Perdoc löste seinen Blick von dem fremdartigen
Dolch und schaute seinen Vater Ulbrin an, der in der ihm eigenen Ruhe und
Ausgeglichenheit damit beschäftigt war, die Wunde des Fremden zu behandeln.
Gerade strich er etwas von einer Salbe, die er selbst aus einer Wasserpflanze
und Fischfett hergestellt hatte, auf den tiefen Schnitt im Rücken
des Fremden. Die Blutung war größtenteils gestillt. Die Salbe
würde - das wusste Perdoc aus eigener Erfahrung - den Wundbrand fernhalten.
"Vater! Wo liegt dieses Land, dieses ... Draghe,
von wo dieser Mann kommen soll? Ich habe nie davon gehört. Es gehört
nicht zu den Königreichen des Bundes." Ulbrin hielt inne und murmelte
etwas Unverständliches, wie er es oft tat. Seine Stirn legt sich in
Falten. Er schien sich angestrengt zu konzentrieren. Er schüttelte
leicht den Kopf.
"Nein, Draghe liegt weit im Süden, viele
Tage volle Fahrt über das offene Meer." Ulbrin blickte in eine nur
für ihn erkennbare Ferne. Ein Lächeln legte sein Gesicht noch
mehr in Falten. "Mein Vater erzählte mir davon, als ich klein war.
- Gute Seefahrer sollen sie sein; hervorragende Schiffe haben sie. Mein
Vater hat mal eines gesehen, auf einer Handelsfahrt nach Ifni. Er sah auch
ihre Seeleute. Er beschrieb sie mir ganz genau. Sie sehen anders aus als
wir, ...so wie dieser Mann hier." Ulbrin betrachtete den Verwundeten nachdenklich.
Dann wandte er sich an Batih und bat sie, dem Mann etwas Tee einzuflößen.
Perdoc hatte den Eindruck, daß sich die Aufmerksamkeit seines Vaters
nun wieder anderen Dingen zugewandt hatte, was oft und eigentlich vorhersagbar
geschah, Perdoc aber dennoch immer wieder zur Weißglut treiben konnte.
Daher klangen die nächsten Worte des
ehemaligen Fischers etwas harsch, als er weiterbohrte. "Das ist alles,
was du über dieses Volk weißt? Warum sind sie hier? Was hat
das alles zu bedeuten?"
Ulbrin werkelte unbeeindruckt und gedankenverloren
weiter vor sich hin, wobei er saubere Tücher auf die nun versorgte
Wunde des Fremden legte. Der alte Mann kicherte plötzlich unvermittelt
und sah seinem Sohn dann direkt in die Augen. "Ich weiß es nicht,
mein Sohn. Frag Derroc! Der wird dir mehr erzählen können." Ulbrin
sagte weiter nichts und vollendete sein Werk, während Perdoc seine
Frau ansah und schließlich fast unmerklich nickte. Sein Vater hatte
recht.
Derroc arbeitete für eine Familie von
Händlern, der mehrere große Schiffe gehörten. Vor seinem
Unfall hatten Perdoc und sein Bruder ihre Fänge bei dieser Familie
verkauft. Derroc war ein entfernter Verwandter von Batih. Ihm wurde nachgesagt,
"große Ohren" zu haben und tatsächlich schien sich keine Neuigkeit
und kein Gerücht auf den Straßen Moravas zu verbreiten, ohne
daß Derroc nicht schon alles wusste. Genauso schnell, wie er Neuigkeiten
aufnahm, genauso bereitwillig gab er sie jedem, der es hören wollte
oder auch nicht, wieder zum Besten.
Perdoc nahm sich vor, gleich am nächsten
Morgen in den Handelshafen zu fahren und Derroc dort aufzusuchen. Er hätte
in den nächsten Tagen ohnehin dorthin fahren wollen, um einige Fundstücke
umzusetzen und dringend notwendige Lebensmittel zu kaufen. In dieser Nacht
lag er noch lange wach und grübelte darüber nach, was das Schicksal
ihm und seiner Familie zugedacht hatte. Wie er es auch drehte oder wendete;
er konnte sich wenig Gutes vorstellen, das der Fremde und seine Geheimnisse
ihnen bringen würden.
