Der Lärm vor ihrem Zimmer riss Margos
aus dem Schlaf. Der Mond schien durch die trübe Fensterscheibe. Leise
schlug er die Decke zurück, der Holzboden knarrte unter seinen Füßen,
als er zum Fenster ging, um dieses zu öffnen. Auf dem Schlosshof brannten
viele Fackeln. Die Wachen liefen aufgeregt durcheinander.
"Was geht da unten vor", fragte Arwed recht
verschlafen.
"Ich weiß es nicht", gab Margos zu.
"Sie scheinen jemanden zu suchen. Vielleicht ist einer der Gefangenen aus
dem Kerker geflohen."
"Das werden wir morgen schon noch erfahren",
meinte sein Freund und unterdrückte ein Gähnen. "Es hat doch
wenig Sinn, jetzt aus dem Fenster zu gaffen."
"Du hast recht", sagte Margos, während
er das Fenster wieder schloss.
Bis zum Sonnenaufgang blieben ihnen nur noch
wenige Stunden Schlaf. Morgen würde sie König Severin bei sich
empfangen. In drei Tagen würde er die Prinzessin von Nur ehelichen.
Margos` Familie stand schon seit vielen Generationen als einflussreiche
Kaufleute im Dienste des Königs und hatten die Handelsbeziehungen
zwischen Thelamon und den umliegenden Ländern in den letzen Jahren
immer wieder neu geknüpft und gefestigt. Sein Vater genoss hohes Ansehen
am königlichen Hofe und man konnte fast von einer Freundschaft zwischen
ihm und dem König sprechen. Schon vor vielen Wochen hatte sein Vater
eine Einladung zur Hochzeit bekommen, da er allerdings überraschend
erkrankt war, sollten Margos und Arwed ihn auf dem Fest vertreten. Margos
war schon öfters mit seinem Vater auf König Severins Schloss
gewesen, aber für Arwed würde es sicherlich ein einmaliges Erlebnis
werden.
"Gehört der Mann zu Euch?" fragte der
Stadthalter mit einem spitzen Blick auf Arwed und dessen einfache Kleidung,
die ganz und gar nicht den höfischen Sitten entsprach.
"Ja", meinte Margos und legte Arwed die Hand
auf die Schuler. Sein Freund schaute erstaunt drein. Er war es nicht gewohnt,
wegen seines Aussehens herabgesetzt zu werden. Zu Hause hatte er als Sohn
des Verwalters überall hohes Ansehen und jeder mochte ihn gut leiden.
Dort achtete allerdings auch keiner auf höfische Eitelkeit, während
hier seine einfache Schaffellweste jedem ein Dorn im Auge war.
Die Wachen öffneten die breite Tür
zum Thronsaal und sie betraten den prächtigen Raum. Arwed kam aus
dem Staunen nicht mehr heraus. Die Wandteppiche und Deckenmalereien beeindruckten
ihn genau so sehr wie die hohen Fenster und der mit mehreren Mosaiken versehene
Fußbaden.
"Willkommen auf meinem Schloss." Die Stimme
des Königs ließ Arwed zusammenzucken. Der König lächelte
belustigt. "Ich wollte Euren Freund nicht erschrecken", sagte er schließlich
und kam zu Arweds Entsetzen auf sie zu. "Es freut mich sehr, dass ihr kommen
konntet", meinte er zu ihnen gewandt.
"Die Freude ist ganz auf unserer Seite", erwiderte
Margos und verneigte sich kurz; Arwed tat es ihm nach.
"Wobei ich befürchte, dass ihr umsonst
gekommen seid", sprach König Severin weiter. "Heute Nacht wurde das
Schwert von Nur aus meiner Schatzkammer gestohlen. Und ohne es wird die
Hochzeit wohl kaum stattfinden können. Prinzessin Regula wird morgen
eintreffen, aber sie weis noch nichts von dem Diebstahl."
Da hatte er ohne Zweifel recht. Das Schwert
von Nur war das Wahrzeichen des Landes. Ganz Nur würde es als Schmach
empfinden, dass es verschwunden war. Dabei hatten schon genug Menschen
auch ohne den Diebstahl etwas gegen die Verbindung der beiden Länder.
"Meine Männer suchen schon den ganzen
Morgen nach dem Dieb, aber er hat so gut wie keine Spuren hinterlassen",
teilte ihnen der König mit. "Mir ist unbegreiflich, wie er überhaupt
in die Kammer gelangen konnte. Die einzige Tür wurde doppelt so gut
bewacht wie sonst. Jede volle Stunde wurde nachgesehen, ob es noch da war."
"Habt ihr die Stadttore schließen lassen?"
fragte Margos.
"Gleich nachdem der Diebstahl entdeckt wurde",
sagte König Severin. "Meine Männer durchsuchen die ganze Stadt.
Bisher allerdings vergebens."
"Vielleicht würde es weiterhelfen, wenn
man wüsste, wie der Kerl ins Schloss eingedrungen ist", schlug Margos
vor. "Möglicherweise hat er auf seiner Flucht etwas zurückgelassen."
"Wenn ihr wollt, könnt ihr euch gerne
etwas umsehen", bot König Severin an. "Ich bezweifle allerdings, dass
ihr etwas findet, das meinem Hauptmann nicht aufgefallen ist." Er streifte
drei große Schlüssel von seinem Gürtel ab und gab sie ihnen.
"Ohne sie bekommt man die Schatzkammer nicht auf", erklärte der König.
"Lasst euch von einer der Türwachen den Weg zeigen."
Der ältere Wächter stapfte ihnen
mit einer Fackel voraus.
"Hattest du gestern Nacht auch hier Wache?"
fragte Arwed neugierig.
"Leider", schnaubte er ärgerlich. "Ihr
könnt mir glauben. Es ist kein gutes Gefühl, wenn einem etwas
unter der Nase weg gestohlen wurde."
"Kannst du uns etwas über die Nacht erzählen?"
wollte Margos wissen. "Was ist genau passiert?"
"Wir waren zu viert", erzählte der Mann.
"Saßen wie immer direkt vor der Tür und haben Karten gespielt.
Irgendwann hat sich der Schatzmeister noch zu uns gesellt. Barak kommt
jede Nacht noch einmal vorbei bevor er schlafen geht. Wir haben uns alle
mit ihm unterhalten und als die Sanduhr dann die volle Stunde anzeigte,
ist er in die Schatzkammer. Ein paar Augenblicke später kam er wieder
herausgerannt. War kreidebleich im Gesicht und hat wie von Sinnen nur noch
geschrieen: 'Es ist weg, es ist weg!'" Der Wächter machte den entsetzen
Tonfall des Schatzmeisters nach. "Einen Moment waren wir wie gelähmt,
stürzten dann in die Kammer und tatsächlich - das Schwert war
weg! Einfach weg! Nachdem wir uns vom ersten Schreck erholt hatten, haben
wir Alarm geschlagen."
