Der Ruf des Raben von Christian Uhrig (Tendin) |
Samarion und Zoe |
"Ufff", seufzte sie erschöpft und ging in die Höhle, die ihr wenigstens für eine Weile Entspannung bieten würde. Zoe war nun schon Stunden ohne eine Rast unterwegs, bevor sie auf diese große, warme und einladend aussehende Höhle stieß. Erschöpft warf sie ihr Gepäck in eine Ecke der geräumigen Höhle und streckte ihre müden Glieder. Wie gesagt, sie war nun schon Stunden auf der Reise, an ihren Füssen befanden sich Blasen und sie hatte einen mordsmäßigen Hunger. Die Höhle war so groß, dass ihr größter Teil noch in Schatten gehüllt war. Zoe wunderte es nicht wenig, dass eine so einladend aussehende Höhle unbewohnt war. Doch ihr sollte es Recht sein, sie wollte schließlich ihre Ruhe haben und für ungebetene Besucher hielt sie immer noch ihren großen Speer bereit, den sie immer noch in der Hand hielt. Man wusste ja nie! Na jedenfalls war sie glücklich, diese Höhle gefunden zu haben. Um diese Glücklichkeit auszudrücken und um zu bestätigen, dass sie nun alleine in dieser Höhle ihr Nachtlager aufschlagen würde, stieß sie ihren Speer in die Erde. "Auaaaaa", schrie just in dem Moment, als Zoe ihren Speer in die vermeintliche Erde stieß, eine Stimme. Erschrocken sprang sie zurück, als sie erkannte, in was ihre Waffe wirklich gedrungen war. Vor ihr wand sich ein schwarzer Schwanz, der sich rasch von ihr entfernte, doch der Besitzer war im Halbdunkel der Höhle nicht auszumachen. "Gebt euch zu erkennen", schrie Zoe in die Dunkelheit hinein. Als keine Antwort zurückkam schrie sie erneut "Verdammt! Zeigt euch, was auch immer ihr seid, ich mag es nicht, wenn man sich vor mir versteckt." Zoe tat nur so selbstbewusst, in Wirklichkeit hatte sie entsetzliche Angst. Was war das für ein Wesen, das sich vor ihr in der Dunkelheit verborgen hielt? Aus der Dunkelheit erklang eine dunkle, wenn auch etwas beleidigt klingende Stimme: "Erst kommt ihr ungebeten in meine Höhle und dann rammt ihr mir auch noch nen Speer in meinen schönen Schwanz, Menschenweib. Und um dem Ganzen die Spitze aufzusetzen, keift ihr mich auch noch an. Solche Gäste hab ich besonders gern!" "Das haut doch den stärksten Riesen um", dachte Zoe und sprach laut: "Ich wüsste dennoch gerne, wer oder vielmehr was ihr seid. Und außerdem habt ihr mich bestimmt die ganze Zeit heimlich beobachtet. Kommt endlich raus, damit ich euer Antlitz sehen kann. Oder seid ihr so hässlich, dass ihr euch in der Dunkelheit verborgen halten müsst?" "Pffff, das hab ich ja besonders gern! Mich erst durchlöchern und dann auch noch beleidigen. Ich hätte nicht übel Lust, euch zu verspeisen, doch vermutlich seid ihr zu zäh", brummelte das Wesen. "Gut, ich komme heraus, aber rennt nicht gleich weg, Menschlein." Zoe keuchte erschrocken, als sie sah, was da aus der Finsternis trat. Es war ein Drache. Eines dieser sagenumwobenen Ungeheuer, die zuvor nur wenige Menschen zu Gesicht bekommen hatten. Der Drache war wahrlich prächtig. Seine Schuppen waren schwarz wie die Nacht und die Augen... Die Augen des Drachen bargen ein Wissen. Ein Wissen, das sich Zoe in ihren kühnsten Träumen nicht ausmalen konnte. Im Moment blickten sie aber wütend auf Zoe herab, die den Kopf heben musste, um dem Drachen in die Augen sehen zu können. "Hat es euch die Sprache verschlagen, Menschenweib?" sprach der Drache nun spöttisch. "Ein... ein Drache", brachte Zoe nur stöhnend raus. "Na, wenigstens scheint mit euren Augen noch alles zu stimmen, von