Der Tag der Entscheidung von Soleil

Uhl Uh´drin stand am nördlichsten Fenster des Mutterhauses, ganz hinten am Ende des Ganges und sah seit einer halben Ewigkeit in die graue Dunkelheit dieses verregneten Herbstmorgens. Er war als erster aufgestanden, um diese wenigen Minuten ganz für sich zu haben, denn er wusste, in den kommenden Jahren seines Lebens würde er nie wieder allein sein können.
Er seufzte und beobachtete die Regentropfen, wie sie auf dem grünen Glas des Fensters abprallten und schwermütig nach unten flossen. Er hatte sich erlaubt es zu öffnen, obwohl nun der Wind ungebremst hereinwehte, doch auch ohne das Grün vor Augen konnte er bei diesen Sichtverhältnissen nicht weit sehen.
Großvater hat es versprochen. Er wird kommen.
Uhl kniff die Augen zusammen und starrte den gewundenen Weg an, welcher sich vom Mutterhaus in Richtung Derahelin Stadt entfernte, der sich jedoch nicht veränderte und auch keine Besucher mit sich brachte.
"Verdammt noch mal, was ist denn hier los?"
Uhl zuckte zusammen, als er die tönende Bassstimme seines Lehrmeisters vernahm und drehte sich schuldbewusst um. Der riesige blondhaarige Mann überragte ihn sicher um mehr als das doppelte und hatte seine Augenbrauen tief nach unten gezogen. "Nun?"
Uhl räusperte sich und wollte Meister Shivid gerade eine angemessene, wenn auch gestotterte Antwort geben, als dieser sich schon an ihm vorbeilehnte und das Fenster nach einem kurzen Blick hinaus wieder verschloss.
"Hast du eine Ahnung wie es unten zieht?", fragte Shivid ihn streng.
"N-nein. Es tut mit leid." Uhl hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und sah auf den hölzernen Boden, um nur ja nicht den verachtenden Blick seines Lehrmeisters aufzufangen.
"Na macht nichts. Aber dass mir das nicht noch einmal vorkommt!"
Uhl sah erstaunt zu dem Hünen auf. Keine Strafe? Dabei konnte er es doch sonst nicht abwarten bis sich einer seiner Schüler unter Schmerzen wand, denn Shivid nahm die Kasteiung des Körpers sehr ernst.
Aber nun lächelte ihn der blonde Mann freundlich an und legte besänftigend eine Hand auf Uhls Schulter. "Keine Sorge, Junge. Er wird es rechtzeitig schaffen."
Uhl schluckte und wusste im ersten Moment nicht, wie er sich verhalten sollte. War dies wieder eine der unzähligen Prüfungen, denen er sich, seit er die Schwelle übertreten hatte, gegenüber sehen musste? Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass er so einfach Meister Shivids freundliche Worte durch eine harsche Erwiderung und seine aufmunternde Hand durch einen Schritt nach hinten verleumden sollte.
"Danke," flüsterte er beinahe unhörbar und war mehr als erleichtert, als der große Mann seine Hand wieder zurück zog.
"Dann geh jetzt hinunter in den Hof und beginne mit den Übungen." Meister Shivid sah Uhl so durchdringend an, dass dieser sich jedes weitere Wort versagte. Aber es war noch viel zu früh und regnete in Strömen!
Uhl verneigte sich steif und berührte mit der rechten Faust seine linke Schulter ehe er sich umwandte und den Gang nach unten lief. Das hatte er nun davon. Die anderen drehten sich sicher gerade noch einmal genüsslich auf ihren einfachen Pritschen um und zogen die wollenden Decken zurecht, während er sicher bald mit einer schlimmen Erkältung zu kämpfen hatte.
Doch als er in den großen Innenhof trat, standen jeweils fünf seiner Kameraden in vier Reihen hintereinander und bewegten sich geschmeidig zu den Signalworten von Meister Iphosol. In ihren Nachthemden!
