"Lasst uns gehen! Man wird uns sicher schon
vermissen."
Lonn nickte Riyonn und Imogen auffordernd
zu. Daraufhin bahnten sie sich mühsam einen Weg durch das dichte Gebüsch,
Gestrüpp und das Unterholz, dabei fiel nur wenig Licht durch das Blätterdach,
sodass man nur mit Glück den Weg vor sich erkennen konnte.
Cios - Wall - nannten die Diebe der Gilde
den sichelförmigen Wald, der Teras Andum und die Diebesstadt Revol
Taron, die hauptsächlich vom Berauben anderer Städte, Dörfer,
Handelskarawanen, die auf dem Weg zur Millionenstadt Kouwah die Straße
um Teras Andum passieren mussten, und harmloser Wanderer lebte, zwischen
zwei hohen schneebedeckten Gebirgszügen des Kmihon-Gebirges liegend,
voneinander trennte. Gleichzeitig schloss der Cios die Grenze zwischen
den Königreichen Randuin und Ganymed, die sonst vom Kmihon-Gebirge
markiert wurde. Unter den Bewohnern Teras Andums verbreitete allein der
Name des Sichelwaldes schon Angst und Schrecken. Sie verbanden das geheimnisvolle,
unheimliche Äußere des Cios mit sämtlichen Märchen
und Sagen, die mit Wäldern etwas zu tun hatten. So glaubten sie, teilweise
gar nicht einmal so ungerechtfertigt, dass im Cios gefährliche und
finstere Wesen hausten, manche vielleicht viel übler als nur Orcs
oder die berüchtigten Riesenspinnen, mit denen man kleinen Kindern
schon im zarten Alter das Fürchten vor dunklen großen Wäldern
lehrte.
Für die Diebe aus Revol Taron war der
Wald ihr größter Schutz, den sie hatten. Keiner der Städter
würde es auch nur im Entferntesten wagen, den Wald zu betreten, selbst
wenn sie etwas von Revol Taron ahnen könnten. Die einzige Vermutung
über die Diebesstadt, die hin und wieder einmal in den Köpfen
der Stadtoberhäupter umherwirbelte, war jene, dass die Diebe allerhöchstens
ein kleines Lager inmitten des Cios hätten; zusätzlich hielten
sie den Cios für größer und tiefer, als er war. Manche
Städter glaubten, der Cios sei ein riesiger Wald, der in seinem Inneren
abertausende unerklärliche und böse Geheimnisse berge. Darum
nannten sie den Cios "Karaios" - Böses.
Einst war der Cios, oder Karaios, das Versteck
des, aus sämtlichen Geschöpfen Valyars herausstechenden Wesens,
des spinnenbeinigen Mutanten Taron Greyhand gewesen, der die Stadt Revol
Taron gegründet hatte, und selbst der Führer der Diebesgilde
war. Taron - ein Wesen, dessen Oberleib der eines Drows, eines Dunkelelfen
war, und der den Unterleib einer Riesenspinne besaß.
"Riyonn?" Imogen stupste ihrem Bruder in den
Rücken. "Was ist los? Du bist so seltsam verschwiegen seit wir dich
gefunden haben." Sie hatte diese Bemerkung bis zu diesem Zeitpunkt verdrängt,
weil sie sich nicht sicher gewesen war, ob sie ihn das fragen sollte. Doch
nun musste sie es loswerden.
"Wieso seltsam?" Durch das Blätterdach
des Waldes fiel ein Lichtstrahl auf Riyonns Gesicht, sodass Imogen es genau
sehen konnte.
"Ich meine, du redest zwar sonst auch nicht
besonders viel, aber immerhin hast du nicht ständig ins Leere gestarrt."
Riyonn seufzte.
"Ich bin etwas verwirrt, das ist alles." Er
versuchte über einen wild gewachsenen Himbeerstrauch zu klettern,
ohne sich dabei die Haut aufzureißen. "Ich habe das Feuer um mich
herum die meiste Zeit nämlich wirklich nicht gespürt. Ich war...",
Riyonn unterdrückte die letzten Worte, die ihm auf der Zunge lagen.
