Ende und Anfang von Soleil

Am Morgen des fünften Tages regnete es immer noch und Silara sah durch das kleine Fenster der Kutsche nach draußen. Die handvoll Soldaten, die man ihnen mitgegeben hatte, war zweifellos bis auf die Haut durchnässt und dennoch beneidete sie sie. Auf ihren Pferden wirkten sie so ungebunden und frei wie sie es schon so lange Zeit nicht mehr gewesen war. Die dunklen Umhänge hingen schwer nach unten und nach den zusammengesunkenen Gestalten zu urteilen, schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, welcher es zuerst schaffen würde, seinen Träger auf den Boden zu ziehen. Die  metallenen Helme wirkten nun stumpf und matt, nicht mehr so glänzend wie bei ihrem Aufbruch und die Hälfte der Männer rieb sich verstohlen über die Stirn. Aber sie, sie die so nahe waren, dass Silara sie beinahe berühren konnte, wirkten trotzdem glücklich. Vielleicht nicht momentan, denn in Gedanken gingen sie sicher jeden einzelnen Fluch durch, den sie je gehört hatten, aber ganz im allgemeinen hatten sie sicher nichts an ihrem Leben auszusetzen.
Sie seufzte und lenkte damit die Aufmerksamkeit der anderen beiden Frauen auf sich, die mit ihr diese Reise unternahmen.
Die kleine mollige Guinny mit ihrem Haar so hell und strahlend wie die Sonne lächelte und deutete an, sie verstehe nur zu gut, was in ihr vorging. Riva allerdings, groß gewachsen und so dunkel und wild wie ein Mensch nur sein konnte, hatte die Stirn gerunzelt und wirkte bereit, einen Streit  zu beginnen.
Silara zweifelte wieder daran, ob es richtig gewesen war, sie drei auszuwählen, um diese Aufgabe zu erfüllen, die bei einem Scheitern so unendlich vielen Menschen das Leben kosten konnte. Natürlich sagte sie das nicht laut, aber insgeheim glaubte sie, auch in den Augen ihrer Begleiterinnen Zweifel an der Entscheidung der Oberin zu erkennen. Es war auch nicht richtig, egal was gesagt worden war, egal wie hochgelobt sie worden waren. Zuviel hing einfach davon ab, die Auserwählte zu finden und bei ihrem langen steinigen Weg unterstützend zu begleiten. 
Die Kutsche schlingerte kurz und kam dann zum Stehen. Der Kutscher hämmerte gegen die Außenwand und bat sie derb auszusteigen.
Sie packten ihre Umhänge und warfen sie über, um dann mit hochgezogenen Kapuzen vor einer Ruine zu stehen. Vor kurzer Zeit, nicht mehr als ein oder zwei Tagen, mochte dies hier ein großer und sicher auch recht wohnlicher Bauernhof gewesen sein. Doch nun war er nur noch ein Haufen Asche, verkohlter Balken und kaum noch aufeinanderstehender Steine. Die Bauart dieses Gebäudes passte ganz sicher nicht in diese Region und ließ vermuten, dass es ehemalige Flüchtlinge gewesen waren, die es errichtet hatten. Auch wenn das zwei, vielleicht auch drei Generationen in der Vergangenheit liegen musste.
Der Hof, die Scheune – welche grotesker Weise noch völlig intakt stand – und  die  leeren Gatter bildeten ein ungefähres Dreieck und nur der Regen mochte erklären weshalb einzig und allein das Wohnhaus in Flammen aufgegangen war. Wie stark es gebrannt haben musste, um den Wassermassen des Himmels stand zu halten, wollte sie sich lieber nicht ausmalen. 
Dennoch war dies nicht unbedingt ein Grund zur Unterbrechung, zumal die Straße frei lag. Aber Riva hatte angeordnet, jede Ungewöhnlichkeit sofort zu melden. Nicht dass sie die Führung innehatte, ganz im Gegenteil, aber die Soldaten schienen mehr Angst vor ihr zu haben, als es eigentlich statthaft war.
Guinny berührte sie leicht am Arm und drängte sich dann auch schon an ihr vorbei, um auf ein Ziel zuzugehen, das in einem leichten Bogen um die Scheune zu liegen schien. Die Soldaten verteilten sich nervös um die Frauen und suchten mit den Händen auf ihren Schwertern jeden Zentimeter Wald um sie herum ab.
Als Silara mit Riva folgte, sahen sie eine Gestalt mit einem gesenkten Knie und auf ein Schwert gestützt auf dem Boden hocken. Er war so sehr in seine Andacht vertieft, dass er sie nicht näher kommen hörte. Silara schaute genauer hin und erkannte entsetzt, dass er vor zwei frischen Gräbern Wache hielt.