Er schluckte und beeilte sich damit in die dritte Reihe einzutauchen und sich neben seinen neugewonnenen Freund Garin zu stellen. Der braunhaarige Junge war noch blasser als sonst und der Regen hatte ihn bereits so weit durchnässt, dass er aus Stoff und Haaren tropfte, wenn Garin sich bewegte.
Uhl hätte ihn gern angesprochen und etwas aufmunterndes zu ihm gesagt, doch schon wurde er selbst von Regen und Signalworten übermannt. Ein wenig überkam ihn das schlechte Gewissen, weil er angezogen und munter hier unten stand und ihm die Übungen sehr leicht fielen, während dutzende seiner Kameraden um ihr Gleichgewicht kämpfen mussten. Doch dann dachte er daran, dass sie nur ein Kleidungsstück zu wechseln brauchten und er einige mehr. Dabei besaß er nur zwei Hemden!
Er versuchte die Nässe und die Anstrengungen zu ignorieren und wiederholte einige der Grundsätze der Kolequtis im Geist. Obwohl er erst fünf Wochen im Mutterhaus weilte, konnte er jeden einzelnen perfekt und richtig rezitieren, eine Fähigkeit, auf die er stolz war, außer ihm waren nur drei andere dazu in der Lage. Unter ihnen Garin.
Uhl warf seinem Freund einen kurzen Seitenblick zu und war stolz zu sehen, wie dieser die Übungen zwar mit großer Anstrengung, aber doch fehlerfrei nachahmte. Sie würden ihm erlauben zu bleiben, da war Uhl sich sicher und er freute sich, seine Freundschaft erhalten zu können.
"Eins. Hochmut. Zwei. Stolz. Drei. Gehorsam." Iphosol begann die letzte Reihe der Signalworte über den Hof zu brüllen und Uhl atmete auf, denn selbst seine Körperkraft ließ merklich nach. Ein Junge in der ersten Reihe, Uhl kannte seinen Namen nicht und würde ihn wohl auch nie erfahren, klappte zusammen und erbrach sich unter einem heftigen Aufbäumen seines Leibes. Die neben ihm Stehenden schienen unsicher, was sie tun sollten, denn es gelang dem schmächtigen Körper nicht, gleichzeitig zu atmen und den Magen zu entleeren. Iphosol war schneller heran, als Uhl es ihm mit seinem verkrüppeltem Bein zugetraut hätte und stützte den Jungen, ohne allerdings im Rezitieren inne zu halten.
Schließlich jedoch verklang auch das letzte Wort und nicht nur Uhl atmete erleichtert auf. Aber die Schüler gingen nicht zurück unter das schützende Dach des Hauses, sondern blieben wo sie waren, bis man ihnen etwas anderes sagen würde.
Iphosol schnappte sich schließlich den schmächtigen Körper des Jungen und warf ihn sich über die Schulter. Breitbeinig soweit es sein Bein zuließ und trotz seiner Last hoch erhoben, stellte er sich vor die Jungen.
"Wer kann mir sagen wozu diese Übung dienen sollte?" Seine Stimme hallte über den Hof und Uhl sah seine Kameraden die Stirn runzeln. Sie überlegten schnell und sie überlegten fieberhaft und schließlich erklang es aus einigen Kehlen: "Die Notwendigkeit zur Kasteiung. Sie trennt Körper und Geist."
Iphosol presste die Lippen fest aufeinander. Also nicht dazu.
"Kraftvolles Handeln!", rief Uhl mit fester Stimme und die Miene seines Lehrmeisters hellte sich sichtlich auf.
"Wie lautet der Lehrsatz? Garin!", peitschte ihnen die Antwort um die Ohren.
Uhl zitterte zunächst etwas, da er nicht wusste, ob sein Freund richtig zitieren konnte, doch sobald die dünne Jungenstimme erklang, beruhigte er sich wieder.
"Kraftvolles Handeln bedeutet, immer stärker zu werden, indem du dich allen Situationen anpasst." Garin ließ sich nichts anmerken und seine Stimme bebte lediglich von der Anstrengung der Übungen.
