Der Schiffsjunge von Takina dem Gobbo
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Für Miriam und Joker
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Der Junge rannte wie von Hunden gehetzt durch eine schmale Gasse. Der beißende Geruch brannte sich in seiner Nase fest. Die stickige, von Faulgasen durchzogene Luft, die er gierig in seine Lungen sog, ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Doch er zwang sich weiterzulaufen. Seine nackten Füße berührten den Boden kaum als er sich schon wieder abstieß und über einige Kisten sprang, die die Gasse versperrten. Er hetzte weiter auf das Ende der Gasse zu. Dort, wo die Schatten der Häuser sich im hellen Sonnenlicht verloren, lag der Hafen. Wenn er erst die Ladedocks erreicht hatte, dann gab es tausend Verstecke wo ihn niemand finden konnte. Er konnte die Meerluft bereits riechen als er den Boden unter den Füßen verlor und stürzte. Ein weiteres mal riß der Stoff seiner Hose. Wieder zog er sich tiefe Schürfwunden an den Ellenbogen und am Knie zu. Er unterdrückte einen überraschten Aufschrei und preßte eine Hand auf das blutende Knie. Hastig kauerte er sich in den Schutz eines umgefallenen Fasses und lauschte. Die aufgeregt schreienden Stimmen seiner Verfolger waren nicht mehr zu hören. Bis auf den vom Hafen herüber wehenden Trubel und das Schreien der Seevögel war es völlig still. Vorsichtig spähte er über den Rand des Fasses. Niemand war zu sehen. Er war ihnen endlich entkommen. Seltsam wie sehr sich die Reichen wegen der paar Münzen aufregen. Die haben doch wirklich genug davon.
Er lehnte sich zurück und Atmete tief durch. Als sich sein Herzschlag wieder einigermaßen beruhigt hatte und er wieder richtig Luft bekam kramte er den gestohlenen Geldbeutel aus seinen Westentasche hervor. Die Münzen, die er in ihm fand, hatte er allerdings noch nie zuvor gesehen. Wahrscheinlich würde er nicht viel dafür bekommen. Er stand auf, steckte den kleinen Lederbeutel wieder zurück in seine Tasche, zog sich die Hose zurecht, rückte die Weste gerade und versuchte so ruhig und normal wie möglich zu gehen. Die Schmerzen im Knie ließen ihn leicht humpeln, aber das würde nicht weiter auffallen. 
Seit 5 Jahren lebte der Junge nun auf der Straße und bestahl die Leute um zu überleben. Inzwischen hatte sich dabei eine gewisse Routine herausgebildet. Egal was er klaute, er versteckte sich immer im Hafen und saß dann lange dort um sehnsüchtig den Schiffen hinterher zu blicken. Später traf er sich dann mit einem Geldwechsler auf dessen Hinterhof. Der Kerl war ein Hehler und außerdem ein Schwein. Der Junge wußte das er jedesmal übers Ohr gehauen wurde, aber egal wie mies der Typ auch war, er verriet niemals jemanden. Das war das Wichtigste.
Er trat aus den Schatten hinaus in die Sonne. Es war als hätte er eine andere Welt betreten. Um ihn herum herrschte ein Trubel der seinesgleichen vergeblich suchte. Hafenarbeiter und Matrosen luden die Schiffe auf und ab. Kaufleute verhandelten lautstark mit den Kapitänen der großen Frachter und dem Verwaltern der Lagerhäuser und versuchten die Preise um ein paar Cent zu drücken. Spielmannsleute und Musikanten verdienten sich ihren zum größten Teil spärlichen Lebensunterhalt indem sie die Reisenden unterhielten. Käufliche Frauen buhlten um die Gunst der Seemänner. Fischer verkauften ihren Fang. Handwerker und andere Händler versuchten ihre Waren an den Mann zu bringen. Der Kapitän eines großen, gerade aus Afrika eingelaufenen Schiffs pries eine junge Sklavin als sehr anschmiegsam und tüchtig an. Der Hafen war zugleich auch Marktplatz, Richtplatz und beliebter Treffpunkt für Kinder und Alte. Die zahllosen Tavernen und Gasthöfe machten ihn zusätzlich noch zum idealen Ort für Arbeitsuchende, zogen allerdings auch allerlei zwielichtiges Gesindel an. 
Niemand nahm den Zwölfjährigen wirklich wahr. Er wurde herumgestoßen und zur Seite geschoben wie ein Straßenköter. Für die meisten Leute war er auch nicht mehr als das. Ein Straßenköter. Einige sahen ihn mißtrauisch an und hielten ihren Geldbeutel noch etwas fester umklammert. Das war die einzige Art der Aufmerksamkeit die er erwarten durfte und mehr erwartete er auch nicht. Er schlenderte an einem Verkaufsstand vorbei, ließ unauffällig einen Apfel in der Hosentasche verschwinden und drängelte sich anschließend mit Ellenbogeneinsatz durch die Menge. Die Schrammen spürte er dabei kaum noch, fing sich allerdings ein paar harte Stöße und Tritte ein. Dann kam er endlich an der Mauer an und kletterte nach oben. Dort angekommen setzte er sich auf den selben Platz wie immer, nahm den Apfel aus der Tasche und biß hinein. Er lehnte sich zurück ließ sich die Mittagssonne ins Gesicht scheinen und seine Gedanken um die ganze Welt kreisen. Er konnte das Meersalz in der Luft schmecken und stellte sich vor wie er am Ruder eines großen Viermasters stand und gegen einen gewaltigen Sturm ankämpfte. Nach einer Weile wurde er durch eine große Unruhe in der Menge aufgeschreckt. Er sah auf und bemerkte, daß sich die Menschen an einer Stelle zusammenrotteten. Das mußte er sich genauer ansehen. Der Junge sprang von der Mauer und drängelte sich wieder durch die Menge. Dabei trat man wieder nach ihm. Plötzlich sah er den Grund für die Aufregung. Ein großer Kreis hatte sich um zwei Männer gebildet. Der eine war eindeutig ein Schausteller. Seine Kleidung war bunt und unterstützte optisch seinen muskulösen Körper. Er hatte lange, rote Haare und einen genauso roten Bart. Der andere Mann hatte lange schwarze Haare und einen struppigen Schnurrbart. Er war gekleidet wie ein Seemann und der Hut, den er trug, wies ihn als Kapitän aus. Ein weiterer Mann stand in der Mitte des Kreises und schrie aus vollem Hals.
