Etwa zwei Stunden lang würde die Sonne
noch ausreichend Licht spenden, bevor die Dämmerung hereinbrach. Perdoc
paddelte in seinem kleinen Kahn durch die Kanäle des Markt- und Handelsviertels.
Er suchte nach Brauchbarem. Hier, wo große Mengen an Waren umgeschlagen,
gehandelt, verladen und gelagert wurde, kam es schon mal vor, daß
etwas ins Wasser fiel. Er war nicht der einzige, der um diese Zeit die
Kanäle durchstöberte. Viele Menschen paddelten wie er in mehr
oder minder brauchbaren Booten oder auf selbst gefertigten Flößen
umher. Die meisten von ihnen waren ebenso zerlumpt wie Perdoc, wenn sie
überhaupt nennenswerte Kleidung am Leib trugen. Die ganz Verzweifelten
hatten noch nicht einmal ein Boot. Sie schwammen und nutzten Bündel
von Ästen, die sie vor sich her schoben und an die sie ihre karge
Beute banden. Nicht wenige von ihnen hatten entstellende Geschwüre,
in denen Egel brüteten.
Wie so oft in diesen Tagen überkam Perdoc
Wut und Verzweiflung darüber, daß er wie eine Ratte oder Schlammechse
in den Kanälen herumschnüffeln mußte, um seine Familie
und sich zu ernähren. Vor einem Jahr hatte alles noch ganz anders
ausgesehen. Er hatte zusammen mit seinem Bruder ein Boot besessen. Runell
und er hatten es sich gekauft, nachdem sie jahrelang auf anderen Fischerbooten
angeheuert hatten. Es war zwar schon alt gewesen; doch es war intakt. ...und
es sah danach aus, daß Runell und er nicht lange brauchen würden,
um ein besseres Gefährt zu kaufen oder sich vielleicht sogar ein neues
Boot bauen zu lassen.
Runell und Perdoc hatten klein angefangen.
Sie fuhren zunächst auf Muschel- und Krabbenfischern, wie es ihre
Eltern und Großeltern ebenfalls getan hatten. Der Versuchung, in
den Dienst der Königin zu treten, widerstanden sie. Das Leben als
Matrose oder Seesoldat auf einem der Kriegsschiffe der Herrscherin bot
zwar Abenteuer, die viele junge Menschen lockten. Doch die Bezahlung wog
das Risiko nicht auf, dem man sich in Kämpfen mit Piraten oder feindlichen
Ländern aussetzte; das hatte zumindest Ulbrin, Perdocs und Runells
Vater immer gesagt. Seine Söhne sahen auch keine Veranlassung dazu,
anders zu denken. Sie hatten sich in den Kopf gesetzt, einen Traum in Erfüllung
gehen zu lassen, den schon ihre Großeltern geträumt hatten,
den Erwerb eines eigenen Bootes. Die beiden Brüder arbeiteten hart
und galten allgemein als sehr zuverlässig. Bald heuerten sie auf den
Booten der Khari- und Lhum-Fischer an und brachten gutes Geld nach Hause.
Die Brüder heirateten Frauen aus befreundeten Fischerfamilien und
gründeten eigene Familien. Ihr guter Ruf ermöglichte es ihnen
schließlich, sich den Dhong Foi-Fängern anzuschließen.
Die Arbeit auf den Fangbooten war gefährlich, aber sehr einträglich.
Die Dhong Foi waren große und wehrhafte
Fische. Sie besaßen ein sehr hochwertiges Fleisch und auch die nicht
essbaren Teile der Fische brachten gute Erträge auf den Märkten
Khavans. Netze hielten diese Fische nicht und auch Angelleinen widerstanden
der Kraft eines gesunden Dhong Foi nicht. Daher jagte man sie mit der Harpune.
Erfolg versprechend war eine Jagd nur, wenn mehrere Boote zusammenarbeiteten.
Daher bestand eine Flotte der Dhong Foi-Fänger meist aus mehreren
Fangbooten, kleinen und wendigen Seglern, wie jenes Boot, das Perdoc zusammen
mit seinem Bruder sein eigen genannt hatte, und einem oder zwei größeren
Booten, auf denen der Fang zerlegt und zurücktransportiert wurde.
