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Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern zur
zweitbesten Fantasy-Fortsetzungs-Story 2005 im Drachental gewählt!

Spinnennetze von Andreas Rabenstein
I: Perdoc

Etwa zwei Stunden lang würde die Sonne noch ausreichend Licht spenden, bevor die Dämmerung hereinbrach. Perdoc paddelte in seinem kleinen Kahn durch die Kanäle des Markt- und Handelsviertels. Er suchte nach Brauchbarem. Hier, wo große Mengen an Waren umgeschlagen, gehandelt, verladen und gelagert wurde, kam es schon mal vor, daß etwas ins Wasser fiel. Er war nicht der einzige, der um diese Zeit die Kanäle durchstöberte. Viele Menschen paddelten wie er in mehr oder minder brauchbaren Booten oder auf selbst gefertigten Flößen umher. Die meisten von ihnen waren ebenso zerlumpt wie Perdoc, wenn sie überhaupt nennenswerte Kleidung am Leib trugen. Die ganz Verzweifelten hatten noch nicht einmal ein Boot. Sie schwammen und nutzten Bündel von Ästen, die sie vor sich her schoben und an die sie ihre karge Beute banden. Nicht wenige von ihnen hatten entstellende Geschwüre, in denen Egel brüteten. 
Wie so oft in diesen Tagen überkam Perdoc Wut und Verzweiflung darüber, daß er wie eine Ratte oder Schlammechse in den Kanälen herumschnüffeln mußte, um seine Familie und sich zu ernähren. Vor einem Jahr hatte alles noch ganz anders ausgesehen. Er hatte zusammen mit seinem Bruder ein Boot besessen. Runell und er hatten es sich gekauft, nachdem sie jahrelang auf anderen Fischerbooten angeheuert hatten. Es war zwar schon alt gewesen; doch es war intakt. ...und es sah danach aus, daß Runell und er nicht lange brauchen würden, um ein besseres Gefährt zu kaufen oder sich vielleicht sogar ein neues Boot bauen zu lassen. 

Runell und Perdoc hatten klein angefangen. Sie fuhren zunächst auf Muschel- und Krabbenfischern, wie es ihre Eltern und Großeltern ebenfalls getan hatten. Der Versuchung, in den Dienst der Königin zu treten, widerstanden sie. Das Leben als Matrose oder Seesoldat auf einem der Kriegsschiffe der Herrscherin bot zwar Abenteuer, die viele junge Menschen lockten. Doch die Bezahlung wog das Risiko nicht auf, dem man sich in Kämpfen mit Piraten oder feindlichen Ländern aussetzte; das hatte zumindest Ulbrin, Perdocs und Runells Vater immer gesagt. Seine Söhne sahen auch keine Veranlassung dazu, anders zu denken. Sie hatten sich in den Kopf gesetzt, einen Traum in Erfüllung gehen zu lassen, den schon ihre Großeltern geträumt hatten, den Erwerb eines eigenen Bootes. Die beiden Brüder arbeiteten hart und galten allgemein als sehr zuverlässig. Bald heuerten sie auf den Booten der Khari- und Lhum-Fischer an und brachten gutes Geld nach Hause. Die Brüder heirateten Frauen aus befreundeten Fischerfamilien und gründeten eigene Familien. Ihr guter Ruf ermöglichte es ihnen schließlich, sich den Dhong Foi-Fängern anzuschließen. Die Arbeit auf den Fangbooten war gefährlich, aber sehr einträglich. 
Die Dhong Foi waren große und wehrhafte Fische. Sie besaßen ein sehr hochwertiges Fleisch und auch die nicht essbaren Teile der Fische brachten gute Erträge auf den Märkten Khavans. Netze hielten diese Fische nicht und auch Angelleinen widerstanden der Kraft eines gesunden Dhong Foi nicht. Daher jagte man sie mit der Harpune. Erfolg versprechend war eine Jagd nur, wenn mehrere Boote zusammenarbeiteten. Daher bestand eine Flotte der Dhong Foi-Fänger meist aus mehreren Fangbooten, kleinen und wendigen Seglern, wie jenes Boot, das Perdoc zusammen mit seinem Bruder sein eigen genannt hatte, und einem oder zwei größeren Booten, auf denen der Fang zerlegt und zurücktransportiert wurde.
Wehmütig verspürte Perdoc einen Nachhall des Nervenkitzels, den die Dhong Foi-Fahrten schon Tage vorher ausgelöst hatten. Seemännisches Geschick, ein gutes Auge und ein kräftiger Arm zum Schleudern der Harpune waren gefragt. Auch Runell und er hatten die Gefahr dieser Fahrten zum Abenteuer verherrlicht. Fast jede Ausfahrt brachte Heldentaten hervor, mit welchen die Familien zuhause später unterhalten werden konnten. Es war ein aufregendes Leben. Natürlich gab es Unfälle. Sie passierten jedoch anderen und wurden als Schicksal hingenommen, bis zu jenem unheilvollen Tag. 

