Die Stimme der Insel von Angelika Öhrlein

»Komm, wir müssen weiter, mein Alter!« 

Reben klopfte dem schweren Ackergaul aufmunternd die nasse Flanke, bevor er sich ächzend zurück in den Sattel wuchtete. Es war nicht gut, bei diesem Wetter lange mit den Pferden anzuhalten, die Tiere holten sich womöglich den Rotz. Rosse und Reiter tropften vom Regen. Es goss seit Tagen. Eigentlich ununterbrochen. 

Die ganze Gegend war Wasser. Reben hatte noch nie in seinem Leben so viele Teiche und Bäche gesehen. Aus jedem Wiesenrain gluckerte es heraus, über die Felsklippen rund um die Festung schossen Wasserfälle und dahinter lag die See. 

Kein Wunder, dass  in diesem Königreich kein Baum wachsen wollte oder jedenfalls kein richtiger. Denn es gab schon Bäume. Ganze Wälder davon, aber sie standen mit ihren Füssen im Schlick und wenn die Flut kam, flitzten einem kleine Fische um die Zehen. Reben hatte sich verpflichtet gefühlt, seinen Leuten ein gutes Beispiel zu geben und war gestern vor ihrem Aufbruch ein Stück zwischen die nächsten Bäume hineingewatet. Da hatte er die Fische gesehen. 

Sonst wirkte die Gegend auf ihre Art ganz hübsch. Die Wiesen wuchsen fett und das, was Reben von den Feldern zu Gesicht bekommen hatte, stand trotz des Dauerregens gut. Sie bauten hier allerdings auch ganz anderes Getreide an als zu Hause. Das hiesige trug lange grüne Rispen und vertrug sich offenbar gut mit dem vielen Wasser. Die Ähren wucherten regelrecht im Schlamm, vielleicht brauchten sie ihn sogar nötig zum Wachsen. Reben hatte gehört, dass es Sumpfkorn geben sollte. Und Nässe erlebte man in diesem Land am Meer genug. 

Bei ihm zu Hause wären diese Pflanzen aber kaum angegangen. Es floss natürlich Wasser im Königreich der Berge, im Frühjahr sogar reichlich, jedoch an seinem Platz. Selten, dass der Fluss einmal die Äcker überschwemmte. Meist war die Erde in Rebens Heimat krümelig und eher trocken und wenn es regnete, hörte es zur rechten Zeit auch wieder damit auf. Sähen im Sumpf, bei allen Göttern! Und dazu Büffel vor dem Pflug, die sich im Morast sogar suhlten. 

»Vorsicht, Dicker«, sagte Reben zu seinem Pferd und lenkte es um eine tiefe Pfütze, die dem Wagen der Vorhut beinahe zum Verhängnis geworden war. Er tat einen zornigen Brüller, damit die da vor ihm in Zukunft besser aufpassten. Ein gebrochenes Rad bei dem Sauwetter, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Reben brauchte den Wagen zu Hause für die Ernte. Bei allem Unglück ihrer Fahrt würden sie dieses Mal wenigstens rechtzeitig daheim sein. 

Reben war Bauer, und er war es gern, jedenfalls lieber, als Hauptmann der Garde. Wenn er seinem Herrn nicht in einem Kriegszug dienen musste, dann bewirtschaftete er mit seiner Frau den Königshof. Heuer würde Mähen und Dreschen nicht wieder allein an ihr hängen bleiben. Reben hatte zwar nicht das Gefühl, dass ihn seine Hausfrau unbedingt brauchte, Sanne war unbestreitbar tüchtig und leider auch tüchtig streitbar. Sie sagte oft, er sei ihr nur im Weg und bringe eine Menge Schmutz ins Haus. Aber sie meinte das nicht wirklich ernst. Er war nur in den letzten beiden Jahren viel zu oft und viel zu lange unterwegs gewesen. 

Nun, mit dem in-den-Krieg-ziehen-müssen hatte es jetzt ja wohl ein Ende. Reben war es auch wirklich leid und den anderen ging es vermutlich ebenso. Er drehte sich auf dem Dicken halb um. Das nasse Lederzeug quietschte abscheulich, aber die meisten Pferde kannten das hässliche Geräusch inzwischen so gut, dass sie kaum noch mit den Ohren zuckten. Keiner der Männer hob den Kopf, als Reben: »Weiter!« sagte. 

Es war ein müder, nasser Haufen, der dem Hauptmann folgte. Kaum zwanzig Mann, die sogenannte Leibgarde des Königs der Berge, der nun schon seit drei Tagen in seinem Marmorgrab am Meer ruhte. 

Wenigstens hatte es der Tote dort trocken. Reben wischte sich das Wasser aus den Augen. Der verdammte Regen, das ganze verdammte nasse Land und seine komischen Sitten. Wer hätte je gehört, dass sich eine Prinzessin den Gemahl selbst aussuchte und noch dazu sozusagen im Losverfahren, also durch ein Turnier? Man hatte gesehen, wie das ausgegangen war. 

Das Schwert des jungen Königs schon im ersten Gang zerschlagen und er selbst von seinem Gegner tödlich verwundet, der seinen Vorteil gegen den Wehrlosen natürlich genützt hatte. Dennoch hatte Rebens Herr diesem unfeinen Edelmann im Stürzen noch das Genick gebrochen, wenig ritterlich auch das und der Himmel mochte diese Flachländer verstehen, gemäss dem Spruch des Schiedsrichters damit trotz allem die Hand der Prinzessin errungen. 

In der Festung über den Klippen saß nun perlengeschmückt die Braut des Königs, Witwe vor der ersten Nacht, aber es wäre zuviel behauptet gewesen, dass sie sich über den Verlust grämte. Kalt wie ein Fisch, das war sie, diese Prinzessin. 

Da sie nun einmal eingewilligt habe, ihre Hand dem Sieger zu reichen, also in diesem Fall dem Herrn über das Königreich der Berge, wolle sie ihr Wort auch halten, hatte sie zu Reben gesagt. Dass sein Herr an den Folgen seiner im Turnier erlittenen Verletzungen gestorben sei - ja, sicherlich ein Unglück. Aber es ändere nichts an den Tatsachen. Reben mögen eben dem neuen Herrn der Berge die Grüße seiner Braut ausrichten, und sie werde treulich auf ihn warten. 

* * *

»Und das hast du dem Schwarzen Prinzen wirklich gesagt? Genau so?« 

»Hm ...«

Reben lag lang ausgestreckt neben seiner Frau im Bett. Endlich zu Hause. Draußen vor dem kleinen Fenster der Schlafkammer versteckten sich die Berge hinter tiefhängenden Wolken. Es hatte die ganze Reise zurück geregnet und schüttete gerade wieder wie aus Kübeln, aber unter der Decke war das Reben einerlei. Der Dicke stand warm im Stall und die Frau hatte gut gewirtschaftet, seit der Hauptmann mitten im letzten Winter mit dem jungen König fortgezogen war. 

Himmel, was für eine lange Zeit, sieben Monde und ein Scharmützel und eine Dummheit nach der anderen. Niemand hatte Brand aufhalten können, nachdem Lohe zu Mittwinter mit Schwert und Botschaft der Schmiedin aus dem Dorf am Fluss zurückgekommen war. Reben wusste nicht, was Flamme ihrem königlichen Bruder mitgeteilt hatte. Nur, dass es schon im Frühjahr davor Streit zwischen den Geschwistern gegeben hatte, als die Bauern die Schmiedin zur Erntejungfrau des Dorfes am Fluss gewählt hatten und Brand, besoffener junger Narr, der er manchmal sein konnte (König oder nicht), Lohes Rat missachtet und auf dem Recht des Trägers des Erntesegens bestanden hatte. 

Nun, Reben hielt es für völlig in Ordnung, dass der König die Nacht in der Kammer der Erntejungfer verbrachte, sogar wenn es sich dabei um seine eigene Schwester handelte. Der Brauch wollte es so, außerdem hatte Brand Flamme nach Rebens Meinung damals lediglich ärgern wollen. Die Schmiedin war ein gutes Mädchen, nur leider nicht gerade zahm. 

Flamme stand an der Esse ihren Mann, das gab jeder der Bauern im Dorf am Fluss gerne zu. Aber als Weib, da war sie ein richtiger Drachen. Reben erinnerte sich sehr wohl daran, wenn er auch mehr an den Tonfall, als dass er die Worte als solche verstanden hätte, wie Flamme und Brand sich in jener Nacht gegenseitig angebrüllt hatten. Und nicht nur das. Brands Gesicht war blutig zerkratzt gewesen und die Schmiedin hatte ihn zuletzt sogar aus ihrer Kammer geworfen. 