Wehmütig verspürte Perdoc einen
Nachhall des Nervenkitzels, den die Dhong Foi-Fahrten schon Tage vorher
ausgelöst hatten. Seemännisches Geschick, ein gutes Auge und
ein kräftiger Arm zum Schleudern der Harpune waren gefragt. Auch Runell
und er hatten die Gefahr dieser Fahrten zum Abenteuer verherrlicht. Fast
jede Ausfahrt brachte Heldentaten hervor, mit welchen die Familien zuhause
später unterhalten werden konnten. Es war ein aufregendes Leben. Natürlich
gab es Unfälle. Sie passierten jedoch anderen und wurden als Schicksal
hingenommen, bis zu jenem unheilvollen Tag.
Die Flotte, zu der Perdoc und Runell gehörten,
fuhr noch vor dem Sonnenaufgang aus. Man wollte die viel versprechenden
Fanggebiete am frühen Nachmittag erreichen. Die Wolkenleser hatten
eine Witterung vorhergesagt, die nahezu vollkommen für die Jagd auf
den Dhong Foi sein würde. Es wehte ein kräftiger Wind, der schnelles
Segeln ermöglichte. Der Himmel war klar und die Sonne würde kräftig
herabscheinen. Die Tzunai, kleine Schwimmgarnelen, würden in Massen
an die Oberfläche kommen und die Dhong Foi würden ihrer Beute
folgen.
Die Fangflotte kam gut voran und man erreichte
das Fanggebiet sogar etwas früher als geplant. Neun Fangboote schwärmten
in Gruppen zu jeweils drei Booten aus, um die Jagd zu beginnen. Die Tzunai
waren bereits in so großen Mengen aufgestiegen, daß sie das
Wasser stellenweise rot verfärbten. Es dauerte nicht lange, bis Perdoc
den ersten Dhong Foi sichtete. Es war ein großes Tier, das sich als
dunkler Schemen im Wasser abzeichnete. Perdoc stand mit der langen Harpune
in der Hand am Bug seines Bootes. Runell und Otnoc, ein Cousin der beiden,
bedienten das Ruder und die Segel. Perdoc signalisierte den beiden anderen
Booten seiner Gruppe seine Sichtung und bereitete sich darauf vor, die
erste und entscheidende Harpune in den großen Fisch zu schleudern.
Schnell war ihr Boot nah genug heran, daß Perdoc werfen konnte. Er
schleuderte die schwere Harpune mit aller Kraft. Der Dhong Foi schwamm
in dem Augenblick bis direkt unter die Wasseroberfläche, wurde so
besser erkennbar. Kaum hatte die Harpune seine Hand verlassen, da wußte
Perdoc, daß er einen entsetzlichen Fehler gemacht hatte. Der Fisch
vor ihm war riesig, selbst für einen Dhong Foi. Als seine Harpune
in den Körper des Fisches einschlug, schrie Perdoc so laut er konnte:
"Ein Blauer!"
Er drehte sich um und sprang von seiner etwas
erhöhten Position am Bug ins Boot, um das Seil, welches die Harpune
mit dem Boot verband, zu kappen.
Blaue Dhong Foi waren etwas, dem kein Fischer
zu begegnen wünschte. Die wenigen Exemplare, derer die Fangflotten
ansichtig geworden waren, übertrafen die gewöhnlichen Dhong Foi
an Größe, Kraft und vor allem Aggressivität. Gefangen und
angelandet wurde noch keines dieser Tiere. Wurde es trotzdem versucht,
gab es oft Verletzte und sogar Tote, häufig gingen sogar Boote verloren.
Perdoc griff nach einem Messer; doch es war
schon zu spät. Der Blaue schoß davon und riß das Seil
hinter sich her. Dieser schlang sich um Perdocs Beine und riß
ihn mit ungeheuerer Kraft zur Bootswand. Wie durch ein Wunder wurde er
nicht über Bord in den sicheren Tod gerissen, sondern blieb dort stecken.
Das Seil straffte sich und zerquetschte ihm beide Beine. Dann war Runell
heran und kappte das Seil. Entsetzen zeichnete sich auf seinem Gesicht
ab.
Keine zwanzig Schritt vom Boote entfernt durchbrach
ein gewaltiger tiefblauer Körper die Wasseroberfläche und verließ
fast vollständig das Wasser, bevor er mit einem gewaltigen Klatschen
wieder zurückfiel. Damals sah Perdoc dies wie in einer Trance. Er
hörte in dem Moment nichts; auch der Schmerz seiner zerquetschten
Beine war noch nicht vorhanden. Er sah den gewaltigen blauen Dhong Foi.