"...in einen Kampf mit einem Dämonen verwickelt, an einem schwarzen
Ort, der scheinbar in meinen Gedanken bestehen soll", hatte er eigentlich
noch sagen wollen, meinte aber, es sei vielleicht doch nicht so gut, Imogen
in den Kampf einzuweihen.
Die Wunden, die Don Diaven ihm zugefügt
hatte, machten sich seltsamerweise kaum bemerkbar, denn sie schmerzten
nicht. Doch Riyonn wusste, dass sie da waren, er könnte sie mit der
Hand ertasten, er konnte sie sehen, spürte das warme Blut über
seine Schulter und seine Brust laufen. Wie das möglich sein konnte,
wusste er sich jedoch nicht zu erklären. War es möglich, dass
er die Schmerzen der Verletzungen, die er in dieser Schwärze verpasst
bekommen hatte, auch nur dort erleiden konnte? Was waren das für sonderbare
Dinge, die er nicht begriff, von Lich und Auserwählten, von Dagoras,
Dämonen und diesem befremdlichen Ort gewesen? Was hatte es mit diesem
warmen Strom in seinem Körper auf sich, der ihn plötzlich durchflossen
und ermutigt hatte? War er wirklich auf einen verlorenen Teil von sich
selbst gestoßen? Riyonn fühlte eine Veränderung in sich,
als begann er sich zu einem anderen Menschen zu wandeln. Aber warum? Er
selbst sah keine Möglichkeit, die das alles erklären könnte.
Riyonn spürte das Zurückgezogen-Sein, die Wortkargheit und den
Hang zum Allein-Sein in sich langsam ersterben. Oder war es nur so, dass
sich seine angewöhnte Verschlossenheit aus ihm ausbaute? Aber etwas
an dieser Wandlung irritierte ihn: er meinte einen Funken Böses darin
zu erkennen. Vielleicht war es auch nur Einbildung – aber hätte er
den Dagora sonst einfach so niederstechen können? Dabei war sich Riyonn
beinahe todsicher, dass Don Diaven noch lebte.
Was passiert hier nur? Ich verstehe die
Welt nicht mehr - nicht mehr so sehr wie vor wenigen Stunden.
Da erfasste ihn auf einmal das Gefühl
von Furcht, als er seine Gedanken wieder so frei schweifen ließ,
Furcht davor, Don Diaven könnte ihn nochmals zurück in diese
Finsternis holen, um ihm den Gar aus zu machen. Zu seiner eigenen Beruhigung
konzentrierte Riyonn sich auf seine Schritte über den laubbedeckten,
unter seinen Füßen knirschenden Waldboden.
Schon bald hatte die kleine Gruppe das Ende
des Walds erreicht. Vor ihnen ragte eine hohe Holzpalisade auf. Der Wall,
der die Stadt Revol Taron umschloss. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel.
Zwei Wachtposten versperrten den Weg durch das hölzerne Tor, den Eingang
zur Diebesstadt Revol Taron. Sie musterten Lonn, Imogen und Riyonn mit
emotionslosen Gesichtern.
"General Lonn, man hat Euch schon vermisst.
Fast hätten sie Euch und Vieotans Kleinen auf die Verstorbenenliste
gesetzt."
Wai Lonn lächelte ironisch und drückte
sich zwischen den breitschultrigen, etwas stämmigen Posten hindurch
und wies Riyonn und Imogen mit einer Handbewegung an ihm zu folgen. Imogen
quetschte ihren schlanken Körper geschickt an den beiden Posten vorbei.
Die Wachen bogen sich vor Lachen. Riyonn schaute
misstrauisch in die Gesichter der grölenden Wachen.
"Habt ihr zuviel getrunken, nach dem gestrigen
Erfolg beim Raubzug?", fragte er grinsend, während er seine Ellenbogen
in die Genitalien der Wächter rammte und sich so Durchgang verschaffte.
Die sich vor Schmerz auf dem Boden windenden Posten hatten dem nichts mehr
entgegenzusetzen und ließen Riyonn ungehindert passieren.
