Gabrielle von Solstice

In einer kalten dunklen Nacht, in der es zu allem Überfluss auch noch regnete, verkroch sich Gabrielle unter einem Vordach aus Holzabfällen, das sie vorher noch mehr schlecht als recht zusammengebastelt hatte. Sie hoffte, sie würde dadurch wenigstens nur zur Hälfte nass werden. Blitze durchzuckten die moderne, mittelalterliche Stadt. Gabrielle lächelte bei der Ironie. Moderne Stadt. Nur weil hier ein paar Erfindungen erfunden wurden und diese den Weg in die Welt da draußen nicht schafften. Sie wäre im Wald bestimmt besser aufgehoben, wenn sie nur dort sein dürfte, statt dessen musste sie in den Gassen von Gaysé leben, um sich von den wertvollen  Menschen wie ein räudiger Hund behandeln zu lassen. Hier musste man sogar um jedes Stück Holz kämpfen wo man sich unterstellen könnte. Dies verlief bei ihr meist ohne Erfolg, da sie nie besonders stark gewesen war. Ihre Unterkunft leistete gute Dienste, da der Wind günstig stand.
Ich hasse den Herbst, dachte sie bei sich.
Er ist kalt, es regnet nur und es liegt noch kein Schnee, mit dem man andere, wertvolle Menschen ärgern konnte.
Sie sah dem Unwetter noch eine Weile zu und versuchte die Vorteile des Herbstes für sie herauszufinden, von denen sie dann doch einige fand.
Ich liebe den Herbst, änderte sie ihre Meinung.
Keine wertvollen Menschen auf der Straße, die einen treten, Beeren und Früchte zuhauf und Nüsse.
Auch wenn es verdammt kalt war, genug zu essen hat man um diese Jahreszeit eigentlich immer gehabt, auch wenn sie nicht die einzige Obdachlose in dieser Stadt war. Um genau zu sein gab es Hunderte. Recht viel, wenn man bedenkt, dass es nur ein paar tausend Menschen hier gab. Sie wollte ja nicht behaupten, dass es nur hier so war, woanders waren die Zahlenverhältnisse schlimmer, aber hier, wo kaum Händler vorbeikamen, waren die wertvollen Menschen immer sehr gereizt und aggressiv. Demnach hatten immer weniger Obdachlose Lust, fein um ihre Almosen zu betteln, wenn ihnen jedes Mal fast ihre Knochen gebrochen wurden. So gab es hier ein beträchtliches Maß an Kriminalität mehr als woanders. Glaubte sie zumindest, sie konnte nur wissen oder glauben, was sie auf der Straße gehört hat. Sie hatte diese Stadt noch nie verlassen, zumindest nicht, um in eine Andere zu gehen. Dazu brauchte man Geld, was sie nicht hatte. Sie war als Waise hier aufgewachsen, mit ein paar Anderen, die ihr Schicksal geteilt hatten. Die meisten waren schon gar nicht mehr am Leben. Viele waren während den Wintermonaten gestorben.