Sie waren natürlich beide Hitzköpfe. Sie hatten sich schon als Kinder nie lange vertragen, der König und seine Schwester ... 

Und Lohe immer dazwischen, mal als Unruhestifter, mal um Frieden bemüht. Der kleine Lohe mit dem Buckel. Aus dem dünnen Jungen war mit den Jahren ein sehr langer und kräftiger Mann geworden. Der Schwarze Prinz. Von den drei Kindern der Königin der dunkelste. Verwachsen, aber ganz sicher nicht im Kopf. 

Sie würden lernen müssen, ihn ab jetzt König zu nennen. Wer hätte das gedacht ... 

Reben döste ein. Er grunzte unwillig, als ihn die Frau stupste. 

»Rede schon, Reben!« 

Sie hatten es sich angewöhnt, die wichtigen Dinge des Tages im Bett zu besprechen, als die Kinder noch klein gewesen waren. Das war zwar jetzt eigentlich nicht mehr nötig, Rebens erster Enkel konnte inzwischen laufen und das Nächste war bei der Schwiegertochter schon wieder unterwegs. Reben schlief mit einer Großmutter. Was überhaupt, wenn sie ihn schon nicht in Ruhe ließ...

Plitsch! 

Ein dicker Tropfen rann Reben übers Gesicht. 

Plitsch! Platsch! 

»Verflucht!« 

Reben war mit einem Satz aus dem Bett. Ein neuer Tropfen klatschte auf die Bettdecke. Und dann noch einer. 

Plitsch! Plitsch! Platsch! 

Mittlerweile pladderte es regelrecht in die Schüssel, die Rebens Frau mit geübtem Griff unter dem Bett vorgeholt und schnell gegen Rebens Kopfkissen ausgetauscht hatte. Sie seufzte. 

»Jetzt weißt du, wie ich schlafe. Das Dach gehört schon lange gerichtet. Aber du warst ja nie da, Reben.« 

»Ist das etwa meine Schuld, Sanne?« 

»Kannst du wenigstens jetzt daran gehen, bevor du wieder los mußt?« 

»Frau - wir haben alle Zeit der Welt. Lohe hat gesagt, die Herrin kann ihm den Buckel herunterrutschen. Der Prinz geht nicht.« 

»Ach! Wenn er sich da nur nicht verrechnet.« 

Rebens Frau setzte sich auf. 

* * * 

Mit Sonnenuntergang hatte die Hitze endlich nachgelassen, die das Land seit Wochen in einen Glutofen verwandelte und sogar in der Festung trotz des ständigen Winds von See kaum zu ertragen war. Prinzessin Seide saß in ihrem Schlafgemach hoch über dem Meer vor dem Spiegel. Sie war nicht mehr jung, die über Küste und Inseln gebot, silberne Fäden durchzogen das Haar der Herrin und selbst ihre Zofen kannten sie nur mit der Maske, die Seide nicht einmal zum Schlafen ablegte, doch sonst verriet nichts an ihr in irgend einer Weise Alter. Die weißen Hände, mit denen sich die Prinzessin Stück für Stück die Perlenschnüre aus dem Haar zog, um sie den Zofen zu reichen, sanken anschließend makellos und glatt zurück auf den schimmernden Brokat ihres Nachtgewands. Die Herrin schloss die Augen und hielt still, während ihr die jüngste Zofe die kunstvoll hochgesteckten Flechten löste, bürstete und sie neu zu einem losen Zopf schlang. 

»Es ist gut«, sagte Seide danach zu ihren Mädchen, »geht nun, ich möchte allein sein.« 

Die Prinzessin ließ sich noch auf ihr Lager helfen, dann schritten die Dienerinnen, die alle Gewohnheiten ihrer Herrin genau kannten, paarweise aus dem Raum. 

Seide wartete, bis die schweren Flügeltüren zugefallen waren und der Kastellan in der Festung die Nachtruhe einläutete. Doch kaum war der letzte Ton verhallt, kam Leben in die Prinzessin. Sie wand sich aus den Decken, warf nachlässig ihr Nachtgewand ab und schritt nur im langen Hemd zur Wand, die sich auf ein leises Wort für sie öffnete. 

Aus dem Gang dahinter wehte es kühl und feucht, erstaunlich genug, denn es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet. Die Luft roch nach Tang, aber die Herrin achtete nicht darauf und schien auch die Kälte unter ihren bloßen Sohlen nicht zu spüren. Seide drehte nur leicht den Kopf zu der dunklen Gestalt, die sich auf ihr Händeklatschen aus dem gewachsenen Felsen schälte. 

»Warte und wache«, sagte die Prinzessin, »bis ich wiederkehre.«

Der steinerne Wächter gab kein Zeichen. Aber dort, wo gerade noch der Eingang zum Schlafgemach weit offen gestanden hatte, blockierte nun eine schuppige Hand das Schloss. Seide nahm ruhig die Fackel aus den Fingern des Gargoyls. Danach ging sie zu den ersten Stufen. 

Nur noch wenige Menschen wussten von den uralten, halb zerstörten Treppen, die von den persönlichen Räumen der Prinzessin in der Festung hoch über dem Meer durch eine Reihe von Grotten hinunter bis zu den Klippen im Flutsaum führten. Jahrhunderte, Salzwind und Regen und unzählige Füße hatten die Stufen rundgeschliffen, doch die Herrin schritt ohne zu zögern abwärts, bis zu dem Felsbalkon über dem letzten Absatz der Treppe. Von dort sah sie eine Weile hinab.

Die See unter ihr schäumte. Fischer fürchteten die Bucht nicht nur wegen der Gezeitenströmungen, die immer wieder Boote verschlangen und schon manchen unvorsichtigen Schiffer in die Höhlen unter der Festung gedrückt hatten, die oft genug bis unter die Decke voll liefen. Bei Vollmond, das sagten alle Seeleute an dieser Küste, hörte man von draußen in der offenen See auch ein Singen, eine süße Stimme von so betörendem Silberklang, dass ein Mann darüber den Verstand verlieren konnte. 

Oder zumindest sei noch keiner zurückgekehrt, der sich auf die Suche nach der geheimnisvollen Insel gemacht habe, die angeblich in solchen Nächten aus den Strudeln über der Untiefe jenseits der Bucht auftauche. 

Tatsächlich verrieten draußen im offenen Meer Schaumkronen den sich bildenden Mahlstrom und als habe sie nur darauf gewartet, verließ die Prinzessin ihren Aussichtspunkt. Seide steckte die Fackel in den Halter am Eingang einer mit Muscheln geschmückten Grotte, schlüpfte aus ihrem Hemd und ging dann nackt weiter, die wenigen Stufen hinunter bis zu dem uralten Steinidol im Flutsaum, wo sie zuletzt noch die Maske ablegte. 

Die Prinzessin betrachtete das liebliche, doch kalte Antlitz zwischen ihren Händen für eine kleine Weile, bis die Maske die Lider schloss. Als auch das Lächeln der Larve erloschen war, stellte sich die Herrin von Küste und Inseln auf die Zehenspitzen und legte ihr zweites Gesicht sacht der Statue der Seegöttin in die starren Hände. 

»Ehre den Alten«, sagte Seide leise, »die aus der Welt verschwunden sind, mögen in Frieden ruhen.« 

Die Herrin löste sich das Haar, das in der Dunkelheit wie Silber glänzte, schüttelte es frei und lief in die Gischt hinein. Draußen im offenen Meer schillerte die Luft über  kochenden Wassern. Die See raste durch die Bucht, stieg mit einer einzigen Woge Seide bis ans Kinn und leckte ihr die Lippen mit einem salzig nassen Kuss. 

* * *

Der Schwarze Prinz stand am Fenster und sah hinab in den Nebel, der die Häuser der Stadt fast verschluckte. Wolkenfetzen trieben um den Bergfried auf der Talseite der Burgmauer. Der Schutzwald am Mittagsjoch tropfte vor Nässe.  Es regnete. Was sonst. 