"Treten sie näher meine Damen und Herren! Versäumen sie nicht den Kampf des Jahres. Der Herausforderer in diesem Kampf ist Kapitän Pedroché aus dem sonnigen Spanien. Er tritt an gegen unseren bisher ungeschlagenen Champion William aus Schottland. Beide sind, wie sie unschwer erkennen können, wahre Hünen. Jeder von ihnen ist über 6 Fuß groß und wiegt über 250 Pfund. In wenigen Minuten werden sie ihre Kräfte messen um vor ihren Augen klarzustellen wer der stärkste ist. Um die Gemüter noch weiter aufzuheizen geht es in dieser Schlacht um eine beachtliche Summe Geld. Ich lasse nun meinen Hut herumgehen und bitte sie, meine Damen und Herren einen geringen Obolus zu entrichten, somit das Preisgeld weiter zu erhöhen und die beiden Gegner in diesem sportlichen Wettkampf noch weiter anzuspornen in diesen Kampf wirklich alles zu geben. Ich danke ihnen vielmals für ihre großzügigen Spenden. Der Kampf kann beginnen!"
Die beiden Männer umkreisten sich. Der Schotte schien seinen Gegner allein mit Blicken töten zu wollen. Der Spanier hingegen grinste ihn nur boshaft an. Dann schnellten beide vor. Kapitän Pedroché wehrte einen Schlag, den William gegen seinen Kopf geführt hatte, ab und rammte seinerseits die Faust in den Magen des Schotten. Der Rothaarige stieß einen Schrei aus und rang nach Luft. Trotzdem schaffte er es sich von seinem Gegner zu lösen. 
Er sprang zurück und rang nach Luft. 
Der Trubel, den die Menge verursacht hatte, war von einem Augenblick auf den anderen wie weggeblasen. Es herrschte Totenstille. Niemand hatte den Schotten jemals so in Bedrängnis gesehen.
William stand immer noch da und schnappte nach Luft. Eine Hand preßte er sich gegen den Bauch, mit der anderen stützte er sich auf seinem Knie ab. Auf seiner Stirn stand der Schweiß.
Der Spanier grinste immer noch. Mit einer lässigen Bewegung warf er einem seiner Männer seinen Hut zu und striff dann seine Jacke ab.
"Was ist los?", verspottete er den Schausteller:"Willst du schon aufgeben? Komm!"
Der Schotte richtete sich wieder auf. Dieses mal ging er seinen Angriff vorsichtiger an. 
Langsam tänzelte er auf seinen Gegner zu. Dieser erwartete ihn ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Der Rothaarige umkreiste den Spanier und täuscht mehrere schnelle Schläge an.
Kapitän Pedroché bewegte sich immer noch nicht. Nur seine Augen folgten den Fäusten.
Dann schlug William wieder zu. Wie ein Schatten schnellte seine Faust auf das Gesicht des Spaniers zu. Doch der fing sie einfach mit der offenen Hand ab und schlug selbst zu. 
Das Blut spritzte als die Knöchel seiner Faust das Nasenbein des Schotten zertrümmerten.
William schrie und bäumte sich auf. Ein weiterer Schlag traf ihn und schickte ihn zu Boden.
Kapitän Pedroché wand sich dem Anführer der Schausteller zu und nahm dem verblüfften Mann lachend den Geldbeutel aus der Hand.
"Leicht verdientes Geld.", spottete er:"Danke Rotschopf."
Mit diesen Worten griff er seine Jacke und verschwand in der Menge.
Der Junge folgte ihm unauffällig. 
In dem Beutel mußten mindestens 20 Pfund sein. Das war ein kleines Vermögen.
An der Planke, die auf das Schiff führte, blieb der Kapitän stehen und gab einem seiner Männer Anweisungen.
Der Junge erkannte seine Gelegenheit und schlenderte an ihm vorbei. Mit einer geübten Handbewegung griff er nach dem Lederbeutel. Doch kaum berührten seine Finger den Beutel, als er einen eisenharten Griff an seinem Handgelenk spürte. Kurzerhand hob der Spanier den Jungen hoch.
"Wen haben wir denn da? Wolltest du mir etwa mein Geld stehlen?"
Der Junge zappelte und versuchte sich aus dem Griff des Mannes zu befreien
"Was machen wir jetzt mit der kleinen Straßenratte?" fragte Kapitän Pedroché den anderen Seemann.
"Laß mich los du grober Klotz!", schrie der Junge den Spanier an und schlug nach ihm.
Der Kapitän lachte.
"Pedro der kleine Gauner gefällt mir. Wie heißt du kleiner?"
"Julian.", antwortete der Junge verblüfft.
"Ich habe auf meinem Schiff noch Verwendung für einen Schiffsjungen.",sagte der Kapitän:"Wenn du willst nehme ich dich mit. Wenn nicht werfe ich dich ins Wasser."
"Äh...",sagte der Junge.
"Also gut Kleiner. In zwei Stunden bist du auf der Santa Elysia."
Mit diesen Worten ließ er den Jungen los und ging zurück auf sein Schiff.

