Dieses Kapitel bitte erst ab dem Drachentaler Wettbewerb 2005 mit berücksichtigen!
 
Spinnennetze von Andreas Rabenstein
III: Die Karten des Schicksals werden verteilt

Perdoc löste seinen Blick von dem fremdartigen Dolch und schaute seinen Vater Ulbrin an, der in der ihm eigenen Ruhe und Ausgeglichenheit damit beschäftigt war, die Wunde des Fremden zu behandeln. Gerade strich er etwas von einer Salbe, die er selbst aus einer Wasserpflanze und Fischfett hergestellt hatte, auf den tiefen Schnitt im Rücken des Fremden. Die Blutung war größtenteils gestillt. Die Salbe würde - das wusste Perdoc aus eigener Erfahrung - den Wundbrand fernhalten.
"Vater! Wo liegt dieses Land, dieses ... Draghe, von wo dieser Mann kommen soll? Ich habe nie davon gehört. Es gehört nicht zu den Königreichen des Bundes." Ulbrin hielt inne und murmelte etwas Unverständliches, wie er es oft tat. Seine Stirn legt sich in Falten. Er schien sich angestrengt zu konzentrieren. Er schüttelte leicht den Kopf.
"Nein, Draghe liegt weit im Süden, viele Tage volle Fahrt über das offene Meer." Ulbrin blickte in eine nur für ihn erkennbare Ferne. Ein Lächeln legte sein Gesicht noch mehr in Falten. "Mein Vater erzählte mir davon, als ich klein war. - Gute Seefahrer sollen sie sein; hervorragende Schiffe haben sie. Mein Vater hat mal eines gesehen, auf einer Handelsfahrt nach Ifni. Er sah auch ihre Seeleute. Er beschrieb sie mir ganz genau. Sie sehen anders aus als wir, ...so wie dieser Mann hier." Ulbrin betrachtete den Verwundeten nachdenklich. Dann wandte er sich an Batih und bat sie, dem Mann etwas Tee einzuflößen. Perdoc hatte den Eindruck, daß sich die Aufmerksamkeit seines Vaters nun wieder anderen Dingen zugewandt hatte, was oft und eigentlich vorhersagbar geschah, Perdoc aber dennoch immer wieder zur Weißglut treiben konnte.
Daher klangen die nächsten Worte des ehemaligen Fischers etwas harsch, als er weiterbohrte. "Das ist alles, was du über dieses Volk weißt? Warum sind sie hier? Was hat das alles zu bedeuten?"
Ulbrin werkelte unbeeindruckt und gedankenverloren weiter vor sich hin, wobei er saubere Tücher auf die nun versorgte Wunde des Fremden legte. Der alte Mann kicherte plötzlich unvermittelt und sah seinem Sohn dann direkt in die Augen. "Ich weiß es nicht, mein Sohn. Frag Derroc! Der wird dir mehr erzählen können." Ulbrin sagte weiter nichts und vollendete sein Werk, während Perdoc seine Frau ansah und schließlich fast unmerklich nickte. Sein Vater hatte recht.
Derroc arbeitete für eine Familie von Händlern, der mehrere große Schiffe gehörten. Vor seinem Unfall hatten Perdoc und sein Bruder ihre Fänge bei dieser Familie verkauft. Derroc war ein entfernter Verwandter von Batih. Ihm wurde nachgesagt, "große Ohren" zu haben und tatsächlich schien sich keine Neuigkeit und kein Gerücht auf den Straßen Moravas zu verbreiten, ohne daß Derroc nicht schon alles wusste. Genauso schnell, wie er Neuigkeiten aufnahm, genauso bereitwillig gab er sie jedem, der es hören wollte oder auch nicht, wieder zum Besten.
Perdoc nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen in den Handelshafen zu fahren und Derroc dort aufzusuchen. Er hätte in den nächsten Tagen ohnehin dorthin fahren wollen, um einige Fundstücke umzusetzen und dringend notwendige Lebensmittel zu kaufen. In dieser Nacht lag er noch lange wach und grübelte darüber nach, was das Schicksal ihm und seiner Familie zugedacht hatte. Wie er es auch drehte oder wendete; er konnte sich wenig Gutes vorstellen, das der Fremde und seine Geheimnisse ihnen bringen würden.