Sie waren an einer großen Eisentür
angekommen, die Schlüssel drehten sich nur schwer in den Schlössern.
Die Schatzkammer war ein kleiner hoher Raum ohne Fenster. An den Wänden
stapelten sich Geld- und Schmucktruhen, reich verzierte Waffen hingen an
den Waffenbrettern.
"Wo stand das Schwert?" wollte Margos wissen.
"Hier", der Mann wies auf eine Truhe. "Es
war immer hier angelehnt."
"Und seit dem Diebstahl wurde nichts verändert?"
fragte Margos weiter.
"Nicht, dass ich wüsste."
"Gut", meinte Margos. "Wir werden uns hier
noch ein wenig umsehen. Wenn du willst kannst du wieder auf deinen Posten
gehen."
"Das alles muss ein Vermögen wert sein",
platze Arwed heraus, nachdem sich der Wächter verabschiedet hatte.
"Schau dir die Dolche an und die vielen Goldstücke..."
Während Arwed noch den Inhalt der Truhen
bewunderte, sah Margos sich in der Schatzkammer um. Die Truhen waren zu
schwer, als dass man sie verschieben konnte, um einen möglichen Geheimgang
dahinter zu benutzen, und der Boden bestand aus großen Steinblöcken.
"Was ist das hier?" fragte Arwed. Er hatte
ein Tuch zurückgeschlagen und betrachtete ein fast mannshohes, mit
Gold beschlagenes Kreuz, das in der vorderen Mitte des Raumes stand.
"Das Kreuz von Alsu", erklärte Margos
ihm.
"Aus dem abgebrannten Kloster?"
"Man hat es während dem Brand gerettet
und hierher gebracht", erzählte Margos. "Aber wir sollten nach einer
Spur des Diebes suchen."
"Hier sind Fußspuren." Arwed zeigte
auf den Boden.
"Die können von den Wachen sein oder
von...” Margos ging in die Hocke und untersuchte den Steinboden.
"Dem Kerl, der das Schwert gestohlen hat",
sprach Arwed weiter.
"Nein!" wehrte Margos ab. "Schau dir das an...
der Staub ist nur hier und sonst nirgends." Er stand wieder auf und schaute
an die Decke. Konnte es sein, dass man von dort...? "Hilf mir, die Truhe
hierher zu schieben."
Gemeinsam zogen und zerrten sie die Kiste
an die richtige Stelle. "Stell dich darauf", forderte Margos Arwed dann
auf.
"Wozu denn?" fragte Arwed, während er
auf die Truhe stieg.
"Ich will hoch zur Decke", erklärte Margos
seinem Freund, sprang ebenfalls auf die Truhe und kletterte dann weiter
auf Arweds Rücken. Arwed schnaufte schwer, während Margos gegen
die Steinplatte über ihm drückte. Zwischen den Fugen war kein
Mörtel mehr, aber trotzdem ließ sich die Platte nicht nach oben
heben. Mit aller Kraft stemmte er sich immer wieder dagegen, aber sie bewegte
sich nicht vom Fleck.
"Bist du bald fertig?" keuchte Arwed.
"Ich versuche es noch einmal", meinte Margos
und tatsächlich, dieses Mal konnte er die Steinplatte ein wenig nach
oben heben und zur Seite schieben. Feiner Staub rieselte auf sie herab.
"Wir haben etwas gefunden", verkündete er stolz.
"Ja", lachte Arwed und fuhr sich durch die
dreckigen Haare, "viel Staub."
"Nein", berichtigte Margos ihn. "Den Gang,
den unser Dieb benutzt hat." Er zog sich mit den Armen hinauf; in dem Schacht
war es stockdunkel.
"Was hast du vor", fragte Arwed von unten.
"Den Ausgang finden", schrie Margos nach unten
und kroch den engen Schacht entlang.
Durch die Dunkelheit konnte er sich nur langsam
vorwärts tasten. Nach einer Weile sah er einen schwachen Lichtschein
und befand sich schließlich in einer kleinen Nische des Eckturms
des Schlosses. Einen Meter unter ihm spannte sich ein Seil etwa zwanzig
Meter bis zum Schlosshof; über ihm waren es noch ungefähr zwei
Meter bis zum Fenster des Turmzimmers.
"Von da oben?" Der Hauptmann schaute skeptisch
der Schlossmauer hinauf. "Habt ihr gemerkt, wie windig es heute Nacht war?"
Er schüttelte den Kopf. "Nur ein Wahnsinniger wäre an diesem
Seil hinauf geklettert. Aber es ist gut, dass ich von diesem Gang weiß.
Wenn ihr noch etwas entdeckt, dann meldet euch bei mir." Der Hauptmann
machte sich auf den Weg zu seinen Männern und ließ sie allein.
"Jetzt mach dir nichts daraus", versuchte
Arwed Margos aufzuheitern. "Ich habe eine tolle Neuigkeit für dich."
"Und welche?" Es war doch zu schade, dass
der Gang keinen Hinweis auf den Dieb geben konnte.
"Zigeuner! Sie haben sich heute Morgen auf
der Wiese am Stadtrand niedergelassen", rief Arwed begeistert. Nur sein
Freund konnte sich so für das Fahrende Volk interessieren. Wenn sie
auch sonst keiner besonders mochte, in Arwed hatten sei immer einen aufmerksamen
Zuschauer für ihre Kunststückchen. Es hätte keine Sinn gehabt,
sich lange zu sträuben. Früher oder später würde Arwed
ihn so oder so bis zu dieser Wiese geschleift haben.
Die bunten Wagen der Zigeuner waren in einem
Halbkreis aufgestellt worden. Um die Mittagszeit herrschte auf der Wiese
reges Treiben. Kinder hüpften übermütig umher, die Frauen
waren damit beschäftigt, das Mittagessen zu kochen und die Männer
reparierten ein beschädigtes Wagenrad. Arwed hatte schon mit dem nächst
besten Vagabund Bekanntschaft geschlossen und ließ sich von diesem
einen Taschenspielertrick beibringen. Es würde sicherlich noch einige
Zeit dauern bis sie wieder gehen konnten. Belustigt beobachtete Margos
den lautstarken Streit eines jungen Mannes mit einer Frau. Die beiden stritten
in der alten Zigeunersprache, so dass er nichts verstehen konnte, aber
die Frau schien mehr als nur wütend zu sein. Mit der Zeit verlor der
Mann auch immer mehr die Geduld, schrie ihr schließlich wütend
etwas zu und kam mit zornigen Schritten direkt auf ihn zu. Margos konnte
nicht schnell genug ausweichen und wurde von dem Kerl so stark angerempelt,
dass er das Gleichgewicht verlor. Für einen Moment schien es so, als
wolle der Mann anhalten, um ihm aufzuhelfen; überlegt es sich dann
aber wieder anders.
