetzt noch Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen. Ein andermal. Wir werden durch das bisschen Dreck schon nicht umkommen", wehrte dieser ab, musste aber unweigerlich grinsen, als er an Lonns bittenden Ton dachte, was das Waschen betroffen hatte. Riyonn fand, dass es sich für einen Dieb regelrecht geziemte, ein wenig schmutzig auszusehen.

* * *

In seinem und ehemals auch Zorans Zimmer ließ Riyonn sich vollkommen übermüdet auf sein Bett nieder und streifte nur noch die Stiefel ab, ehe er in seinen schmutzigen, teilweise angekokelten Kleidern einschlief. Er verfiel in einen ereignislosen Traum.

* * *

Imogen atmete tief durch. Sie versuchte die Traurigkeit hinunter zu schlucken, aber es gelang ihr nicht. Ständig schob sich ihr das Bild des Leichenfelds vor die Augen. Riyonn konnte seine Gefühle verstecken, wie Imogen wusste. Keiner konnte ahnen, was in seinem, viel zu oft verschlossen denkenden Kopf vor sich ging. Hinzu kam seine plötzliche Veränderung. Seit Imogen und Wai Lonn ihn im Feuer aufgelesen hatten, verhielt er sich irgendwie seltsam. Eben anders als sonst. Früher hatte er fast nie an irgendwen ein Wort verschwendet, meist gegrübelt oder war aufgrund tiefster Gedankenversunkenheit nicht ansprechbar gewesen.
Nun sprach er recht viel mehr, wirkte fast fröhlich und riss sogar Witze. Imogen verwirrte das alles sehr. Aus ihrem stillen, zurückgezogenen Bruder wurde eine fremde Person. Aber immerhin war er derselbe Hitzkopf geblieben, meinte Imogen zu spüren. Wenigstens etwas, was sie an den alten Riyonn erinnerte. Diese Gedanken zur Seite schiebend, machte sich Imogen auf den Weg in ihr Zimmer. Ebenfalls wie Riyonn todmüde kroch sie voll angezogen unter die Decke ihres Bettes und fiel bald in tiefen Schlaf.