Früher, als sie noch sehr jung war, gab es noch ein Waisenhaus in dieser Stadt, aber als sie ebenso jung war, wollten die wertvollen Menschen es nicht mehr bezahlen. So wurde sie mit allen anderen auf die Straße gesetzt. Aber das wusste sie gar nicht mehr, sie war zu jung gewesen. Sie würde heute vermutlich nicht mehr leben, wenn sie nicht ein paar größere Jungs aus dem Heim mitgepflegt hätten. Sie dankte ihnen im Stillen. Die Burschen waren immer gutherzige Raufbolde gewesen, waren geschickte Räuber und Diebe, aber ein Zwischenfall kostete erst einem, dann allen Dreien das Leben, sie blieb als Einzige zurück. Der Zwischenfall ereignete sich so etwa drei Jahre, nachdem das Heim geschlossen wurde:
Alex, der Jüngste, Tobias, der Mittlere, und Robert, der Älteste, waren mal wieder auf ihren täglichen Raubzügen auf dem Marktplatz. Sie hatten immer mehr Erfolg wenn sie zusammen stahlen. An diesem Tag jedoch, der schien wie jeder andere, kam ein Edelmann in einer Kutsche und Begleitpersonal auf den Marktplatz. Alex, der zu beschäftigt damit war ein neues Opfer zu finden, bemerkte nicht, dass sich die Menschen wegen der Kutsche auf beide Straßenseiten verteilte. Als er aufblickte, um zu schauen, wo denn doch alle wären, stand er bereits am Straßenrand. Jedoch war er zum Teil auf der Straße und die Kutsche kam immer näher. Tobias und Robert versuchten sich noch zu ihm durchzuwühlen und ihn zurückzuschreien. Aber Alex war zu diesem Zeitpunkt nur etwas älter als Gabrielle selbst und verstand nicht. Er drehte sich um, und sah die Kutsche in diesem Moment an sich vorbeirauschen. Da er zu weit in der Straße gestanden hatte, fuhr ihm die Kutsche über seine Füße, und von den wuchtigen Hinterrädern wurde er zu Boden geworfen. Er wusste, dass seine Füße gebrochen waren, und schaute auf die Überreste derselben hinunter. Kurz darauf kam ein Soldat des Edelmannes auf einem Pferd zu ihm. Alex blickte noch kurz zu ihm auf, bevor sein Blick sich trübte und er starb.
Der Soldat hatte ihn mit der Lanze erstochen. Als wäre nichts geschehen, ritt dieser wieder in seine Reihe zurück und flüsterte leise, jedoch hörbar:
"Verletzte Tiere muss man töten, damit ihr Fleisch nicht zäh wird."
Alex Freunde kämpften sich voller Wut mit ihren Holzprügeln durch die Menge vor zu dem Soldaten, um ihn zu töten. Doch die zwei schwachen jungen Diebe hatten den scharfen Schwertern nichts entgegenzusetzen. Sie wurden schnell überwältigt und ihre toten Leiber wurden achtlos in den Straßengraben geworfen.

Gabrielle war an diesem Tag zum zweiten Mal Waise geworden, und die Gesetze der Straße nahmen ihr nun auch ihr Zuhause in der kleinen, aber doch heimeligen Holzhütte, in der sie mit den Jungs gelebt hatte. Denn sobald sich die Kunde über den Tod der Drei in der Welt der Obdachlosen verbreitet hatte, wurde sie sofort von anderen, stärkeren Obdachlosen in Besitz genommen. Der Tod von drei Bettlern interessierte niemanden in der wertvollen Welt. Nun saß sie unter einer Unterkunft, die nicht einmal für eine halbe Portion wie sie reichte. Sie aß noch ihre letzten Bissen, die sie am Tag gesammelt hatte, und schlief im strömenden Regen ein. Der nächste Morgen wies einen außergewöhnlich klaren Himmel auf, nur die sanften Nebelfelder, die über den Feldern schwebten, ließen das Unwetter der Nacht erahnen. Da sie ja fast am Ende der Stadt wohnte, konnte sie das Schauspiel wunderbar genießen, als sich die ersten Sonnenstrahlen durch den tiefliegenden Nebel fraßen. Dies war sozusagen ihr Frühstück, körperlich nicht sehr nahrhaft, aber eine Wohltat für die Seele. Ihr fiel ein, dass es ja Herbst war und im Herbst war auf dem Marktplatz schon die Hölle los, wenn die Sonne aufging. Schnell suchte sie sich eine Pfütze, um sich darin zu erfrischen. Waschen und umziehen war überflüssig. Zum Umziehen hatte sie nichts und Sauberkeit würde ihr auch nicht helfen, selbst wenn es ihr gelänge sauber zu bleiben. Wie jeden anderen Tag, ging sie durch die engen verzweigten Gassen auf den für Jedermann einträglichsten Platz der Stadt, jedoch für Diebe der gefährlichste, der Marktplatz. Sie brauchte sich nicht vor den Soldaten fürchten, zumindest nicht wegen Diebstahls. Sie stahl nicht, obwohl es für sie dann vielleicht besser gekommen wäre.