"Das tut mir aber leid", bemerkte Riyonn im
Vorbeigehen weniger mitfühlend. Er war wieder da! Der Strom, er erfüllte
Riyonns Bewegungen, machte mit ihm, was er wollte. Er hatte die Wachen
nicht aus freien Stücken geschlagen, er war das nicht gewesen. Ein
schwacher Ausdruck des Schreckens machte sich auf Riyonns Gesicht breit
- damit verschwand das Gefühl auch schon wieder und Riyonn atmete
erleichtert aus.
Lonn blickte den jungen Dieb kopfschüttelnd
an.
"Respektloses Kind!", bemerkte er ein wenig
abfällig. "Es war nicht nötig gewesen, das zu tun. Gut, möglicherweise
haben sie ein wenig gefeiert und sind jetzt eben ein bisschen zu – aber
das ist noch lange kein Grund, so eine Aktion daraus zu machen!"
Riyonn sah starr zu Boden. Doch Lonn war darüber
schon wieder hinfällig geworden und legte ein zufriedenes Lächeln
auf, als er die warmen Sonnenstrahlen seine Haut kitzeln spürte.
Imogen blinzelte in die Sonne und gähnte.
"Du bist mir noch eine Antwort schuldig. Ich
meine, eine vollständige Antwort. Was war los? Und was war das eben
überhaupt?" Imogen blickte nun fragend in die grauen Augen ihres Bruders.
"Du hast es nicht nötig, mehr darüber
zu erfahren!", ließ Riyonn sie kühl abblitzen.
"Schön. Jetzt bist du wenigstens wieder
der Alte. Zu hochnäsig und zu sehr von seinen reinen `Männer-Angelegenheiten`
überzeugt, um seiner Schwester einen Einblick in sein Privatleben
zu verschaffen." Sie grinste. "Ach übrigens, du hast geschrieen."
"Wann?"
Imogen lachte leise. "Antwort gegen Antwort."
"Dann vergiss es."
Imogen verdrehte verärgert die Augen.
"Na gut, ich will ja nicht so sein. Im Feuer
hast du geschrieen, als Lonn und ich dich gefunden haben. Du hattest den
Mund zwar nicht geöffnet, noch irgendetwas anderes dabei bewegt, aber
es war deine Stimme. Hast du davon nichts gemerkt?"
Riyonn schüttelte nachdenklich den Kopf.
Sicher hatte er geschrieen, während er sich versucht hatte, dem Sog
zurück in die Normalzeit zu widersetzen. Sollten seine Worte und Sätze,
die er zu Don Diaven gesprochen hatte, etwa alle in der Normalwelt ebenfalls
zu hören gewesen sein? Jedenfalls wollte Riyonn sich zunächst
nicht mehr weiter mit diesen Überlegungen auseinandersetzen, erstens
weil er einfach zu müde war, und zweitens, weil er es ohnehin nicht
verstand.
"Geht nach hause, ruht euch aus und wascht
euch bitte nach Möglichkeit. Aber ich vermute mal, dass ihr selbst
nicht freiwillig so verschwitzt und verdreckt herumlaufen wollt. Ich werde
uns bei Taron melden.", meinte Lonn, als sie die Hauptstraße der
Diebesstadt entlanggingen, auf der, aufgrund des bis spät in die Nacht
hinein gereicht habenden Raubzugs auf Teras Andum, so früh morgens
noch nicht sonderlich viel Verkehr war. Lediglich einige Frauen auf dem
Weg zum Markt, wo auch die Beutestücke verteilt und versteigert wurden,
und Kinder, die sich keine Stunde des neuen Tags nehmen lassen wollten,
um zu spielen, falls sie nicht jetzt schon in der Kaserne zu Räubern
ausgebildet wurden.
* * *
Lonn steuerte auf ein großes steinernes
Gebäude zu, das Haus Tarons. Vor der schweren Eichentüre postierten
zwei Wächter, die dem General zum Gruß stumm zunickten. Wai
Lonn betrat die düstere Eingangshalle.