Jung war er, so unglaublich jung, und blutige Kratzer und eine tiefe Beinverletzung zierten seinen Körper, ebenso wie Dreck und Schmutz. Offenbar hatte er die Gräber ausgehoben und auch wieder verschlossen. Seine Kleidung, zumindest was davon noch übrig war, schien genauso fremd und doch heimatlich zu sein wie das zerstörte Gebäude. Sie war in absolut unmöglichen Farbtönen gehalten und die Länge der Hosen reichte mit viel Glück gerade bis zu den Knien, von wo eine Art Strumpf vor der Kälte schützen sollte. Alles in allem machte er den Gesamteindruck von einem Menschen, der einen schweren Kampf überlebt hatte und nun die Folgen tragen musste. 
Guinny war schnell an seiner Seite und Silara spürte, wie sie sich zum Einsetzen ihrer Magie bereit machte. Riva atmete tief ein und wollte ihr eine Warnung zurufen, aber die Heilerin würde die Kämpferin doch nicht verstehen.
Guinny war an der Seite des Jungen angekommen und wollte eben ihre Hand auf seine Schulter legen, als er blitzschnell herumfuhr und ihr das Schwert an die Kehle hielt. Sie allerdings sah ihn nur mitleidig an und versuchte, ihn mit ihren Fingern im Gesicht zu berühren. Silara verstand weshalb, als sie sich neben ihr einige Abwehrsprüche durch den Kopf gehen ließ. Es wirkte eingefallen und der rußige Schmutz betonte alle Ecken und Kanten die es geben mochte. Seine Augen waren von einer unbestimmbaren, aber hellen Farbe und sie glänzten im Wahnfieber wie eine Kerze in einem Spiegel.
Die Soldaten hatten mit einem grimmigen Ausdruck und hassvollen Bewegungen ebenfalls blank gezogen und ihre Schwerter kamen ihm so nah, wie seines der molligen Frau. Plötzlich klärte sich sein Blick und er fiel in sich zusammen.
Guinny fing ihn halb auf und heilte fast augenblicklich seine Verletzungen. Zwei Soldaten griffen ihn unter den Armen und stützten ihn, denn seine Beine konnten ihn nicht tragen.
Riva betrachtete ihn und machte einen abfälligen Ton mit ihrem Mund. Sie würde ihm sicher niemals verzeihen, dass er eine Ordensschwester bedroht hatte, und Silara wollte lieber nicht daran denken, was geschehen wäre, hätte das Szenario auch nur eine Sekunde länger gedauert.
"In die Scheune!" ordnete Riva an und diesmal hatte Silara nicht wirklich etwas dagegen, dass sie das Kommando an sich riss, denn auch sie war froh, aus diesem Regen zu kommen.
Die restlichen Soldaten formierten sich im Halbkreis um sie und Silara bezweifelte nicht, dass sie den Jungen genauso misstrauisch beobachteten wie den Waldesrand.
In der Scheune ließen sie ihn einfach fallen und gingen widersprechend murrend nach draußen. Silara konnte kaum glauben, dass sie sie für so schwach hielten, dass sie nicht einmal mit einem entkräfteten jungen Mann allein sein konnten. Und sie waren zu dritt!
Guinny hielt ihm den Wassersack an die Lippen und er trank gierig als sei er völlig ausgedörrt. Und sicher war es auch so.
"Was ist hier geschehen?" verlangte Riva zu wissen.
Seine fast gebrochen wirkenden Augen richteten sich auf sie.
"Ich weiß es nicht," sagte er klar und fest.
"Was soll das heißen?"
"Sie kamen in der Nacht, wir konnten sie nicht sehen."
Er wirkte wie jemand, der das Schrecklichste gesehen hatte, das sein Geist sich ausmalen konnte und den nun nichts mehr wirklich berühren konnte. Seine Gleichgültigkeit aber verstärkte Rivas Zorn und Silara hielt es für besser einzugreifen.
"Wer liegt in diesen Gräbern", fragte sie mit dem wärmsten Ton in der Stimme, der ihr möglich war.
Er senkte den Blick und schluckte. Als er sprach, war seine Stimme nicht mehr als ein Flüstern.
"Meine Großeltern, die Sumers. Sie haben tapfer gekämpft..."
"Du nicht?" fragte Riva streng und die Falten zwischen ihren Brauen vertieften sich.
"Ich war immer gegen das Töten."
"Aber nun trägst du doch ein Schwert", warf Guinny ein.
Seine Augen weiteten sich vor Schreck, bis sie das Schwert gefunden hatten, das von den Soldaten vor die Tür gelegt worden war.
"Ich habe meinen Irrtum einsehen müssen", antwortete er ihr mit einem leichten Seufzer der Erleichterung in der Stimme.