Hinter Lohe stritten die Räte. Nicht mehr lange und die Barone des Kronrats würden damit anfangen, sich Wahrheiten an den Kopf zu werfen. Zum Beispiel, dass Greife wie jener, der sich dicht neben dem Kleinen am Kamin niedergelegt hatte und keine Miene machte, irgend jemand außer der Kindsmutter an ihn heranzulassen, nur für einen Königssohn in der lebendigen Welt aufzutauchen pflegten. 

Ein Einhorn für die Königin. Einen Greifen für des Königs Sohn. 

Lohe drehte den Kopf, betrachtete den hochlöblichen Kronrat des Königsreichs der Berge. Sie waren in der Mehrzahl nur zu gern bereit, den Sohn seiner Schwester als aus königlichem Blut anzuerkennen. An einem Greifen brauchte man nicht zu deuteln. Der da saß neben dem Feuer, gähnte ab und zu, putzte seine gewaltigen Schwingen oder kratzte sich mit der Löwenpranke den Adlerkopf, bewachte Lohes jungen Neffen und damit basta. Was die Anwesenheit des Wesens aus der Anderswelt aber über die Vaterschaft zu Flammes Kind aussagte und damit wem sie diesen Sohn zu Mittwinter geboren hatte, darüber verloren die Barone natürlich kein Wort. Das fiel unter unangenehme Wahrheiten. 

Nun, Lohe kannte noch mehr davon. Zum Beispiel, dass sie dabei waren, ihn zum zweiten Mal in der Thronfolge zu übergehen und ihm ein zahnloses Kleinkind vorzogen. Zuerst war es Brand gewesen, weil die Barone ihm, Lohe, dem buckligen Erstgeborenen, nicht zugetraut hatten, sie und das Königreich notfalls mit dem Schwert in der Hand zu verteidigen. Krieg durch - und mit - Brand bekommen hatten sie dann genug. 

Jetzt sollte es offenbar der Kleine sein und mit ihm selbstverständlich Flamme. Auch wenn es einigen von den Herren im Kronrat sichtlich nicht passte, keine drei Jahre nach dem Tod der Königin Blonde schon wieder von einem Weib regiert zu werden, 

Lohe wartete nur darauf, doch noch wagten sie nicht, es ihm ins Gesicht zu sagen. Sie drucksten seit zwei Stunden an der Botschaft herum, auch seine Schwester. Dass ihrer Meinung nach nämlich er die Schuld am drohenden Untergang des Königreichs der Berge trug. 

Als ob er sie nicht längst durchschaut hätte. Die meisten Räte hatten ein klein wenig Angst vor ihm, teils wegen seines Buckels und seiner Größe, teils weil sie nie wussten, was er alles wusste. Brand hatte sich niemals um solche Dinge gekümmert, aber Lohe hatte die letzten beiden Jahre hauptsächlich damit verbracht, den Baronen und ihren Verwaltern auf die Finger zu sehen. 

Und zum Glück, denn so waren die Getreidespeicher jetzt wenigstens voll. 

Schon deshalb würden es die hohen Herren diesmal nicht so leicht schaffen, ihn in Zugzwang zu bringen. Der Schwarze Prinz drehte sich wie zufällig um, stützte sich auf den linken Arm und sah von der Fensternische aus gelassen seiner Schwester zu, die mit großen Männerschritten im Thronsaal auf und ab lief. Ihre Röcke schwangen, während sie zornig auf die Mitglieder des Kronrats einredete. 

Lohe verbiss sich ein Lachen. Auf Flamme war Verlass. Man brauchte nur zu warten, früher oder später verlor sie die Geduld und sagte Dinge, die ihr später leid taten. 

»Tatsache ist«, sagte die Schmiedin jetzt, »daß wir hier in den Bergen niemals vorher so viel Wasser hatten. Und wenn ihr mich fragt, ist daran nur diese Hexe schuld, für die sich Brand turniert hat.« 

Mit Flammes Schwert. Der Kronrat erstarrte förmlich. Einige sahen vorsichtig in Lohes Richtung. 

Der Schwarze Prinz verzog keine Miene. Er sah keinen Grund, Salz in offene Wunden zu streuen. Was letztlich zum Tod des jungen Königs der Berge geführt hatte, war den Baronen bestens bekannt. Lohe hatte sie schon nach Brands ersten Umritt gewarnt, ein Jahr davor. Wozu also jetzt noch ein Wort darüber verlieren? 

Dass Brand besoffen unter jede Decke gekrochen war und Flamme das sehr wohl gewusst hatte. Dass das adelige Pack aus Brands Gefolge, die Söhne der Herren hier im Kronrat, ihren Spaß daran gehabt hatten, Bruder und Schwester an jenem Abend aufeinander zu hetzen. Oder dass der Narr von ihr letztlich nur bekommen hatte, was er verdient hatte. 

Trotzdem hätte es nicht so enden müssen. 

Brand, Flamme, er selbst, jeder von ihnen, hatte einen Teil seiner Kindheit in der Schmiede verbracht. Waffenschmieden, Pferde beschlagen gehörte zur Erziehung jedes Kindes aus dem Herrscherhaus. Sie waren alle drei darin geschult worden und sogar der unstete Brand halbwegs geübt, doch nur Flamme hatte eine Leidenschaft für Feuer und Esse entwickelt. 

So wie für den Schmied. Erntejungfrau, dass Lohe nicht lachte! Sie war dem Schwarzen Mann gerade lange genug um den Bart gegangen, bis ihr der Schmied alles beigebracht hatte, das er über Schwerter wusste. 

Sicher hatte er sie auch gewarnt. Waffen wie diese, die Macht über das Leben ihres Besitzers in sich trugen, fertigte man im Leben nur einmal. Flamme hatte für ihre Arbeit einen hohen Preis bezahlt. Seit Brands Tod brachte die Schmiedin in ihrer Esse kein Feuer mehr in Gang. Aber die Lektion begriffen hatte sie noch immer nicht. 

Macht, Macht, alle wollten sie immer nur Macht. Lohe hatte das Spiel satt. 

Doch freiwillig aufgeben oder dazu gezwungen werden, waren zweierlei. Der Schwarze Prinz hörte seiner Schwester mit einigem Vergnügen weiter zu. Sie arbeitete ihm in die Hände. Und merkte es nicht. 

»Damit wir uns verstehen, diese Prinzessin ist mir herzlich gleichgültig«, sagte Flamme, »aber ihr müsst mir doch wohl zugeben, dass Brand sich so oder so bei nächster Gelegenheit ins Unglück geritten hätte. Und euch dazu. Euer letzter König, meine Herren, war ein Bruder Leichtfuss. Jähzornig, unberechenbar und nur mit Gewalt vom Gegenteil zu überzeugen, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Aber ich habe keine Lust, die Suppe auszulöffeln, die er uns eingebrockt hat!« 

Die Barone murrten. Offenbar waren wenigstens ein paar von ihnen fürs erste noch nicht von Flammes Rede überzeugt. Brand war für sie der richtige König gewesen. Sie hätten sich gar keinen besseren wünschen können. Ständig unterwegs, immer mit Eroberungen aller Art beschäftigt und jedermanns Freund, auch zu seinem und des Königsreichs Nachteil. Flamme, nein, mit ihr konnten die Barone das nicht machen. Langfristig auch nicht mit ihm, Lohe. Aber das wussten sie noch nicht. 

»Verdammt, Bruder! Sag etwas dazu!« seine Schwester kam zum Fenster, packte den Schwarzen Prinzen bei den Armen und blickte ihm voll ins Gesicht, »es geht um das Land. Ich werde nicht zulassen, dass das Königreich der Berge vor die Hunde geht. Also tu endlich etwas!« 

Lohe betrachtete Flamme und den Kronrat aus halb geschlossenen Augen. Keiner unter den Baronen, der nicht eine feste Meinung über ihn hatte. Die Herren kannten alle seiner Gewohnheiten, oder glaubten das zumindest. Dass Lohe seine Zeit meist über Büchern verbrachte, genau wie sein Vater, der Prinzgemahl, den sie alle für einen Trottel gehalten hatten. Und für einen Feigling, bis er als einziger versucht hatte, die Königin aus der lichterloh brennenden Schmiede zu retten, wo dann beide umgekommen waren. 