"Man hat Euch vermisst, Lonn!" Durch die Dunkelheit
der Halle leuchtete ein Paar orange Augen. Im Lichtstrahl eines kleinen
spärlichen Fensters, des einzigen innerhalb des ganzen Raums, erkannte
Wai Lonn acht riesige schwarze Spinnenbeine auf ihn zukommen.
"Taron! Zoran Vieotans Kinder waren noch im
Feuer; ich hatte ihm geschworen, dass ich mich um die Kleinen kümmere."
Nun war Tarons Gesicht in dem Lichtstrahl
sichtbar. Tiefe Narben zogen sich über das leichengraue Gesicht des
Elfen, dessen leblos und schlangenartig blickende Augen den General in
ihren Blick einbannten. Die eisblauen langen Haare hatte sich der Mutant
in Rastas flechten lassen.
"Als General habt Ihr die Verantwortung für
alle Eure Untergebene, nicht nur für Zorans Findlinge", erregte Taron
sich, seine Augen blitzten auf. "Trotz allem, wobei ich mich insbesondere
auf General Nimbuns recht lebensmüden Ausrutscher beziehe, ist der
Überfall geglückt, Ihr habt mein Lob. Eigentlich gelte ja mir
das größte Lob, da ich es war, der diesen genialen und präzisen
Plan entwickelte."
Bei einem finsteren kalten Lächeln zeigte
der Mutant seine spitzen Zähne. "Kann man Euch, Imogen und Riyonn
wieder von der Vermisstenliste streichen, Lonn, oder seid Ihr alleine zurückgekehrt?"
"Sie sind auf dem Weg zu Zorans Haus, falls
Ihr das meint." Wai Lonn mochte den sonderlichen Mutanten mit seiner unüberbietbaren
Arroganz und Selbstverliebtheit nicht. Taron war zwar der Anführer,
besaß trotz seiner manchmal etwas wahnsinnigen Ideologien und Vorstellungen
eine große Überzeugungskraft, wenn er den Diebesgenerälen
einen seiner Pläne für einen Raubzug auftischte, doch kaum war
sein Gesicht von den Dieben abgewandt, konnte man fest damit rechnen, dass
sie heftig über den Anführer diskutierten, meist der Ansicht
waren, es wäre Zeit, dass der Mutant seinen Thron in Revol Taron verlasse
und der Stadt den Rücken kehre. Innerlich teilte Lonn oftmals diese
Meinung, sprach es jedoch nie aus, weil er wusste, Taron konnte vielleicht
nicht überall hinsehen, aber sein Gehör war sehr gut und immer
gespitzt. Hinzu kam Juizul Arm, der Nachtwächter, Schreiber und Mädchen
für alles in Tarons Dienst, der ebenfalls stets beide Augen und Ohren
offenhielt für alle Intrigen, Verschwörungen, Stadtgespräche
und was sonst für Taron von Interesse sein konnte.
"Aber ja doch, selbstverständlich. Ihr
dürft Euch entfernen, mein treuer General.", wies der Mutant immer
noch grinsend Wai Lonn an zu gehen.
Beim Hinausgehen bemerkte der General, wie
müde er inzwischen geworden war. Gähnend schlug er den Weg zu
den Pferdeställen der Diebesgilde ein. Das lange hölzerne Gebäude
widerspiegelte das Sonnenlicht in den roten Dachziegeln. An einer der Boxen
stoppte Lonn. Vor ihm stand ein großes kraftstrotzendes schwarzes
Pferd, eine Züchtung Revol Tarons, ein Revolaner. Der Hengst hatte
graue Fesseln, einen weißen Fleck neben der Kuppe und besaß
eine schnittförmige Narbe über dem rechten Auge, ein Andenken
aus einer Fehde mit Händlern aus Kouwah. Ninelives war sein Name.
Wai Lonn hatte den Hengst von seinem Vater Rei Lonn geerbt. Ninelives wieherte
leise und rieb seinen Kopf an Lonns Brust.
"Hast du mich vermisst, mein Guter?", fragte
der General und lächelte, wobei sich in seinen Wangen Grübchen
bildeten. Ninelives schnaubte auf und blies seinen warmen Atem in Lonns
Gesicht.