"Ist euch etwas passiert?" fragte die Frau
besorgt, als der Kerl außer Sichtweite war.
"Nein", sagte Margos, stand wieder auf und
klopfte sich den Dreck vom Mantel.
"Taran ist manchmal wirklich unmöglich",
seufzte die Frau. "Mein Vater denkt schon lange daran, ihn an die Luft
zu setzen. Aber ohne ihn können wir den Leuten nichts außer
kleinen Spielereien bieten."
"Und weshalb habt ihr euch gestritten?" wollte
Margos wissen.
"Ich wollte wissen, wo er sich heute Nacht
herumgetrieben hat", sagte die Frau. "Meinem Vater wird es gar nicht gefallen,
wenn er davon erfährt."
"Ganz und gar nicht", meinte ein älterer
Mann, der unverholt aus einem der Wagen trat. Die Frau drehte sich erschrocken
zu ihm um. "Du solltest dich um das Essen kümmern, Jean", sagte er
mit einem Blick auf seine Tochter, als er auf sie zu kam. Jean verschwand
schnell im Wagen. "Und was machen sie hier", fragte er Margos. Der Zigeuner
war gut einen Kopf kleiner als er, doch seine kleinen dunklen Augen musterten
ihn misstrauisch. "Seid ihr wegen Taran hier?"
"Ich habe ihn gerade das erste Mal gesehen",
teilte Margos Jeans Vater mit. "Weshalb sollte ich ihn dann suchen?"
"Dem König scheint etwas verloren gegangen
zu sein", meinte der Zigeuner argwöhnisch. "Und Taran könnte
etwas damit zu tun haben."
"Was macht dich da so sicher", fragte Margos.
"Er ist heute Nacht erst kurz vor Sonnenaufgang
wieder bei uns eingetroffen", erzählte der Zigeuner. "Was nicht das
erste Mal vorgekommen ist. Außerdem ist er ein hervorragender Seiltänzer
und Kletterer."
"Du magst ihn nicht besonders", schlussfolgerte
Margos mit einem Lächeln.
"Wir können es uns nicht leisten, wegen
ihm Ärger zu bekommen", erklärte Jeans Vater. "Der Winter bricht
bald an und wir hoffen, hier Quartier beziehen zu können. Es ist ein
weiter Weg bis in die nächste Stadt und einige unserer Zugtiere sind
angeschlagen."
"Das verstehe ich", meinte Margos verständnisvoll
und entdeckte Arwed, der in ihre Richtung lief. "Aber mich hat weder der
König noch sonst jemand geschickt. Ich bin mit meinem Freund hier."
Arwed kam mit einem breiten Lächeln neben
ihm an.
"Wir müssen jetzt leider wieder gehen",
sprach Margos weiter. "Wir haben heute noch eine Menge vor."
Sie verabschiedeten sich von dem Zigeuner
und verließen das Lager auf dem schnellsten Weg.
"Wieso hast du es plötzlich so eilig",
fragte Arwed, der eilig neben ihm her lief.
"Ich habe von einem Zigeuner gehört,
der ein hervorragender Seiltänzer ist und heute Nacht unauffindbar
war", teilte er seinem Freund mit.
"Du suchst immer noch nach diesem Dieb?"
"Wir", korrigierte Margos ihn und blieb stehen.
"Überlege doch einmal! Wir haben einen Seiltänzer, der heute
Nacht nicht da war - und der Gang zur Schatzkammer ist nur über ein
Seil erreichbar. Findest du da keinen Zusammenhang?"
"Doch", sagte Arwed, "aber könnte es
nicht auch jemand anders gewesen sein? Muss er denn gleich ein Dieb sein,
nur weil er ein Zigeuner ist?"
"Das habe ich nicht gesagt", verteidigte Margos
sich. "Er ist bisher nur der einzige Verdächtige. Außerdem werden
die Schergen des Königs irgendwann auch das Zigeunerlager durchsuchen.
Und der Mann, der mir so freimütig alles erzählt hat, wird vor
den Männern des Königs genau das gleiche ausplaudern. Diese werden
Taran dann höchst vermutlich festnehmen - auch wenn er gar nichts
verbrochen hat."
"Wieso denn das ?"
"Weil er ein Vagabund ist. Und diese haben
nun einmal keinen guten Ruf."
Taran war unauffindbar. Weder auf dem Marktplatz
noch in einem der Wirtshäuser konnten sie ihn ausfindig machen. Es
schien, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden.
"Ich habe gute Neuigkeiten." Der Hauptmann
stand plötzlich neben ihnen. "Wir haben den Dieb."
"Und wer ist es?" fragte Arwed neugierig.
"Ein Kerl von den Zigeunern", gab der Hauptmann
Auskunft. "Wir haben ihn um die Mittagszeit festgenommen. Seine eigene
Sippe hat ihn schwer belastet - wo die doch sonst so zusammenhalten."
"Hat er gesagt, wo er das Schwert versteckt
hat?" wollte Margos wissen.
"Bisher noch nicht", meinte der Hauptmann.
"Er beteuert, unschuldig zu sein." Er grinste abfällig. "Dabei sind
Zigeuner das größte Lügenpack, das ich kenne. Aber wir
werden schon noch etwas aus ihm heraus bekommen. Wenn er nicht freiwillig
redet, werden wir es aus ihm herausprügeln."
"Könnten wir vielleicht einmal mit ihm
sprechen?" fragte Margos. "Möglicherweise sagt er uns etwas, was er
euren Männern nicht verrät."
Der Hauptmann überlegte eine Weile. "Ihr
könnt es versuchen", willigte er schließlich ein. "Aber versprecht
euch nicht zu viel. Der Kerl ist ziemlich stur."
Der Kerker war ein düsteres dunkles Loch,
das selbst das Licht der Fackeln nicht sehr erhellen könnte. Jeder
ihrer Schritte hallte in den Gängen wider, sonst herrschte Totenstille.
"Der obere Stock beherbergt Zeckpreller und
ähnliche Taugenichts", erklärte der Hauptmann und stieg vor ihnen
eine enge Treppe hinunter. "Insgesamt haben wir vier Stockwerke. Je nachdem,
was man verbrochen hat, wird man eingekerkert."
Nach einer weiteren Treppe führte er
sie in eine hohe runde Kammer. An den Wänden hingen Fuß- und
Handketten und andere Marterwerkzeuge. Ein Mann saß seelenruhig hinter
einem breiten Tisch und schliff ein kleines Messer, bevor er es zu den
anderen Geräten auf den Tisch zurück legte.
"Keine Angst", meinte der Hauptmann, "sie
dienen eigentlich nur zur Abschreckung. Es kommt sehr selten vor, dass
sie jemand wirklich zu spüren bekommt." Er führte sie weiter
aus der Folterkammer und öffnete dann eine der Zellentüren.