***
Die Augen des Hauptmannes glitzerten vor eiskalter,
mörderischer Wut. Es war die einzige Gefühlsregung, die der Attentäter
jemals an dem Mann bemerkt hatte. Umso beunruhigender war es, daß
er das alleinige Ziel dieses Blickes war.
Die Stimme des Hauptmannes hatte einen Unterton,
der an das Knurren eines ausgehungerten Wolfes erinnerte. "Wie konnte das
geschehen? Wofür habe ich dich all diese Jahre ausgebildet? Dankst
du unserem Gott so seine Güte, dich in Seinem Orden zu dulden? Du
weißt, daß ich dich für diese Verfehlung hier auf der
Stelle töten müsste. Ich werde es dennoch nicht tun, allein aus
dem Grund, daß mir in diesem verfluchten Land nicht genügend
Brüder und Schwestern zur Seite stehen, als daß ich auf einen
verzichten könnte. Dir, Bruder Ardun, sei damit Isons unendliche Gnade
zuteil, die Scharte auszuwetzen, welche durch dein unbedachtes Handeln
entstanden ist!"
Es wäre weniger beängstigend gewesen,
wenn der Hauptmann gebrüllt hätte. Bruder Ardun war darauf gefasst
gewesen, sehr bald vor Isons Auge zu treten, um ewig für seine Verfehlungen
zu büßen. Als ergebener Diener seines Gottes und Mitglied Seines
geheiligten Ordens wäre es ihm jedoch nie in den Sinn gekommen, wegzulaufen
oder seiner erbärmlichen Existenz von eigener Hand ein Ende zu setzen.
Also stand er mit gesenktem Haupt vor seinem Ordens-Hauptmann und harrte
seiner Strafe, egal wie hart sie auch sein mochte.
Die Wut war immer noch in die Worte des Hauptmannes
gewoben. Sie kamen Ardun wie eine perfekt geschliffene Klinge vor, der
Fleisch ebenso wenig Widerstand bot wie Luft. Der Hauptmann sprach leise.
Seine Worte waren nur für Ardun bestimmt: "Deine Aufgabe wird es sein,
dir jeden Kadaver anzusehen, den die stinkenden Kanäle oder der schlammige
Fluss freigeben. Ich will wissen - du hörst mich! Ich will sicher
wissen, daß du deinen Auftrag vollständig ausgeführt hast.
Und ich will es wissen, bevor es die gottlosen Herrscher dieser Stadt wissen!"
Bruder Ardun verbeugte sich tief, um anzuzeigen,
daß er verstanden hatte. Der Hauptmann hatte sich bereits halb abgewandt,
als ihm noch etwas einfiel. "Bis du deine Waffe wieder in Händen hältst
oder wir sicher sein können, daß kein Gottloser sie an sich
genommen hat, sei dir das Recht verwehrt, eine Klaue Isons zu tragen."
Dieser Zusatz traf den in Ungnade gefallenen
Bruder härter als ein Schwertstreich. Der Hauptmann hatte ihm zu verstehen
gegeben, daß er kein echtes Mitglied des Ordens mehr war, bis er
geschafft hatte, seine Aufgabe zu erfüllen. Bruder Ardun durfte sich
nicht der Verzweiflung ergeben. Er musste mit all seiner Seele danach streben,
die ihm auferlegte Last zu tragen und sein Versagen in Erfolg zu verwandeln.
Wortlos löste er den Leibgurt, an welchem
die Scheiden seiner beiden Klauen Isons befestigt waren. Nur in einer von
ihnen steckte eine der schwarzen Waffen. Die andere war leer, ein Zeichen
seiner Schmach. Er faltete den Gurt und legte ihn auf den Tisch in der
Kammer des Hauptmanns, bevor er sich umwandte und ging.
Der Hauptmann sah ihm eine Weile lang nach.
Dann umspielte ein grausames und zugleich zufriedenes Lächeln seine
Lippen.
***
Perdoc bereitete sich noch vor Sonnenaufgang
darauf vor, in den Handelshafen zu fahren. Batih half ihm dabei, die Beute
der vergangenen Tage in dem kleinen Boot zu verstauen. Perdoc wollte den
Weg gleich dazu nutzen, etwas Mehl und andere dringend benötigte Dinge
zu erhandeln. Er war sich trotzdem nicht sicher, ob er überhaupt in
der Lage sein würde, in vernünftiger Weise zu feilschen, um seine
Waren zu einem angemessenen Wert umzusetzen. Zu sehr waren seine Gedanken
von Sorgen und Ängsten umwölkt.