* * *
Riyonn und Imogen schlenderten gemächlich
den Weg zu Zorans Haus entlang. Müde blinzelte Riyonn in die Sonne.
"Der Tagesstern ist stark heute."
Imogen seufzte kaum hörbar. "Eingebildeter
Möchtegern-Poet. Wirst du mir irgendwann eine Antwort geben, Riyonn?"
Als wenn er die Frage nicht gehört hätte,
sah Riyonn auf den staubigen Weg. "Es müsste mal wieder regnen. So
trocken war es seit Jahren nicht."
"Lenk nicht von meiner Frage ab! Gib mir doch
wenigstens darauf eine Antwort."
Riyonn grinste, als fühlte er sich ertappt.
"Später vielleicht, Imogen. Jetzt brauche ich erst eine handvoll Schlaf",
meinte er gähnend.
Imogen legte den Kopf schief. "Ich weiß
nicht, was du für ein Problem hast. Du brauchst doch nur ja oder nein
zu antworten, alter Starrkopf. Stattdessen weichst du bewusst immer vom
Thema ab. Was bist du? Ein stummer Schafsbock, oder der Riyonn, den ich
kenne, und der plant, der größte Dieb des Zeitalters zu werden?
Du bist doch sonst auch großzügig beim Erzählen deiner
Erlebnisse, wenn sie dich in ein gutes Licht rücken."
"He! Das mit dem Dieb habe ich nie behauptet!",
entgegnete Riyonn erregt. Aus den Augenwinkeln verfolgte er Imogen, die
vor Verärgerung ganz rot im Gesicht wurde.
"Na gut. Brauchst nichts zu sagen!"
"Ja!"
Imogen fuhr erstaunt herum. "Was Ja?"
Riyonn lachte. "Ja zu deiner Frage, Dummerchen!"
"Idiot!", fauchte Imogen.
Als die beiden das Haus erreichten blickte
Imogen starr und wortlos auf die Tür, ohne Anstalten zu machen einzutreten.
"Da fällt mir ein, wo ist Vater?", fragte
Riyonn beiläufig.
Gerade eben diese eine Frage war Imogen auch
in den Sinn gekommen, beim Anblick des Hauses von Zoran. Sie hatte versucht,
den Tod Zorans bis jetzt zu verdrängen. Aber Riyonn hatte das Recht
davon zu erfahren. Seufzend riss sie sich zusammen.
"Er ist... tot!"
Erschrocken verließ das Grinsen Riyonns
Gesicht.
"A...aber wieso?" Vor seinem Inneren Auge
spielten sich sämtliche Vorstellungen von der Todesszene ab.
"Ich weiß es nicht. Ich will es auch
gar nicht wissen. Frag doch General Lonn, er war dabei. Dabei hat er Zoran
versprochen, auf uns aufzupassen und für uns zu sorgen."
Schweigend öffnete Riyonn die Türe.
Der morsche Holzfußboden knirschte und knarrte als er seinen Fuß
darauf setzte. Beide sprachen nicht, blickten mit traurigen Gesichtern
zu Boden. Riyonn fasste sich aber seltsamerweise ziemlich schnell wieder
und schluckte den Gedanken an Zoran einfach hinunter. Oder war es wieder
das Fremde in ihm, das ihn dazu zwang?
"Lass uns schlafen. Wir helfen uns selbst
nicht damit, wenn wir in Traurigkeit versinken. Vater hätte das auch
nicht gewollt.", startete Riyonn den Versuch Imogen zu trösten.
Sich darüber wundernd, weshalb ihr Bruder
so schnell schon über den Verlust Zorans hinweg gekommen war, folgte
Imogen ihm ins Haus. Hinter sich schloss sie die Türe wieder.