Er sah seine Harpune, die bis zum Schaft im massigen Rücken des Tieres
steckte. Er erkannte auch, daß die Harpune in einem zu flachen Winkel
in den Körper eingedrungen war. Die Wunde war nicht tödlich.
Bei einem kleineren Fisch hätte es gereicht. Dieser Blaue war gewaltig;
er war mehr als 30 Fuß lang und er war wütend. Runell stürzte
sich trotz der schweren Verletzung seines Bruders wieder an die Segelleinen,
um Otnoc dabei zu unterstützen, das Boot möglichst schnell aus
der Gefahrenzone zu bringen. Die Fischer auf den beiden anderen Booten
der Fanggruppe versuchten dasselbe. Sie alle hatten den Blauen gesehen.
Was nun geschah, erfuhr Perdoc erst später
aus den Berichten der anderen Fischer:
Alle drei Boote in Perdocs Fanggruppe segelten
in ungefähr derselben Richtung, mit dem Wind. Als erstes erwischte
es das Boot von Dunoc Hudai. Ein scharfes Krachen ertönte. Menschen
schrien. Dann brach das Segel weg. Das Boot verlor an Fahrt und sank. Der
Dhong Foi mußte den Kiel des Bootes gerammt und dabei zerschmettert
haben. Wenige Minuten später war der Blaue hinter dem Boot von Runell
und Perdoc aus dem Wasser geschnellt und hatte sich auf das davoneilende
Gefährt geworfen. Der gewaltige Körper des Fisches traf das Heck
und krachte durch berstendes Holz ins Wasser zurück. Der Bug schoß
in die Höhe, verharrte für einige Augenblicke und sank dann dem
Dhong Foi hinterher in die Tiefe. Das dritte Boot der Fanggruppe entkam
unversehrt.
Erst eine Stunde später, vielleicht eine
Stunde vor Sonnenuntergang, wagte sich die Fangflotte wieder in das Gebiet,
um nach Überlebenden zu suchen. Sie fanden Haren Hudai, einen Sohn
von Dunoc, und Perdoc. Beide hatten sich an luftgefüllte Ziegenhäute
geklammert, die als Schwimmer an den Leinen für die Harpunen befestigt
wurden. Perdoc war kaum bei Bewußtsein gewesen. Seine zerquetschten
Beine waren geschwollen und angelaufen. Die, die ihn fanden, hatten kaum
Hoffnung, ihn lebend nach Morava zurück zu bringen. Doch Perdoc hielt
durch.
Jetzt wo er durch die Kanäle Moravas
paddelte, fragte sich Perdoc nicht zum ersten Mal, ob es nicht besser gewesen
wäre, wenn der blaue Dhong Foi ihn ebenfalls getötet hätte.
Er wäre den anderen auf den Meeresgrund gefolgt: Runell, Otnoc, Dunoc
Hudai und zwei von Dunocs Söhnen. Perdoc verfluchte sich für
diese Gedanken. Seine Frau hatte einen Großteil der Ersparnisse der
Familie dafür aufgewendet, eine Heilerin zu bezahlen, die Perdocs
Leben retten konnte und deren Kunst darüber hinaus ausreichte, daß
er seine Beine behalten konnte und trotzdem nicht für den Rest seines
Lebens von Schmerzen geplagt wurde. Nur, laufen würde er nie wieder
können. Ein Fischer jedoch brauchte zwei gesunde Beine. Auch wenn
er unversehrt aus der Katastrophe hervorgegangen wäre, hätte
ihn kein Fischer mehr sein Boot betreten lassen. Denn Perdoc war es gewesen,
der die erste Harpune auf den blauen Dhong Foi geschleudert hatte. Er hatte
den Fisch erzürnt, und man sagte, daß ein Blauer seinen Feind
ein Leben lang verfolgte, bis er ihn gefunden und verschlungen hatte. Kein
Kapitän wagte daher, mit einem derart Gezeichneten an Bord tiefes
Wasser zu queren. Es war wie ein Fluch.
Perdoc hatte sehr mit sich gehadert; aber
letztendlich hatte die Verzweiflung nicht vollkommen Besitz von ihm ergriffen.