Uhl war stolz auf ihn. Sein Freund würde genau wie er in den Status der Knappen aufgenommen werden und schließlich irgendwann ein ganz Großer der Kolequtis sein. Uhl hatte seine Freundschaft nicht sinnlos verschenkt.
"Genau! Also dann, ab zum Frühstück!" Iphosol war ihnen schon einige Schritte voraus und Uhl überlegte, ob es ihnen gestattet sein würde, sich vorher umzuziehen. Doch als die meisten seiner Kameraden sich dem großen Saal im Erdgeschoss zuwandten, schloss er sich ihnen an. Garin an seiner Seite. Der blasse Junge lächelte leicht und so, als merke er es gar nicht, und Uhl musste sich erst räuspern, um die Aufmerksamkeit seines Freundes zu gewinnen.
"Ein glorreicher Morgen, findest du nicht?", raunte ihm Garin zu. Uhl wollte ihm erst widersprechen, doch dann stahl sich auch auf sein Gesicht ein Grinsen und er nickte. "Doch wir dürfen deswegen nicht lachlässig werden. Die Entscheidung über die Aufnahme ist erst morgen."
Garin schenkte ihm einen Blick, der ihm freundschaftlich und doch streng sagte, er wisse das sehr genau und würde danach handeln. Und dieser Erinnerung hätte es nicht bedurft.
Im großen Saal war bereits eingedeckt worden. Knappen in ihren einfachen Leinenhemden und den blauen Überwürfen huschten zwischen den dunklen Holztischen hin und her und gossen gerade Wasser aus Krügen in die letzten leeren Becher. Als sie den triefend nassen Jungen in ihren Nachtgewändern ansichtig wurden, rümpften sie die Nasen, denn die alten Holzdielen hatten sich im Nu vollgesogen. Und niemand anderer als die Knappen selbst mussten hinterher wieder für Reinheit sorgen.
Uhl trat mit Garin an einen der hinteren Tische, den sie sich seit ihrer Ankunft hier mit vier weiteren Schülern teilten, und stolperte plötzlich über ein Hindernis. Kaum hatte er sich wieder gefangen, als eine hämische Stimme hinter ihm erklang. "Pass doch auf, Bursche. Auch wenn man Schwäche empfindet, so darf man sie dennoch nicht zeigen!"
Uhls Glieder versteiften sich, teils vor Wut und teils vor Empörung. Er drehte sich langsam um und erblickte einen etwa zwei, allerhöchstens drei Jahre älteren Jungen, der sich noch nicht einmal die Mühe zu machen schien zu verbergen, dass er Uhl gerade ein Bein gestellt hatte. Die grünen Augen des Anderen wurden das Beherrschendste an ihm, als er Uhl mit seinem wissenden, eisigen Blick fixierte.
Mit anderen von Angesicht zu Angesicht um die Überlegenheit zu kämpfen, ist die schwierigste Aufgabe der Welt. Und du musst deinen und den Platz des Gegners kennen. Uhl seufzte innerlich auf. Er durfte am Vortag der wichtigsten Entscheidung seines Lebens keine Fehler machen!
"Danke für den guten Ratschlag, Knappe," entgegnete er dem fremden Jungen angemessen und presste sogar noch ein schiefes Lächeln aus sich heraus. Das Grünauge lachte spöttisch sich seines Vorteiles bewusst auf und drehte sich dann ohne weiteres Wort um.
Garin schluckte hörbar und aus seinem Gesicht wich der empfundene Schrecken nur langsam. Uhl klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und dann setzten sie sich, um das karge Mahl zu sich zu nehmen, das man ihnen zugestand.
"Das war knapp, Uhl. Aber du hast recht gehandelt!" Garin wirkte stolz.
Uhl grinste ihn verwegen an und teilte den am Tisch Sitzenden die Brotstücken zu, die er gerade geschnitten hatte. Außer diesen und dem Wasser gab es heute sogar Butter und Käse, Luxus, der ihnen sonst nicht zugestanden wurde. Und die Anspannung der Jungen wuchs, denn sicher gab man ihnen nur so ein reichhaltiges Mahl, weil es das letzte Frühstück sein konnte, das sie hier im Mutterhaus der Kolequtis einnahmen.