"Hast du Hunger?", fragte Riyonn sie mit einem
Blick Richtung Küche. Imogen aber schüttelte den Kopf. Ihr erschien
das Haus plötzlich so leer, verlassen, Zoran fehlte einfach. Als er
zuhause gewesen war, brachte er jeden mit seinem forschen Ton sofort dazu
irgendwelche Aufgaben zu erledigen, die gerade mal eben zu tun waren, sodass
keinem die Zeit blieb, um über irgendetwas nachzudenken. Meist waren
es Ausbesserungen am Dach, kochen, kehren oder Besorgungen gewesen. Jedenfalls
hatte der alte strenge Mann immer etwas gefunden, selbst wenn er ihnen
einfach nur irgendwelche Kampfübungen aufgebrummt hatte.
"Gehst du dich waschen?", wollte Imogen von
Riyonn wissen, während sie noch unschlüssig neben dem Eingang
stand.
"Zu müde, um jetzt noch Wasser aus dem
Brunnen zu schöpfen. Ein andermal. Wir werden durch das bisschen Dreck
schon nicht umkommen", wehrte dieser ab, musste aber unweigerlich grinsen,
als er an Lonns bittenden Ton dachte, was das Waschen betroffen hatte.
Riyonn fand, dass es sich für einen Dieb regelrecht geziemte, ein
wenig schmutzig auszusehen.
* * *
In seinem und ehemals auch Zorans Zimmer ließ
Riyonn sich vollkommen übermüdet auf sein Bett nieder und streifte
nur noch die Stiefel ab, ehe er in seinen schmutzigen, teilweise angekokelten
Kleidern einschlief. Er verfiel in einen ereignislosen Traum.
* * *
Imogen atmete tief durch. Sie versuchte die
Traurigkeit hinunter zu schlucken, aber es gelang ihr nicht. Ständig
schob sich ihr das Bild des Leichenfelds vor die Augen. Riyonn konnte seine
Gefühle verstecken, wie Imogen wusste. Keiner konnte ahnen, was in
seinem, viel zu oft verschlossen denkenden Kopf vor sich ging. Hinzu kam
seine plötzliche Veränderung. Seit Imogen und Wai Lonn ihn im
Feuer aufgelesen hatten, verhielt er sich irgendwie seltsam. Eben anders
als sonst. Früher hatte er fast nie an irgendwen ein Wort verschwendet,
meist gegrübelt oder war aufgrund tiefster Gedankenversunkenheit nicht
ansprechbar gewesen.
Nun sprach er recht viel mehr, wirkte fast
fröhlich und riss sogar Witze. Imogen verwirrte das alles sehr. Aus
ihrem stillen, zurückgezogenen Bruder wurde eine fremde Person. Aber
immerhin war er derselbe Hitzkopf geblieben, meinte Imogen zu spüren.
Wenigstens etwas, was sie an den alten Riyonn erinnerte. Diese Gedanken
zur Seite schiebend, machte sich Imogen auf den Weg in ihr Zimmer. Ebenfalls
wie Riyonn todmüde kroch sie voll angezogen unter die Decke ihres
Bettes und fiel bald in tiefen Schlaf.
* * *
Da wurde Riyonns Stilletraum abrupt unterbrochen.
Vor
seinem inneren Auge tauchte ein in einen grauen Mantel verhülltes
Wesen auf. Es war nicht alleine. Hinter ihm stand eine große Schar
derselben Wesen.
"Da seid Ihr, Auserwählter.", sprach
das Wesen mit klarer weicher Stimme. Das Wesen, dessen Blick erst auf den
Boden gerichtet gewesen war, blickte langsam auf, und seine in einem weißen
gleißenden Licht erstrahlenden Augen starrten Riyonn tief in die
seinen. Riyonn begann zu schwitzen. Noch nie zuvor hatte ihn in einem Traum
ein Wesen so direkt und durchdringend angeredet. Wenn es nur ein Traum
war. Riyonn war sich da jetzt nicht mehr so sicher. Aber das Wesen wirkte
nicht bedrohlich und fremd auf ihn, nein, fast wohl bekannt, wie ein alter
Freund.
"Wer bist du?", fragte er verwirrt.
"Mein Name lautet Noreel, Fürst aus
Illvahalin. Meine Aufgabe ist es, das Wissen der Welt zu hüten. Ich
bin ein Cherubim."