+ + +

Der Sturm peitschte die See auf und zerrte an den gerafften Segeln. Eine Welle nach der anderen überrollte das Deck.
Von irgendwo her drang ein Ruf durch das ohrenbetäubende Brausen.
"Julian!", schrie jemand.
"Julian! Junge wo bleibst du?"
Sich an den Rufen orientierend schleppte der Junge ein schweres Tau über das schwankende Deck. Die rauhen Hanffasern scheuerten seine Haut auf und das Salzwasser brannte in seinen Wunden.
Durch die Gischt sah er jemanden auf ihn zulaufen. Ein schwerer Brecher traf das Schiff und holte sie beide von den Beinen. Als sich der Junge wieder aufgerappelt hatte war der Mann bereits bei ihm.
"Komm!",sagte Antoine, nahm ihm das Tau ab und lief wieder zurück in die Richtung aus der er gekommen war. Julian folgte ihm so schnell er konnte.
Als er ihn einholte war der Mann gerade damit beschäftigt das letzte Segel festzubinden. 
"Halt das!" rief der Seemann dem Jungen zu und drückte ihm ein Ende des Seiles in die Hand:"Zieh jetzt so fest du kannst!"
Einige Handgriffe später richtete sich Antoine auf und zerrte den Jungen hinter sich her unter Deck.
"Das waren alle.",sagte er.
"Der Sturm ist ziemlich schwer. Glaubst du das Schiff hält?", fragte Julian.
"Die alte Elly hat schon schlimmeres überstanden."