Wie gesagt... Vielleicht!
Sie richtete sich ihren Sitzplatz nahe einem Uhrenhändler ein, der laut seine Waren pries.
Schließlich wusste sie meist, wo sie betteln konnte und wo nicht, manche Händler ließen Dreck an ihrem Stand nicht zu. Ohne viel Zeit zu verlieren, breitete sie ein kleines Tuch aus Leinen vor sich aus, damit ihre Spenden darauf platziert werden könnten. Der Vormittag war schnell vorbei und außer ein paar bronzenen Münzen, wovon die meisten bestimmt nur aus Versehen in ihrer Nähe gelandet waren, kam nichts zusammen. Gelangweilt schaute sie sich um. Links von ihr war ein Fischverkäufer,  der seinen frischen Fisch anpries, wobei Gabrielle hätte schwören können, dass der Fisch nicht mehr frisch war, und rechts von ihr war immer noch der Uhrverkäufer, der anscheinend einen genauso erfolgreichen Tag hatte wie sie selbst. Wer brauchte schon Uhren, wenn der Kirchturm da war? Ihn schmückte schließlich eine unübersehbare. Sie lächelte für heute das erste Mal. Sie fand es zwar nicht richtig, aber sie fühlte sich gut bei dem Gedanken, auch wertvolle Menschen hätten Geldprobleme. Sie schaute mittlerweile ganz dem Uhrenverkäufer zu, sodass sie es sogar versäumte, sich für die erste Silbermünze zu bedanken, die eine Edelfrau zu den ihrigen Münzen hinzugelegt hatte. Sie überlegte sich, ob der Uhrenverkäufer irgendwas Unrechtes getan hatte, da der Stand verdächtig vor einem Spalt zwischen den Kaufmannshäusern stand. Dieser war gerade so breit, dass ein durchschnittlicher Mann mit seinen Schultern darin stecken geblieben wäre, aber für den schmächtigen Uhrenverkäufer wäre es ein perfekter Fluchtweg gewesen. Der Uhrenverkäufer schien auch eher ungern weiter als zwei Schritte von dem Spalt wegzugehen. Am Abend, als  die Läden geschlossen waren, begann auch Gabrielle ihre Siebensachen zu packen. Der Uhrenmacher war auch schon längst über alle Berge. Beiläufig blickte sie noch mal auf den Spalt zwischen den Häusern, aus dem gerade ein rötlicher handgroßer Kopf herausragte. Erschrocken ließ sie ihr Tuch mit den Münzen fallen und schaute ein zweites Mal hin, doch er war verschwunden. Der Kopf.
Aber sie hätte schwören können...!
Entschlossen begab sie sich zu dem Spalt hin und spähte hinein, damit sie sich nicht die ganze Nacht wegen einer Halluzination verrückt machte. Sie erblickte jedoch nicht etwa gähnende Dunkelheit und Leere, wie sie erwartet hatte, um ihre Halluzination zu widerlegen, sondern etwas, das ihre Halluzination sogar bestätigte:
Ein  kleiner rötlicher Drache schaute sie mit einem Blick an, den sie eigentlich nur von neugierigen und hungrigen Hunden kannte. Der Weich-Werde-Blick.
Gabrielle stand vorerst wie angewurzelt da. Sie hatte zwar in Legenden schon mal was von Drachen gehört, aber immer nur von riesigen Monstern. Dieser hier war eher... nunja... niedlich.
Tollpatschig lief der Kleine auf Gabrielle zu, die noch ein paar Schritte zurücktaumelte.
