Laß mich doch einfach Kind sein.
Ich bin noch nicht bereit...
Die Kleidung des Knaben ist zerschunden. Das
Hemd ist ein einziger Fetzen und taugt weder zum wärmen, noch um den
mageren Körper zu bedecken. Die Hose ist von Löchern übersäht
und das rechte Hosenbein hängt nur noch an wenigen Fäden. Das
Haar ist lang und verfilzt. Strähnig hängt es Ihm ins Gesicht,
dessen Züge hart und entschlossen drein blicken. Dies ist nicht mehr
das Gesicht eines Kindes. Es ist das eines Mannes in Seinen Augen funkelt
der Fanatismus der Erwachsenen. Von ihnen hat Er gelernt so zu sein. Blind
zu folgen.
Barfuß steht Er dort auf dem Feld. Neben
Ihm die anderen. Männer allesamt. Auch wenn viele von ihnen, wie Er
selbst, noch Kinder sind. Jeder von ihnen hat ein Schwert. Auch Er.
Seine kleinen Hände kaum in der Lage
den Schaft zu umschließen. Seine dünnen Arme kaum in der Lage
das Gewicht zu heben. Doch es klebt bereits Blut daran. Wie auch an Seinen
Händen.
Vor ihnen geht ein großer Mann auf und
ab. Er spricht zu ihnen. Macht ihnen Mut und stachelt sie an. Er ist ein
großer Krieger und ein großer Führer. Er spricht von Dingen
wie Freiheit, Ehre und Ruhm. Weiß er, was sie bedeuten ?
Sie alle jubeln ihrem Führer zu und letztendlich
dringt nur noch ein Wort aus ihren Kehlen. Sein Name. Auch der Knabe schreit.
Seine Augen glänzen und als die Armee auf den Feind zustürmt,
läuft auch Er los und schwingt Sein Schwert.
Noch nicht bereit mich aufzugeben.
Zu leben wie du.
Die Kammer ist klein und eng. Der wenige Platz,
den sie bietet, wird von Büchern und Schriftrollen eingenommen. Erleuchtet
wird der Raum von einer rußenden Kerze. Ein Fenster hat er nicht.
Dort im Halbdunkel sitzt eine Gestalt. Sie ist zusammengesunken und hat
die geröteten Augen mit eisernem Willen auf eine dicke Schrift mit
winzigen Buchstaben gerichtet. Kaum in der Lage, die Lider geöffnet
zu halten. Selbst für ihr alter und die mageren Zeiten ist die Gestalt
viel zu dünn. Ihre Haut ist bleich. Schon seit Monaten hat sie die
Sonne nicht mehr gesehen. Seit Monaten nichts anderes getan, als zu lesen.
Seit Monaten keine frische Luft mehr geatmet. Ein rasselndes Husten erschüttert
den zerbrechlich wirkenden Körper und unterbricht die drückende
Stille.
Für eine Weile erscheint es, als würde
die Gestalt ersticken. Immer wieder saugt sie die ungesunde, rußgeschwängerte
Luft in ihre Lungen. Doch das bringt keine Linderung. Macht den Husten
nur noch schlimmer.
Irgendwann ist es vorbei. Schwer atmend sitzt
sie zusammengesunken über dem Buch und stützt die Stirn auf ihre
Hände. Ihr Kopf schmerzt. Ebenso und vielleicht sogar noch mehr, schmerzen
ihre Augen. In ihren Lungen brennt es wie Feuer. Ihr Mund ist Trocken.
Jetzt erst fällt ihr auf, daß sie
schon seit dem Morgen keinen Schluck getrunken hat. Mühsam steht die
Gestalt auf und schiebt den schweren Stuhl zurück. Das gehen fällt
ihr schwer. Doch schafft sie es, sich bis zu dem Faß in der Ecke
zu schleppen und die Kelle in das abgestandene Wasser zu tauchen.
In diesem Moment öffnet sich die Tür
und ein großer Mann betritt den Raum. Mißbilligend sieht er
auf das kleine Mädchen herab.
"Habe ich dir erlaubt, deine Studien zu unterbrechen
?"
"Nein, Vater.", antwortet sie und senkt ihren
Blick.
"Dann setz dich wieder an deinen Platz und
lies weiter."
Resignierend hängt sie die Kelle wieder
am Rand des Fasses ein und folgt der Aufforderung des Mannes, sich wieder
hinzusetzen. Ein flüchtiger Blick an ihm vorbei, zur Tür hinaus
sagt ihr, daß es bereits Nacht ist.
"Du weißt genau, daß du viel lernen
mußt um später an der Universität studieren zu können.
Ich möchte keinen Dummkopf aufgezogen haben. Also mach dich wieder
an deine Studien. In einer Stunde werden ich wiederkommen und dich abfragen.
Wenn du deine Lektion gut gelernt hast, dann kannst du schlafen gehen."
Dann geht er wieder und schließt die
Tür hinter sich. Sehnsüchtig wandern die Augen des Mädchens
noch einmal hinüber zum Wasserfaß. Doch sie weiß, daß
ihr Vater Recht hat. Sie muß sich in Selbstbeherrschung üben
und weiter lernen. Nur so kann mal ein wertvoller Mensch aus ihr werden.
Nur für die Arbeit.
Nur für die Anderen.
Ein leises Stöhnen dringt aus seiner Kehle
als er das Gestell anhebt. Seine Schultern schmerzen und ein scharfes Stechen
durchschießt seinen Rücken. Doch seine kräftigen Muskeln
schaffen es auch dieses Mal wieder, die Last anzuheben. Rechts und links
hängen große, mit Wasser gefüllte Krüge an der stabilen
Holzstange. Das Holz drückt sich schmerzhaft in seine Schultern, doch
er wird auch dies ertragen. Er ertrug es immer.