Uhl war sich sicher, dass man ihn zum Knappen ernennen würde und doch schlug auch sein Herz für einige Augenblicke schneller als gewöhnlich. Schnell schlang er die letzten Bissen hinunter, blickte kurz auf die Krümel, die er hinterlassen hatte, und erhob sich. Seine Kleidung hatte noch nicht einmal annähernd Zeit gehabt zu trocknen, doch tropfte sie nun nicht mehr und er schlug den Weg in den oberen Schlafsaal ein, um sich etwas anderes anzuziehen.
Schon als er die einfache hölzerne Tür hinter sich schloss hörte er das leise Weinen. Er schritt die Reihe der Betten ab, bis er bei seinem eigenen in der gegenüberliegenden Ecke angekommen war und öffnete die Truhe, die davor stand. Heimlich und sich die Sachen zum Wechseln heraussuchend, beobachtete er, wie der schmächtige Junge von vorhin seine Sachen packte. Also würde man ihm noch nicht einmal gestatten bis zur offiziellen Bekanntgabe zu bleiben und Uhl konnte verstehen, dass er diese Scham nicht unbeweint aushielt.
Er schälte sich langsam und vorsichtig aus seiner nassen Kleidung und schlüpfte dankbar in die neue trockene. Er wrang gerade die alte Hose über seinem Nachtgeschirr aus, als auch die anderen Schüler eintraten. Sie lachten und schwatzten miteinander, doch als sie des anderen, des schmächtigen, Jungen ansichtig wurden, verstummten sie abrupt. Still ging jeder von ihnen zu seinem Nachlager und holte sich die Kleidung für den Tag aus seiner Truhe.
Garin, der auf der Pritsche neben Uhl schlief, sah herüber und beeilte sich damit, alles den Vorschriften entsprechend zu arrangieren. Schließlich schien er zufrieden zu sein und breitete sein altes, nasses Nachtgewand neben Uhls Kleidung auf dem Boden aus. "Schlimm, nicht?" Garin deutete auf den heulenden Jungen.
Uhl sah nicht auf, sondern glättete weiter ungerührt sein Hemd. "Bete, dass es uns morgen nicht genauso ergeht." Welch harte Worte für ihn und dabei war er sich so sicher, dass er am nächsten Tag ein Mitglied der Kolequtis sein würde. Er musste einfach!
Garin erwiderte nichts und ging nur zurück zu seiner Truhe, um sie zu verschließen. Dann ließ er sich auf sein Bett sinken und starrte vor sich hin. Ja, sie machten sich alle die gleichen Sorgen. Gehen zu müssen, hieße versagt zu haben. Und das nach fünf Wochen hartem Training! Von der Schande einmal ganz abgesehen.
Die Tür zum Schlafsaal der Jungen öffnete sich und Meister Shivid trat mit einem Knappen hinein. Sofort sprangen die Jungen auf und standen stramm.
"Bring ihn zum Haupttor und gib ihm was ihm zusteht," sprach Shivid zu dem Knappen, der ihm wie ein jüngerer Bruder glich.
Der schmächtige Junge - Uhl bedauerte wirklich, sich nicht nach dessen Namen erkundigt zu haben - wusste sofort, dass er gemeint war und wischte sich die restlichen Tränen vom Gesicht. Mit seinem kleinen Bündel in der rechten Hand schritt er hinter dem größeren Knappen hinaus und verschwand aus ihrer aller Gedächtnis.
Meister Shivid sah ihm nicht einmal hinterher, sondern trat weiter in den Raum hinein und ließ seinen Blick über die Jungen schweifen.
"Der Unterricht fällt heute aus," sprach er schließlich sanft. Uhl war nicht der einzige, der sich unruhig regte. Zum einen, weil der Unterricht nie endete, wie die Lehrmeister ständig betonten, und zum anderen, weil Shivid nicht der Typ zum Sanftmut war. Was also mochte das hier bedeuten?