***

Die Augen des Hauptmannes glitzerten vor eiskalter, mörderischer Wut. Es war die einzige Gefühlsregung, die der Attentäter jemals an dem Mann bemerkt hatte. Umso beunruhigender war es, daß er das alleinige Ziel dieses Blickes war.
Die Stimme des Hauptmannes hatte einen Unterton, der an das Knurren eines ausgehungerten Wolfes erinnerte. "Wie konnte das geschehen? Wofür habe ich dich all diese Jahre ausgebildet? Dankst du unserem Gott so seine Güte, dich in Seinem Orden zu dulden? Du weißt, daß ich dich für diese Verfehlung hier auf der Stelle töten müsste. Ich werde es dennoch nicht tun, allein aus dem Grund, daß mir in diesem verfluchten Land nicht genügend Brüder und Schwestern zur Seite stehen, als daß ich auf einen verzichten könnte. Dir, Bruder Ardun, sei damit Isons unendliche Gnade zuteil, die Scharte auszuwetzen, welche durch dein unbedachtes Handeln entstanden ist!"
Es wäre weniger beängstigend gewesen, wenn der Hauptmann gebrüllt hätte. Bruder Ardun war darauf gefasst gewesen, sehr bald vor Isons Auge zu treten, um ewig für seine Verfehlungen zu büßen. Als ergebener Diener seines Gottes und Mitglied Seines geheiligten Ordens wäre es ihm jedoch nie in den Sinn gekommen, wegzulaufen oder seiner erbärmlichen Existenz von eigener Hand ein Ende zu setzen. Also stand er mit gesenktem Haupt vor seinem Ordens-Hauptmann und harrte seiner Strafe, egal wie hart sie auch sein mochte. 
Die Wut war immer noch in die Worte des Hauptmannes gewoben. Sie kamen Ardun wie eine perfekt geschliffene Klinge vor, der Fleisch ebenso wenig Widerstand bot wie Luft. Der Hauptmann sprach leise. Seine Worte waren nur für Ardun bestimmt: "Deine Aufgabe wird es sein, dir jeden Kadaver anzusehen, den die stinkenden Kanäle oder der schlammige Fluss freigeben. Ich will wissen - du hörst mich! Ich will sicher wissen, daß du deinen Auftrag vollständig ausgeführt hast. Und ich will es wissen, bevor es die gottlosen Herrscher dieser Stadt wissen!"
Bruder Ardun verbeugte sich tief, um anzuzeigen, daß er verstanden hatte. Der Hauptmann hatte sich bereits halb abgewandt, als ihm noch etwas einfiel. "Bis du deine Waffe wieder in Händen hältst oder wir sicher sein können, daß kein Gottloser sie an sich genommen hat, sei dir das Recht verwehrt, eine Klaue Isons zu tragen."
Dieser Zusatz traf den in Ungnade gefallenen Bruder härter als ein Schwertstreich. Der Hauptmann hatte ihm zu verstehen gegeben, daß er kein echtes Mitglied des Ordens mehr war, bis er geschafft hatte, seine Aufgabe zu erfüllen. Bruder Ardun durfte sich nicht der Verzweiflung ergeben. Er musste mit all seiner Seele danach streben, die ihm auferlegte Last zu tragen und sein Versagen in Erfolg zu verwandeln.
Wortlos löste er den Leibgurt, an welchem die Scheiden seiner beiden Klauen Isons befestigt waren. Nur in einer von ihnen steckte eine der schwarzen Waffen. Die andere war leer, ein Zeichen seiner Schmach. Er faltete den Gurt und legte ihn auf den Tisch in der Kammer des Hauptmanns, bevor er sich umwandte und ging.
Der Hauptmann sah ihm eine Weile lang nach. Dann umspielte ein grausames und zugleich zufriedenes Lächeln seine Lippen.