Sie konnte sich nur denken, inwiefern das Geschöpf seine spitzen Krallen und scharfen Zähnchen einsetzen konnte. Vom Feuerspeien noch mal abgesehen. Wie als Antwort darauf, verschluckte sich der Kleine als er über einen der groben Pflastersteine stolperte und hustete ein kleines Rauchwölkchen aus, das bei Gabrielle jedoch eher ihre Angst nahm, als ihr noch zusätzliche hinzuzufügen. Sie stellte fest, dass es ein sehr junger Drache sein musste. Sie überlegte schon, was sie mit dem Kleinen machen könnte, als ihr einfiel, dass von einem Baby die Mutter nie weit weg sein würde. Fix bepackte sie ihren Leinenbeutel wieder mit den Münzen des Tages und wollte sich auf den Weg zu ihrer kleinen Gasse machen. Der Kleine schien aber nicht daran zu denken, alleine zurückgelassen zu werden, und trottete ihr unbeholfen, mit Hilfe einiger weniger, ebenso gekonnten Flügelschlägen, nach. Sie versuchte ihn zu verscheuchen, ja sogar zu verschrecken, jedoch vergeblich. Er wurde dadurch nur noch anhänglicher. Sie verzweifelte. Sie konnte doch keinen Drachen ernähren, wenn sie schon selber am Hungertuch nagen musste. Sie entschied, dass es zu gefährlich war, den Kleinen hier draußen alleine zu lassen, ungeachtet dessen, dass es ein Drache war. Kaum war die Entscheidung gefällt, tauchte auch schon das erste Problem auf:  Der Drache würde nie in das Tuch passen, das sie dabei hatte, und sie hatte nicht vor ihn auf der bloßen Haut zu tragen. Denn selbst wenn der Drache ihr nichts wollte, würden ihre Arme danach nicht mehr zu gebrauchen sein. Sie entschied sich, durch die vielen dunklen Gassen in den abgeschiedenen Gegenden zu gehen, da dort die Wahrscheinlichkeit gesehen zu werden am geringsten war. Vorsichtig zwängte sie sich durch den Spalt, durch den der Drache vorher gekommen war, denn dieser, das wusste sie, führte auf eine sehr abgelegene Gasse.
Sie achtete sorgfältig darauf, dass sie der Drache nicht verlor. In der letzten größeren Gasse angekommen, kurz vor ihrem Versteck, fiepte der Drache vor Erschöpfung laut auf, als ob er fragen würde, wie weit es denn noch wäre. Gabrielle jedoch geriet in Panik, da sie wusste, dass hier einige starke Kriminelle lebten und es nicht von Vorteil wäre, wenn sie den Drachen entdecken würden. Ohne lange zu überlegen, nahm sie den Drachen an sich, der, trotz dass er ihr fast zum Oberschenkel reichte, leichter war als sie dachte. Sie nahm die Beine in die Hand und versteckte sich hinter einer großen Tonne, das Maul des Drachen zuhaltend, damit er nicht noch mehr verräterische Laute von sich gab.
Keinen Moment zu spät war sie hinter der Tonne angekommen, rissen auch schon zwei Bewohner der heruntergekommenen Häuser ihre Fenster auf und schauten auf die Straße. Gabrielle betete, dass sie nicht weiter nachforschen würden.
Ihre Gebete wurden erhört, obwohl jeder hätte sagen können, dass das kein Fiepen von einem einheimischen Tier war. Selbst ein geschlachtetes Schwein hörte sich anders an.
Die kleinen scharfen Klauen des Drachen gruben sich in Gabrielles Handgelenke, da dieser sich mittlerweile heftigst dagegen wehrte, so mundtot gemacht zu werden. Sie musste ihn wohl oder übel loslassen und machte sich schon auf ein erneutes lautes Fiepen gefasst.