Aber es gab noch mehr, das die Räte an Lohe störte. Dass er die dumme Angewohnheit hatte, ihm vorgetragene Klagen in jedem Fall zu prüfen. Dass er säumigen Pächtern viel zu viel nachgab und den Zehnt in den beiden Jahren des Königs Brand in dessen Namen jedes Mal neu festgesetzt hatte, dem entsprechend, was in den Dörfern im Durchschnitt geerntet worden war. Dass er, wenn er nicht las oder rechnete, die Nächte in den Kasematten der Königsburg damit vertat, in der Alchimistenküche des Schmieds neue Legierungen zu versuchen. Oder, Gipfel der Abartigkeit, dass er, wenn er sich tatsächlich einmal, was selten genug vorkam, eine der Mägde in sein Bett holte, in aller Regel zuerst auf einem Bad im Zuber bestand und dann das Rasiermesser zückte. 

Es war klar, sie wollten ihn loswerden und insgeheim fand Lohe die Aussicht gar nicht so schlecht. Sie sahen das Amt, der Schwarze Prinz kannte die Bürde. König zu sein, hieß auch, für den Rest seines Lebens Vernunft in hochgeborenen Dickschädel blasen zu müssen. Lohe hatte in den letzten beiden Jahren als Brands niemals richtig im Amt und Würden eingesetzter Kanzler einen guten Vorgeschmack davon bekommen. Und festgestellt, dass ihm der Kronrat auf Dauer gründlich den Appetit verdarb. 

Flamme hingegen gierte regelrecht danach, die Herren Barone nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Sollte sie ruhig. Sie würde bald feststellen, dass die Räte schwieriger in eine Richtung zu treiben waren, als eine Hammelherde. Er neidete ihr diese Plage nicht. 

Aber alle, besonders sie, hatten bei diesem feinen Plan eine Kleinigkeit übersehen. Lohe kam erneut das Lachen, doch er war sich bewusst, dass ihn der gesamte Kronrat anstarrte, als hätten ihn die Räte nie gesehen, darum beherrschte er sich. Er ließ sie sogar eine Weile zappeln. Mochten sie ruhig denken, dass ihm der Entschluss schwer fiel. 

Dann sagte er und er sprach absichtlich leise, damit sie gezwungen waren, ihm wirklich genau zuzuhören: 

»Gesetzt den Fall, ich verzichte zu Gunsten des Kleinen auf den Thron. Was, wenn die Prinzessin auch dann auf ihrem Gatten besteht? Willst du ihr deinen Sohn geben, Flamme, liebe Schwester?« 

Der Schmiedin blieb der Mund offen. Der Greif setzte sich auf. Schließlich schüttelte das Wesen aus der Anderswelt heftig den Kopf und nur einen Wimpernschlag später folgte Flamme diesem Beispiel. 

Na also, dachte Lohe, warum denn nicht gleich. 

* * *

»Ist denn das die Möglichkeit?« fragte Reben verdutzt, »halt, brr, mein Alter.« 

Der Hauptmann nahm die Knie tiefer, brachte sein schweres Ross zur Ruhe. Der Dicke schnaubte unwillig. Er war es nicht gewöhnt, dass sein Reiter vor Verblüffung die Zügel schießen ließ. Lohe, vom plötzlichen Sonnenlicht im Ehrenhof der Festung nicht weniger geblendet als sein Reisegefährte, klopfte seinem Rotschimmel den Hals und stieg ab. 

Blauer Himmel über ihnen. Und er blieb. 

Drei Wochen und zwei Tage lang nur Reiten, Stunden um Stunden im Regen. Wohin auch immer sie gekommen waren, das himmlische Nass war ihnen gefolgt. 

In ein ausgedörrtes Land. 

Sie hatten Wiesen hinter sich aufblühen sehen, wie durch Zauber und fast über Nacht, und Menschen, die in Wolkenbrüchen vor Freude tanzten. Doch als seien die unsichtbaren Waagschalen aus Wasser und Sonne im Himmel über ihnen hier, im Ehrenhof der Festung, in diesem Gebirge aus Stein, neben dem sich Lohes eigene Königsburg klein und unbedeutend ausnahm, zuletzt endlich zum Ausgleich gekommen, klarte es jetzt auch über ihnen auf. 

Nur - wie es aussah, erwartete sie niemand. Es ging auf Mittag und der Ehrenhof lag gähnend leer. 

Reben, zuverlässig wie immer, nahm die Dinge von der praktischen Seite. 

»Gib mir den Roten, Herr«, sagte er, »ich werde ihn und den Dicken in die Stallungen bringen. Ich weiß, wo sie sind.« 

Reben, Hauptmann der Garde, ebenso nass wie sein Pferd, sattelte ab, führte die Pferde und warf dabei ab und zu prüfende Blicke in die Runde. Aber der Hauptmann merkte wahrscheinlich gar nicht bewusst, wie sehr ihn sein erster, unbedachter Herr zur Vorsicht erzogen hatte. Lohe hatte Brands Grab von der Festungsstrasse aus tief unten am Meer liegen sehen. Für den König stand fest, dass es sein Bruder ohne Reben, der vermutlich ständig auf Brand hatte aufpassen müssen, nicht einmal durch die Nachbarländer des Königreichs der Berge geschafft hätte. 

Reben ließ sich nicht darüber aus, aber Dank geerntet hatte er dafür sicher nicht. So wenig wie später. 

Lohe klang sie noch im Ohr, die Ansprache seiner Schwester im Kronrat. Flamme, für die Dauer der Abwesenheit des Königs wohlbestallte Regentin über das Königreich der Berge, hatte den Räten in gut gesetzten Worten zu bedenken gegeben, dass der Regen immerhin mit Reben ins Land der Berge gekommen sei. 

Kurz, dass nicht völlig auszuschließen sei, dass das schlechte Wetter dem Hauptmann von der Küste gefolgt sei. Und vielleicht auch nur mit ihm wieder abziehen würde. Oder wie, wenn nicht Reben bei ihm sei, den die Prinzessin immerhin kenne, die Herrin von Küste und Inseln Lohe, den neuen König der Berge, somit ihrem Gemahl, eigentlich erkennen solle? 

»... etwa durch seine Ähnlichkeit mit Brand?« hatte Flamme boshaft noch hinzugefügt. 

Äußerlich glich Lohe seinen blonden Geschwistern tatsächlich nicht übermäßig, aber das war in seinen Augen kein Grund, Reben in den Rat zu holen und ihn dann durch Anspielungen auf den Buckel seines neuen Herrn in Verlegenheit zu setzen. Was die Prinzessin zu ihrem verwachsenen Ehegatten sagen mochte, würde sich ohnehin bald zeigen. 

Der Hauptmann kam von den Ställen zurück. Seine Schritte hallten über den Platz. 

»Sei vorsichtig, Herr«, sagte Reben, »der Boden ist glatt.« 

Es war heiß. Die Sonne leckte schon die Pfützen auf. Zwischen den abgetretenen Platten des Pflasters im Ehrenhof wuchs Gras. Die gesamte Anlage wirkte sehr alt und sie war sichtlich nicht im besten Zustand, doch Lohe hätte nicht sagen können, ob sie erst gestern von ihren Bewohnern aufgegeben worden war oder schon vor vielen Jahren. Von den Fassaden bröckelte der Putz. 

»Die nächsten beiden Höfe liegen voll Schutt«, sagte Reben, »man kann gerade noch ungehindert durch sie hindurch gehen. Ein Wunder, dass die Dächer bisher gehalten haben.« 

Wasser hingegen gab es überall. Plätschernde Brunnen inmitten von Verwüstung, moosüberwuchert, und Becken mit fließendem Quellwasser, süß und sehr kalt, in jedem der vier Torhäuser, die sie auf ihrem Weg von Innenhof zu Innenhof betraten. Die Festung hätte einem Heer Platz geboten, aber sie trafen keine Menschenseele, bis sie die eigentliche Zitadelle erreichten. 

Der Kuppelbau innerhalb des innersten Mauerrings glich nach all dem Verfall in den Höfen vorher einem marmornen Wunder. Steinerne Meergötter trugen das Portal und Säulen mit Nixenkörpern die Fenster, aber Pförtnerloge und Küche lagen so verlassen wie der Grottensaal mit dem Gewölbe aus Muschelschalen, der sich zur Gartenseite hin über einige Stufen hinab zum freien Himmel und zur See öffnete. 