***

Perdoc bereitete sich noch vor Sonnenaufgang darauf vor, in den Handelshafen zu fahren. Batih half ihm dabei, die Beute der vergangenen Tage in dem kleinen Boot zu verstauen. Perdoc wollte den Weg gleich dazu nutzen, etwas Mehl und andere dringend benötigte Dinge zu erhandeln. Er war sich trotzdem nicht sicher, ob er überhaupt in der Lage sein würde, in vernünftiger Weise zu feilschen, um seine Waren zu einem angemessenen Wert umzusetzen. Zu sehr waren seine Gedanken von Sorgen und Ängsten umwölkt.
Er hatte in der Nacht lange wachgelegen und darüber nachgedacht, was nun zu tun sei und ob das, was er beabsichtigte zu tun, das Richtige war. Perdoc versuchte sich mit dem zu trösten, was die Priester mehrerer Gottheiten in der einen oder anderen Weise predigten, daß nämlich der Weg eines Menschen vorbestimmt sei. Die Götter mussten also ein bestimmtes Ziel damit verfolgen, daß sie ausgerechnet ihn, Perdoc, den lahmen Fischer, den Fremden hatten finden lassen.

Der Fremde hatte die Nacht überlebt. Das Fieber war zurück gegangen und die Haut des Mannes hatte eine gesündere Farbe angenommen, soweit man das bei seiner ungewohnt hellen Haut beurteilen konnte. Ulbrin flößte ihm vorsichtig etwas Fischbrühe ein, die er tatsächlich zu schlucken begann und auch bei sich behielt. Perdocs Vater lächelte zufrieden und wuselte Mattin gut gelaunt durch das Haar. Der Junge saß, noch schlaftrunken, neben ihm auf dem Boden der Hütte und betrachtete mit großen Augen die bewusstlose Gestalt des Mannes aus dem Land jenseits des Meeres.

Draußen hievte sich Perdoc in sein Boot. Batih reichte ihm seine Krücken. "Sei vorsichtig!"
Perdoc verstaute die Krücken und ergriff dann die Hand seiner Frau. Er nickte: "Ich werde schon auf mich aufpassen." Dann stieß er sich ab und paddelte hinaus in das Gewirr von Kanälen zwischen Pfahlbauten und zusammengezurrten Schiffswracks, Flößen und Pontons des Nordhafens. Überall wurden nun die Kochfeuer entzündet, auch wenn es an vielen dieser Feuer nicht viel mehr als Wasser gab, das gekocht werden konnte.
Zwei Schlammechsen begleiteten Perdocs Kahn eine Weile, indem sie vor dem Bug herschwammen. Sie taten das manchmal, bis sie das Interesse verloren und sich wieder anderen Dingen zuwandten.
Schließlich erreichte Perdoc die Kanäle des Handelshafens. Er steuerte eine Stelle an, an der es flache Stege nahe der Wasserlinie gab, so daß Perdoc ohne allzu große Probleme aus seinem Boot aussteigen konnte. Es gab ganz in der Nähe dieser Stelle einen kleinen Markt, der hauptsächlich von der ärmeren Bevölkerung aufgesucht wurde. Auch Menschen aus dem Nordhafen, meist abfällig Morast-Ratten genannt, wurden hier geduldet, solange sie Waren zum tauschen besaßen.
Perdoc zurrte sein Boot fest, schlang sich seinen Beutel mit seinen Handelsgütern um und kletterte auf den Steg. Als er sich auf seine Krücken gestützt aufgerichtet hatte, ging er zunächst auf den Markt, um zu handeln und die Dinge zu besorgen, die seine Familie benötigte. Auch wenn er nachher glaubte, daß er mehr hätte herausschlagen können, war er mit dem Ergebnis seines Marktbesuches recht zufrieden.
Seine Nervosität steigerte sich, als er sich aufmachte, um die Lagerhäuser der Familie Erunhdah aufzusuchen. Dort arbeitete Derroc. Was Perdoc so nervös machte, war die Tatsache, daß er nicht sonderlich redegewandt war. Er befürchtete, zu viel preiszugeben, was der neugierige und geschwätzige Derroc dann in Kürze unter das Volk bringen würde. Einmal blieb Perdoc auf seinem Weg sogar unschlüssig stehen. Sollte er nicht doch lieber umkehren und kein unnötiges Risiko eingehen? Er schüttelte wütend den Kopf. Das würde ihm gar nicht helfen. Er wüsste genauso wenig wie vorher. Nein, es war unabdingbar, daß er mehr erfuhr! Nur so bestand die Möglichkeit, heile aus der ganzen Sache herauszukommen.
Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Perdoc näherte sich dem großen Erundah-Lagerhaus von der Rückseite her. Das Lagerhaus war ein wuchtiges Gebäude aus gebrannten Lehmziegeln und Holz. Es herrschte rege Geschäftigkeit. Gerade wurden mehrere große Wagen entladen, vor welche als Zugtiere kräftige Büffel gespannt waren. Perdoc stand auf der Straße und hielt nach Derroc Ausschau. Ein hagerer Mann in der Kleidung eines Schreibers wurde auf ihn aufmerksam. Er kam an den Rand der stabil gebauten Verladerampe und sah geringschätzig auf Perdoc herab.
"He, du! Was willst du hier? Es gibt hier nichts für Leute wie dich! Verschwinde!" Der Mann wedelte ungehalten mit der Hand in Perdocs Richtung, als wollte er ein lästiges Insekt verscheuchen.
Perdoc schluckte seinen Ärger herunter. "Entschuldigt, Herr! Ich suche Derroc, Laidrins Sohn!..." 
"Der ist beschäftigt! Hau ab!" Der Schreiber wollte sich abwenden, als er noch einmal kurz innehielt. "Zur Mittagszeit isst er mit den anderen Arbeitern auf dem Khari-Markt. Dort kannst du ihn treffen." Dann drehte sich der Mann ohne ein weiteres Wort um und verschwand durch eines der vielen Tore im Lagerhaus.
Perdoc kannte den Khari-Markt. In diesem Teil der Stadt war er recht beliebt, da man dort guten gebratenen Fisch zu anständigen Preisen erstehen konnte, vor allem, wie der Name es schon andeutete, Khari. Wehmütig dachte Perdoc einen Augenblick an die Zeit, als er selbst, an der Seite seines Bruders, die Fangleinen mit den grün-golden glänzenden Fischen eingeholt hatte.
Er wandte sich von dem Lagerhaus ab und humpelte los. Bis zum Mittag hatte er noch ein wenig Zeit. Er wollte dennoch schon jetzt zum Khari-Markt gehen, um sich ein wenig umzuhören. Schon auf dem Weg dorthi, fiel ihm auf, daß sich ungewöhnlich viele Soldaten auf den Straßen aufhielten. Sie machten grimmige Gesichter und beäugten die Passanten misstrauisch. Ein Krüppel wie Perdoc erregte ihre Aufmerksamkeit jedoch nicht. Als er schließlich den Khari-Markt erreichte, standen auch dort, vor allem an den Zugangswegen, Soldaten herum, die finstere Blicke über die Menge streifen ließen. Die Leute auf dem Markt gingen wie gewohnt ihren Geschäften nach, auch wenn sie den einen oder anderen verstohlenen Blick auf die Bewaffneten warfen. Zur Zeit war der Markt noch recht gut zu übersehen. Das würde sich ändern, wenn die Arbeiter aus den umliegenden Lagerhäusern eintrafen, um ihr Mittagsmahl einzunehmen. Perdoc humpelte zwischen den Ständen und Buden umher. Der köstliche Geruch gebratenen oder geräucherten Fischs war eine Tortur, da er Hunger hatte. Er würde sich jedoch weiterhin quälen müssen, da ihm die Mittel fehlten, sich hier eine Mahlzeit leisten zu können.
Die Gespräche zwischen den Fischverkäufern und ihren Kunden wurden nur tuschelnd gehalten oder drehten sich um Belanglosigkeiten. So konnte Perdoc nicht ausmachen, warum so viele Kämpfer der Herrscherin auf den Straßen waren. Die Soldaten direkt zu fragen, würde ihm im besten Fall einen Fußtritt einbringen. Es blieb Perdoc also nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Allmählich füllte sich der Markt und wurde zu einem unübersehbaren Gedränge. Von allen Seiten drängten Männer und Frauen heran, die in den umliegenden Lagerhäusern und Kontoren der Händler arbeiteten. An einigen der größeren Stände waren Bänke und lange Tafeln aufgestellt, die sich nun schnell mit Menschen füllten, nachdem diese sich an den Ständen mit einer Mahlzeit versorgt hatten. Beim Anblick der genüßlich speisenden Massen bereitete Perdoc sein hungriger Magen beinahe körperlichen Schmerz. Wo es nur ging, versuchte er tapfer seinen Blick abzuwenden und hielt stattdessen nach Derroc Ausschau. 