Jedoch schnaubte der kleine Drache nur empört, beruhigte sich schnell, und versuchte Gabrielles Wunden abzulecken. Sie zuckte jedoch noch ängstlich zurück. Sie hatte zuviel von den Geschichten gehört, wonach der Speichel tödlich giftig sein sollte. Schnell ging sie zu ihrer Unterkunft oder wie man das auch immer nennen konnte. Das Geschöpf folgte ihr schweigend und versuchte wieder ihre Wunden abzulecken, als sie sich niedergelassen hatte. Sie war sich aber immer noch unsicher. Nur weil der Drache sie offensichtlich mag, ihr nichts Böses will und das Ablecken der Wunden vielleicht nur ein Zeichen der Zuneigung ist, konnte der Speichel immer noch giftig sein. Sie hielt sich den Drachen vom Leib, bis dieser enttäuscht abließ und sich neben ihr einrollte. Keine Sekunde verging, wanderte sie auch schon ins Reich der Träume.
Sie hatte einen furchtbaren Albtraum, in dem sie von der wütenden Mutter des Babys bis zum Tod gejagt wurde. Rechtzeitig zum Morgen wurde sie in ihrem Traum von der Mutter in Stücke gerissen, weshalb sie aufwachte. Der Angstschweiß stand ihr auf der Stirn und sie atmete schwer. Sie war hin- und hergerissen, zwischen der Angst vor der Mutter und der Angst um das Baby und natürlich der unbestreitbaren Faszination, die es ausstrahlte. Die Faszination schien beidseitig zu existieren. Sowohl von ihr, als auch vom Drachen selber.
Als sie sich noch etwas beruhigt hatte, merkte sie, dass ihre Wunden vom Vortag geheilt waren, und mit einem Blick auf das etwas blutige Maul des Drachen verriet ihr, dass er sie im Schlaf abgeleckt hatte. Sie stellte also fest, dass Drachenspeichel nicht giftig ist, sondern heilend.
Was die Leute immer wieder für einen Unsinn daherreden, überraschte sie wieder einmal.
Genauso wie es sich mit den Legenden über den Tod des Königs verhielt, verhielt es sich also auch mit denen über Drachen. In tausenden Legenden wird gesagt, dass der König gestorben war, aber wenn man ihnen Glauben schenkt, hat der König bestimmt hundert mal mehr Leben als eine Katze. Sie fragte sich, ob die eine Legende über die Drachenreiter wahr ist. Jetzt stand sie jedoch vor einem noch viel größeren Problem, als vor Legenden.
Sie musste sich irgendwie was zu essen besorgen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, was mit einem Drachen an der Seite zumindest theoretisch unmöglich ist. Alles in allem verwehrte dieser anhängliche Drache ihr, sich mit Sachen zu versorgen, die sie brauchte, wenn er noch länger so an ihr klebte. Sie schaute den Drachen zweifelnd an, dieser erwiderte einen Blick, von dem sie fast glaubte, ihm entnehmen zu können, dass er ihre Sorgen verstand. Sie verwarf das Gefühl schnell wieder.
Es ist ein Tier, ohne jegliches logische Denken, er versteht mich nicht.
Redete sie mit sich in Gedanken. Trotzdem kam sie nicht umhin, auszuprobieren, ob ihr der Drache noch folgte. Sie blickte jeden Schritt, den sie sich entfernte, wieder zurück, um sich zu vergewissern, dass er noch an seinem Platz lag. Der Drache schaute sie zwar schräg an, machte aber keine Anstalten, ihr wieder zu folgen. Erleichtert ging sie um die Ecke und versuchte, sich so unauffällig wie möglich unter die Leute zu mischen. Das Silberstück vom Vortag, von dem sie sich fragte, wer es ihr wohl gegeben hatte, machte ihr es möglich, etwas mehr Essen als sonst zu besorgen. Ausnahmsweise genug. Sie hatte sogar etwas übrig, von dem sie erwog, etwas für den Drachen zu besorgen. Aber es sprachen ein paar Sachen dagegen. Erstens, sie könnte das Geld noch für die nächsten Tage brauchen. Zweitens, sie wusste nicht, ob der Kleine schon Fleisch frisst, Drachen waren in komplett allen Legenden Fleischfresser. Drittens, es würde ungemein auffallen, würde ein Bettler Fleisch kaufen.