"Wenn er Ärger macht, braucht ihr nur
zu schreien", sagte er, steckte die Fackel in eine dafür vorgesehene
Halterung und schloss die Tür wieder hinter sich.
"Wer seid ihr?" fragte Taran. Er hatte sich
in der hintersten Ecke der Zelle zusammengekauert. "Ihr seht nicht wie
die Wachen aus."
"Wir haben uns heute schon gesehen", sagte
Margos. Taran nickte zum Zeichen, dass er ihn wieder erkannt hatte. "Wir
möchten mit dir reden... über das Schwert von Nur."
Taran schwieg.
"Hör zu", versuchte Margos es weiter.
"Der König braucht dieses Schwert und falls du etwas darüber
weißt, rate ich dir, es zu sagen. Draußen wartet der Scharfrichter
auf dich und er wird nicht zögern, die Schärfe seiner Klingen
an dir auszuprobieren."
"Ich weiß", meinte Taran leise. "Aber
mir glaubt doch niemand hier."
"Doch", sagte Arwed, ging neben Taran in die
Hocke und legte ihm die Hand auf die Schlulter. "Ich glaube dir; und Margos
sicher auch, wenn du ihm sagst, was er hören will."
"Wir wollen dir helfen", fügte Margos
hinzu. "Aber dafür müssen wir wissen, was du letzte Nacht gemacht
hast."
Taran starrte eine Weile auf den Boden. "Ich
war dort", sagte er schließlich. "Ich hatte vor, das Schwert zu stehlen.
Jemand hat mir viel Geld dafür geboten."
"Wer?" fragte Margos.
"Ich habe ihn nie gesehen", gab Taran zu.
"Er hat immer einen Boten gesandt. Es war alles besprochen. Ich sollte
in der Nacht vor der Hochzeit durch den geheimen Gang und in die Schatzkammer
eindringen. Damals wusste ich noch nicht, was ich eigentlich stehlen sollte.
Als ich dann erfuhr, dass es dieses Schwert ist, habe ich doch abgelehnt.
Einen normalen Diebstahl - ja. Aber ich bin nicht so verrückt und
ziehe den Zorn von zwei Königreichen auf mich."
"Und was passierte dann ?"
"Mein Auftraggeber war zweifelsohne nicht
begeistert davon, einen Mitwisser zu haben", sprach Taran weiter. "Ich
brauchte ein sicheres Versteck. Also habe ich mich den Zigeunern angeschlossen
und bin mit ihnen mitgezogen. Als ich dann erfuhr, dass sie auf dem Weg
hierher waren, habe ich mir gedacht, dass ich doch einige Goldstücke
mitgehen lassen könnte. Aber ich wollte Jean und ihre Sippe nicht
gefährden. Deshalb bin ich letzte Nacht erst bis zur Stadtmauer geritten
und habe mir einen unbewachten Teil der Stadtmauer zum rüberklettern
gesucht. Das war noch das schwierigste an der stanzen Sache!"
"Aber du hast es nicht gestohlen", wandte
Margos ein.
Taran lachte kurz und bitter auf. "Ich hatte
es schon förmlich in der Hand! Aber dann musste ich an Jean denken
und bin umgekehrt", sagte er dann. "Pech für mich, dass kurz danach
Alarm geschlagen wurde. Ich habe es gerade noch durch das Stadttor geschafft."
"Aber du hast das Schwert noch gesehen", fragte
Margos gespannt.
"Ja", bestätigte Taran. "Ich kann gut
verstehen, dass es jemand an sich bringen wollte. Ich habe noch nie so
große Edelsteine wie an diesem Schwertgriff gesehen."
"Habt ihr etwas herausgefunden?, fragte der
Hauptmann, als er sie wieder aus dem Kerker führte.
"Ich bin mir fast sicher, dass er das Schwert
nicht gestohlen hat", teilte Margos ihm mit. "Ich würde ihn jedoch
vorläufig lieber noch in seiner Zelle lassen. Falls ich mich doch
irre."
"Aber bringt ihn nicht zu eurem Folterknecht",
wandte Arwed ein. "Er hat es ganz gewiss nicht verdient, von ihm misshandelt
zu werden."
"Ich kenne keinen Zigeuner, dem eine kleine
Züchtigung nicht schaden würde", meinte der Hauptmann. "Aber
wenn ihr meint, dass er unschuldig ist, werde ich davon absehen. Wir sehen
uns dann beim Abendessen", verabschiedete er sich, als sie wieder im Freien
standen.
"Mit was spielst du da eigentlich die ganze
Zeit herum", wollte Margos wissen, während sie auf ihr Zimmer gingen.
"Das habe ich heute Morgen gefunden", sagte
Arwed und reichte ihm ein kleines längliches Schmuckstück aus
Silber, das er an ein Lederband gebunden hatte und um den Hals trug. Auf
der einen Seite war ein seltsames Symbol eingeritzt und auf der anderen
standen eigenartige Zeichen. Sie glichen einer Schrift, doch er konnte
nicht ausmachen, um welche es sich handelte.
"Behalte es einmal", schlug Margos vor. "Vielleicht
meldet sich jemand, der es verloren hat."
"Denkst du wirklich das Arwed unschuldig ist?"
fragte Arwed, als sie weitergingen.
"Was er gesagt hat, klang recht einleuchtend",
urteilte Margos. "Was sollte er alleine mit einem so bekannten Schwert
anfangen? Wir müssen nach einer anderen Möglichkeit suchen! Nach
einen neuen Eingang in die Schatzkammer suchen."
"Weißt du," sagte Arwed, "ich habe mir
auch so meine Gedanken gemacht. Und wenn ich es recht bedenke, muss unser
Dieb kurz nach Taran und vor dem Schatzmeister zugeschlagen haben." Margos
nickte. "Wenn er aus einem Geheimgang an den Wänden gekommen wäre,
hätte man es durch verrutschte Truhen sehen müssen", sprach Arwed
weiter. "Also muss er eigentlich durch die Eingangstür gekommen sein."
"Aber dort saßen doch die Wachen", wandte
Margos ein.
"Ja, aber ich habe mir folgendes überlegt",
begann sein Freund. “Es ist vielleicht gewagt, aber könnte nicht der
Schatzmeister...? Ich meine, er ist alleine in die Schatzkammer gegangen."
"Die Wachen hätten doch gemerkt, wenn
er es mit nach draußen genommen hätte", meinte Margos.
"Und was ist, wenn er es gar nicht mit hinaus
genommen hat? Er ist reingegangen, hat es hinter eine der Truhen gelegt
und hat herum geschrieen", vermutete Arwed. "Die Wachen sind rein, haben
das Schwert nicht mehr gesehen und haben Alarm geschlagen. In der Zeit
war er ganz alleine und konnte es seelenruhig wegschaffen."