Er hatte in der Nacht lange wachgelegen und
darüber nachgedacht, was nun zu tun sei und ob das, was er beabsichtigte
zu tun, das Richtige war. Perdoc versuchte sich mit dem zu trösten,
was die Priester mehrerer Gottheiten in der einen oder anderen Weise predigten,
daß nämlich der Weg eines Menschen vorbestimmt sei. Die Götter
mussten also ein bestimmtes Ziel damit verfolgen, daß sie ausgerechnet
ihn, Perdoc, den lahmen Fischer, den Fremden hatten finden lassen.
Der Fremde hatte die Nacht überlebt. Das
Fieber war zurück gegangen und die Haut des Mannes hatte eine gesündere
Farbe angenommen, soweit man das bei seiner ungewohnt hellen Haut beurteilen
konnte. Ulbrin flößte ihm vorsichtig etwas Fischbrühe ein,
die er tatsächlich zu schlucken begann und auch bei sich behielt.
Perdocs Vater lächelte zufrieden und wuselte Mattin gut gelaunt durch
das Haar. Der Junge saß, noch schlaftrunken, neben ihm auf dem Boden
der Hütte und betrachtete mit großen Augen die bewusstlose Gestalt
des Mannes aus dem Land jenseits des Meeres.
Draußen hievte sich Perdoc in sein Boot.
Batih reichte ihm seine Krücken. "Sei vorsichtig!"
Perdoc verstaute die Krücken und ergriff
dann die Hand seiner Frau. Er nickte: "Ich werde schon auf mich aufpassen."
Dann stieß er sich ab und paddelte hinaus in das Gewirr von Kanälen
zwischen Pfahlbauten und zusammengezurrten Schiffswracks, Flößen
und Pontons des Nordhafens. Überall wurden nun die Kochfeuer entzündet,
auch wenn es an vielen dieser Feuer nicht viel mehr als Wasser gab, das
gekocht werden konnte.
Zwei Schlammechsen begleiteten Perdocs Kahn
eine Weile, indem sie vor dem Bug herschwammen. Sie taten das manchmal,
bis sie das Interesse verloren und sich wieder anderen Dingen zuwandten.
Schließlich erreichte Perdoc die Kanäle
des Handelshafens. Er steuerte eine Stelle an, an der es flache Stege nahe
der Wasserlinie gab, so daß Perdoc ohne allzu große Probleme
aus seinem Boot aussteigen konnte. Es gab ganz in der Nähe dieser
Stelle einen kleinen Markt, der hauptsächlich von der ärmeren
Bevölkerung aufgesucht wurde. Auch Menschen aus dem Nordhafen, meist
abfällig Morast-Ratten genannt, wurden hier geduldet, solange sie
Waren zum tauschen besaßen.
Perdoc zurrte sein Boot fest, schlang sich
seinen Beutel mit seinen Handelsgütern um und kletterte auf den Steg.
Als er sich auf seine Krücken gestützt aufgerichtet hatte, ging
er zunächst auf den Markt, um zu handeln und die Dinge zu besorgen,
die seine Familie benötigte. Auch wenn er nachher glaubte, daß
er mehr hätte herausschlagen können, war er mit dem Ergebnis
seines Marktbesuches recht zufrieden.
Seine Nervosität steigerte sich, als
er sich aufmachte, um die Lagerhäuser der Familie Erunhdah aufzusuchen.
Dort arbeitete Derroc. Was Perdoc so nervös machte, war die Tatsache,
daß er nicht sonderlich redegewandt war. Er befürchtete, zu
viel preiszugeben, was der neugierige und geschwätzige Derroc dann
in Kürze unter das Volk bringen würde. Einmal blieb Perdoc auf
seinem Weg sogar unschlüssig stehen. Sollte er nicht doch lieber umkehren
und kein unnötiges Risiko eingehen? Er schüttelte wütend
den Kopf. Das würde ihm gar nicht helfen. Er wüsste genauso wenig
wie vorher. Nein, es war unabdingbar, daß er mehr erfuhr! Nur so
bestand die Möglichkeit, heile aus der ganzen Sache herauszukommen.
Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Perdoc
näherte sich dem großen Erundah-Lagerhaus von der Rückseite
her. Das Lagerhaus war ein wuchtiges Gebäude aus gebrannten Lehmziegeln
und Holz. Es herrschte rege Geschäftigkeit. Gerade wurden mehrere
große Wagen entladen, vor welche als Zugtiere kräftige Büffel
gespannt waren. Perdoc stand auf der Straße und hielt nach Derroc
Ausschau. Ein hagerer Mann in der Kleidung eines Schreibers wurde auf ihn
aufmerksam. Er kam an den Rand der stabil gebauten Verladerampe und sah
geringschätzig auf Perdoc herab.
"He, du! Was willst du hier? Es gibt hier
nichts für Leute wie dich! Verschwinde!" Der Mann wedelte ungehalten
mit der Hand in Perdocs Richtung, als wollte er ein lästiges Insekt
verscheuchen.
Perdoc schluckte seinen Ärger herunter.
"Entschuldigt, Herr! Ich suche Derroc, Laidrins Sohn!..."
"Der ist beschäftigt! Hau ab!" Der Schreiber
wollte sich abwenden, als er noch einmal kurz innehielt. "Zur Mittagszeit
isst er mit den anderen Arbeitern auf dem Khari-Markt. Dort kannst du ihn
treffen." Dann drehte sich der Mann ohne ein weiteres Wort um und verschwand
durch eines der vielen Tore im Lagerhaus.
Perdoc kannte den Khari-Markt. In diesem Teil
der Stadt war er recht beliebt, da man dort guten gebratenen Fisch zu anständigen
Preisen erstehen konnte, vor allem, wie der Name es schon andeutete, Khari.
Wehmütig dachte Perdoc einen Augenblick an die Zeit, als er selbst,
an der Seite seines Bruders, die Fangleinen mit den grün-golden glänzenden
Fischen eingeholt hatte.
Er wandte sich von dem Lagerhaus ab und humpelte
los. Bis zum Mittag hatte er noch ein wenig Zeit. Er wollte dennoch schon
jetzt zum Khari-Markt gehen, um sich ein wenig umzuhören. Schon auf
dem Weg dorthi, fiel ihm auf, daß sich ungewöhnlich viele Soldaten
auf den Straßen aufhielten. Sie machten grimmige Gesichter und beäugten
die Passanten misstrauisch. Ein Krüppel wie Perdoc erregte ihre Aufmerksamkeit
jedoch nicht. Als er schließlich den Khari-Markt erreichte, standen
auch dort, vor allem an den Zugangswegen, Soldaten herum, die finstere
Blicke über die Menge streifen ließen. Die Leute auf dem Markt
gingen wie gewohnt ihren Geschäften nach, auch wenn sie den einen
oder anderen verstohlenen Blick auf die Bewaffneten warfen. Zur Zeit war
der Markt noch recht gut zu übersehen. Das würde sich ändern,
wenn die Arbeiter aus den umliegenden Lagerhäusern eintrafen, um ihr
Mittagsmahl einzunehmen. Perdoc humpelte zwischen den Ständen und
Buden umher. Der köstliche Geruch gebratenen oder geräucherten
Fischs war eine Tortur, da er Hunger hatte. Er würde sich jedoch weiterhin
quälen müssen, da ihm die Mittel fehlten, sich hier eine Mahlzeit
leisten zu können.
Die Gespräche zwischen den Fischverkäufern
und ihren Kunden wurden nur tuschelnd gehalten oder drehten sich um Belanglosigkeiten.
So konnte Perdoc nicht ausmachen, warum so viele Kämpfer der Herrscherin
auf den Straßen waren. Die Soldaten direkt zu fragen, würde
ihm im besten Fall einen Fußtritt einbringen. Es blieb Perdoc also
nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Allmählich füllte sich der Markt
und wurde zu einem unübersehbaren Gedränge. Von allen Seiten
drängten Männer und Frauen heran, die in den umliegenden Lagerhäusern
und Kontoren der Händler arbeiteten. An einigen der größeren
Stände waren Bänke und lange Tafeln aufgestellt, die sich nun
schnell mit Menschen füllten, nachdem diese sich an den Ständen
mit einer Mahlzeit versorgt hatten. Beim Anblick der genüßlich
speisenden Massen bereitete Perdoc sein hungriger Magen beinahe körperlichen
Schmerz. Wo es nur ging, versuchte er tapfer seinen Blick abzuwenden und
hielt stattdessen nach Derroc Ausschau.