Die Flotte, zu der Perdoc und Runell gehörten, fuhr noch vor dem Sonnenaufgang aus. Man wollte die viel versprechenden Fanggebiete am frühen Nachmittag erreichen. Die Wolkenleser hatten eine Witterung vorhergesagt, die nahezu vollkommen für die Jagd auf den Dhong Foi sein würde. Es wehte ein kräftiger Wind, der schnelles Segeln ermöglichte. Der Himmel war klar und die Sonne würde kräftig herabscheinen. Die Tzunai, kleine Schwimmgarnelen, würden in Massen an die Oberfläche kommen und die Dhong Foi würden ihrer Beute folgen. 
Die Fangflotte kam gut voran und man erreichte das Fanggebiet sogar etwas früher als geplant. Neun Fangboote schwärmten in Gruppen zu jeweils drei Booten aus, um die Jagd zu beginnen. Die Tzunai waren bereits in so großen Mengen aufgestiegen, daß sie das Wasser stellenweise rot verfärbten. Es dauerte nicht lange, bis Perdoc den ersten Dhong Foi sichtete. Es war ein großes Tier, das sich als dunkler Schemen im Wasser abzeichnete. Perdoc stand mit der langen Harpune in der Hand am Bug seines Bootes. Runell und Otnoc, ein Cousin der beiden, bedienten das Ruder und die Segel. Perdoc signalisierte den beiden anderen Booten seiner Gruppe seine Sichtung und bereitete sich darauf vor, die erste und entscheidende Harpune in den großen Fisch zu schleudern. Schnell war ihr Boot nah genug heran, daß Perdoc werfen konnte. Er schleuderte die schwere Harpune mit aller Kraft. Der Dhong Foi schwamm in dem Augenblick bis direkt unter die Wasseroberfläche, wurde so besser erkennbar. Kaum hatte die Harpune seine Hand verlassen, da wußte Perdoc, daß er einen entsetzlichen Fehler gemacht hatte. Der Fisch vor ihm war riesig, selbst für einen Dhong Foi. Als seine Harpune in den Körper des Fisches einschlug, schrie Perdoc so laut er konnte: "Ein Blauer!"
Er drehte sich um und sprang von seiner etwas erhöhten Position am Bug ins Boot, um das Seil, welches die Harpune mit dem Boot verband, zu kappen. 
Blaue Dhong Foi waren etwas, dem kein Fischer zu begegnen wünschte. Die wenigen Exemplare, derer die Fangflotten ansichtig geworden waren, übertrafen die gewöhnlichen Dhong Foi an Größe, Kraft und vor allem Aggressivität. Gefangen und angelandet wurde noch keines dieser Tiere. Wurde es trotzdem versucht, gab es oft Verletzte und sogar Tote, häufig gingen sogar Boote verloren.
Perdoc griff nach einem Messer; doch es war schon zu spät. Der Blaue schoß davon und riß das Seil hinter sich her. Dieser schlang sich um Perdocs Beine und  riß ihn mit ungeheuerer Kraft zur Bootswand. Wie durch ein Wunder wurde er nicht über Bord in den sicheren Tod gerissen, sondern blieb dort stecken. Das Seil straffte sich und zerquetschte ihm beide Beine. Dann war Runell heran und kappte das Seil. Entsetzen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. 
Keine zwanzig Schritt vom Boote entfernt durchbrach ein gewaltiger tiefblauer Körper die Wasseroberfläche und verließ fast vollständig das Wasser, bevor er mit einem gewaltigen Klatschen wieder zurückfiel. Damals sah Perdoc dies wie in einer Trance. Er hörte in dem Moment nichts; auch der Schmerz seiner zerquetschten Beine war noch nicht vorhanden. Er sah den gewaltigen blauen Dhong Foi. Er sah seine Harpune, die bis zum Schaft im massigen Rücken des Tieres steckte. Er erkannte auch, daß die Harpune in einem zu flachen Winkel in den Körper eingedrungen war. Die Wunde war nicht tödlich. Bei einem kleineren Fisch hätte es gereicht. Dieser Blaue war gewaltig; er war mehr als 30 Fuß lang und er war wütend. Runell stürzte sich trotz der schweren Verletzung seines Bruders wieder an die Segelleinen, um Otnoc dabei zu unterstützen, das Boot möglichst schnell aus der Gefahrenzone zu bringen. Die Fischer auf den beiden anderen Booten der Fanggruppe versuchten dasselbe. Sie alle hatten den Blauen gesehen. 
Was nun geschah, erfuhr Perdoc erst später aus den Berichten der anderen Fischer:
Alle drei Boote in Perdocs Fanggruppe segelten in ungefähr derselben Richtung, mit dem Wind. Als erstes erwischte es das Boot von Dunoc Hudai. Ein scharfes Krachen ertönte. Menschen schrien. Dann brach das Segel weg. Das Boot verlor an Fahrt und sank. Der Dhong Foi mußte den Kiel des Bootes gerammt und dabei zerschmettert haben. Wenige Minuten später war der Blaue hinter dem Boot von Runell und Perdoc aus dem Wasser geschnellt und hatte sich auf das davoneilende Gefährt geworfen. Der gewaltige Körper des Fisches traf das Heck und krachte durch berstendes Holz ins Wasser zurück. Der Bug schoß in die Höhe, verharrte für einige Augenblicke und sank dann dem Dhong Foi hinterher in die Tiefe. Das dritte Boot der Fanggruppe entkam unversehrt. 
Erst eine Stunde später, vielleicht eine Stunde vor Sonnenuntergang, wagte sich die Fangflotte wieder in das Gebiet, um nach Überlebenden zu suchen. Sie fanden Haren Hudai, einen Sohn von Dunoc, und Perdoc. Beide hatten sich an luftgefüllte Ziegenhäute geklammert, die als Schwimmer an den Leinen für die Harpunen befestigt wurden. Perdoc war kaum bei Bewußtsein gewesen. Seine zerquetschten Beine waren geschwollen und angelaufen. Die, die ihn fanden, hatten kaum Hoffnung, ihn lebend nach Morava zurück zu bringen. Doch Perdoc hielt durch. 
Jetzt wo er durch die Kanäle Moravas paddelte, fragte sich Perdoc nicht zum ersten Mal, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn der blaue Dhong Foi ihn ebenfalls getötet hätte. Er wäre den anderen auf den Meeresgrund gefolgt: Runell, Otnoc, Dunoc Hudai und zwei von Dunocs Söhnen. Perdoc verfluchte sich für diese Gedanken. Seine Frau hatte einen Großteil der Ersparnisse der Familie dafür aufgewendet, eine Heilerin zu bezahlen, die Perdocs Leben retten konnte und deren Kunst darüber hinaus ausreichte, daß er seine Beine behalten konnte und trotzdem nicht für den Rest seines Lebens von Schmerzen geplagt wurde. Nur, laufen würde er nie wieder können. Ein Fischer jedoch brauchte zwei gesunde Beine. Auch wenn er unversehrt aus der Katastrophe hervorgegangen wäre, hätte ihn kein Fischer mehr sein Boot betreten lassen. Denn Perdoc war es gewesen, der die erste Harpune auf den blauen Dhong Foi geschleudert hatte. Er hatte den Fisch erzürnt, und man sagte, daß ein Blauer seinen Feind ein Leben lang verfolgte, bis er ihn gefunden und verschlungen hatte. Kein Kapitän wagte daher, mit einem derart Gezeichneten an Bord tiefes Wasser zu queren. Es war wie ein Fluch. 
Perdoc hatte sehr mit sich gehadert; aber letztendlich hatte die Verzweiflung nicht vollkommen Besitz von ihm ergriffen. Seine Frau Batih hatte sehr dazu beigetragen, indem sie ihn nicht verlassen, sondern bedingungslos zu ihm gehalten hatte. 
Perdocs Familie mußte ihr Haus verkaufen, um die Blutheuer an Dunoc Hudais Familie bezahlen zu können. Runells Frau ging mit ihren Kindern zu ihrer Familie nach Hadibah zurück, einer Ortschaft mit befestigtem Hafen im Süden von Morava. Perdocs Familie bestand nun noch aus Batih, den drei Kindern, von denen das älteste gerade sieben Jahre alt war, und Perdocs greisem Vater Ulbrin. Notgedrungen mußten sie sich im Armenviertel der Stadt einrichten, welches im Rest Moravas nur 'der Morast' genannt wurde. Die Menschen, die dort lebten, nannten den Ort Nordhafen. Der Nordhafen begann vor den nördlichen Stadtbefestigungen Moravas, die dort weit in den Großen Thair ragten. Ursprünglich hatte man alte Schiffe hierher geschleppt, um sie verrotten zu lassen. Als Morava wuchs, hatten sich dort Menschen auf den im flachen Wasser liegenden Wracks niedergelassen und begannen, diese mit Treibholz zu befestigen und auszubauen. So wuchs eine eigene kleine Stadt heran, die aus unzähligen schwimmenden Stegen, alten Booten und Stelzenhütten bestand. Hier lebten die Armen und Verzweifelten. Jeder, der die Chance bekam, ließ den Nordhafen schleunigst hinter sich. Es wimmelte hier von Ratten, den bepelzten ebenso wie den menschlichen, und Schlammechsen. Die Patrouillen der Herrscherin verirrten sich selten hierher. Einige Priester einer wohltätigen Gottheit kümmerten sich gelegentlich um die Kranken und Hungernden. Ansonsten war man hier auf sich allein gestellt. 