"Das klingt einleuchtend", sagte Margos. "Aber
ich würde es noch nicht so laut herum schreien. Vielleicht können
wir beim Abendessen einmal mit ihm reden."
"Ihr habt also den Dieb geschnappt", stellte
der Bruder des Königs anerkennend fest. Er saß dem König
gegenüber und lachte sie freundlich an. Er war heute erst wegen den
Festlichkeiten aus dem Norden des Landes angereist.
"Wir haben dem Hauptmann nur ein wenig geholfen",
sagte Margos leicht bescheiden. Für ihn und Arwed war es eine große
Ehre, mit dem König und seinen wichtigsten Männern am Tisch speisen
zu dürfen. Bis auf den Stadthalter waren alle anwesend.
"Nur nicht so bescheiden", meinte der König.
"Es ist nur schade, dass wir immer noch nicht wissen, wo sich das Schwert
befindet."
"Ich habe die Stadt bereits das zweite Mal
durchsuchen lassen", teilte ihnen der Hauptmann mit verkniffenem Gesichtsausdruck
mit.
"An euren Bemühungen ist sicherlich nichts
auszusetzen", versuchte ihn der Schatzmeister zu beruhigen. "Die Sache
ist uns allen doch unerklärlich", meinte er und strich sich seinen
Hemdkragen zurecht.
"Ich werde der Prinzessin alles erklären
und hoffen, dass sie nicht gleich wieder abreist", seufzte König Severin.
"Es war ein großer Vertrauensbeweis ihrerseits, dass sie uns das
Schwert schon im Voraus anvertraut hat. Ich kann von Glück sagen,
wenn sie Verständnis zeigt und es nicht zum Krieg kommt."
"Wir sind für einen Krieg gut gerüstet",
meinte sein Bruder. "Nur wird gegen unsere Streitmacht wenig unternehmen
können."
"Es wäre mir trotzdem lieber, einen Krieg
zu vermeiden", sagte der König. "Geht es euch nicht gut", fragte er
Barak besorgt.
Der Schatzmeister sah recht bleicht aus und
tastete seine Brust mit der Hand ab.
"Die ganze Sache ist mir wohl etwas auf den
Magen geschlagen", sagte Barak und stand langsam auf. "Ich werde mich zurück
ziehen und etwas hinlegen."
Der Bruder des Königs schaute ihm recht
eigenartig hinterher.
"Den Ärmsten muss der Diebstahl wirklich
sehr mitgenommen haben", meinte der Hauptmann. "Als ich heute Nacht gleich
nach dem Alarm in die Schatzkammer kam, habe ich mich noch gewundert, dass
er alles so gelassen aufgenommen hat. Wahrscheinlich wird ihm die Tragweite
von allem erst jetzt richtig bewusst."
"Es passt alles nicht mehr zusammen", sagte
Arwed und ließ sich auf sein Bett fallen. "Barak kann es nicht gewesen
sein, wenn ihn der Hauptmann noch in der Schatzkammer gesehen hat."
"Er hatte also keine Möglichkeit, das
Schwert wegzuschaffen", folgerte Margos. "Dann muss er es in der Kammer
versteckt haben!"
Arwed setzte sich wieder auf. "Du meinst,
zuerst stellt er es hinter eine Truhe, schreit dann den Wachen und spielt
den Entsetzten", schloss Arwed. "Die Wachen sehen das Schwert nicht mehr
an seinem Platz und alarmieren die Anderen. In der Zwischenzeit ist Barak
allein in der Schatzkammer und versteckt das Schwert an einem sicheren
Ort."
"So könnte es gewesen sein", bestätigte
Margos.
"Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum
er es gestohlen hat", sagte Arwed.
"Wahrscheinlich hat man ihm auch Geld dafür
geboten", vermutete Margos. "Die Frage ist nur, wie wir beweisen, dass
er der Dieb ist."
"Wir müssen das Schwert finden", meinte
Arwed. "Wenn es noch in der Schatzkammer ist, haben wir Recht und Barak
kommt als einziger für den Diebstahl in Frage."
"Dann lass uns zum König gehen und nach
den Schlüsseln fragen", schlug Margos vor.
Sie hatten die Gemächer von König
Severin noch nicht erreicht, als sie jemanden um Hilfe rufen hörten.
Der Stadthalter kam mit weit aufgerissenen Augen aus einem Zimmer gestürmt.
"Barak", er packte Arwed unsanft an den Schultern
und starrte ihn mit wirrem Gesichtsausdruck an. "Er ist tot! Tot... einfach
tot", stammelte er immer wieder.
Margos betrat den Raum, indes beruhigte Arwed
den Stadthalter. Barak lag am Boden, das Gesicht grässlich verzerrt,
Mund und Augen entsetzt aufgerissen. Ein kleiner Tisch war umgeworfen.
Vermutlich hatte er sich an diesem während des Sturzes aufstützen
wollen. Margos´ Blick blieb an einem Becher haften, der auf dem Teppich
lag. Die meiste Flüssigkeit hatte sich über den Teppich ergossen,
ein kleiner Rest befand sich jedoch noch im Kelch. Vorsichtig stellte er
das Gefäß an einen sicheren Ort und schaute sich weiter um.
"Was ist hier vorgefallen?" Der Hauptmann
stand im Zimmer. Sein Blick richtete sich auf Barak. "Ist er... tot?"
"Der Stadthalter hat ihn gefunden", klärte
Margos ihn auf. "Er muss kurz zuvor aus dem Becher getrunken haben", er
wies auf den Kelch.
"Ich werde mich um alles weitere kümmern",
versicherte der Hauptmann ihm. "Jemand sollte allerdings den Stadthalter
nach Hause bringen. Der arme Mann ist völlig durch einander.
"Das machen wir", bot Margos sich an.
Das Haus des Stadthalters lag nahe dem Palast.
Seine Frau schien ebenfalls bestürzt über den Tod des Schatzmeisters
zu sein. "Die beiden waren schon seit Jahren befreundet", erklärte
sie ihnen und bedankte sich immer wieder dafür, dass sie ihren Mann
nach Hause gebracht hatten.
"Er wollte sich nach Baraks Befinden erkundigen",
meinte Arwed, als sie auf dem Rückweg waren. "So habe ich das jedenfalls
verstanden. Außerdem hätten sie die Schachpartie vom Vorabend
noch zu Ende spielen müssen."
Margos nickte. Ihm war das angefangene Spiel
in Baraks Zimmer aufgefallen.
"Barak hat ihn herein gelassen", fuhr Arwed
fort. "Und dann ist er wohl gleich tot umgefallen."
"So einfach stirbt niemand", wandte Margos
ein.
"Dann meinst du, dass man ihn ungebracht hat?"
fragte Arwed.