+ + +

Das Wasser färbte sich rot als Antoine den Lappen in den Eimer tauchte und das Blut und das Salz aus ihm herauswusch. Vorsichtig tupfte er die Wunden auf den Schultern und dem Rücken des Jungen ab. 
Julian atmete scharf ein als das kalte Wasser das aufgescheuerte Fleisch berührte und biß die Zähne zusammen.
"Hast du nichts festeres als diese Weste zum Anziehen ?", fragte der Mann in Englisch aber mit starkem, französischen Akzent.
Antoine war der Steuermann und außer Julian der einzige Nichtspanier auf dem Schiff.
"Nein.", antwortete der Junge: "Mehr als das besitze ich nicht."
"Dann müssen wir uns im nächsten Hafen nach neuen Kleidern für dich umsehen.", sagte der Franzose und holte eine kleine Flasche aus seiner Tasche hervor. Er schraubte den Verschluß auf und tränkte den Lappen mit der Flüssigkeit:"Beiß die Zähne zusammen !"
Mit diesen Worten legte er den Lappen über die Wunden und der Junge zuckte zusammen vor Schmerzen. Tränen schossen ihm in die Augen.
"Was ist das für ein Zeug ?", preßte er hervor.
"Warum warst du da oben und nicht einer der Männer ?", fragte der Steuermann weiter ohne auf die Frage des Jungen zu antworten und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche.
"Kapitän Pedroché hat mich hoch geschickt, weil ich versehentlich den Putzeimer in seiner Kabine umgeschüttet habe." 
Antoine nahm den Lappen wieder von der Schulter des Jungen und verband ihn mit einigen sauberen Stoffstreifen. Der Franzose sah die blauen Flecken an den Rippen des Jungen. Er wußte, wie alle anderen auch, daß der Kapitän den Jungen schlug und trat wenn er seine Arbeit nicht hundertprozentig erledigte. Doch er sagte nichts. 
Als die Wunde versorgt war, warf er dem Jungen seine Weste zu.
"Achte darauf, daß du deine Arbeit besser machst. Diese Art von Strafe könnte dich eines Tages umbringen." 
Julian bedankte sich und legte sich schlafen. Der morgige Tag würde wieder sehr früh beginnen.

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Der Sturm hatte drei Tage lang getobt und sie weit von Kurs abgebracht. Als er sich endlich wieder gelegt hatten, waren die Sterne ihnen völlig unbekannt. In den zwei Wochen, in denen sie nun durch immer kältere Gewässer irrten, hatte sich die Stimmung der Mannschaft und des Kapitäns immer mehr verschlechtert. Selten riß die Wolkendecke so weit auf, daß man ein Sternbild hätte entdecken können. Und wenn tatsächlich einmal jemand eine ihm bekannte Konstellation sah, dann mußte er feststellen, daß sie wieder im Kreis gefahren waren. Die Winde und Strömungen schienen sich gegen sie verschworen zu haben.
An Bord gab es nur einen, an dem jeder seine Wut ablassen konnte. Der Knabe hatte Schmerzen am ganzen Körper, von den Tritten und Hieben, die er von jedem bekam, wenn er seine Arbeit nicht völlig fehlerlos oder zu langsam ausführte. Zudem fror er entsetzlich und kämpfte mit Fieber und Müdigkeit. Das Leben auf der Santa Elysia war die reinste Hölle.
Auch in dieser Nacht mußte Julian wieder arbeiten. Genau wie in den Nächten zuvor. Er schleppte die beiden Eimer mit Speiseresten ans Heck und lehrte sie über die Reling aus. Der Junge lehnte sich einen Augenblick an und ließ seine schmerzenden Arme baumeln. Er schloß die Augen. Hinter seiner Stirn pochte der Schmerz. Ihm war schwindelig. Doch auch diese Ruhepause war nur von kurzer Dauer. Schon schrie der Smutje nach ihm. Mit einem Seufzen nahm Julian die Eimer wieder auf und lief so schnell er konnte zurück in die Kombüse. Doch plötzlich strauchelte er und fiel lang auf die Planken. Die Eimer rollten aus seinem Sichtfeld und der Junge wimmerte vor Schmerzen. Wieder ein blauer Fleck und ein paar geprellte Knochen mehr. Er blieb liegen und schluchzte.