Lohe bemerkte seinen Irrtum am feinen Lächeln des Hauptmanns. Was für den unkundigen Betrachter eine kleine Bucht kristallklaren Wassers zwischen den Bergen zu sein schien, auf deren äußersten Vorsprung die Festung lag, erwies sich bei genauerem Betrachten als künstlicher Teich, in dem Korallen wuchsen und leuchtend bunte Fische schwammen, und endete an der Festungsmauer, die für diesen Unterwassergarten bis zur Höhe des Bassins abgesenkt war. 

Garten und die Zitadelle klebten wie ein Adlernest auf Klippen hoch über dem Meer. Der König der Berge ging über die Trittsteine im Wasser bis zum Rand des Becken und sah in die Tiefe. Lohe hörte Wasserfälle und entfernter das Rauschen der See. Womöglich gab es sogar einen Weg hinunter in die Bucht, er meinte, an einigen Stellen so etwas wie stark verwitterte Stufen zu erkennen, aber Reben widersprach. 

»Da unten ist nichts«, sagte der Hauptmann, »nur Wasser. Die Bucht ist gefährlich. Wenn die Flut kommt, zieht einen die Strömung hinaus, das sagt dir jeder Fischer. Warum sollte jemand so verrückt sein und dort hinunter wollen?« 

Sie hörten ein klingendes Lachen und drehten sich um. Die Herrin von Küste und Inseln trat aus dem Grottensaal, umgeben von kindlichen Zofen. Ihre Maske war wunderschön. Und die Augen dahinter wie die einer Schildkröte. Dunkel. Uralt. 

* * *

Vielleicht lag es an dem Buckel, der Lohe schon früh gelehrt hatte, die Fassaden seiner Mitmenschen zu durchschauen. Vielleicht am Erbteil seiner Mutter, deren Ahnherr in ferner Vergangenheit mit dem Erntesegen auch ein Teil Erkenntnis von den Göttern erhalten hatte. Reben war zu redlich, er übersah die feinen Veränderungen, die sich im Gesicht der Prinzessin abspielten, je nachdem, wem sie sich zuwandte. Für den Hauptmann war sie nur eine nicht mehr ganz junge Frau, freilich eine ziemlich kalte, während sie in den Augen der kleinen Zofen wohl freundlich und wie eine gute Mutter wirkte. 

Lohe jedoch sah die Macht hinter der Larve, die sich wie eine zweite, zeitlose und schöne Haut über das darunter verborgene, wahre Gesicht spannte. Er konnte es nicht genau erkennen, aber ihm graute davor. Das Antlitz, das die Prinzessin der Welt zeigte, mochte von einem Künstler seines Fachs angefertigt worden sein, vielleicht stammte es sogar noch von einem der Drachenschmiede der Alten, von denen der Schmied in der Königsburg, bucklig wie Lohe selbst und kundig in vielen Dingen, manchmal gesprochen hatte. Dieser Meister hatte vieles gewusst und sich sogar aufs Weissagen verstanden. Kinder des Feuers und der Erde hatte er Lohe und seine Geschwister genannt. 

»Eines von euch verlangt die Erde zurück, das zweite Kind muss durchs Feuer und ein drittes geht ins Wasser. Viele Wege führen zum Ziel. Sucht sie euch aus! Von Glück rede ich nicht.« 

Brand, damals schon vom Rat zum Kronprinzen bestimmt, hatte wie so oft nicht richtig zugehört und gesagt, dass die Erde sein sei und sich danach mit Flamme geprügelt, weil sie ihn - vergeblich - darauf hingewiesen hatte, dass der Schmied das nicht gesagt habe. 

Brand lag nun unter der Erde und Flamme war für ihn durchs Feuer gegangen, so wie Lohe es heute sah. Blieb für ihn selbst Wasser. Es freute ihn nicht. 

Er musste im Lauf des Abends wieder und wieder an den Spruch des Schmieds denken, vor allem, wenn sich seine Augen und die der Prinzessin kreuzten. Sie waren wirklich kalt wie die See und ebenso unergründlich. Unmöglich zu sagen, was sie dachte, Kühle ging von ihr aus und eine abgeklärte Weisheit, als habe sie viele Menschenalter gesehen. Der König der Berge betrachtete ihr liebliches, doch falsches Gesicht, das fein gerundete Kinn und die weißen Schläfen, von denen Perlenschnüre baumelten und fragte sich, wo die Maske aufhörte und die warme, lebende Haut begann. 

Denn die Hände der Prinzessin Seide waren glatt und geschmeidig, als wären sie die einer ganz anderen und ihre Rechte passte in die seine, als sei das von Anbeginn so vorbestimmt. Sie geleitete Lohe, den sie beharrlich - und leicht spöttisch - ihren Gatten nannte, weil natürlich keine Rede davon sein konnte, dass er in ihr Bett steigen würde oder sie in seines. Lohe hatte seinen Buckel keinesfalls vergessen und sie ihm klar gesagt, er sei nur für die Welt ihr Gemahl. Trotzdem führte Seide ihn höflich zu den Gemächern auf der Landseite der Zitadelle, die künftig die seinen heißen sollten. Reben begleitete sie beide. 

»Nehmt diesen Trank zur Guten Nachtruhe von mir, mein Gemahl«, sagte die Herrin von Küste und Inseln zuletzt vor der Tür, »und mögen euch die Götter süße Träume schicken.« 

Die Stimme der Prinzessin, wiewohl leise, schwang wie eine Glocke, gab Lohe das Gefühl, er höre zwei Frauen gleichzeitig reden. Eine junge, fröhliche, mit einem Lachen wie eine Silberflöte. Und ein uraltes Weib, zahnlos, heiser, flüsternd wie die See. Er nahm den Becher, den Seide ihm reichte, dankte ihr und nippte daran. 

Der Geschmack von süßem Wein, heiß und stark gewürzt, füllte seinen Mund und stieg ihm in den Kopf. Der eine Schluck machte Lust noch mehr davon zu trinken, viel mehr, aber Lohe kannte das Rezept aus der Alchimistenküche des Schmieds, wusste um den Zauber, der damit beabsichtigt war. 

Schlafzauber, tiefe Betäubung, die eine ganze Nacht anhalten mochte. 

Traute ihm die Prinzessin nicht? Oder durfte er ihr nicht trauen? 

Sie schien ihm hier im Halbdunkel des Gangs hinter ihrer Maske wie eine aus der Anderswelt, eine Unsterbliche, der die Zeitlosigkeit und das ewige Gleichmass des Grauen Landes langweilig genug geworden waren, um für eine Weile, die Sterblichen freilich wie Jahrhunderte vorkommen mochte, in die lebendige Welt der Menschen zu wechseln. Oder war sie doch nur eine Hexe, die eine alte Maske gefunden hatte und heute Nacht etwas plante, etwas, bei dem sie ihn aus dem Weg haben wollte? 

Lohe dankte ihr noch einmal, setzte den Becher an, legte den Kopf schief in den Nacken gegen den Höcker zwischen seinen Schultern und schüttete sich den Trank halb in den Mund, halb in den Kragen und tränkte damit den Umhang, der zum Glück schwarz war, ein lebloses Ding aus Stoff und ihn so nicht verraten konnte. Und das, was aus seinem Mund zurückfloss, goss er mit einer geschickten Drehung dem ersten Teil aus dem Becher noch hinterher. 

Möglich, dass es ihm gelungen war, die Herrin zu täuschen, vielleicht aber auch nicht. Sie sah ihm in die Augen und wünschte ihm eine ruhige Nacht, doch das Lächeln der Maske spielte nun boshaft um die halb durchsichtigen Lippen über dem warmen, lebendigen Mund der Prinzessin. Dann drehte sie sich zum Gehen und weil der Gang hier vor der Tür nur schmal war, kaum breit genug für zwei Leute, kam sie ihm dabei unabsichtlich oder nicht recht nah. Lohe atmete den Duft ihrer Haut, sah das zarte, rosige Fleisch ihrer Brüste über dem Mieder und eine kleine Zunge zwischen weißen Zähnen, biss sich auf die Lippen und beherrschte sich sehr. 

Sie sah es, natürlich, und das Maskengesicht lachte nun hellauf, »wolltet Ihr mir vielleicht die Hand noch küssen, mein Gemahl, ehe ich mich zurückziehe?« 

Er tat es. 

Und die weichen Finger spannten sich blitzschnell hart um sein Kinn, zwangen ihm den Kopf hoch und ihr dicht vor die wimpernlosen Augen der Maske, in einen Blick so grausam und mitleidlos kalt, dass der König der Berge erschrak. 

Die Nüstern der Larve schnupperten an seinem Mund. 