"Überlege doch einmal", forderte Margos
ihn auf. "Barak war der Einzige, der die Gelegenheit dazu hatte, das Schwert
verschwinden zu lassen. Und wir vermuten, dass er dafür bezahlt wurde."
"Dann ist sein Auftraggeber der Mörder."
"Höchstwahrscheinlich", sagte Margos.
"Es wird ihm nicht besonders gefallen haben, dass außer ihm noch
jemand wusste, wo das Schwert ist."
"Und was machen wir jetzt?" fragte Arwed.
"Wir gehen zum König und bitten ihn um
die Schlüssel zur Schatzkammer", meinte Margos.
"Mein Schatzmeister soll damit zu tun haben...?"
Der König schien alles andere als überzeugt zu sein.
"Er hatte als einziger die Möglichkeit,
das Schwert zu entwenden", betonte Margos noch einmal. "Ihm stand die Schatzkammer
immer offen."
"Außerdem ist er ja ermordet worden",
ließ sich Arwed vernehmen.
"Wahrscheinlich hat ihm jemand Gift in den
Wein getan", vermutete Margos.
Der König nickte zustimmend. "Meine Ärzte
sind der gleichen Ansicht. Der Ärmste hatte wohl eine ganz schwarze
Zunge. ...und das Schwert ist noch immer in der Schatzkammer?"
"Wenn wir mit unserer Vermutung richtig liegen",
sagte Margos.
"Dann sollten wir es dort suchen", meinte
der König und schritt ihnen voraus.
"Oh mein Gott!" König Severin blieb fassungslos
stehen. Die Tür der Schatzkammer stand offen, die Wachen lagen regungslos
am Boden. Margos rannte an ihm vorbei in die Kammer; dort bot sich ihm
ein Bild der Verwüstung. Sämtliches Geld und Schmuckstücke
waren achtlos aus den Truhen geschüttet worden.
Vom Gang hörte er den König nach
den Wachen rufen. Arwed trat neben ihn. "Alle tot", meinte er knapp.
Margos trat wütend gegen die Wand. "Wir
waren zu spät! Es war die ganze Zeit über hier und wir... Wenn
wir nur ein kleines bisschen früher... Nur ein wenig! Wir hätten
ihn schnappen können!"
"Haben wir aber nicht", meinte Arwed nüchtern
und klopfte seinem Freund auf die Schulter.
"Was denkst du, wird die Prinzessin machen,
wenn sie weiß, dass ihr Schwert verschwunden ist?" wollte Arwed wissen.
Prinzessin Regula war gegen Mittag in der Stadt angekommen und befand sich
gerade bei König Severin.
"Sie könnte es als Vertrauensbruch ansehen",
meinte Margos. "Immerhin hat sie das Schwert dem König anvertraut...
Vermutlich reist sie dann sofort wieder ab; womöglich kommt es auch
zu einem Krieg. Nur ist ein kleines, aber durchaus stolzes Land."
"Aber Nur kann diesen Krieg niemals gewinnen",
wandte Arwed ein. "König Severin hat ein viel größeres
Heer."
"Das wird Prinzessin Regula auch bewusst sein",
stimmte Margos ihm zu. "Deshalb wird sie es wohl dabei belassen, dass sie
abreist und König Severin nicht heiratet. Aber wir sollten abwarten,
was bei dem Gespräch zwischen dem König und der Prinzessin heraus
kommt."
Es klopfte. Vor der Tür stand ein recht
schmächtig wirkender Diener. "Seid ihr Margos?" fragte er.
"Der bin ich", sagte Margos, der die Tür
geöffnet hatte.
"Ich soll euch zum König bringen", meinte
der Diener. "Euren Begleiter ebenfalls."
"Weißt du, was der König von uns
will", fragte Arwed leise, während sie hinter dem Dienstboten hergingen.
Margos schüttelte den Kopf. Eigentlich
müsste König Severin noch bei Prinzessin Regula sein; danach
wollte er seinen Männern berichten, was er mit ihr besprochen hatte.
Der Diener führte sie in einen abgelegeneren
Teil des Schlosses und öffnete ihnen schließlich eine der Türen.
"Margos! Wie schön das ihr gleich kommen
konntet", begrüßte sie der König. Er schien ausgesprochen
guter Laune zu sein. "Darf ich euch vorstellen", sprach er weiter und wies
auf einen der hohen Lehnsessel. "Prinzessin Regula von Nur."
Die Prinzessin erhob sich aus dem Sessel.
Sie war nicht besonders groß und von eher zierlicher Gestalt, die
blonden Haare hingen ihr lose über die Schultern; doch das bezauberndste
an ihr war ihr Lächeln, das sie auf den Lippen hatte.
"Ihr seid also die Männer, die sich so
sehr um mein Schwert bemüht haben", meinte sie nach der höfischen
Begrüßung.
"Es ist nur bedauerlich, dass wir es letzten
Endes doch nicht finden konnten", seufzte Margos.
"Soll ich euch etwas verraten?" Prinzessin
Regula begann zu kichern. "Aber es muss unter uns bleiben! Seit ich dieses
Schwert das erste Mal sah, habe ich mich gefragt, warum ausgerechnet dieses
schreckliche Ding Nurs Wahrzeichen ist."
"Dann... soll das heißen...", stammelte
Margos.
"Ich bin heilfroh, dass ich dieses Schwert
nicht mehr sehen muss", sagte die Prinzessin mit einem Lächeln. "Natürlich
gilt das nur für mich", fügte sie schnell hinzu. "Für mein
Volk wird es sicherlich ein schwerer Verlust sein."
"Und die Hochzeit...?" fragte Arwed.
"Findet wie geplant morgen statt", antwortete
König Severin. "Wir beide sind uns einig, dass derjenige, der das
Schwert gestohlen hat, damit die Hochzeit verhindern wollte. Und diesen
Gefallen wollen wir ihm nicht auch noch tun."
"Aber jetzt haben wir genug von uns erzählt",
meinte die Prinzessin. "Jetzt seid ihr dran!"
"Prinzessin Regula wollte eigentlich von euch
wissen, wie ihr auf den Gedanken gekommen seid, dass das Schwert noch in
der Schatzkammer sein soll", erklärte der König, als Margos und
Arwed ihn recht fragend anschauten.
"Eigentlich hatte ja Arwed die Idee", begann
Margos. "Doch wir sollten von vorne anfangen."
So erfuhr Prinzessin Regula von dem geheimen
Gang über der Schatzkammer, von Tarans Verhaftung, Baraks Tod und
schließlich von der verwüsteten Schatzkammer.
"Wie konnte Baraks Mörder eigentlich
in die Schatzkammer gelangen", wollte die Prinzessin schließlich
wissen, als Margos am Ende angelangt war. "Er brauchte doch die drei Schlüssel."