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Alles war still und das Deck bewegte sich nicht mehr unter der Kraft der Wellen. Der Wind wehte nicht mehr und obwohl der Himmel völlig bedeckt war, beleuchtete ein seichter Schimmer, wie vom Mondlicht, das Deck. Es herrschte dichter weißer Nebel. Trotzdem war es in den letzten Sekunden merklich wärmer geworden. Der Junge blickte auf. Durch den Tränenschleier sah es aus, als stünde die Nebelwand nur wenige Meter vor ihm wie eine feste Mauer auf den Planken. Langsam setzte Julian sich auf und sah sich um. Er hielt Ausschau nach dem Mann, der am Heck Deckwache hätte schieben sollen. Ein unangenehmer Bursche, der ihn äußerst schlecht behandelte. Er war nicht zu entdecken. Der Knabe horchte. Niemand rief nach ihm. Auch sonst waren keine Stimmen zu hören, was schon sehr ungewöhnlich war. Das Ungewöhnlichste allerdings war, daß er nicht einmal die Wellen hörte. Sollte er etwa taub geworden sein ? Er klopfte zur Probe auf die Planken und hörte ein dumpfes Pochen.
Julian stand auf, wischte sich die Tränen aus den Augen und legte den Kopf in den Nacken. Tief sog er die Nachtluft ein und genoß ihren salzigen Geschmack auf der Zunge. Erst jetzt bemerkte er, daß seine Schmerzen und das Fieber wie weggeblasen waren. Er fror nun auch nicht mehr. Statt sich unnötig darüber zu wundern, genoß er die Ruhe und schlenderte langsam über das Deck. Als er sich jedoch dem Nebel näherte, lichtete sich dieser nicht. Wie eine feste Wand stand er direkt hinter der Reling und weigerte sich zurückzuweichen. Zögernd streckte Julian die Hand danach aus und berührte ihn. Der Nebel war weich und gab etwas nach als er vorsichtig seinen Finger hinein stieß. Doch er bot ihm halt. Der Junge zögerte kurz und kletterte dann auf die Reling. Julian schloß die Augen. Ein kühles Lüftchen streichelte sein Gesicht. Er atmete zweimal tief durch. Der Junge fühlte sich leicht und frei. Er streckte einen Fuß vor und ließ sich fallen.

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Der Nebel war angenehm kühl unter seinen Füßen und das Laufen fiel dem Knaben leicht wie nie. Er rannte so schnell er konnte und genoß die Unbeschwertheit die ihn erfüllte, bis er sich erschöpft und völlig außer Atem fallen ließ. In der dichten, weichen Masse lag er wie auf Daunen gebettet.
Julian schloß die Augen und streckte alle Viere von sich. Völlig erschöpft aber glücklich lag er da und tat seit Wochen zum ersten Mal wieder Garnichts.

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Es kam ihm vor, als hätte er Stunden vor sich hin gedöst als plötzlich eine leise Flötenmelodie erklang. Verwundert stand der Junge auf und horchte um herauszufinden von wo die Klänge kamen. Dann lief er los. Auch als sein Atem nur noch rasselnd und unter Schmerzen aus seinen Lungen drang lief er weiter bis er sie sah.
Das Mädchen saß auf einem weichen Wolkenbett und spielte mit geschlossenen Augen eine traurige Melodie auf der Panflöte. Ihr langes, braunes Haar und das weiße Hemd wehten im Wind. Eine Träne rollte ihre Wange herunter.
Die Melodie und der Anblick dieses einsam erscheinenden Mädchens ließ Julians Herz schwer werden und ein Klos bildete sich in seinem Hals. Zögernd ging er auf sie zu. Um sie nicht zu unterbrechen stand er einfach da und betrachtete sie. Sie schien etwa in seinem Alter zu sein. Trotzdem war sie sehr klein und zierlich. Ihr Gesicht war schön anzusehen doch der Ausdruck unendlich tiefer Trauer, der auf ihm lag stach wie ein Pfeil in das Herz des Jungen. Dann endete ihr Spiel.
Das Mädchen atmete tief durch, legte die Flöte in den Schoß und blieb dann mit geschlossenen Augen sitzen.
"Hallo.", preßte Julian mit heiserer Stimme hervor.
Erschrocken fuhr das Mädchen zusammen, riß die Augen auf und starrte ihn an. Dann lächelte sie.
Wieder stand er einfach nur da und sah sie an. Doch diesmal blickte er in ihre tiefschwarzen, tränennassen Augen und verlor sich darin. Eine Ewigkeit lang blickten sie sich in die Augen.
Plötzlich erklang die Stimme einer Frau. Sie erklang nicht aus einer bestimmten Richtung sondern schien von überall zugleich zu kommen. Sie Rief nur ein Wort. Einen Namen.
Das Mädchen schlug wieder die Augen nieder und wandte sich von Julian ab.
"Es tut mir leid.", sagte sie.
Dann gab der Nebel unter seinen Füßen nach und er fiel.