Endlich, einige hatten ihr Mittagsmahl bereits verspeist und erhoben sich, um zu gehen, erblickte Perdoc den entfernten Cousin seiner Frau. Er hockte auf einer Kiste und nagte an den Resten eines Stücks gebratenen Kharis.
Perdoc drängelte sich zu ihm durch und tat so, als sei er überrascht, Derroc hier vorzufinden. "Sei gegrüßt, Derroc! Ich hoffe, es hat dir gemundet."
Der angesprochene blickte überrascht auf und erkannte sein Gegenüber nach einem kurzen Zögern. Für einen Augenblick flackerten widerstreitende Empfindungen in seinen Augen, als ränge er mit sich, ob er vorgeben sollte, jenen herunter gekommenen Invaliden nicht zu kennen. Doch offenbar gewann der Anstand die Oberhand. "Sei gegrüßt, Perdoc! Wie geht es Batih und den Kindern."
Perdoc zuckte die Achseln. Er versuchte ein Lächeln und sagte: "Wir kommen zurecht." Derroc nickte höflich. In der sich nun einstellenden Pause peinlichen Schweigens, versuchte Perdoc fieberhaft nach einer Möglichkeit, wie er unverfänglich und, ohne Misstrauen zu erregen, ein Gespräch beginnen konnte, das ihm einige seiner Fragen beantworten würde.
Derroc, der seinerseits unbehaglich auf seiner Kiste herumrutschte, übernahm selbst die Initiative. Verschwörerisch beugte er sich vor: "Ganz schön viele Soldaten hier, findest du nicht?" Als er das Interesse in Perdocs Gesicht las, das dieser in keiner Weise vortäuschen musste, war Derroc in seinem Element.
"Sag bloß, du weißt noch nichts davon? Wo lebst du denn?..." Er besaß sogar den Anstand, leicht zu erröten, als ihm klar wurde, daß die letzte Frage, obwohl nur als Floskel gemeint, etwas unhöflich gewesen war. Er überspielte das, indem er weiterredete.
"Die Herrscherin soll außer sich sein vor Wut. Ein ausländischer Gesandter soll ermordet worden sein, hier in unserer Stadt, an den Kanälen des Handelshafens. Einige munkeln, daß das Krieg bedeuten könnte." Verschwörerisch sah sich Derroc um, bevor er fortfuhr.
"Ich habe gehört, daß die Herrscherin befohlen hat, den Kopf des Mörders und die seiner Komplizen auf dem Platz der Winde auszustellen. Das Problem ist nur, daß niemand zu wissen scheint, wer hinter dem Mord steckt."
"Wer war der Gesandte? Und woher kommt er?", fragte Perdoc, den allmählich ein Gefühl beklemmender Vorahnung überkam. Er spürte, daß er die Antwort auf seine Frage eigentlich nicht hören wollte. Nichtsdestotrotz brauchte er jetzt Klarheit.
Derroc fiel Perdocs Beklommenheit nicht auf. Er musterte den auf Krücken Gestützten mit einem Blick, den ein Weltgewandter vielleicht einem Einfaltspinsel zuwerfen würde.
"Offenbar ist auch die Ankunft der Fremden an dir vorbei gegangen. Dabei sind sie doch schon ein paar Wochen in der Stadt..." Und schon war Derroc in seinem Element.