»Nun denn«, sagte die Prinzessin und die Perlenschnüren in ihrer Haarkrone wippten, »dann gute Nacht.« 

Sie gab sein Kinn frei, so plötzlich, dass es ihm fast den Kopf auf die Brust riss und als Lohe aufsah, war sie schon verschwunden. 

»Alle Wetter«, sagte Reben, »die ist ja fürchterlich. Besser, du gibst mir den nassen Umhang, Herr. Du schwitzt. Man erkältet sich leicht in diesen warmen Nächten.«

***

Die Zofen, die ihm die Prinzessin zu seiner Bedienung gegeben hatte, warteten neben dem riesigen Bett, aber Lohe, der es nicht gewöhnt war, sich beim An- oder Auskleiden helfen zu lassen, bat sie hinaus. 

Er schickte auch Reben fort. Er wollte allein sein. 

Er wusch sich den klebrigen Trank vom Buckel und zog sich um, legte sich sogar für eine Weile auf das Lager, das die Zofen mit zwei breiten Polstern versehen hatten, als hätte sie gewusst, dass es ihm wegen des Höckers zwischen den Schultern unmöglich war, auf dem Rücken zu schlafen und er sich deshalb meist halb auf der Seite liegend mit Schulter und Ellenbogen abstützte. 

Aber der König der Berge war nicht müde und nach einer Weile nahm er ein Licht und sah sich in den fünf hohen Räumen seiner Wohnung um. Reben hatte seine wenigen Habseligkeiten im Ankleidezimmer verteilt, wo ihn Lohe auch fand, friedlich schnarchend auf einem Möbel, das vielleicht als Ruhebank gedacht war und dem langen Hauptmann gerade reichte. 

Lohe störte ihn nicht, ging leise weiter. Die restlichen Gemächer enthielten weiter nichts außer einigen Tischen und Stühlen, ein paar Waffen an den Wänden. Vielleicht, dass die Prinzessin gedacht hatte, er würde sie selbst ausgestalten wollen, aber Lohe waren sie so recht. Er schritt durch die halb leeren Kammern hindurch und öffnete zuletzt die fünfte Tür. 

Hier fand er sich erneut in einem Schlafzimmer, ganz ähnlich dem seinen, nur dass es offensichtlich lange nicht betreten worden war. Staub lag auf der seidenen Bettdecke, die Wanne im Badezimmer zierte ein brauner Streifen dort, wo einst Wasser aus dem Hahn getröpfelt sein mochte und der Rasierpinsel vor dem halbblinden Spiegel zerfiel. 

Im Ankleideraum lagen einige Kleider von altmodischen Zuschnitt auf einer halb ausgepackten Truhe in der Ecke. Ein Wehrgehänge lehnte darüber, grau vor Staub und Alter. Das vertrocknete Leder brach unter der Schwingung von Lohes Schritten, als er vorüberging. 

Die nächste der verlassenen Prinzenwohnungen umfasste lediglich drei Räume, da sie sich unter einem der Ecktürme der Bastion befand, aber auch hier bot sich dem König das gleiche Bild. Nur dass der Verfall hier noch weiter fortgeschritten schien. 

Lohe wollte schon weitergehen, da sauste draußen vor dem verhängten Fenster etwas übers Dach und zerbarst krachend auf dem Pflaster im Hof. Deshalb schob der König vorsichtig einen mürben Vorhang bei Seite und wischte mit dem Ärmel das blinde Fenster blank. 

Man sah aus diesem Eckturm Richtung Osten und zum letzten, innersten Mauerring der Festung. Der Mond hob sich gerade über die Mauern der Zitadelle und beleuchtete die steinernen Meergötter, die den Prinzessinnenbau an allen Kanten schmückten. 

Nixen reckten sich langsam im Mondlicht und stiegen aus ihren Nischen, Tritone kletterten über Gesimse und während Lohe ihnen dabei zusah, fanden sich die ersten Paare. Schuppige Hände umfassten steinerne Brüste, Meermänner drängten ihre Leiber zwischen die geöffneten Schenkel fischschwänziger Weibchen. 

Fern von draußen auf See klang dazu Gesang, herzzerreißende Töne, halb süßes Lied und halb wilder Schrei, nicht von dieser Welt und doch urvertraut. Der König der Berge hörte zu, von der Stimme angezogen und auch wieder nicht und fühlte sich seltsam zwiespältig, vielleicht nur, weil der schamlose Reigen auf dem Turm der Zitadelle mit jedem Ton der Stimme immer mehr Statuen erfasste und er selbst in dieser Nacht allein war. 

Auf dem Gesims vor dem Fenster schlang eine Wasserfrau ihre Flossen einem Gargoyl um den Hals. Aus beider Mündern tropfte Salz. Lohe ließ den Vorhang fallen. Das also hatte ihm die Hexe, seine Frau, vorenthalten wollen! Paarte sie sich heute Nacht mit einem Wassermann? 

Nun, es ließ ihn ziemlich kalt, jedenfalls kälter als der merkwürdige Gesang. Er packte seine Kerze fester, ging so rasch er konnte weiter, folgte dem lauter werdenden Klang. Die Sängerin zu finden, juckte ihn nun doch. 

Er kam in Zerstörung. Die Prinzenwohnung der Seeseite war die bisher größte und zweifellos einst sehr prächtig ausgestattet gewesen, aber jetzt auch am meisten verwüstet. Stürme mochten die Fenster im Lauf der Jahre zerbrochen, die Wandverkleidungen von ihrem Platz gerissen haben. Lohe fand Vorhänge und Tapisserien wild durcheinander gewirbelt, kaum einen Fleck ohne Scherben. Er wusste oft nicht, wo er den Fuß hinsetzen sollte und wollte schon auf die morsche Galerie ausweichen, doch dort liebte ein Seekönig eine steinerne Nixe und der Meermann fletschte die Zähne, während die Frau die Arme nach Lohe ausstreckte. 

Lohe wich zurück. Und dann brachen beide vor seinen Augen durch das morsche Geländer und zerschellten auf der Terrasse vor dem Teich, während die Stimme draußen auf See dazu perlte, mit trillernden Seufzern Sehnsucht in die Nacht auf dem Meer sang. 

Draußen auf See, jenseits der Bucht, dort, woher das Singen ertönte, hing über dem Wasser eine leuchtende Blase und schillerte in allen Farben des Regenbogens, eine Insel aus Licht, wo keines sein durfte, jenseits des Mondes, der auf seiner nächtlichen Bahn längst die Vorberge der Festung zum Land hin passiert hatte. 

Anders, als man es von einem Buckligen vielleicht erwartet hätte, konnte Lohe sehr gut klettern und die Zeit drängte. Das draußen im Meer war ein Tor, eine Öffnung zur Anderswelt und die, die dort sang, eine der Unsterblichen. Der Zufall mochte sie hergeführt haben, sicherlich nicht Lohe oder die Hexenkunst der Prinzessin, doch was auch immer, ihm würde nur diese eine Nacht bleiben und er wollte, er musste die Sängerin sehen. 

Lohe sparte sich die Suche nach einer Treppe, benützte für seinen Weg hinunter die verlassenen Podeste und Simse der Meergötter, die sich bei ihren brünstigen Spielen nicht mehr von dem Menschen ablenken ließen, der sich behände zwischen ineinander verschlungenen Leibern abwärts bewegte. 

Unterhalb der äußeren Umfassungsmauer der Zitadelle zerrte der Wind an seinem Umhang und hob Lohe einmal fast aus der Wand. Aber der König stieg trotzdem in den gewachsenen Felsen ein, verließ sich ganz auf Tastsinn und Geschick und kletterte mehr mit den Fingern als den Augen weiter, denn die Nacht war mit Monduntergang stockfinster geworden und die Leuchtfeuer in den beiden Turmlaternen der Zitadelle halfen so tief unten nicht mehr viel. 

Dafür fand Lohe zu seinem Erstaunen zu Füssen der Festung im schwachen Licht der nächtlichen See einen kleinen Hafen. Die schwarzen Boote und die Kaimauer waren ihm vorher nicht aufgefallen, er hatte von oben nur die Brandung gesehen, an mehr erinnerte er sich vom Nachmittag her nicht. Die Anlage war schon alt und Lohes Schritte hallten, während ihn die Fischer stumm beobachteten. Sie schwiegen zu seinem Gruß und beantworteten keine seiner Fragen, aber sie gaben ihm das Boot, um das er bat und halfen ihm damit ins Wasser. Danach sah sie Lohe noch lange am Strand stehen, bleiche Gestalten in der Nacht, bis die Brandung sein kleines Schiff drehte und er kräftig gegen die Strömung anrudern musste, die ihn andernfalls zurück in die Bucht und zu den Höhlen unter der Festung gedrängt hätte. 