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"Wie geht es dir ?", fragte Antoine.
Der Junge versuchte sich aufzurichten, sackte aber sofort wieder zurück als sein Kopf schmerzhaft zu pochen begann.
"Nicht gut."
"Kein Wunder, du hast hohes Fieber. Wie hast du das nur angestellt ?"
Julian verstand nicht was der Mann damit meinte.
"Ich habe dich aus den Netzen gezogen. Weißt du nicht wie das passiert ist ?"
Der Knabe schüttelte nur den Kopf.
"Du kannst froh sein, daß die Männer an dem Tag gefischt und die Netze zum Trocknen über die Reling gehängt haben. Sonst wärst du wahrscheinlich ertrunken."
Verwirrt sah Julian den Mann an.
"Wie lange habe ich denn geschlafen ?"
"Du hast zwei Wochen gefiebert. Der Kapitän wollte dich schon über Bord werfen, weil er Angst vor einer Seuche hatte."
Entsetzt weiteten sich die Augen des Jungen.
Antoine lachte.
"Keine Angst, das würde ich nie zulassen."
"Tut mir Leid, wenn du wegen mir Ärger bekommen hast.", sagte der Junge.
"So schlimm war es nicht. Dir schien es aber gar nicht gut zu gehen. Du hast immer wieder geweint und einen Namen gerufen. Ist alles in Ordnung mit dir ?"
"Welchen Namen ?", fragte Julian.
Der Mann setzte zu einer Antwort an, zögerte dann aber und runzelte die Stirn.
"Seltsam... ich habe ihn vergessen."

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Julian schreckte auf. Sofort pochte sein Kopf wieder vor Schmerzen und ließ den Jungen aufstöhnen. Schon wieder hatte ihn der selbe Traum gequält. Immer wieder lief er im Traum über den Nebel und suchte dieses Mädchen. Und wenn er sie endlich gefunden hatte, fiel er ins Bodenlose.
Wieder weinte er, als er vergeblich versuchte sich an ihren Namen zu erinnern.
Es dauerte eine Weile bis er sich wieder beruhigt hatte. Dann atmete er ruhig durch. Noch immer hatte er hohes Fieber und selbst das Atmen fiel ihm schwer. Trotzdem setzte er sich ganz auf und schwang die Beine aus der Hängematte. Er stand auf und bereute das sofort. Kaum hatte er sich aufgerichtet, drehte sich alles um ihn. Der Junge stürzte auf die Knie und fing sich mit den Händen ab. Ein Brechreiz stieg in ihm auf, doch Julian schaffte es, sich zusammenzureißen. Mehrere Minuten blieb er so am Boden sitzen und kämpfte um seine Selbstbeherrschung.
Als er so am Boden saß, bemerkte er, daß etwas anders war als sonst. Er hörte die Stimmen der Matrosen. Doch sie klangen anders. Aggressiver.
Auch in den zwei Wochen, in denen er bewußtlos war und in den drei Tagen, seit er wieder wach war, hatten sie ihren ursprünglichen Kurs nicht wieder aufnehmen können. Ihre Vorräte waren erschöpft und die Männer ernährten sich nur noch von rohem Fisch. Viele von ihnen waren tuberkulosekrank und der Durst trieb sie dazu, Salzwasser zu trinken. Auch Julian hatte großen Durst.
Einige der Seeleute behaupteten der Junge sei schuld an allem. Sie sagten, daß erst als er an Bord kam, alles schief lief. Sie behaupteten, er bringe Pech.
Langsam stemmte Julian sich wieder auf die Beine und machte sich auf den Weg hinauf an Deck.

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Antoine hustete Blut aus. Seine Hände klammerten sich um den Griff des Messers, das in seiner Brust steckte. Der Franzose lag auf den Planken und starrte entsetzt auf das Massaker um ihn herum. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Angst und Unsicherheit der Mannschaft in Gewalt umschlug. Doch das, was er hier sah übertraf alles was er erwartet hatte. Männer, die zuvor gute Kameraden waren schlugen und stachen aufeinander ein und versuchten sich gegenseitig zu töten. Die Meuterei war innerhalb von wenigen Minuten in ein sinnloses Gemetzel ausgeartet.
Wieder fiel einer der Männer blutend zu Boden. Es war der Smutje. An Bauch uns Hals hatte er tiefe Stichwunden und in seinem Rücken steckte ein großes Messer. Ein anderer Mann wurde über Bord geworfen. Wieder hustete Antoine. Das Messer, das der Kapitän ihm in die Brust gerammt hatte, arbeitete sich schmerzhaft weiter in seinen Körper. Die Schmerzen waren unerträglich. Mit letzter Kraft drehte der Steuermann sich auf die andere Seite und sah befriedigt, daß auch Kapitän Pedroché mit einer tödlichen Wunde zusammensackte. Dann starb der Franzose.