Endlich, einige hatten ihr Mittagsmahl bereits
verspeist und erhoben sich, um zu gehen, erblickte Perdoc den entfernten
Cousin seiner Frau. Er hockte auf einer Kiste und nagte an den Resten eines
Stücks gebratenen Kharis.
Perdoc drängelte sich zu ihm durch und
tat so, als sei er überrascht, Derroc hier vorzufinden. "Sei gegrüßt,
Derroc! Ich hoffe, es hat dir gemundet."
Der angesprochene blickte überrascht
auf und erkannte sein Gegenüber nach einem kurzen Zögern. Für
einen Augenblick flackerten widerstreitende Empfindungen in seinen Augen,
als ränge er mit sich, ob er vorgeben sollte, jenen herunter gekommenen
Invaliden nicht zu kennen. Doch offenbar gewann der Anstand die Oberhand.
"Sei gegrüßt, Perdoc! Wie geht es Batih und den Kindern."
Perdoc zuckte die Achseln. Er versuchte ein
Lächeln und sagte: "Wir kommen zurecht." Derroc nickte höflich.
In der sich nun einstellenden Pause peinlichen Schweigens, versuchte Perdoc
fieberhaft nach einer Möglichkeit, wie er unverfänglich und,
ohne Misstrauen zu erregen, ein Gespräch beginnen konnte, das ihm
einige seiner Fragen beantworten würde.
Derroc, der seinerseits unbehaglich auf seiner
Kiste herumrutschte, übernahm selbst die Initiative. Verschwörerisch
beugte er sich vor: "Ganz schön viele Soldaten hier, findest du nicht?"
Als er das Interesse in Perdocs Gesicht las, das dieser in keiner Weise
vortäuschen musste, war Derroc in seinem Element.
"Sag bloß, du weißt noch nichts
davon? Wo lebst du denn?..." Er besaß sogar den Anstand, leicht zu
erröten, als ihm klar wurde, daß die letzte Frage, obwohl nur
als Floskel gemeint, etwas unhöflich gewesen war. Er überspielte
das, indem er weiterredete.
"Die Herrscherin soll außer sich sein
vor Wut. Ein ausländischer Gesandter soll ermordet worden sein, hier
in unserer Stadt, an den Kanälen des Handelshafens. Einige munkeln,
daß das Krieg bedeuten könnte." Verschwörerisch sah sich
Derroc um, bevor er fortfuhr.
"Ich habe gehört, daß die Herrscherin
befohlen hat, den Kopf des Mörders und die seiner Komplizen auf dem
Platz der Winde auszustellen. Das Problem ist nur, daß niemand zu
wissen scheint, wer hinter dem Mord steckt."
"Wer war der Gesandte? Und woher kommt er?",
fragte Perdoc, den allmählich ein Gefühl beklemmender Vorahnung
überkam. Er spürte, daß er die Antwort auf seine Frage
eigentlich nicht hören wollte. Nichtsdestotrotz brauchte er jetzt
Klarheit.
Derroc fiel Perdocs Beklommenheit nicht auf.
Er musterte den auf Krücken Gestützten mit einem Blick, den ein
Weltgewandter vielleicht einem Einfaltspinsel zuwerfen würde.
"Offenbar ist auch die Ankunft der Fremden
an dir vorbei gegangen. Dabei sind sie doch schon ein paar Wochen in der
Stadt..." Und schon war Derroc in seinem Element.