"Wir vermuten, dass Barak irgendwann eine
Nachbildung der Schlüssel machen ließ", sagte Arwed.
"Und wißt ihr auch, wie der Mörder
in Baraks Zimmer kam?" fragte sie weiter. "Ich meine, wenn Barak dem Stadthalter
noch die Tür öffnen konnte, dann muss er erst kurz zuvor vergiftet
worden sein."
"Das ist richtig", stimmte Margos ihm zu.
"Aber darüber haben wir uns ehrlich gesagt noch gar keine Gedanken
gemacht."
"Vielleicht gibt es einen Geheimgang", vermutete
Arwed. "Wenn ihr wollt, können wir danach suchen", schlug er der Prinzessin
vor.
"Würdet ihr das tun?" fragte Prinzessin
Regula begeistert. "Ihr müsst mir sofort erzählen, wenn ihr etwas
Neues heraus gefunden habt", forderte sie beide auf.
"Am besten, wir suchen zuerst die Wände
ab", schlug Margos vor. "Das Zimmer des Schatzmeisters war noch im gleichen
Zustand wie am Tag zuvor. Der Tisch lag immer noch auf dem Boden, sogar
der Becher stand noch immer dort, wo Margos ihn abgestellt hatte. Nur Baraks
Leiche war beiseite geschafft worden.
"Die ganze Wand klingt hohl", meinte Arwed,
der die Wand gegenüber der Tür abklopfte. "Nur, wie kommt man
hinter die Wand?"
"Es muss irgendwo eine Tür geben, einen
Wandteil, der sich bewegen läßt."
Mit vereinten Kräften stemmten sie sich
immer wieder gegen die Wand, aber nicht ein einziger Stein gab unter ihrem
Gewicht nach. "Vielleicht gibt es einen Mechanismus, der die Tür öffnet."
"Ein was...?" fragte Arwed verständnislos.
"Eine Art Hebel", erklärte Margos ihm.
"Ein Stein, der sich nach innen drücken läst, oder irgend etwas
anderes, das bewirkt, dass sich die Geheimtür öffnet."
"Und du denkst wirklich, dass wir so etwas
finden?"
"Hier muss doch irgendetwas sein." Margos
ließ sich auf Baraks Bett fallen, das er gerade eingehendst untersucht
hatte.
"Wir haben jetzt jede dieser Wände abgeklopft
und so ziemlich an jedem Gegenstand in diesem Zimmer gedrückt und
geschoben", hielt Arwed seinem Freund vor Augen. "Hier ist beim besten
Willen nichts."
"Aber die Wand ist doch hohl", wandte Margos
ein.
"Am besten machen wir die Kerzen wieder aus
und gehen", meinte Arwed. "Ich will noch einmal bei den Zigeunern vorbei
schauen, bevor wir wieder an die Tafel des Königs müssen."
"Die Wandleuchter", schrie Margos und sprang
auf. "Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht!?"
Er zog an einem der Leuchter an der Wand und
tatsächlich, ein knarrendes Geräusch war zu hören und das
schwere Bücherregal bewegte sich ein kleines Stück nach vorne.
"Was habe ich dir gesagt...," lachte Margos,
griff nach der Kerze des Leuchters und schob das Regal noch weiter auf.
"Siehst du die Fußspuren im Staub?"
fragte Margos, als sie in dem engen Gang waren. "Hier ist jemand einmal
hin und zurück gelaufen."
"Ja, aber wohin ist er verschwunden?" wollte
Arwed wissen, als sie am Ende des Ganges standen. Margos machte sich an
den Steinen zu schaffen. Auch dieses Mal öffnete sich die Tür
wieder durch einen Mechanismus.
"Das Zimmer von unserem Mörder", meinte
Margos, als sie den großen Raum betraten.
"Aber... aber das ist doch", stammelte Arwed
fassungslos.
"Und das ist höchst wahrscheinlich die
Flasche mit dem Gift!" Margos hatte den Schrank geöffnet und eine
halb volle Flasche heraus geholt. "Komm mit", forderte Margos seinen Freund
schließlich auf. "Ich hab eine Idee, wie wir ihn vor dem König
entlarven können."
Alle waren anwesend! Prinzessin Regula genoss
die volle Aufmerksamkeit der Männer um sie herum. Der Bruder des Königs
beglückwünschte sie zur bevorstehenden Hochzeit, der Hauptmann
versicherte ihr eins ums andere Mal, wie leid ihm der Verlust ihres Schwertes
täte und der Stadthalter schilderte den Ablauf des morgigen Festtages
in den prächtigsten Farben. Keiner achtete auf Arwed und ihn; und
genau damit hatten sie gerechnet.
"Ist es nicht wunderbar, dass alles so eine
gute Wendung genommen hat?" begann Margos, als für einen Moment Ruhe
am Tisch herrschte. "Gestern noch saßen wir mit sorgenvoller Miene
an diesem Tisch und sprachen über einen möglichen Krieg. Und
heute..." Margos stand auf und wies auf Prinzessin Regula. "Welch liebreizendes
Geschöpf beehrt unsere Runde mit ihrer Anwesenheit." Alle Augen richteten
sich auf die Prinzessin. "Last uns trinken, auf diesen besonderen Tag!"
Arwed sprang auf, eilte zu einem kleinen,
abseits gelegenen Tisch und holte Gläser und eine Flasche Wein hervor.
Während Arwed die Gläser verteilte, hielt Margos die Flasche
gut sichtbar in die Höhe.
"Dies ist ein besonders guter Jahrgang", sprach
er weiter und gab Arwed die Flasche zum ausschenken. "Last uns trinken",
meinte er, als Arwed wieder neben ihm war. "Auf Prinzessin Regula", rief
Margos und trank einen kräftigen Schluck.
"Auf die Prinzessin", riefen die andren und
tranken ebenfalls.
"Wollt ihr nicht auch auf das Wohl der Prinzessin
trinken?" fragte Margos den Bruder des Königs. Alle Augen richteten
sich auf ihn. "Oder bekommt euch der Wein nicht ?"
"Ga... ganz recht", stotterte der Bruder des
Königs. "Mir ist heute etwas unwohl. Deshalb dachte ich..."
"Oh", unterbrach Arwed ihn. "Ist euch beim
Anblick der Flasche schlecht geworden?"
"Ich denke, wir müssen dem König
unser Verhalten erklären", meinte Margos. "Arwed und ich entdeckten
heute einen Geheimgang, der in Baraks Zimmer führte. Im Gang befanden
sich frische Fußspuren, die vom Zimmer eures Bruders in das des Schatzmeisters
und zurück führten. Aber damit nicht genug! Wir fanden ebenfalls
im Zimmer eures Bruders diese Weinflasche. Allerdings war sie nicht mit
diesem Wein gefüllt, sondern mit Gift. Dem gleichen Gift, an dem Barak
und die Wachen vor der Schatzkammer gestorben sind."