Draußen im offenen Meer wuchs der Gesang, übertönte bald das Brüllen der See. Unmöglich, jetzt noch umzukehren, dafür war es längst zu spät. Lohes Boot ächzte im Mahlstrom, das Wasser sog ihn in den Strudel und dann spuckten ihn die Wellen in der Anderswelt aus.

* * *

Das Graue Land kannte keinen Wind. Lohe sah Dünen, blasses Gras und einen matten Himmel ohne Sonnenlicht. Fern im Nirgendwo lagen die Berge der Drachen, von denen der Schmied gesprochen hatte, doch Lohe vergaß rasch, dass er je den Wunsch gehabt hatte, sie einmal im Leben zu sehen. Denn sie, die an diesem Strand jenseits der Zeit sang, warf keinen Schatten und die Schönheit der Sängerin färbte die Luft um sie golden. 

Lohe fiel vor ihr auf die Knie, hingerissen, sprachlos, tief befriedigt schon dafür, dass sie ihn sie wenigstens hatte ansehen lassen. Mitten in ihrem eigenen Glanz stand eine von den Göttern zum Greifen nah vor ihm und ihre Nacktheit war so makellos, dass er schließlich, als sie die Hand nach ihm ausstreckte, nur wagte, vorsichtig einen ihrer zarten Nägel zu küssen. 

Die Goldene lachte. 

»Wie?« sagte sie, »nur die Finger? Vor deinen Augen liegt das Paradies und du nimmst es dir nicht?« 

Sie zog seinen Kopf in ihren Schoss und er gehorchte ihrem Willen nur zu gern. 

* * *

Sie schmeckte nach Frau und nach Meer, ihre Haut war salzig von den Wassern der Urzeit, aus denen sie mit den ersten Sternen noch vor Sonne und Mond erhoben hatte und doch gleichzeitig süß wie Honig und Milch und Lohe leckte sie von oben bis unten ab. Danach ritt sie ihn und er stöhnte unter ihr vor Lust und vor Schmerz, denn die scharfen Körner im grauen Sand der Anderswelt zerrieben ihm die Haut zwischen den Schultern über dem Buckel. Aber er hätte die Goldene nicht um sein Leben bitten mögen, von ihm abzulassen und als sie ihn endlich, viel zu früh für seinen Geschmack, von sich schob, war es für seinen Rücken zu spät und der Boden rot von seinem Blut. 

»Du hast mir Vergnügen bereitet«, sagte sie, »darum geh jetzt. Noch kannst du mich verlassen.« 

Sie schickte ihn mit einer flüchtigen Handbewegung fort und er ging.

Er wusste, sie anzuflehen war sinnlos. Spielzeug der Götter sind die Menschen, sie mögen sich zu ihrem Vergnügen manchmal zu ihnen gesellen, doch sie kennen kein Mitleid und keinen Schmerz und wer sich ihrem Gebot widersetzt, ist ein Narr. Lohe stieg mühsam in das Boot, stieß sich mit einem Paddel schwach vom Strand ab und fühlte sich so leer wie niemals vorher in seinem ganzen Leben. 

* * *

Die See riss ihn an sich, in schwärzeste Nacht, hinein in den tosenden Sturm. Immer im Kreis...

Irgendwann kenterte das Boot, zerschlagen vom Mahlstrom. Wogen zerrten Lohe aufwärts, schleuderten ihn hoch, rissen ihn wieder in die Tiefe. 

Dann traf ihn der Ruderbaum und brach ihm das Kreuz und das Toben der Elemente übertönte sein Aufheulen, als ihm der nächste Brecher gewaltsam den missgestalteten Buckel streckte. Irgend etwas...

Leder? 

Nasse Haut wickelte sich um seine Arme, zog ihn vollends unter Wasser. 

Lohe spie, kämpfte sich hoch. Er wehrte sich gegen die salzige Flut, die ihm mit jeder Woge neu die Luft aus den Lungen presste, in seinen Wunden wie Feuer brannte und ihm mit dem Blut das Leben aus dem Leib wusch. Kämpfte um sein Leben, das ihr nichts bedeutete.

Irgendwann...

Er erinnerte sich später nicht. Niemals. Irgendwann, nach Stunden, nach Tagen vielleicht, sank der Mahlstrom in sich zusammen, gingen die Wogen nicht mehr turmhoch. Lohe ließ sich treiben, zu erschöpft, um noch den Kopf zu heben. Aber er hörte die Brandung. 

Später schwemmte ihn die Ebbe auf eine Sandbank im flachen Wasser vor der Küste. Irgendwo...

Dort blieb er einige Zeit bäuchlings liegen. Vielleicht schlief er ein. Er wusste es nicht. Er wurde nach einer Weile aufmerksam, als er merkte, dass ihm die Gischt ihm immer wieder über die Beine spülte.

Er sah auf.

Die Festung lag weit entfernt jenseits einer Lagune aus seltsam grauen Wasser am anderen Ende eines breiten Strandes und davor auf einem Felsen, nicht weit von Lohe entfernt, saß der Schwarze Mann.

»Steh auf, mein Sohn«, sagte der Schmied, »du hast nicht ewig Zeit.«

Es gelang Lohe nicht gleich. Aber die Stimme seines Lehrmeisters, seiden wie alle Drachenstimmen, hätte auch ein totes Pferd dazu gebracht, wenigstens den Versuch zu machen. Also stand schließlich auch Lohe taumelnd auf seinen Füssen.

Der Umhang, vom Wasser vollgesogen und schwer wie Blei, klebte an seinen Beinen und behinderte ihn in den Schultern. Die Wunden brannten noch immer, das Leder scheuerte auf der rohen Haut und ganz verstand der König der Berge nicht, warum er den Fetzen überhaupt noch trug, denn sonst war er nackt. Lohe griff nach hinten, erwischte faltiges Leder, zog an der Haut und schrie vor Schmerzen auf. Und noch mehr vor Entsetzen.

Was ihn zum Buckligen gemacht hatte, der Höcker zwischen seinen Schultern, zerrieben unter den liebenden Stößen der Goldenen und zerschlagen von der See, war zu zwei häutigen Gebilden entfaltet, ledernen Schwingen, die Lohe aus den Schulterblättern wuchsen. Der Schwarze Geflügelte auf dem Stein lachte. 

»Sei ihr dankbar, Sohn«, sagte der, den Lohe als den Schmied der Königin kennen und lieben gelernt hatte, »ihre Kur war sicher angenehmer als jede, die ich dir habe angedeihen lassen.« 

Der König der Berge sagte nichts. Der auf dem Stein war kein Mensch, sondern ein Wesen aus der Anderswelt, unsterblich wie die Goldene, einer der Drachen, geboren aus dem ersten Feuersturm, den die Götter zu ihrem Vergnügen auf dem wüsten Land der Urzeit entfacht hatten. Lohe erinnerte sich sehr wohl. Wie ihn der Gestaltwandler, der tagsüber als Prinzgemahl der Königin Blonde Lohes menschlicher Vater gewesen war und des Nachts als Schmied sein heimlicher Lehrmeister, in das erste eiserne Korsett geschmiedet hatte. 

»Es hat dich ja auch tatsächlich ein ganzes Stück gerader gezogen. Und dich gelehrt, Ungemach zu ertragen.« 

Lohe blickte in die vertrauten scharfen Züge des Schwarzen, las die Ähnlichkeit zu ihm selbst aus dem leicht boshaften Gesicht vor ihm, fand sich in den grünen Augen, in denen immer ein Funken Feuer glomm und fragte sich, wie er so blind hatte sein können. 

Der Geflügelte zuckte mit den Schultern, was die schwarzen Schwingen hob und flattern ließ. 