Perdoc erfuhr so, daß vor etwa sechs
Wochen ein fremdes Schiff vor der Küste Kavhans auftauchte. Es war
ein viermastiger Großsegler von einer Bauart, die sich stark von
der kavhanischer Schiffe unterschied. Als Derroc begann, das Schiff ausführlich
in allen Einzelheiten zu beschreiben, unterbrach ihn Perdoc vorsichtig
mit der Frage, woher das Schiff denn nun gekommen sei. Ohne seinen Redefluss
zu bremsen, schwenkte Derroc auf das gewünschte Thema ein. Der Großsegler
stammte, wie seine Besatzung aus einem fernen Land jenseits des Meeres,
welches wohl Draghe genannt wurde. Auf dem Schiff befand sich eine diplomatische
Gesandschaft des draghischen Reiches. Es solle sogar ein Mitglied der draghischen
Königsfamilie unter ihnen sein. Derroc hatte nur hier und da einen
Blick auf die Fremden werfen können. Es war anfangs gar nicht so einfach,
da die Soldaten der Herrscherin die Gäste relativ stark abschirmten.
Die Dragher sollten eine hellere Haut und helleres Haar haben, als es bei
den Nyetern üblich war. Ihre Kleidung war seltsam und außerdem
sprachen sie eine fremde Zunge, obwohl es welche unter ihnen geben sollte,
die Nyetisch beherrschten.
Bei ihrer Ankunft verhielten sich die Fremden
freundlich. Sie ließen ihr Schiff von einer kavhanischen Kriegsgaleere
in den Hafen von Morava geleiten.
Der Anleger, an dem das Schiff festmachte,
wurde von den Soldaten abgeriegelt. Boten wurden zwischen dem Palast und
dem Schiff hin und her geschickt. Schließlich rückte ein Zeremonienzug
aus Richtung des Palastes an, wie ihn das Volk seit dem Besuch des Herrschers
von Ifni nicht mehr gesehen hatte. Der Sprecher des Rates, Fürst Khuran,
führte den Zug, prachtvoll ausstaffiert, an. Den Beobachtern aus dem
einfachen Volk blieb verborgen, was sich auf dem Anleger abspielte. Die
Fremden wurden wohl in allen Ehren begrüßt. Sie durften Sänften
besteigen und wurden zum Palast geleitet. Auch während dieses Zuges
zurück, konnte man kaum einen Blick auf die Fremden werfen, da die
Sänften verhangen waren. Eine Ausnahme bildeten sechs berittene Krieger
der Fremden, die der vordersten Sänfte auf gewaltigen Pferden folgten.
Allein diese Pferde flößten Ehrfurcht ein. Was sogar diese unbedeutend
und unwichtig erschienen ließ, war die Tatsache, daß die Krieger
von Kopf bis Fuß mit etwas gerüstet waren, bei dem es sich nur
um Metall handeln konnte. Ein derartiger Reichtum dieses extrem seltenen
Werkstoffs war für einen Nyeter unvorstellbar.
Nachdem Derroc sich ausführlich in Spekulationen
über den Wert allein einer dieser Rüstungen ergangen hatte, kam
er endlich auf die Vorfälle in jüngster Zeit zu sprechen. Der
Führer der Delegation aus Draghe war ein Mann namens Warnon ap Sarthena.
Er war, nach allem, was so geredet wurde, ein Halbbruder des draghischen
Königs. Während er dies erzählte, beugte sich Derroc immer
weiter zu Perdoc hin und sprach leiser. Seine Augen suchten die Umgebung
nach unerwünschten Lauschern ab.
"...und eben dieser Warnon soll in der vergangenen
Nacht im Handelshafen ermordet worden sein. Man fand seinen Leibwächter,
abgeschlachtet in einer Lache seines eigenen Blutes. Ganell, der mit mir
im Lagerhaus arbeitet, hat die Leiche mit eigenen Augen gesehen. Der Gesandte
selbst wurde nicht gefunden. Wenn Du mich fragst, treibt er bereits ins
Meer hinaus. Wie ich schon sagte, weiß niemand, wer dafür verantwortlich
ist, obwohl bereits Leute verhaftet wurden. Aber wären sie es gewesen,
würden bereits Köpfe auf dem Platz der Winde ausgestellt werden.
Niemand weiß auch, warum der Gesandte nachts ohne weiteren Schutz
am Hafen herumschlich." Derroc hob die Hand und machte eine Geste, mit
der er seiner mysteriöse Andeutung noch mehr Gewicht verleihen wollte.
Perdoc bekam das gar nicht richtig mit. Ihm
lief der kalte Schweiß über den Rücken. Er wusste nun,
wer in der armseligen Hütte seiner Familie lag und mit seinem Leben
rang.
© Andreas
Rabenstein
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
|