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Julian stemmte seine Schulter gegen das Holz der Tür. Irgend etwas blockierte sie und hinderte den Jungen daran, an Deck zu kommen. Doch schließlich schaffte er es die Tür aufzubekommen. Entsetzt schrie er auf, als er sah was die Tür blockiert hatte. Er kannte den Mann. Es war Julio. Er war einer von denen, die Freude daran gefunden hatten, ihn zu quälen. Trotzdem hatte er ihm ein solches Ende nicht gewünscht. Vorsichtig drückte der Junge sich an dem Toten vorbei.
Der Anblick des Decks war schrecklich. Überall lagen die leblosen Körper von Matrosen herum. Blut bildete große Lachen und aus allen Richtungen konnte man das Stöhnen der Sterbenden hören.
Das alles kam ihm vor wie ein schrecklicher Alptraum. Vor Entsetzen nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen, stolperte und taumelte der Junge vorwärts und hielt sich so gut er konnte an allem fest, was ihm Halt bot. Ein dumpfer Schmerz pochte in seinem Kopf und die Fieberschleier vor seinen Augen verstärkten den Eindruck, in einem grausamen Alptraum gefangen zu sein.
Dann sah er Antoine. Der Körper des Franzosen lag zusammengekrümmt in einer großen Blutlache und bewegte sich nicht mehr.
"Nein !", drang es heiser aus der Kehle des Knaben. Ein dicker Klos bildete sich in seinem Hals. Mit einem letzten aufbäumen all seiner Kraftreserven rannte er auf den leblosen Körper des Steuermannes zu und drehte ihn auf den Rücken. Die einst so sanften und fröhlichen Augen blickten ins Leere. Jeder Ausdruck war aus ihnen verschwunden. Julian schluckte schwer. Tränen rannen über seine Wangen und tropften auf den Körper seines einzigen Freundes. Weinend sackte der Junge in sich zusammen und vergrub das Gesicht in der Brust des Mannes.

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"Du Bastard bist an allem schuld."
Die Stimme des Spaniers klang rauh und gepreßt.
"Als er dich mit an Bord gebracht hat, hat alles erst angefangen. Sieh was du angerichtet hast. Selbst deinen Freund, diesen französischen Bastard, hast du auf dem Gewissen. Das ist alles deine Schuld. Sieh dich um, Verdammt !!!"
Mit einer klatschenden Ohrfeige fegte er den Knaben von der Leiche des Steuermannes. Dann riß er ihn an den Haaren hoch.
"Sieh hin, verdammt nochmal !! Mach die Augen auf !!!"
Wieder traf eine Hand Julians Wange. Doch der Schmerz drang kaum in sein Bewußtsein vor. Lethargisch hing er im Griff des Mannes und tat was dieser ihm befohlen hatte. Nur langsam drangen die Bilder durch seine zugeschwollenen und von Tränen verschleierten Augen. Völlig emotionslos starrte der Junge auf die Toten und die brennenden Planken des Schiffes. Absolut nichts regte sich in ihm. Selbst als der Mann ihm die Faust in dem Magen rammte, um eine Reaktion herauszufordern, blieb Julian stumm.
"Sag etwas, du Hund !!", schrie der Spanier mit vor Wut überschlagender Stimme und schlug wieder zu. Wieder und wieder trafen die Fäuste das Gesicht und den Oberkörper des Knaben. Eine Rippe brach und eine tiefe Platzwunde bildete sich über seinem rechten Auge.
"Warum zum Teufel sagst du nichts ?"
Brutal warf der Seemann den Jungen zu Boden und preßte ihn mit dem Gesicht in die Blutlache, in der der Franzose lag. Der Spanier schrie den Knaben immer wieder an und schlug weiter auf ihn ein. Doch Julian lag einfach nur da und starrte ins Leere. Er schrie nicht mal, obwohl er unerträgliche Schmerzen erleiden mußte.
"Warum sagst du nichts ?"
Die Stimme des Mannes klang nun weinerlich. Plötzlich begegneten sich die Blicke des Mannes und des Kindes. Statt ins leere, schienen Julians Augen nun direkt in die Seele des Spaniers zu starren. Dieser Blick war unerträglich für den Seemann. Doch das schlimmste war das Mitleid, daß er in ihm zu sehen glaubte. Mit einem schrillen Schrei zog Pedro das Messer aus der Brust des toten Franzosen und riß es mit beiden Händen hoch um es dem Knaben ins Herz zu rammen. Julian schloß die Augen und erwartete den Todesstoß.