"Die restlichen Stunden bis morgen sind zum stillen Gebet gedacht. Geht weise mit dieser Zeit um." Er blickte noch einmal jedem seiner Schüler tief in die Augen und verschwand dann ohne jegliches weitere Wort aus dem Saal.
Uhl hatte ihn sofort durchschaut. Dies war eine neue Prüfung. Mit dem Unterricht und den Übungen wäre dieser, vielleicht letzte, Tag spielend leicht und unbemerkt schnell vergangen. Doch nun würden sich die restlichen Stunden nur so dahin schleppen, die Zeit durch ihrer aller Nervosität zu zähem Honig werden.
Er schluckte, dachte aber gar nicht daran sich unterkriegen zu lassen. Sein Großvater hatte ihm gesagt, dass ihn einige Prüfungen erwarten würden, ehe er sich Knappe nennen durfte und noch viel mehr davon danach. Uhl würde sich ihnen stellen! Und obsiegen.
"Was wirst du tun?" Garin war wieder an ihn herangetreten und hielt eines seiner heiligen Bücher in der Hand. Offenbar erwartete er wirklich, dass Uhl beten würde und zwar gemeinsam mit ihm. So gern er Garin auch hatte, aber das war eine Sache, bei der sich ihre Geister vehement schieden, denn Uhl glaubte nicht, dass es etwas wie einen Gott gab, geschweige denn eine ganze Sippe von ihnen.
"Meditieren," grinste er seinen Freund also an und dachte, dieser würde sich, wie die meisten der anderen Jungen, in die Kapelle begeben, um dort auf den Knien der kommenden Dinge zu harren. Aber Garin dachte gar nicht daran, sondern setzte sich zu ihm in die dunkle Zimmerecke.
"Soll ich ein wenig aus dem heiligen Buch der Ankalimon vorlesen?"
Uhl wünschte wirklich, Garin würde ihn nicht weiter damit belästigen. Doch andererseits würde er nun ja mehr als genug Zeit haben und schaden konnte es auch nichts. Also nickte er.
"Oh, ihr Unglücklichen - sehet, denn ich gehe an euch vorüber. Sehet, ich trete ein in die Erde, die mich geboren hat, die Sonne reicht mir ihre Hand und bereitet mir ihre erste Heimstatt. Ich bin euer Beschützer und ihr atmet, wenn ich an euch vorüberziehe!"
Uhl ließ sich von den Worten einlullen, begriff aber schon bald deren Bedeutung nicht mehr und ließ seine Gedanken schweifen. Sein Großvater, selbst ein großer Held der Kolequtis, hatte versprochen, bei seiner Ernennung zum Knappen dabei zu sein. Und er würde sein Wort halten. Versunken dachte er gerade an den Augenblick, als ihm seine Eltern stolz verkündet hatten, dass er nun alt genug war, um ins Mutterhaus zu ziehen, als er bemerkte, dass Garin aufgehört hatte zu sprechen. Stirnrunzelnd wandte er ihm seinen Blick zu und musste zu seiner großen Bestürzung feststellen, dass sein Freund weinte.
"Garin?"
Der blasse, braunhaarige Junge reagierte zunächst nicht, sondern zog geräuschevoll den Atem durch die Nase.
"Es tut mir leid, Uhl," schluchzte er. "Ich habe versucht stark zu sein, doch nun halte ich es einfach nicht mehr aus."
Uhl war bestürzt, nicht weil er Garin diesen Gefühlsausbruch nicht zugestanden hätte, sondern weil er fühlte, wie ihm selbst ein großer Kloß im Halse lag. "Wir werden bestehen!", sagte er ihm zuversichtlich, aber doch mit merklich zitternder Stimme.