"Bring das Wasser in Stollen sechzehn.", blafft
ihn die grobe Stimme des kräftigen Mannes an. "Und beeil dich. Anschließend
hilfst du den anderen beim Beladen der Loren."
Ohne ein Wort zu sagen dreht er sich um und
macht sich mit seiner schweren Last auf den Weg. Niemals hätte er
es gewagt, auf die Anweisungen des Mannes zu antworten, oder ihnen sogar
zu widersprechen. Es war ihn streng untersagt zu reden.
Stollen sechzehn war drei Meilen entfernt.
Drei Meilen unterirdischer Stollen und Gänge. Drei Meilen,, die er
diese Last schleppen mußte. Drei Meilen, auf denen er keine Pause
einlegen durfte. Als er sein Ziel endlich erreicht hatte wurde er bereits
von einer weiteren, unfreundlichen Stimme empfangen.
"Wo hast du so lange gesteckt ? Ich warte
schon eine halbe Ewigkeit auf das Wasser. Stell die Krüge dort ab
und dann sieh zu, daß du wieder an deine Arbeit kommst."
Gehorsam schreitet der Knabe an dem Mann vorbei,
um die Krüge abzustellen. Doch der Boden ist uneben und von Geröll
bedeckt. Plötzlich verliert er das Gleichgewicht und stürzt.
Verzweifelt versucht er sich mit einem Arm abzufangen. Doch die Last der
Krüge drückt ihn unerbittlich zu Boden. Er spürt, wie sich
ein spitzer Stein in seine Handfläche bohrt. Dann zerbricht sein Arm
unter dem Gewicht wie ein dünner Zweig unter einem Stiefel. Sein vom
Schmerz betäubter Geist nimmt noch wahr, wie die Krüge zerbrechen.
Das kalte Wasser ergießt sich über den Boden und durchtränkt
auch ihn. Doch das nimmt er nur am Rande wahr. Viel deutlicher ist die
wütend schreiende Stimme des Wärters und seine Peitschenhiebe.
"Steh auf, du Tölpel !", brüllt
er und schlägt immer wieder auf das Kind ein. Doch der Knabe steht
nicht auf. Er liegt nur da und starrt auf die anderen Sklaven, die sich
einfach abwenden und ihre Arbeit machen, als wäre nichts geschehen.
Und in seinen Gedanken ist nur noch für eine Sache Platz. Schlafen.
Nur noch schlafen.
Nicht mehr sein, wie ich bin...
Nur noch sein, wie sie mich haben wollen
Laß mich doch einfach nur ein Kind
sein...
Er sitzt auf der gleichen Bank wie jeden Tag
und blinzelt in die Sonne. Er mag die Sonne. Sie ist freundlich und spendet
ihm Wärme. Langsam streckt er die Hand empor, als wolle er sie greifen.
Er weiß, daß er es nicht kann. Trotzdem versucht er es. Fasziniert
beobachtet er die Strahlen die sich bilden, wenn er die Sonne fast völlig
mit der Hand verdeckt und nur noch ein kleines Stück der grellen Scheibe
zu sehen ist. Eine Weile sitzt er einfach nur so da und starrt hinauf und
dreht hin und wieder die Hand ein wenig. Doch dann wird ihm der Arm schwer
und er muß ihn wieder senken.
Lächelnd nimmt er die Schale, die neben
ihm steht und ergreift den Griff, der aus ihr herausragt. An dem Griff
ist ein Ring befestigt, den er selbst aus Draht gebogen hat. Er ist stolz
auf seine Arbeit. Sie ist nicht perfekt und der Ring ist auch nicht absolut
rund. Doch er hat ihn selbst gemacht. Und das macht ihn zu etwas besonderem.
Langsam taucht er den Ring wieder in die Schale und rührt ein paar
mal darin herum. Dann zieht er ihn wieder heraus. Zufrieden stellt er fest,
daß die Lauge gut gemischt ist. In dem Ring hat sich eine in allen
Regenbogenfarben schillernde Fläche gebildet, die sanft im Wind vibriert.
Vorsichtig bläst er durch den Ring und die schillernde Fläche
wölbt sich, bis sie plötzlich abreißt und sich zu einer
Blase schließt. Langsam schwebt die Seifenblase davon und funkelt
in der Sommersonne wie ein schwereloses Juwel. Er lacht und freut sich
über ihre Schönheit.
In diesem Moment kommen zwei junge Frauen
vorbei. Sie lachen und zeigen mit dem Finger auf ihn.
"Sieh dir den an !", ruft eine von ihnen viel
zu laut, um nur zu ihrer Freundin zu sprechen.
"Der hat sie nicht mehr alle !", sagt die
andere nicht leiser.
"Wie ein kleines Kind !"
Dann lachen sie wieder und verspotten ihn
noch eine Weile, bis es ihnen zu langweilig wird und sie endlich weitergehen.
'Lacht ihr nur.', denkt sich der Alte und
taucht den Ring mit zittriger Hand wieder in die Lauge.
'Was wißt ihr denn schon...'
.
Laß mich doch einfach Kind sein.
Ich bin noch nicht bereit...
Noch nicht bereit mich aufzugeben.
Zu leben wie du.
Nur für die Arbeit.
Nur für die Anderen.
Nicht mehr sein, wie ich bin...
Nur noch sein, wie sie mich haben wollen
Laß mich doch einfach nur ein Kind
sein...
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