Das Wesen strahlte auf einmal eine vertraute
und freundliche Wärme aus. Noreel zog sich die Kapuze aus dem Gesicht
und seine helle Haut reflektierte das grelle Licht seiner Augen; welche
Riyonn nun auch besser erkennen konnte: Noreel hatte pupillenlose weiße
Augen, die von kontrastreichen dichten schwarzen Wimpern umrandet waren.
In seine Stirn hingen zwei weißblonde Haarstränen hinein. Insgesamt
schien Noreel alt zu sein, älter als die ältesten Berge und Bäume,
die Riyonn kannte, und doch hatte er feine weiche Züge, wie die eines
Kindes.
"Was willst du von mir? Und warum nennst
du mich Auserwählter? Ich bin ein einfacher Dieb und ein Räuber."
Das Wesen lachte mit freundlicher Stimme.
"Du bist erkoren, zusammen mit sechs anderen
Auserwählten, die Welt vor den Untoten und den Lich zu befreien –
wenn der Tag kommt, an dem diese auf unseren Planeten wiederkehren, zurück
aus der Dimension, die wir Diener Enuârs `das Exil` nennen. Du bist
der Erste unter den sieben."
Riyonn erschrak. Plötzlich fiel es
ihm wie Schuppen von den Augen. Don Diaven... die Lich... was es mit ihm
zu tun hatte. Ohne zu zweifeln schenkte er den Worten des Wesens Glauben.
Ein Cherubim? Das bedeutete, Noreel und all die anderen waren Engel!
"Was genau ist jetzt meine Aufgabe? Wohin
soll ich gehen? Was hat es mit den Lich, den Untoten, den Dagoras und so
weiter auf sich?", begann Riyonn mit seinen Fragen loszustürmen, doch
der Cherubim unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
"Finde die Gräber! Der Stein ist die
Antwort. Im Mondenschein ist alles klarer."
"Wie soll ich das schaffen? Ich habe keinen
Anhaltspunkt. Wer werden die anderen sechs sein?" Wieder lachte das Wesen.
"Das musst du selbst herausfinden. Ich
habe weder die Macht, noch den Sinn, dir dabei zu helfen, denn ich gefährde
nicht nur mein eigenes Leben allein mit dieser Verbindung hier. Aber ich
gebe dir eine einzige nützliche Hilfe: Gerjyho-Zura."
Damit verschwammen Noreel und die Verhüllten
vor ihm. Riyonn schlug die Augen auf und war hellwach. Nachdem er seine
Gedanken wieder einigermaßen geordnet hatte, schwirrte in seinem
Kopf nur noch ein Wort: Gerjyho-Zura. War das nicht der Name dieses Magiers
und Gelehrten, der Freund seines Vaters Zoran? Er glaubte sich zu erinnern,
dass Zoran erst kürzlich einen Brief von diesem Gerjyho-Zura erhalten
hatte. Ohne lange zu zögern, seine Müdigkeit völlig vergessend,
schwang er sich aus dem Bett und lief in Imogens Zimmer. Diese lag friedlich
schlafend in ihrem Bett, so als könnte sie in diesem Moment kein Wässerchen
trüben. Unbeachtend dessen rüttelte Riyonn sie unsanft wach.
"Was... was ist los?", gähnte Imogen
müde.
"Du weißt doch von diesem Gerjyho-Zura,
nicht? Der Freund von Vater."
Imogen blinzelte schläfrig. "Und wenn?"
Ungeduldig verdrehte Riyonn die Augen. "Ich
hatte einen Traum von einem Wesen, einem Cherubim namens Noreel. Es erzählte
mir allerlei Dinge, unter anderem, dass ich ein Auserwählter sei,
und die Aufgabe hätte, die Untoten und Lich zu besiegen, nach ihrer
Wiederkehr in Valyar. Er redete irgendetwas von Gräbern, Steinen,
im Mondenschein wäre alles klarer und gab mir als einzige Hilfe ein
Wort, und zwar den Namen dieses Magiers: Gerjyho-Zura."