"Ich weiß. Und doch... Diese Unsicherheit, sie raubt mir seit Tagen den Schlaf. Wäre es nicht morgen vorbei, so würde ich selbst alles hinwerfen!" Zornig und mit verquollenen Augen starrte Garin wütend an Uhl vorbei, ohne jedoch etwas bestimmtes zu sehen. Uhl schluckte, denn er konnte die Gefühle seines Freundes nur allzu gut nachempfinden, doch diese heftige Reaktion hätte er von dem sonst so stillen und ruhigen Jungen nicht erwartet.
"Garin," Uhl legte seine Hand auf die Schulter des anderen. "Bitte, morgen schon wissen wir mehr. Halte noch ein wenig durch."
Sein Freund nickte und lächelte ihn dann schief an. "Danke, Uhl. Einen Freund wie dich hatte ich wahrlich noch nie." Er holte ein zerknittertes, ehemals weißes Taschentuch aus seinem Ärmel und schnaubte lautstark hinein.
Uhl grinste ihn an. "Alles wieder gut?" Er zitterte selbst ein wenig, denn die vergossenen Tränen Garins erinnerten ihn nur zu sehr an die eigenen Gefühle.
"Ja. Gib mir ein paar Minuten, dann lese ich weiter."
Uhl murrte, obwohl sein Freund es nicht gehört zu haben schien, ließ ihn aber dann doch weiter aus dem heiligen Buch rezitieren, da es seine Nerven zu stärken schien.
Er selbst gestattete sich, mit den Gedanken abzuschweifen, während dieser Tag nur quälend langsam verging.
Sie hatten sich nur zweimal noch von ihren stillen Stunden ablenken lassen, beide Male, als die Essensglocke ertönte. Aber großen Appetit hatten die wenigsten der Schüler. Uhl versuchte sich nichts anmerken zu lassen und sah zu seiner Zufriedenheit Garin das gleiche tun. Las er da Wohlwollen in Meister Iphosols Augen, als er an diesem vorüber schritt, um an seinen Tisch zu gelangen? Oder rechnete sich der breitschultrige Mann mit dem verkrüppelten Bein gerade aus, wen von ihnen es morgen nicht mehr geben würde?
Garin musste ihn anstupsen, damit er zurück in den Schlafsaal fand, sonst wäre er dort wo er war, an der Wand hinter seinem Stuhl, stehen geblieben und das den ganzen Tag.
Oben legte er sich auf sein Bett und versuchte ein wenig zu schlafen, doch obwohl er seinem Körper in den letzten Wochen nur wenig Ruhe gegönnt hatte, wollte der Schlaf nicht kommen. Unruhig drehte er sich von einer Seite auf die andere, bis einer seiner Kameraden ihn lautstark dazu aufforderte damit aufzuhören. Wenigstens fand einer von ihnen in dieser Nacht ein wenig Erholung.
Der nächste Morgen begann wie immer, sie wurden zu ihren Übungen im Hof geholt und leisteten diese wie immer ab. Doch Meister Iphosol forderte sie diesmal nicht dazu auf, ihr Frühstück einzunehmen, sondern verlangte, dass sie nach oben in den Schlafsaal gingen.
Uhl glaubte sein Herz zerreiße ihm die Brust, doch er stieg die Stufen ohne Mühe hinauf und trat als dritter in den Raum. Es hatte sich auf den ersten Blick nichts verändert und die Jungen blieben zuerst an der Tür stehen. Dann keuchte ein schlanker Junge mit einer ebenholzfarbenen Haut auf und deutet auf seine Lagerstatt. Dort lagen eine neue Hose, ein einfaches Leinenhemd und ein blauer Überwurf. Er war also nun ein Knappe. Die meisten der anderen gratulierten ihm, doch Uhl hatte es plötzlich sehr eilig, in die hintere Ecke des Raumes zu kommen und ging dann vor seiner Truhe in die Knie. Auf seinem Bett lag ebenfalls eine neue Garderobe. Plötzlich fühlte er, wie ihm Tränen der Erleichterung über die Wangen nach unten liefen und er wischte sie verstört fort. So angespannt war er doch nun auch wieder nicht gewesen. Oder doch?