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Es war still. Kein Lüftchen regte sich.
Wie eine feste Wand umgab der Nebel das Deck. Nichts war dort zu sehen. Keine Toten. Keine Flammen. Das Deck war völlig leer. Bis auf den zusammengekauerten Körper eines Kindes.
Langsam schlug Julian die Augen auf. Was war geschehen ? Vorsichtig richtete er sich auf und sah sich um. Er glaubte, sich an Schmerzen zu erinnern. Doch er verspürte keine. Auch das Fieber und die Schwäche waren wie weggeblasen. Der Junge wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und versuchte sich zu erinnern. Pedros Gesicht erschien vor seinem inneren Auge. Ebenso Antoines freundliches Lächeln. Doch keiner von beiden war hier.
Julian stand auf und streckte seine Glieder. Er fühlte sich frisch und ausgeruht und die Luft fühlte sich, trotz des dichten Nebels, angenehm warm auf der Haut an.
Plötzlich erinnerte der Junge sich wieder an etwas. Ein Name schoß ihm durch den Kopf und er wußte, was er zu tun hatte. Zielstrebig ging er auf die Reling zu, kletterte hinauf und ließ sich fallen.

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Die nackten Füße des Knaben flogen nur so über den Nebel. Sein Atem ging schwer. Sein Herz raste. Doch er würde nicht stehen bleiben bis er gefunden hatte, was er suchte. Sie mußte einfach irgendwo hier sein. Da hörte er plötzlich die leisen, traurigen Töne der Panflöte.
Die Schwere in seinen Beinen und das Rasseln seiner Lunge ignorierend beschleunigte der Junge seine Schritte noch mehr, bis er sie endlich sah. Wie beim letzten Mal saß sie mit geschlossenen Augen da und spielte diese wunderschöne und zugleich herzzerreißend traurige Melodie. Erschöpft ließ der Junge sich zu Boden sinken und hörte ihrem Spiel zu, bis die letzten Töne in den Tiefen des Nebels verflogen waren.
"Hallo.", sagte er leise.
Das Mädchen lächelte und schien weiterhin einer stummen Melodie zu lauschen.
"Hallo.", antwortete sie schließlich.
"Du bist also wieder zurückgekommen."
Langsam öffnete sie die Augen und sah den Jungen mit einem warmen Lächeln an. Julian errötete als sich ihre Blicke trafen.
"Ich konnte dich doch nicht allein hier zurücklassen.", flüsterte er so leise, daß er selbst kaum ein Wort verstand. Doch sie schien ihn zu verstehen. Glücklich lachend sprang sie auf und warf ihre Arme um seinen Hals. Wie ein nach langer Gefangenschaft befreites Tier sprang sie umher, tanzte und lachte. Und ihre Fröhlichkeit machte auch Julian glücklich. Wie sehr hatte er sich gewünscht, sie lachen zu sehen.
Doch plötzlich zogen schwarze Wolken auf und die Fröhlichkeit in ihren Zügen wich verzweifelter Angst. Ein heftiger Wind zerzauste ihre Haare und zerrte an ihrem Kleid. Ein Blitz zuckte und der Donner rollte ihnen wie eine Todesdrohung entgegen.
"Nein !!", schrie das Mädchen entsetzt und schlang ihre kleinen Arme schützend um den Knaben.
"Er ist zurückgekommen... wegen mir. Du darfst ihn mir nicht nehmen !", schrie sie mit Tränen in den Augen in den Himmel.
Ein weiterer Blitz zuckte nieder und schlug nur wenige Meter von ihnen ein. Einer gleißenden Säule gleich stand er endlose Sekunden lang da. Begleitet vom ohrenbetäubenden Lärm des Donners. Doch das Mädchen starrte nur weiter trotzig in den Himmel und hielt Julian fest umschlungen. Der Blitz riß ab, doch das Mädchen starrte weiter nach oben. Ihre Augen waren verengt und Trotz und Zorn sprachen aus ihnen.
Genauso plötzlich wie sie gekommen waren verzogen sich die Wolken wieder und enthüllten den sanften Schimmer des Mondes, der wie ein freundliches Lächeln auf die beiden Kinder herab schien. Der Zorn im Blick des Mädchens wich Verwirrung, dann Unglauben. Jubelnd sprang sie wieder auf die Beine und zerrte auch Julian wieder hoch.
"Danke. Danke !", rief sie und drehte sich mit dem Jungen wild im Kreis.
"Was...?", setzte Julian an, doch das Mädchen unterbrach ihn.
"Du darfst bleiben !", Rief sie überglücklich und sprang ihm um den Hals.
"Für immer !"
"Für immer.", wiederholte Julian mit einem glücklichen Lächeln. Dann umarmte er sie und flüsterte ihr leise ihren Namen ins Ohr.
 

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