Imogen war nun hellwach. "Wenn ich es nicht
besser wüsste, würde ich dich jetzt für größenwahnsinnig
halten. Aber ich meine mich zu erinnern, dass ich auch irgendetwas von
einem Noreel geträumt habe, nur weiß ich nichts mehr von dem,
was er sagte. Scheinbar wollte er sich dir offensichtlicher zeigen, aus
welchem Grund auch immer... sei’s drum." Imogen sprang aus ihrem Bett.
"Vater erzählte uns doch, Gerjyho-Zura
habe sich getötet. Wahrscheinlich hat er das in seinem letzten Brief
angekündigt. Soviel ich weiß, verwahrte Vater seine Briefe immer
in seinem alten Schrank."
Rasch eilten die beiden zu diesem Schrank,
der im Essraum an der hölzernen Wand stand. Riyonn und Imogen leerten
und durchsuchten alle Schubladen von oben bis nach unten sorgfältig.
Doch sie fanden keinerlei Briefe, die den Absender Gerjyho-Zuras trugen.
"Das kann doch nicht sein. Hier sind Briefe
von sämtlichen Leuten der Welt, Trohim, dieser seltsame Zwerg, Kail,
sein Bruder und alle möglichen und unmöglichen anderen, nur Gerjyho-Zura
fehlt.", wunderte sich Imogen.
Plötzlich stieß Riyonn aus Versehen
mit dem Ellenbogen an die Rückwand des Schranks. Sie klang ungewöhnlich
hohl. Riyonn und Imogen grinsten sich vielsagend an. Als gelernte Diebe
wussten sie, was das bedeutete. Imogen tastete die Rückwand vorsichtig
ab. Bald fiel ihr ein winziger Holzvorsprung auf. Sie versuchte ihn nach
hinten zu drücken, doch der Hebel rührte sich nicht vom Fleck.
"Lass das einen Mann erledigen!" Riyonn schob
Imogen vom Schrank weg. Mit ganzer Kraft drückte er seine Hände
gegen den Hebel.
Imogen grinste, als Riyonns Aktion nicht mehr
Erfolg zeigte als ihre. "Da sieht man mal, was Männer so alles nicht
können. Darf ich mal?"
Riyonn ging mit gereiztem Gesichtsausdruck
zur Seite. "Wenn ich es nicht schaffe, dann du erst recht nicht."
"Manchmal muss man denken, anstatt einfach
mit aller Kraft dagegen zu drücken. Versuchen wir´s mal mit
ziehen.", entgegnete Imogen überlegen. Mit nur einem geringen Kraftaufwand
zog Imogen den Hebel zu sich her. In der Rückwand des Schranks öffnete
sich eine kleine Luke, gerade groß genug, um Briefe darin aufzubewahren.
Riyonn lief vor Verlegenheit rot an.
"Seltsam, dass Vater diese Briefe in diesem
Geheimversteck verstaute. Ob er sich vor irgendetwas oder irgendjemandem
fürchtete?"
Imogen streckte Riyonn eine handvoll teilweise
verknitterte Briefe entgegen, die sie aus der Luke genommen hatte. "Such
nach dem neuesten Datum.", wies sie ihn an und widmete sich selbst dem
Rest der rund zwanzig Briefe.
"2. Mondzyklus 1772, 7. Mondzyklus 1765, 21.
Tag nach der Wintersonnenwende, 1. Mondzyklus 1768... bei mir ist kein
neuerer", bemerkte Imogen.
Bald stieß Riyonn jedoch auf einen
Brief, der erst vor wenigen Wochen geschrieben worden sein musste. Er trug
das Datum des 18. Tages nach der Sommersonnenwende, des 6. Mondzykluses
im Jahr 1777 nach dem Eisigen Schlaf, drittes Zeitalter, also Anfang dieses
Sommers.
"Was steht drin? Nun mach schon, lies vor!",
drängte Imogen ihren Bruder ungeduldig.
Riyonn nickte. Nachdem er den Umschlag entfernt
und das Papier aufgefaltet hatte, wanderten seine Augen hastig über
die Zeilen.
"Lies vor!" Neugierig sah Imogen ihn an.
"Na schön. Also, hier steht: ..."
© Itariss
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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