Garin ließ mit einem lauten Freudenschrei seiner Nervosität freien Lauf und Uhl gratulierte ihnen beiden, indem er einfiel.
Doch dann legte sich Stille über den Schlafsaal. Es waren nur fünf neue Knappenuniformen. Nur fünf! Dabei beklagten sich die Meister ständig darüber, wie wenig Schüler es von Jahr zu Jahr wurden.
Uhl war sich nicht sicher, ob sie die neue Kleidung schon anlegen durften oder bis zur offiziellen Ankündigung warten mussten. Während dutzende seiner ehemaligen Kameraden damit begannen, ihre Sachen zu packen, glitten seine Finger beinahe zärtlich über das Blau. Er hatte es geschafft! Er war nun ein Knappe der Kolequtis!
Der Junge mit der dunklen Hautfarbe trat neben ihn und grinste ihn an. "Ich bin Aykanar Telrun blys Ankalimon." Freundschaftlich streckte er Uhl seine Hand entgegen. Und ja richtig, nun sollte es ihn interessieren, wie die anderen hießen und nicht nur jene, deren Betten neben seinem standen. Aykanar wirkte genauso erleichtert wie Uhl und sein Name deutete auf eine religiöse Abstammung hin. Dann würde er sich mit Garin sicher bestens verstehen.
Die restlichen ihrer ehemaligen Kameraden packten ihre Sachen fest zusammen und traten ohne jedes weitere Wort hinaus, wo sie schon von dem Knappen erwartet wurden, der im Aussehen so sehr Meister Shivid glich.
"Was ist?", grinste dieser noch schnell durch den Türschlitz. "Zieht euch an oder wollt ihr nackt zur Zeremonie erscheinen?"
Die fünf Jungen im Zimmer lachten verhalten auf und beeilten sich damit, aus ihrer alten Kleidung hinein in die neue, extra für sie angefertigte, zu schlüpfen.
Als sie fertig waren, ging die Tür erneut auf und Meister Shivid trat förmlich mit fünf blaugewandeten Knappen ein.
Zufrieden sah er sie an. "Dann ist es nun also soweit." Uhl stand stramm, weil ihm nichts anderes in dieser Situation einfiel, außer in ein hysterischen Lachen auszubrechen, was aber den Argwohn aller Anwesenden erregt haben dürfte.
"Nun, ihr werdet am Ende dieses Tages zu Knappen ernannt worden sein." Shivid schritt mit den Händen auf dem Rücken langsam auf und ab. "Doch das bringt nicht nur Rechte mit sich, sondern auch Pflichten. Um diesen gerecht zu werden, wird man euch jeweils einen älteren Knappen zuteilen, der von nun an die kommenden zwei Jahre wie ein älterer Bruder für euch sein wird. Hört auf ihn und befolgt, was er sagt."
Meister Shivid blieb stehen und sah jedem seiner neuen Rekruten tief in die Augen. "Ich erwarte, dass ihr euer Bestes gebt. Und ich werde es bekommen!" Das klang ein wenig zu sehr nach einer Drohung, doch sie hatten Shivid in den letzten Wochen gut genug kennengelernt, um zu wissen, dass er alles was er sagte ernst meinte.
Als ihr Lehrmeister nun gesehen hatte, dass er verstanden worden war, nickte er und fuhr fort. "Also dann. Ihr habt noch ein paar Minuten, um euch mit eurem großen Bruder bekannt zu machen. Dann erwartet man euch im großen Saal."
Die älteren Knappen waren während seiner Worte zu ihren neuen Schützlingen getreten und Uhl erkannte zu seiner Bestürzung den grünäugigen Beinsteller vom Vortag als einen von ihnen. Der gehässig grinsende Junge drängte den blondhaarigen Shividbruder zur Seite, als dieser sich neben Uhl stellen wollte und nahm stattdessen selbst diesen Platz ein.
"Mein Name ist Ga´ard," sagte er, als Meister Shivid sich umwandte und ging. "Und ich werde dir das Leben zur Hölle machen."
 
© Soleil
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