»Ich erlaube dir, mich zu erkennen, weil du mein Sohn bist«, sagte der Drachenschmied, »und solltest besser künftig daran denken, dass du zwar aus meinem Samen entstanden, aber trotzdem nur fast unsterblich bist. Man wird dir allerdings schon den Kopf abschlagen müssen, wenn man dich wirklich töten will. Und natürlich wirst du eines Tages wünschen, es täte tatsächlich einer. Also hüte dich.« 

Lohe war nicht stolz darauf. Der Mann, den er für seinen Vater gehalten hatte, war nur ein Popanz gewesen, Maske des Gestaltwandlers, der jetzt vor ihm saß und beide zusammen hatten sie ihn betrogen. Ihn, der dem Schmied vertraut hatte, den armen Brand, seine Mutter und natürlich auch Flamme. Die mit ihrem Bruder einen Sohn hatte und vorher der Bettschatz des Schmieds gewesen war. Ihres Vaters. 

»Nein. Ihr habt die gleiche Mutter. Aber Brand und Flamme sind nicht meine Kinder«, der Schmied widersprach, »und auch wenn du denkst, dass sei nichts als Drachenspitzfindigkeit, denn natürlich habe ich eure Mutter auch als der Prinzgemahl geliebt, macht es doch einen Unterschied.« 

Lohe schwieg. Nein, er bildete sich wirklich nichts darauf ein. Weder auf diese überraschende Verwandtschaft, noch dass er dem Lockruf der Goldenen gefolgt und für eine Nacht der Geliebte einer Göttin gewesen war. Oder dass sie ihm zum Dank den Buckel genommen hatte - und natürlich las der Schmied seine Gedanken. Der Gestaltwandler stand auf. 

»Ich kann dir nicht helfen«, sagte sein Vater, »die Götter sind, wie sie sind. Nicht einmal ein Drachen kann sagen, ob ihre Handlungen von Weisheit bestimmt sind oder jeweils einer Laune entsprungen. Du musst deinen Weg erst noch finden. Ich gehe den meinen. Und nun lebe wohl.« 

Der Drache schwang sich in die Luft und mit dem ersten Flügelschlag veränderte sich seine Gestalt, die man bisher für die eines Mannes mit sehr langen Armen und Beinen hatte halten können, streckte sich, wurde dünn und schuppig und wandelte sich schließlich zur reinen Flamme, bevor er im Himmel der Anderswelt verschwand. 

Lohe sah ihm lange nach. 

* * *

Später stieg er ins graue Wasser der Lagune. Die Festung lag in der Sonne, von diesem Stand noch immer eine ganze lebendige Welt entfernt. Lohe schwamm. 

Der König der Berge dachte schon, er würde es niemals schaffen. Aber gegen Abend, als schon blaue Schatten vor der Festung einfielen, erreichte er die Seegöttin ohne Gesicht und die Treppen am Fuß der Felsen doch. 

Nur, rechts davon, dort, wo Lohe in der Nacht vorher den kleinen Hafen gefunden hatte und die Fischer mit ihren Booten, trieb lediglich morsches Holz, drehte sich in einem Gezeitentümpel im Kreis zwischen den zerfressenen Resten einer alten Uferbefestigung. Und der König begriff, dass er versucht hatte, mit den toten Seelen der Ertrunkenen zu reden, die ihre Sehnsucht nach der Goldenen das Leben gekostet hatte. 

Aber Lohe war zu matt, um noch darüber zu schaudern und so stieg er einfach die ersten Stufen hinauf, bis zu einem Balkon über dem ersten Absatz der Treppe. Von dort sah er eine Weile hinab auf die rollende See. Der Glanz der Anderwelt lag noch immer jenseits der Bucht an einer bestimmten Stelle über dem Wasser, niemals klar zu erkennen, immer nur aus den Augenwinkeln und Lohe verstand, dass ihm das bleiben würde und schauderte nun doch. 

Sie zog ihn an. Aber er hatte genug von ihrer Schönheit getrunken, um zu wissen, dass ihn der Versuch zu ihr zu gelangen, diesmal umgebracht hätte. Und er wollte nicht sterben. 

Nicht mehr. 

Noch nicht. Obwohl er sterbensmüde war. 

Er schleppte sich höher. Durch zauberhafte Grotten und zugige Hallen, vorbei an Quellen, die seinen Durst löschten und ihm endlich das Salz der Anderswelt von der Haut wuschen. Die Flügel zwischen seinen Schultern trockneten und wurden dadurch ein wenig leichter. Lohe bekam heraus, dass er sie falten konnte, wenn er nicht zu genau darüber nachdachte wie. Aber das machte den Packen in seinem Kreuz nicht weniger lästig. 

Vor dem Eingang zu den Gemächern der Prinzessin stand ein Gargoyl. 

Lohe schlug ihm aufs Haupt, in jähem Zorn, weil der Steinerne ihn bei einem Flügel zu fassen versucht hatte und zerbrach den Wächter mit diesem einem Hieb in Stücke. Seine Kraft erschreckte den König ebenso selbst, wie die Zofen, die bei seinem Anblick schreiend flohen. 

»Ach, Ihr seid es«, sagte die Herrin über Küste und Inseln, die Prinzessin Seide. 

Sie ging hochschwanger mit einem Kind, sie hatte vermutlich in der Zwischenzeit den nächsten Prinzen genommen und er konnte es ihr nicht einmal verdenken, dass sie nicht auf ihn gewartet hatte. Denn der König der Berge verstand sich darauf, die Sterne zu lesen und er hatte aus ihrer Stellung am Himmel die Zeit, die er in der Anderswelt versäumt hatte, erkannt. 

Neun Monate. Zudem würde sie nach einem Buckligen wohl kaum lieber einen Gatten mit Flügeln haben wollen. 

»Nun, so lasst mich Euch hier und heute Lebewohl sagen«, sagte er zu ihr, »und ich wünsche Euch und dem Vater Eures Kindes Glück. Mich braucht Ihr ja wohl nicht mehr.«

Die Prinzessin lachte, das Lachen der Goldenen, er hätte es überall und in allen Welten erkannt. 

Zuerst war er sprachlos. Aber dann durchzuckte Lohe rasende Wut. Sie hatte ihn missbraucht, ein Spiel mit ihm getrieben, wer weiß wie viel schon vor ihm verraten und im Sturm nach der Nacht auf der Insel der Anderswelt, der sie ja nicht betroffen hatte, fast sein Leben ausgelöscht. 

Er war mit einem Sprung über ihr und sie schrie, die Larve angstverzerrt, aber die Göttin darunter lachte, als ihr Lohe die Maske vom Antlitz riss. 

Das liebliche, doch kalte zweite Gesicht der Goldenen zerbrach ihm unter den Fingern wie eine leere Eierschale. Seide zersprang und der König der Berge sah sie sterben. 

»Das, meine Gemahl«, sagte die Goldene, »hättest du wohl besser nicht getan. Nun muss ich unwiderruflich gehen.«

Sie gebar ihm noch in der selben Nacht eine Tochter. Das Kind schlüpfte aus ihrem Leib wie die Mandel aus einem Pfirsich und die Goldene erhob sich danach von ihrem Lager,  legte das kleine Mädchen Lohe in die Arme und verließ die lebendige Welt der Sterblichen für immer.

* * *

Die Augen der kleinen Perle waren so blau wie der Himmel über dem Meer an schönen Tagen und ihr Gesichtchen glich ein wenig dem der toten Maske der Prinzessin Seide, ihrer einen Mutter. Aber sie war rosiger, den Sterblichen näher, denn die Göttin, die sie geboren hatte und Reben brach in Tränen aus, als ihm Lohe sein Kind anvertraute. 

Der Hauptmann war in den Monaten, da er auf die Rückkehr seines Herrn gehofft hatte, grau geworden. 

»Bringe sie in die Berge, Reben«, sagte der König, »du und dein Weib, ihr sollt sie aufziehen.« 

»Kommst du nicht mit uns, Herr?« 

Aber Lohe schüttelte den Kopf. 

Er ging in die Wohnung, die ihm seine Herrin zugewiesen hatte und packte ein paar Dinge für unterwegs, nicht zu viel, denn er konnte mit den Flügeln weniger denn je etwas auf dem Rücken mit sich tragen. Zuletzt zog er seine alten Reisekleider an. Das Hemd, für einen Buckligen berechnet, verbarg einigermaßen die Schwingen, nur war der Saum jetzt, da Lohe zum ersten Mal in seinem Leben mehr oder weniger aufrecht stehen konnte, viel zu kurz.

Der König zuckte die Achseln und behalf sich mit einer Schärpe. Dann griff er sich den Mantelsack und ging mit langen Schritten unbemerkt davon.