Trotzdem kam sie zu dem Schluss, dass sie den Drachen ja nicht fragen konnte, so kaufte sie ein ganz kleines bisschen Fleisch, soviel, dass es ihren Finanzen nicht zuviel schadete.
Auch ein bisschen Milch besorgte sie, damit sie den Drachen auf jeden Fall versorgen konnte, unabhängig davon, ob er vielleicht schon Fleisch fraß. Dann machte sie sich auf den Weg zurück. Der Drache hatte sich in ihrer Ecke bereits ausgebreitet und schien geduldig auf sie zu warten. Gabrielle bekam ein seltsames Gefühl, wenn sie ihn anblickte. Sie fand es fremd, aber sehr angenehm. Sie meinte, es könnte Stolz sein. Stolz, einem wahrhaftigen Drachen Unterschlupf zu gewähren, so klein er auch sein mag.
Im Moment interessierte sich der Drache aber eher weniger für ihre Gefühle, sondern für das, was sie mitgebracht hatte. Sie vermutete, er hatte es schon lange vorher gerochen und sie hatte Mühe, ihre Sachen noch herauszunehmen, bevor das Fleisch von dem Drachen verputzt wurde. Auch die Milch verschonte er nicht. Gabrielle hatte noch nicht einmal mit Frühstück angefangen, da war das Geschöpf schon fertig. Langsam wollte sie aber mehr über es herausfinden, schließlich wusste sie noch nichts über ihren Fund, ausser dass er Milch wie Fleisch verzehrte und offensichtlich ein Feuerdrache war, bemerkbar durch die Rauchwölkchen.
Welches Geschlecht er hat konnte sie nur erahnen. Da sie keine Ahnung von Drachen hatte, wusste sie auch nicht, wie sie es hätte feststellen können. Der Kleine schaute ihr interessiert zu, als sie ihr außergewöhnlich hochwertiges Frühstück genoss. Danach überlegte sie, wie es nun weitergehen sollte, schließlich konnte sie ihn nicht den ganzen Tag hier lassen und betteln gehen. Plötzlich hörte sie Schritte, die sich auf ihre Abzweigung der Gasse hinzubewegen. Schnell warf sie ihr Leinen über den Drachen und aß weiter als wäre nichts geschehen. Gerade in dem Moment schaute ein Mann in gepflegter Kleidung um die Ecke, war jedoch noch zu weit entfernt, um genaueres erkennen zu können. Unruhig versuchte sich der Drache zu bewegen und gab ein leises Fiepen von sich. Gabrielle legte ihre Hand, die von dem Mann abgewandt war, unauffällig auf den Teil des Tuchs, worunter sich das Geschöpf verbarg, um es zu beruhigen.
Sie hoffte, der Mann würde wieder umkehren, doch sie wurde enttäuscht. Der Mann schritt auf sie zu. Sie verfiel innerlich in Panik, aber ließ es ihr so wenig wie möglich anmerken. Der Drache schien das zu spüren und wurde unruhig. Kaum war der Mann wieder nähergekommen, sprach dieser:
"Ich habe dich vorhin beobachtet, wie du Fleisch gekauft hast, das ist für deinen Stand sehr unüblich. Ich hätte vermutet es war ein Dienstbotengang, wenn es nicht so wenig gewesen wäre. Was für ein Tier hast du unter der Decke versteckt?"
Sie zuckte zusammen. Der Mann war erstaunlich professionell, wenn es um das Entdecken von Geheimnissen ging.
"Ich vermute, es muss dir viel bedeuten. Zudem muss es etwas Besonderes sein, sonst würdest du es wohl kaum verstecken. Was ist es?"
Gabrielle stellte auf stur, weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Der Mann gab nicht nach und versuchte das Leinen zu entfernen, doch Gabrielle wehrte ihn mit fuchtelnden Armbewegungen ab. Der Mann gab vorerst nach, schließlich kämpfte ein Edelmann nicht mit einem Bettler.