* * *

Da wurde Riyonns Stilletraum abrupt unterbrochen. Vor seinem inneren Auge tauchte ein in einen grauen Mantel verhülltes Wesen auf. Es war nicht alleine. Hinter ihm stand eine große Schar derselben Wesen.
"Da seid Ihr, Auserwählter.", sprach das Wesen mit klarer weicher Stimme. Das Wesen, dessen Blick erst auf den Boden gerichtet gewesen war, blickte langsam auf, und seine in einem weißen gleißenden Licht erstrahlenden Augen starrten Riyonn tief in die seinen. Riyonn begann zu schwitzen. Noch nie zuvor hatte ihn in einem Traum ein Wesen so direkt und durchdringend angeredet. Wenn es nur ein Traum war. Riyonn war sich da jetzt nicht mehr so sicher. Aber das Wesen wirkte nicht bedrohlich und fremd auf ihn, nein, fast wohl bekannt, wie ein alter Freund.
"Wer bist du?", fragte er verwirrt.
"Mein Name lautet Noreel, Fürst aus Illvahalin. Meine Aufgabe ist es, das Wissen der Welt zu hüten. Ich bin ein Cherubim."
Das Wesen strahlte auf einmal eine vertraute und freundliche Wärme aus. Noreel zog sich die Kapuze aus dem Gesicht und seine helle Haut reflektierte das grelle Licht seiner Augen; welche Riyonn nun auch besser erkennen konnte: Noreel hatte pupillenlose weiße Augen, die von kontrastreichen dichten schwarzen Wimpern umrandet waren. In seine Stirn hingen zwei weißblonde Haarstränen hinein. Insgesamt schien Noreel alt zu sein, älter als die ältesten Berge und Bäume, die Riyonn kannte, und doch hatte er feine weiche Züge, wie die eines Kindes.
"Was willst du von mir? Und warum nennst du mich Auserwählter? Ich bin ein einfacher Dieb und ein Räuber."
Das Wesen lachte mit freundlicher Stimme.
"Du bist erkoren, zusammen mit sechs anderen Auserwählten, die Welt vor den Untoten und den Lich zu befreien – wenn der Tag kommt, an dem diese auf unseren Planeten wiederkehren, zurück aus der Dimension, die wir Diener Enuârs `das Exil` nennen. Du bist der Erste unter den sieben."
Riyonn erschrak. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Don Diaven... die Lich... was es mit ihm zu tun hatte. Ohne zu zweifeln schenkte er den Worten des Wesens Glauben. Ein Cherubim? Das bedeutete, Noreel und all die anderen waren Engel!
"Was genau ist jetzt meine Aufgabe? Wohin soll ich gehen? Was hat es mit den Lich, den Untoten, den Dagoras und so weiter auf sich?", begann Riyonn mit seinen Fragen loszustürmen, doch der Cherubim unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
"Finde die Gräber! Der Stein ist die Antwort. Im Mondenschein ist alles klarer."
"Wie soll ich das schaffen? Ich habe keinen Anhaltspunkt. Wer werden die anderen sechs sein?" Wieder lachte das Wesen.
"Das musst du selbst herausfinden. Ich habe weder die Macht, noch den Sinn, dir dabei zu helfen, denn ich gefährde nicht nur mein eigenes Leben allein mit dieser Verbindung hier. Aber ich gebe dir eine einzige nützliche Hilfe: Gerjyho-Zura."
Damit verschwammen Noreel und die Verhüllten vor ihm. Riyonn schlug die Augen auf und war hellwach. Nachdem er seine Gedanken wieder einigermaßen geordnet hatte, schwirrte in seinem Kopf nur noch ein Wort: Gerjyho-Zura. War das nicht der Name dieses Magiers und Gelehrten, der Freund seines Vaters Zoran? Er glaubte sich zu erinnern, dass Zoran erst kürzlich einen Brief von diesem Gerjyho-Zura erhalten hatte. Ohne lange zu zögern, seine Müdigkeit völlig vergessend, schwang er sich aus dem Bett und lief in Imogens Zimmer. Diese lag friedlich schlafend in ihrem Bett, so als könnte sie in diesem Moment kein Wässerchen trüben. Unbeachtend dessen rüttelte Riyonn sie unsanft wach.
"Was... was ist los?", gähnte Imogen müde.
"Du weißt doch von diesem Gerjyho-Zura, nicht? Der Freund von Vater."
Imogen blinzelte schläfrig. "Und wenn?"
Ungeduldig verdrehte Riyonn die Augen. "Ich hatte einen Traum von einem Wesen, einem Cherubim namens Noreel. Es erzählte mir allerlei Dinge, unter anderem, dass ich ein Auserwählter sei, und die Aufgabe hätte, die Untoten und Lich zu besiegen, nach ihrer Wiederkehr in Valyar. Er redete irgendetwas von Gräbern, Steinen, im Mondenschein wäre alles klarer und gab mir als einzige Hilfe ein Wort, und zwar den Namen dieses Magiers: Gerjyho-Zura."
Imogen war nun hellwach. "Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich dich jetzt für größenwahnsinnig halten. Aber ich meine mich zu erinnern, dass ich auch irgendetwas von einem Noreel geträumt habe, nur weiß ich nichts mehr von dem, was er sagte. Scheinbar wollte er sich dir offensichtlicher zeigen, aus welchem Grund auch immer... sei’s drum." Imogen sprang aus ihrem Bett.
"Vater erzählte uns doch, Gerjyho-Zura habe sich getötet. Wahrscheinlich hat er das in seinem letzten Brief angekündigt. Soviel ich weiß, verwahrte Vater seine Briefe immer in seinem alten Schrank."
Rasch eilten die beiden zu diesem Schrank, der im Essraum an der hölzernen Wand stand. Riyonn und Imogen leerten und durchsuchten alle Schubladen von oben bis nach unten sorgfältig. Doch sie fanden keinerlei Briefe, die den Absender Gerjyho-Zuras trugen.
"Das kann doch nicht sein. Hier sind Briefe von sämtlichen Leuten der Welt, Trohim, dieser seltsame Zwerg, Kail, sein Bruder und alle möglichen und unmöglichen anderen, nur Gerjyho-Zura fehlt.", wunderte sich Imogen.
Plötzlich stieß Riyonn aus Versehen mit dem Ellenbogen an die Rückwand des Schranks. Sie klang ungewöhnlich hohl. Riyonn und Imogen grinsten sich vielsagend an. Als gelernte Diebe wussten sie, was das bedeutete. Imogen tastete die Rückwand vorsichtig ab. Bald fiel ihr ein winziger Holzvorsprung auf. Sie versuchte ihn nach hinten zu drücken, doch der Hebel rührte sich nicht vom Fleck.
"Lass das einen Mann erledigen!" Riyonn schob Imogen vom Schrank weg. Mit ganzer Kraft drückte er seine Hände gegen den Hebel.
Imogen grinste, als Riyonns Aktion nicht mehr Erfolg zeigte als ihre. "Da sieht man mal, was Männer so alles nicht können. Darf ich mal?"
Riyonn ging mit gereiztem Gesichtsausdruck zur Seite. "Wenn ich es nicht schaffe, dann du erst recht nicht."
"Manchmal muss man denken, anstatt einfach mit aller Kraft dagegen zu drücken. Versuchen wir´s mal mit ziehen.", entgegnete Imogen überlegen. Mit nur einem geringen Kraftaufwand zog Imogen den Hebel zu sich her. In der Rückwand des Schranks öffnete sich eine kleine Luke, gerade groß genug, um Briefe darin aufzubewahren.
Riyonn lief vor Verlegenheit rot an.
"Seltsam, dass Vater diese Briefe in diesem Geheimversteck verstaute. Ob er sich vor irgendetwas oder irgendjemandem fürchtete?"
Imogen streckte Riyonn eine handvoll teilweise verknitterte Briefe entgegen, die sie aus der Luke genommen hatte. "Such nach dem neuesten Datum.", wies sie ihn an und widmete sich selbst dem Rest der rund zwanzig Briefe. 
"2. Mondzyklus 1772, 7. Mondzyklus 1765, 21. Tag nach der Wintersonnenwende, 1. Mondzyklus 1768... bei mir ist kein neuerer", bemerkte Imogen.
Bald stieß Riyonn jedoch  auf einen Brief, der erst vor wenigen Wochen geschrieben worden sein musste. Er trug das Datum des 18. Tages nach der Sommersonnenwende, des 6. Mondzykluses im Jahr 1777 nach dem Eisigen Schlaf, drittes Zeitalter, also Anfang dieses Sommers.
"Was steht drin? Nun mach schon, lies vor!", drängte Imogen ihren Bruder ungeduldig.
Riyonn nickte. Nachdem er den Umschlag entfernt und das Papier aufgefaltet hatte, wanderten seine Augen hastig über die Zeilen.
"Lies vor!" Neugierig sah Imogen ihn an.
"Na schön. Also, hier steht: ..."
 

© Itariss
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Und schon geht es weiter zum 4. Kapitel: Der Brief

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