Die Frauen sahen sich an. Dieser junge Bursche schien kein Freund großer Worte zu sein und doch wussten sie alle, dass sie erfahren mussten, was hier geschehen war.
"Die Sumers. Ihr habt den Orden beliefert. Ist es nicht so?"
Er schaute Silara an und nickte.
"Sag uns, was passiert ist," forderte Guinny ihn sanft auf und ihre Stimme gab ihm zu verstehen, dass er ihnen vertrauen konnte.
"Es glaubt mir sicher niemand. Aber gut."
Im Sitzen nahm sein Körper eine von ihm sicher unbemerkte stolze Haltung an und seine Stimme schien nun erwachsener zu klingen, als es in der aufrichtigen Trauer der Fall gewesen war.
"Es war in der vorletzten Nacht. Wir hatten das Abendessen gerade beendet und wollten uns für die Nacht bereit machen, als das Haus erzitterte. Meine Großeltern schienen erst nicht überrascht, aber riefen dann erschrocken, hier stehe der Boden still und das Beben sei nicht normal. Dann verdunkelten sich die Fenster. Der Mond hatte immer seine silbernen Strahlen durch sie hindurch geworfen, aber nun war alles was sie durchdrang eine schwärende Schwärze. Ich konnte nichts erkennen, nicht einmal Schatten, als ich hinaussah. Und dann fühlte ich es in unser Haus eindringen."
Mit rauer Stimme brach er ab und Riva gab ihm stumm noch einmal den Wassersack in die Hand, damit er trinken möge. Silara beschlich ein unheimlicher Verdacht und unbemerkt betete sie zur Großen Göttin, dass er sich nicht bewahrheiten möge.
"Sprich weiter," bat sie ihn nach einem kurzen Augenblick.
"Ich weiß, dass sie da waren! Aber ich konnte sie nicht sehen. Meine Großmutter warf sich vor mich und so konnte ich aus dem Raum entkommen. Nicht wissend, was ich tat, lief ich nach oben. Dort stand eine Kiste, die meinem Vater gehört hatte und in der sich dieses Schwert befand. Als ich wieder nach unten kam war alles still. Ich öffnete die Tür und fand meine Großeltern." 
Wieder brach er ab, diesmal aber nur um Luft zu holen.
"Sie waren tot. In ihren Herzen steckten Dolche so lang wie mein Unterarm und am Griff geschmückt mit einem schwarzen Edelstein. Diesen Anblick werde ich niemals vergessen, das schwöre ich. 
Dann spürte ich etwas hinter mir und drehte mich um. Wieder konnte ich nichts erkennen, aber was immer es auch gewesen sein mag, es lief direkt in mein Schwert und schrie auf. Von draußen konnte ich die anderen antworten hören und so lief ich in den Keller. Dort gab es einen geheimen Gang weit hinaus in den Wald, der für genau diesen Fall gedacht worden war. Ich weiß, es war feige, aber ich konnte nichts tun. Ich rannte und rannte und irgendwann... ich weiß auch nicht mehr. Als ich euch sah schien ich wie aus einem langen schrecklichen Traum zu erwachen. Ich..."
Unzusammenhängenderweise dachte Silara, dass die Familie ursprünglich aus Antara gekommen sein musste, denn nirgendwo sonst waren die Leute so vorausschauend, sich einen unterirdischen Gang zu graben. Guinny sah aus, als wolle sie sich gleich übergeben und Riva hielt den Wassersack so fest gepackt, als stelle sie sich vor, es sei der Hals eines Feindes.
Die Nichtsichtbaren! Hier! Es war viel zu schnell und viel zu nah. Dann blitzte ein Gedanke in ihr auf.
"Hattet ihr in den vergangen Tagen Gäste?"
Guinny und Riva schreckten auf und sahen ihn genauso eindringlich an wie sie es tat.
Er wirkte verwirrt und verschlossen, doch sie glaubte nicht, dass das an den Nachwirkungen des Erzähltem lag.
"Nein. Niemanden."
Er log. Das spürte sie so deutlich wie die Kälte, die tief hinein in ihre Knochen gekrochen war. Die Dunklen hatten also die Auserwählte aufgespürt, hoffentlich noch nicht gefunden. Panik griff mit grauen Händen nach ihrem Herzen und ließ sich nicht vertreiben, so sehr sie sich das auch wünschen mochte.
"Wir werden einen Soldaten bei dir lassen und bei der nächsten Gelegenheit den Orden benachrichtigen. Du wirst es wieder aufbauen wollen," sagte sie mit gebrochener Stimme und wandte sich schon zum Gehen.
"Nein, Ehrenwerte. Danke. Aber ich würde euch gern bis zur nächsten Stadt begleiten."