Perdoc war in einen engen Kanal zwischen zwei großen Lagerhäusern gepaddelt. Da die Sonne nur noch sehr tief am Himmel stand, herrschte schon beinahe Dunkelheit. Der ehemalige Fischer sah jedoch an einem Pfeiler eines Ladestegs etwas Helles im Wasser schimmern. Mit ein paar Paddelschlägen war Perdoc dort und stieß erfreut einen Pfiff aus. Zu oft entdeckte man einen viel versprechenden Schemen im Wasser, der sich dann doch als toter Fisch oder verrottender Kohlkopf entpuppte. Diesmal zog Perdoc einen großen Steingut-Krug aus dem Wasser, der dank einer Luftblase auf dem Kopf treibend nicht im Schlick der Kanäle versunken war. Der Krug war unversehrt und sah neu aus. Es war ein schönes Stück mit geschwungenem Griff. Wahrscheinlich stammte er aus Fleeste, dem Reich, welches sich im Süden an Kavhan anschloß. Entweder würde seine Familie den Krug selbst verwenden, oder Batih könnte ihn für einige Kupferstücke auf dem Markt verkaufen. 
Er verstaute seinen Fang gerade vor sich im Boot, als er aus der Dunkelheit tiefer unter dem Steg ein Geräusch hörte, das er zunächst nicht richtig einordnen konnte. Dann klatschte es dort und etwas schoß durch das Wasser an Perdocs Kahn vorbei in den Kanal. Der ehemalige Fischer erkannte eine Schlammechse, ein großes Exemplar mit blaugrünem Rücken. Mit einigen Schlägen seines kräftigen Ruderschwanzes verschwand das Tier zwischen den dicken Pfahlsäulen, auf denen das gegenüber liegende Lagerhaus ruhte. 
Mit einem unguten Gefühl im Bauch spähte Perdoc in die Dunkelheit, wo gerade irgendetwas eine der sonst so vorwitzigen Schlammechsen erschreckt hatte. Er griff zu seinem Paddel, um vorsichtig sein Boot in die Mitte des kleinen Kanals zu bringen. Unter dem Steg ertönte ein leises Klatschen, gefolgt von einem schwachen Stöhnen, das in ein Gurgeln überging. Es hatte menschlich geklungen. 
Perdoc rang kurz mit sich, bevor er seinen kleinen Kahn zwischen die Pfahlstelzen des Stegs manövrierte.
 

© Andreas Rabenstein
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Und schon geht's weiter zum 2. Kapitel: Der Fremde

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