Die Geschichte von
Siegfreud, dem Drachentöter |
Vor langer Zeit, als die Welt noch jung war, zog ein junger Trakier hinaus in die Große Mauer. Es dürstete ihn nach Ruhm und Erfolg und so hatte er sich auf den Weg gemacht, einen Drachen zu erlegen. Lange irrte der wackere Siegfreud durch die Gipfel und Täler, ohne auch nur einen Drachen zu erblicken, denn mit seinem Orientierungssinn stand es nicht zum besten, da er bisher noch nie über sein Dorf hinaus gekommen war. Doch als der Mut ihn schon verlassen wollte, sprach eine Stimme zu ihm. "Siegfreud!", rief die Stimme. "Wer spricht da zu mir?", verlangte der tapfere Trakier zu wissen. "Das ist nicht wichtig", sagte die Stimme, "Hör mir zu Siegfreud..." "Ich spreche mit niemandem, der sich nicht zu erkennen gibt. Ein Ehrenmann muß sich zeigen bei einer Beratschlagung unter Streitern." "Wenn du mich noch einmal unterbrichst, wirst du gleich nicht mehr zu erkennen sein!", donnerte die Stimme. "Also hör mir jetzt gefälligst zu." "Wie Ihr wünscht", erwiderte der edle Kämpfer kleinlaut. "Gut, wir verstehen uns also. Und nun hör auf, mit deinem Schwert zu denken, auch wenn dir das schwerfällt. Wenn du einen Drachen entdecken willst, sieh nach oben." Siegfreud tat, wie ihm geheißen, doch die Stimme fuhr sofort wieder dazwischen. "Nicht im rechten Winkel, Tölpel! Schau auf die Felsen über dir und du wirst eine Höhle entdecken. Ach ja, und bevor du fragst, eine Höhle ist ein Loch im Gestein." "Das wußte ich", strahlte der siegesgewisse Siegfreud. "Ich wollte ja nur sicher gehen", murmelte die Stimme fast unhörbar, "bei geistig Benachteiligten wie dir ist man ja nie sicher." "Was sagtest du gerade?", erkundigte sich Siegfreud. "Daß du, ähem, jetzt wohl den Drachen erlegen solltest." "Bei der Heiligen Mutter Kirche, das will ich tun.", versicherte der tapfere Trakier. "Deine Verwandtschaftsbeziehungen interessieren mich nicht. Und nun, auf in den Kampf, das wird sicher lustig... Ich wollte sagen, ehrenvoll." Doch als Siegfreud sich bedanken wollte, war die Stimme schon verschwunden. Aber unser junger Held war sich trotzdem ganz sicher, daß der Göttervater selbst mit ihm gesprochen hätte und kam der Wahrheit damit überraschend nahe. Allerdings nicht nahe genug. So kraxelte unser wackerer Krieger also den Berg hinauf und erreichte nach einiger Anstrengung auch tatsächlich die Höhle. Und siehe, es war wahrhaftig ein Drache darin! Zwar war er noch ziemlich jung und schlief, aber dem tapferen Trakier wäre trotzdem beinahe das Herz in die Hose gerutscht, wenn dieser Ort nicht schon besetzt gewesen wäre. Vorsichtig schlich er sich näher, hob das Schwert und schlug mit aller Kraft zu. Wenn man einmal davon absah, daß der Drache nun zu Schnarchen begann, war die Wirkung gleich Null. Auch alle weiteren Schläge prallten völlig wirkungslos auf dem gepanzerten Drachenschädel ab. Nach etwa einer Stunde, in der Siegfreud nicht ein bißchen weitergekommen war, geschah dann doch noch etwas. Der Drache erwachte nämlich. Und daß unser wackerer Held ihn mit dem Schwert kitzelte, störte ihn auch nicht besonders. Er sah es auch nicht als Angriff an. Es war viel schlimmer. Der kleine Drache hielt es nämlich für ein Spiel und Drachen spielen in ihrer Jugend sehr gern. Und so konnte man den tollkühnen Trakier den ganzen langen Weg in sein Dorf zurücklaufen sehen, während der Drache hinter ihm schwebte und immer Feuerbälle direkt hinter seine Fußsohlen setzte. Nach diesem schrecklichen Erlebnis wagte sich Siegfreud nie mehr aus seinem Dorf hinaus, wurde aber trotzdem nicht müde, von den unzähligen toten Drachen zu berichten, die seinen Weg im Gebirge gesäumt hatten und die er leider hatte zurücklassen müssen, als er sich einer Übermacht gegenüber sah. Und so wäre er wohl doch noch als Held
gefeiert worden, wenn nicht eine seltsame Stimme zu einem Chronisten gesprochen
hätte, die ihm berichtete, was wirklich geschehen war. Diese zweite
Version ließ den Berufsstand der Drachentöter zusammenbrechen,
bevor er überhaupt recht entstanden war. Und vielleicht war das auch
besser so. Für die Drachentöter.
© Gunnar Tetzlaff
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