Gabrielle hat der Mann Angst gemacht. Sie stellte fest, dass sie ein neues Versteck brauchte und zwar schnell. Der Drache war hier nicht mehr sicher. Sie packte ihre Sachen und wies den Drachen an, ihr zu folgen. Dabei fiel ihr auf, dass er seit gestern um eine halbe Schienbeinlänge gewachsen war. Sie mutmaßte an diesem schnellen Wachstum, dass er wirklich erst ein paar Tage alt war. Doch jetzt musste sie erst einmal schauen, wie sie einen neuen sicheren Platz fand und vor allem ohne entdeckt zu werden. Ihre kleine Gasse zwischen den Häusern mündete in eine ebenso schmale, die orthogonal zu dieser verlief. Rechts ging es auf die Straße, links noch tiefer in die Elendsviertel hinein, bis es hinaus auf die Felder ging. Auf die offenen Felder wollte sie nicht unbedingt, aber sie hoffte, am wenig bewohnten Stadtrand ein sicheres Plätzchen zu finden. Sie schaute sich kurz um und schlich in ihre gewählte Richtung.
Von dem Drachen konnte man nicht behaupten, dass er schlich. Er war zwar weit weniger tapsig und unbeholfen als am Vortag, aber die Krallen waren auf dem Stein gut zu hören.
Zu gut. Schnell nahm sie ihr Leinentuch und zerriss ihr letztes Tuch, um es um die einzelnen scharfen Krallen wickeln zu können. Bei der Gelegenheit zählte sie sie auch gleich. An jeder Vorderpfote waren drei Krallen und ein winziges Krällchen, das an einen verkümmerten Daumen erinnerte, an den Hinterläufen hatte es zwei kräftige Klauen und ein etwas größeres kleines Krällchen als an der Vorderpfote, das an einen Daumen erinnerte.  Zusätzlich ragte jeweils am ersten Knick des Flügels vom Körper des Drachen aus ein zierliches Dörnchen heraus, das jedoch völlig unbeweglich schien und an den Knochen angewachsen war. Diese musste sie jedoch nicht verbinden. Gabrielle suchte vorsichtig jede Gasse ab bevor sie sie überquerte, damit sie nicht gesehen würden. Keine zwei abgelegene Gassen weiter, fingen die Krallen des Drachen wieder an auf dem Boden zu kratzen, der Stoff war durchgeschnitten. Sie schaute auf die Steine, und bemerkte, dass Steine offensichtlich weicher waren als Drachenklauen und sie eine unübersehbare Spur hinterlassen hatten. Gabrielle legte nun einen Zahn zu, da sie mit Sicherheit gehört würden. Das Kratzen der Klauen war nicht zu überhören. Sie musste aus der Stadt raus, weg von befestigten Wegen. So konnte man sie viel zu einfach verfolgen. Bald war sie an der Stadtmauer angelangt. Sie konnte diese aber nicht überwinden, sie war viel zu hoch. Sie würde durch das Stadttor gehen müssen. Ihr grauste es. Das Stadttor war zu dieser Tageszeit wie ein Fluss, der über die Ufer getreten war, und nachts war es zu. Sie musste sich etwas einfallen lassen, wie sie den Drachen herausschmuggeln konnte. Bald darauf hatte sie eine Idee, die aber nur durchzuführen war, wenn nicht zu viel los war. Sie brauchte ohnehin noch Zeit, um die Vorbereitungen zu treffen. Den Drachen ließ sie in einer finsteren abgelegenen Ecke zurück, wo ihn niemand die nächsten Stunden finden würde. Derweil besorgte sie sich aus dem vielen Unrat eine kaputte Schubkarre, die löchrig und durchgerostet war, aber groß genug, um den Drachen tragen zu können.