Die drei Frauen sahen ihn wie auf einen Befehl hin an und Riva war es, die nickend zustimmte. Stumm gingen sie mit gehobenen Röcken zurück zur Kutsche und atmeten auf, wenn auch nur schwach, als sie sich in ihr befanden.
Silara sah hinaus aus dem Fenster und suchte den Jungen. Er stand noch immer neben der Scheune und hatte sein Gesicht den Gräbern zugewandt. Die Augen geschlossen und mit dem Mund stumme Worte formend nahm er Abschied von seinem vergangenen Leben. Er hatte nichts mehr, was er mitnehmen konnte, bis auf die Kleider, die er trug, und dieses Schwert, mit dem er zweifellos kaum richtig umgehen konnte. Silara fragte sich kurz, was er wohl denken mochte.

***

Rieven fühlte den Blick der rothaarigen Frau auf sich ruhen. Im Grunde tat es ihm gut, denn er stand noch immer unter Schock und er fühlte, dass ihr Mitgefühl ehrlich und aufrichtig gemeint war. 
Er sah sich ein letztes Mal um. Das war das einzige Zuhause, das er jemals gekannt hatte und auch wenn er wenig mit ihnen gemeinsam gehabt hatte, geliebt hatte er seine Großeltern doch. 
Er wollte schon lange fort von hier, getrieben von einer inneren Sehnsucht, die er nicht genau bestimmen konnte. Vielleicht nach seinem Vater, den er nie gekannt hatte. Er hatte sich immer eingebildet, er musste ihn verstehen, wenn es denn sonst keiner tat.
Es war wie eine Vorsehung.
Als seine Großeltern noch lebten - vor zwei Tagen hatten sie das noch - hatte er nie den Mut gehabt, ihnen überhaupt zu sagen, dass er gehen wollte. Er wäre bis zu seinem Lebensende hier geblieben, wenn dies nicht geschehen wäre. Etwas wollte, dass er ging.
Er klammerte sich an diese Vorstellung, denn sie hatte etwas tröstendes. Es machte alles plötzlich Sinn und er wusste, er hatte noch eine Aufgabe in dieser Welt. Seine Großmutter hatte immer gesagt, jede Sache habe etwas Gutes.
Mit ihr hatte er seinen Platz, sein Zuhause begraben. Zweifellos waren der Hof und die Felder nun in seinen Besitz übergegangen, doch im Grunde konnte er damit noch nie etwas anfangen. Trotzdem war es beruhigend zu wissen, dass man im Falle eines Scheiterns irgendwohin zurückkehren konnte.
Er dachte an Scheitern und war noch nicht einmal losgegangen. Sie warteten. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, er müsse bei diesen Frauen bleiben. 
Und da war auch noch dieses Mädchen. Er hatte vom ersten Augenblick an gespürt, dass sie etwas ganz besonderes war. Das hatte nichts mit ihrem Äußeren zu tun, denn sie war durchaus sehr schön gewesen, oder mit Begehren. Er hatte einfach nur eine Aura um sie gespürt, wie nie zuvor bei jemandem. Kraftvoll und mächtig und doch zugleich so verletzlich, dass er das Gefühl gehabt hatte, sie um jeden Preis schützen zu müssen. 
Hatte er deswegen ihre Existenz verschwiegen?
Der Kutscher lächelte ihm aufmunternd entgegen, klopfte ihm auf die Schulter und sagte:
"Wird schon wieder, Junge."
Rieven versagte sich jedes Wort. Was wusste der schon? Hatte eine Frau und drei Kinder, die auf ihn warteten.
Aus den Augenwinkeln sah er den Hof an sich vorbeiziehen und dann nur noch Bäume. Es hatte keinen Zweck zurückzuschauen, also richtete er den Blick nach vorn.
Der Mann neben ihm wollte ein Gespräch beginnen, doch Rieven ignorierte ihn, auch als er sah, dass er als überheblich abgestempelt wurde. Keiner konnte eben seinen Schmerz verstehen. Und dann fiel ihm plötzlich ein, dass er weder diesen Mann, noch seine Familie jemals zuvor gesehen hatte.
Er schob es auf seine mehr als nur angespannte Gemütsverfassung, obwohl er glaubte, deutlich ein Bild der Familie vor seinem inneren Auge gesehen zu haben. So etwas war nicht zum ersten Mal geschehen und er hatte nie mit jemandem darüber gesprochen. Diesmal entschied er sich dafür, dass es niemals passiert war.
Er dachte zurück. Das Zweifeln hielt schon seit ein paar Jahren an, aber erst vor kurzem hatte sich etwas geändert. An dem Abend, als sie gekommen war.
Plötzlich wurde ihm klar, was er zu tun hatte. Und die Suche begann.
 

© Soleil
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