Seine Frau Batih hatte sehr dazu beigetragen, indem sie ihn nicht verlassen,
sondern bedingungslos zu ihm gehalten hatte.
Perdocs Familie mußte ihr Haus verkaufen,
um die Blutheuer an Dunoc Hudais Familie bezahlen zu können. Runells
Frau ging mit ihren Kindern zu ihrer Familie nach Hadibah zurück,
einer Ortschaft mit befestigtem Hafen im Süden von Morava. Perdocs
Familie bestand nun noch aus Batih, den drei Kindern, von denen das älteste
gerade sieben Jahre alt war, und Perdocs greisem Vater Ulbrin. Notgedrungen
mußten sie sich im Armenviertel der Stadt einrichten, welches im
Rest Moravas nur 'der Morast' genannt wurde. Die Menschen, die dort lebten,
nannten den Ort Nordhafen. Der Nordhafen begann vor den nördlichen
Stadtbefestigungen Moravas, die dort weit in den Großen Thair ragten.
Ursprünglich hatte man alte Schiffe hierher geschleppt, um sie verrotten
zu lassen. Als Morava wuchs, hatten sich dort Menschen auf den im flachen
Wasser liegenden Wracks niedergelassen und begannen, diese mit Treibholz
zu befestigen und auszubauen. So wuchs eine eigene kleine Stadt heran,
die aus unzähligen schwimmenden Stegen, alten Booten und Stelzenhütten
bestand. Hier lebten die Armen und Verzweifelten. Jeder, der die Chance
bekam, ließ den Nordhafen schleunigst hinter sich. Es wimmelte hier
von Ratten, den bepelzten ebenso wie den menschlichen, und Schlammechsen.
Die Patrouillen der Herrscherin verirrten sich selten hierher. Einige Priester
einer wohltätigen Gottheit kümmerten sich gelegentlich um die
Kranken und Hungernden. Ansonsten war man hier auf sich allein gestellt.
Perdoc war in einen engen Kanal zwischen zwei
großen Lagerhäusern gepaddelt. Da die Sonne nur noch sehr tief
am Himmel stand, herrschte schon beinahe Dunkelheit. Der ehemalige Fischer
sah jedoch an einem Pfeiler eines Ladestegs etwas Helles im Wasser schimmern.
Mit ein paar Paddelschlägen war Perdoc dort und stieß erfreut
einen Pfiff aus. Zu oft entdeckte man einen viel versprechenden Schemen
im Wasser, der sich dann doch als toter Fisch oder verrottender Kohlkopf
entpuppte. Diesmal zog Perdoc einen großen Steingut-Krug aus dem
Wasser, der dank einer Luftblase auf dem Kopf treibend nicht im Schlick
der Kanäle versunken war. Der Krug war unversehrt und sah neu aus.
Es war ein schönes Stück mit geschwungenem Griff. Wahrscheinlich
stammte er aus Fleeste, dem Reich, welches sich im Süden an Kavhan
anschloß. Entweder würde seine Familie den Krug selbst verwenden,
oder Batih könnte ihn für einige Kupferstücke auf dem Markt
verkaufen.
Er verstaute seinen Fang gerade vor sich im
Boot, als er aus der Dunkelheit tiefer unter dem Steg ein Geräusch
hörte, das er zunächst nicht richtig einordnen konnte. Dann klatschte
es dort und etwas schoß durch das Wasser an Perdocs Kahn vorbei in
den Kanal. Der ehemalige Fischer erkannte eine Schlammechse, ein großes
Exemplar mit blaugrünem Rücken. Mit einigen Schlägen seines
kräftigen Ruderschwanzes verschwand das Tier zwischen den dicken Pfahlsäulen,
auf denen das gegenüber liegende Lagerhaus ruhte.
Mit einem unguten Gefühl im Bauch spähte
Perdoc in die Dunkelheit, wo gerade irgendetwas eine der sonst so vorwitzigen
Schlammechsen erschreckt hatte. Er griff zu seinem Paddel, um vorsichtig
sein Boot in die Mitte des kleinen Kanals zu bringen. Unter dem Steg ertönte
ein leises Klatschen, gefolgt von einem schwachen Stöhnen, das in
ein Gurgeln überging. Es hatte menschlich geklungen.
Perdoc rang kurz mit sich, bevor er seinen
kleinen Kahn zwischen die Pfahlstelzen des Stegs manövrierte.
© Andreas
Rabenstein
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