Dann kaufte sie sich etwas Heu von einem Bauern, der des Weges kam. Diesen ließ sie völlig verblüfft hinter sich. Der Bauer fragte sich, was ein Bettler mit Heu wollte, aber Gabrielle kümmerte sich nicht darum. Zielstrebig ging sie zum Übergangsversteck zurück und stellte fest, dass es theoretisch funktionieren würde, und praktisch funktionieren musste. Gegen Sonnenuntergang, der übrigens wunderschön war, hob, schob, hievte und fluchte sie den Drachen in die Schubkarre, in die er eigentlich überhaupt nicht wollte. Sie brauchte den ganzen Sonnenuntergang, um ihn in die Schubkarre zu bekommen und ihn dazu zu bewegen auch drinnen zu bleiben. Kaum war das geschafft, warf sie das Heu über den Drachen, der wieder mit eisernem Blick protestierte, aber zum Glück keinen Laut von sich gab. Sie überprüfte, dass auch nichts von dem Drachen zu sehen war und schob die Schubkarre hinaus auf die Straße und bog nach links in Richtung Stadttor ab, durch das nun nur noch vereinzelte Leute gingen. Sie versuchte sich aufzuführen, als wäre sie auf einem ganz normalen Dienstbotengang. Doch bevor sie das Tor erreichte, kamen schreiende Soldaten von hinten angerannt, mitsamt dem Herren, den sie bereits kennengelernt hatte. Sie versuchte es noch durch das Tor zu schaffen, aber die Wachleute versperrten ihr den Weg. Sie suchte noch verzweifelt einen Ausweg, aber sie war zu schnell umzingelt. Sie versuchte es auf die Unschuldstour und fragte, was man denn von ihr wolle. Sie erwartete als Antwort, dass man ihr Geheimnis wissen wolle, oder den Drachen sehen wolle, wenn man es schon wüsste oder sonst was, aber dass sie gar nichts sagten, machte sie erst recht nervös. Sie blickte ihnen in die Augen und folgte ihren Blicken, die bei der Schubkarre endeten. Sie erschrak, als sie des Drachen Schwanz an der Seite der Schubkarre zucken sah. Ihr wurde bewusst, dass ihr Geheimnis ab jetzt auf jeden Fall keines mehr war. Kurz darauf streckte das Geschöpf auch seinen Kopf aus dem Heu, schüttelte sich die Reste ab und blickte neugierig um sich. Nachdem es gemerkt hatte, dass verstecken nunmehr überflüssig geworden war,  sprang es aus der rostigen Schubkarre und entledigte sich des störenden Heus. Gabrielle glaubte schon, nun müssten sie um ihr Leben kämpfen, als die Soldaten sich zum Angriff bereit machten. Doch darauf erschien ein ausgewachsener Drache am blauen Himmel und landete kurz darauf im Kreis der Soldaten. Der Drache, ganz offensichtlich die Mutter des Kleinen, tötete alle, die es wagten, sie zum Kampf zu fordern. Gabrielle glaubte schon, ihr Albtraum würde nun wahr werden und betete, sie möge doch aufwachen. Aber als kein Widerstand mehr da war und die Straße außer der Mutter, dem Kleinen und ihr leer war, wandte sich die Drachenmutter Gabrielle zu. Zu ihrer Überraschung sprach sie sie an. Gabrielle begriff es zuerst nicht, als sie eine freundliche Stimme in ihrem Kopf hörte und blickte den großen Drachen verwirrt an.
"Danke, dass du meine Tochter aufgenommen und beschützt hast."
Gabrielle wurde immer verwirrter.
"Es ist ein Mädchen? Wie heißt sie? Woher weißt du, dass ich das getan habe?"
"Sie hat noch keinen Namen. Es ist zu offensichtlich, dass du mein Kind beschützt hast, selbst ein Blinder würde das merken. Wie heißt du?"
"Gabrielle."

Mit einem Blick, der von tiefem Respekt kündete, blickte die Drachenmutter sie an und antwortete:
"Als Dank dafür, dass du ihr das Leben gerettet hast, wird sie ab heute deinen Namen tragen."
 

© Solstice
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