"Lügner", schrie der Bruder des Königs
und sprang entsetzt auf. "Das sind doch alles nur Beschuldigungen. Weshalb
sollte ich so etwas tun?"
"Um selbst König zu werden", meinte Arwed.
"Ihr habt damit gerechnet, dass es nach dem Verschwinden des Schwertes
zum Krieg gegen Nur kommen würde. Im Krieg sterben viele, womöglich
auch ein König. Man muss es nur geschickt anstellen. Außerdem
war euch die Hochzeit allein ein Dorn im Auge. Wenn der König verheiratet
ist, geht seine Frau nach seinem Tod in euren Besitz über. Und was
wollt ihr mit einem kleinen Land wie Nur? Es gibt viel größere
und reichere Länder in die man einheiraten könnte. Mit diesem
Diebstahl hättet ihr zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könne."
Es war still im Saal, alle schauten auf den
Bruder des Königs.
"Ist das wahr?" fragte ihn der König
schließlich.
"Du bist unfähig, dieses Land zu regieren",
kam es erregt über die Lippen seines Bruders. "Du warst es schon immer
und du wirst es auch immer sein. Du könntest dieses Land um ein vielfaches
vergrößern und was tust du! Heiratest in eine Land ein, das
nur Verluste bringt. So etwas heiratet man nicht, man tötet es!" Den
letzten Satz hatte er mitsamt seinem Dolch auf die Prinzessin geschleudert.
Im selben Moment, in dem er seinen Dolch losließ, traf ihn der des
Hauptmann mit voller Wucht an der Schulter.
Prinzessin Regula begann zu schreien. Der
Dolch hatte nur um haaresbreite ihren Hals verfehlt. Die Türwachen
stürmten in den Speisesaal.
"Abführen!" befahl der Hauptmann, und
wies auf den Bruder des Königs.
"Wartet", rief Arwed, als die Wachen den Verletzen
schon gepackt hatten. "Wo ist das Schwert? Wo habt ihr es hingebracht?"
Der Bruder des Königs schaute Arwed für
einen Moment mit einem seltsamen Blick an, dann begann er zu lachen. "In
der Schatzkammer", meinte er. "Mir ist nur unbegreiflich, wie ein mannshohes
Schwert so schwer zu finden ist."
Langsam hatte sich der Aufruhr im Schloss gelegt.
Prinzessin Regula hatte sich vom ersten Schock erholt und auch der König
schien einigermaßen wohlauf zu sein. Sein Bruder verbrachte die Nacht
gut gesichert im Kerker und würde dort auch bis auf weiteres bleiben.
"Das sind übrigens die nachgemachten
Schlüssel", teilte ihnen der Hauptmann mit, als sie ihn gegen Mitternacht
noch auf dem Schlossgang trafen, und zeigte ihnen die drei aus Eisen gegossenen
Schlüssel.
"Könnten wir sie bis morgen früh
haben?" fragte Margos. "Ich würde gerne noch einmal in der Schatzkammer
nach dem Schwert suchen und möchte König Severin heute nicht
mehr um die Schlüssel bitten."
Der Hauptmann nickte und gab ihnen die Schlüssel.
"Der Abend war schlimm genug für ihn und die Prinzessin."
"Weshalb willst du den jetzt noch nach dem
Schwert suchen?" fragte Arwed. "Reicht es dir nicht, was wir heute angerichtet
haben?"
"Wer hätte denn ahnen können, dass
er die Prinzessin töten will?" verteidigte Margos sich. "Außerdem
war das die einzige Möglichkeit, ihn dingfest zu machen. Und wenn
das Schwert, wie er gesagt hat, immer noch in der Schatzkammer ist, dann
müssen wir es auch finden können!"
"Dann sollten wir mal suchen", meinte Arwed
und begann in einer der Kisten zu wühlen.
"In den Truhen ist es nicht", teilte Margos
ihm mit. "Dort hat man bereits gesucht. Außerdem sind die meisten
Kisten zu klein, um das Schwert darin zu verstecken. Das Ding muss mindestens
so hoch wie dieses Kreuz sein", meinte Margos und wies auf das Kreuz von
Alsu.
"Vielleicht ist es ja in dem Kreuz versteckt",
riet Arwed.
Margos schüttelte den Kopf. "Ein Kreuz
wird aus zwei Balken gezimmert. Weshalb sollte jemand einen Hohlraum hineinbauen?"
"Um es leichter zu machen", sagte Arwed. "Das
erleichtert den Transport und..."
"Du hast Recht", stimmte Margos ihm zu. "Du
musst wissen, dass das Kreuz in der Klosterkirche von der Decke hing. Es
wurde nur von Seilen gehalten." Margos untersuchte das Kreuz auf irgend
welche Riegel, durch die es sich öffnen ließ. "Nichts", meinte
er schließlich.
"Und was ist das hier?" Arwed wies auf ein
schmales eckiges Loch in der Goldverkleidung. "Vielleicht ein Schloss oder
so ein... Mechanisdings."
"Ein Schloss", stimmte Margos ihm zu. "Aber
wo ist der Schlüssel? Es muss etwas schmales, längliches sein."
"So etwas wie das ihr?" Arwed hielt ihm seine
Kette vor die Nase, das kleine Schmuckstück, das er gefunden hatte,
würde genau in das Kreuz passen. Arwed streifte sich die Kette vom
Hals und steckte das Schmuckstück in das Schloß. Es gab nicht
einmal ein Geräusch von sich, als das Kreuz sich öffnete.
Da lag es, das Schwert von Nur, ein Meisterwerk
der Schmiedekunst. Der Knauf bestand aus einem einzigen großen Rubin,
Schwertgriff und Parierstange waren mit Diamanten und Edelsteinen besetzt
und im Hohlschliff der Klinge war feinster Lapis eingesetzt worden.
"Jetzt verstehe ich, was die Prinzessin gemeint
hat", sagte Arwed. "Nur ist ein kleines Land, das wenig zu bieten hat.
Da passt dieses Schwert überhaupt nicht hin. Es zeigt einem jeden
Tag, dass man außer ihm nichts zu bieten hat."
Margos nickte. "Und was machen wir jetzt damit?
Ich meine, wir können es doch nicht einfach hier lassen."
"Willst du Prinzessin Regula die Freude auf
die Hochzeit noch einmal dämpfen? Sie ist doch froh, dass das Schwert
weg ist. Wir sagen morgen früh dem König bescheid und geben ihm
den Schlüssel. Dann kann er damit machen was er will."
"Das wird das beste sein", stimmte Margos
ihm zu.
"Weist du was, ich freue mich schon auf zu
Hause", sagte Arwed, als er die Tür der Schatzkammer hinter sich schloss.
"Dort ist es immer noch am schönsten."
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