Perdoc erfuhr so, daß vor etwa sechs Wochen ein fremdes Schiff vor der Küste Kavhans auftauchte. Es war ein viermastiger Großsegler von einer Bauart, die sich stark von der kavhanischer Schiffe unterschied. Als Derroc begann, das Schiff ausführlich in allen Einzelheiten zu beschreiben, unterbrach ihn Perdoc vorsichtig mit der Frage, woher das Schiff denn nun gekommen sei. Ohne seinen Redefluss zu bremsen, schwenkte Derroc auf das gewünschte Thema ein. Der Großsegler stammte, wie seine Besatzung aus einem fernen Land jenseits des Meeres, welches wohl Draghe genannt wurde. Auf dem Schiff befand sich eine diplomatische Gesandschaft des draghischen Reiches. Es solle sogar ein Mitglied der draghischen Königsfamilie unter ihnen sein. Derroc hatte nur hier und da einen Blick auf die Fremden werfen können. Es war anfangs gar nicht so einfach, da die Soldaten der Herrscherin die Gäste relativ stark abschirmten. Die Dragher sollten eine hellere Haut und helleres Haar haben, als es bei den Nyetern üblich war. Ihre Kleidung war seltsam und außerdem sprachen sie eine fremde Zunge, obwohl es welche unter ihnen geben sollte, die Nyetisch beherrschten.
Bei ihrer Ankunft verhielten sich die Fremden freundlich. Sie ließen ihr Schiff von einer kavhanischen Kriegsgaleere in den Hafen von Morava geleiten.
Der Anleger, an dem das Schiff festmachte, wurde von den Soldaten abgeriegelt. Boten wurden zwischen dem Palast und dem Schiff hin und her geschickt. Schließlich rückte ein Zeremonienzug aus Richtung des Palastes an, wie ihn das Volk seit dem Besuch des Herrschers von Ifni nicht mehr gesehen hatte. Der Sprecher des Rates, Fürst Khuran, führte den Zug, prachtvoll ausstaffiert, an. Den Beobachtern aus dem einfachen Volk blieb verborgen, was sich auf dem Anleger abspielte. Die Fremden wurden wohl in allen Ehren begrüßt. Sie durften Sänften besteigen und wurden zum Palast geleitet. Auch während dieses Zuges zurück, konnte man kaum einen Blick auf die Fremden werfen, da die Sänften verhangen waren. Eine Ausnahme bildeten sechs berittene Krieger der Fremden, die der vordersten Sänfte auf gewaltigen Pferden folgten. Allein diese Pferde flößten Ehrfurcht ein. Was sogar diese unbedeutend und unwichtig erschienen ließ, war die Tatsache, daß die Krieger von Kopf bis Fuß mit etwas gerüstet waren, bei dem es sich nur um Metall handeln konnte. Ein derartiger Reichtum dieses extrem seltenen Werkstoffs war für einen Nyeter unvorstellbar.
Nachdem Derroc sich ausführlich in Spekulationen über den Wert allein einer dieser Rüstungen ergangen hatte, kam er endlich auf die Vorfälle in jüngster Zeit zu sprechen. Der Führer der Delegation aus Draghe war ein Mann namens Warnon ap Sarthena. Er war, nach allem, was so geredet wurde, ein Halbbruder des draghischen Königs. Während er dies erzählte, beugte sich Derroc immer weiter zu Perdoc hin und sprach leiser. Seine Augen suchten die Umgebung nach unerwünschten Lauschern ab. 
"...und eben dieser Warnon soll in der vergangenen Nacht im Handelshafen ermordet worden sein. Man fand seinen Leibwächter, abgeschlachtet in einer Lache seines eigenen Blutes. Ganell, der mit mir im Lagerhaus arbeitet, hat die Leiche mit eigenen Augen gesehen. Der Gesandte selbst wurde nicht gefunden. Wenn Du mich fragst, treibt er bereits ins Meer hinaus. Wie ich schon sagte, weiß niemand, wer dafür verantwortlich ist, obwohl bereits Leute verhaftet wurden. Aber wären sie es gewesen, würden bereits Köpfe auf dem Platz der Winde ausgestellt werden. Niemand weiß auch, warum der Gesandte nachts ohne weiteren Schutz am Hafen herumschlich." Derroc hob die Hand und machte eine Geste, mit der er seiner mysteriöse Andeutung noch mehr Gewicht verleihen wollte.
Perdoc bekam das gar nicht richtig mit. Ihm lief der kalte Schweiß über den Rücken. Er wusste nun, wer in der armseligen Hütte seiner Familie lag und mit seinem Leben rang.
 

© Andreas Rabenstein
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