eurem Benehmen kann man das allerdings nicht behaupten", sagte der Drache kritisch. "Ich dachte, ihr seid alle ausgestorben oder besser gesagt ausgerottet", sagte Zoe, die nun ihre Fassung wiedergewonnen hatte. Die Augen des Drachen verschleierten sich für einen kurzen Moment vor Trauer. "Das mag wohl auch für meine anderen Artgenossen zutreffen, Menschenfrau. Mich dünkt, dass ich der letzte bin. Ich mochte es lange Zeit nicht wahrhaben. Doch ich muss es wohl akzeptieren, seit langem spüre ich meine Freunde nicht mehr. Sie wurden wohl von solchen unseligen Drachentötern niedergemetzelt. Vor euch steht nun der letzte Drache. Was wollt ihr tun? Wollt ihr mich zu meinen Artgenossen schicken, Menschenweib?" fragte der Drache traurig. Ohne dass Zoe sagen konnte, warum, tat ihr dieses riesige und doch zugleich so schöne Geschöpf leid. "Es tut mir leid, dass ich so unsensibel war und euch damit verletzt habe." "Schon gut, ihr könnt ja nichts dafür. Aber trotzdem, wer seid ihr? Ihr seht noch sehr jung aus und auch euer selbstbewusstes Gebaren kann nicht verheimlichen, dass unter eurer rauen Schale ein verborgener Schmerz liegt, dem meinen nicht unähnlich." "Hat man euch nicht gelehrt, dass man einer Dame mit Respekt begegnet und keine solche Fragen stellt?" fragte Zoe nun verletzt. Als der Drache keine Antwort gab und sie nur durchdringend ansah, senkte sie den Kopf und begann zu sprechen: "Nun gut, ich heiße Zoe, eigentlich Zorina, aber ich mag den Namen nicht, deswegen nennt mich lieber Zoe und löchert mich nicht weiter, wenn ihr nicht noch einen Speer im Schwanz haben wollt." Der Drache überging Zoes ruppige Äußerung und meinte lächelnd: "Meinen Namen würdet ihr wohl nicht aussprechen können. Samarion, so würde man mich wohl in euerer Sprache nennen." "Nun gut, Samarion, anscheinend führt ihr nichts Böses im Schilde, sonst hättet ihr mich wohl schon längst gefressen. Habt ihr Lust, mir bei meinem Mahl Gesellschaft zu leisten? Es ist nicht viel, doch es ist gutes Essen und ich teile es gerne mit euch, obgleich ich nicht sicher bin, was ein Drache so isst", meinte Zoe und packte aus einem großen Lederbeutel einen Hirtenkäse und ein Stück Fladenbrot aus. Sie verschwieg, dass das ihre letzten Vorräte waren. "Euer Angebot ehrt euch, aber ich ziehe andere Genüsse vor. Ich gehe nun auf die Jagd, bleibt so lange ihr möchtet. Es ist mal was anderes, menschliche Gesellschaft zu haben, besonders wenn sie so hübsch ist", fügte er grinsend hinzu, bevor er sich in die Lüfte erhob. Zoe blickte dem Drachen kopfschüttelnd hinterher. Gab es das? Einen sprechenden Drachen, der zu allem Übermaß auch noch eine gesalzene Portion Sarkasmus besaß? Alles, was Zoe bisher über Drachen gehört hatte, stilisierte diese Riesen der Lüfte zu menschenfressenden Ungeheuern. Warum war dieser Drache so anders, als die Legenden, die ihr als Kind am Lagerfeuer erzählt wurden? Zoe nahm sich vor, nicht einzuschlafen, damit Samarion sie nicht im Schlaf überraschen konnte. Mit diesem Vorsatz legte sich Zoe auf den Höhlenboden. Doch ihr Vorsatz half ihr nichts. Ehe sie sich versah, war sie auch schon eingeschlafen. So merkte sie auch nicht, wie Samarion von seiner nächtlichen Jagd heimkehrte. Nachdenklich betrachtete der Drache die schlafende Zoe. Sanfter als man es von einem so gewaltigen Geschöpf erwartet hätte deckte der Zoe mit einem Fell zu. Er nahm sich vor, die Nacht über bei diesem verletzlichen Geschöpf zu wachen, er hatte noch einiges zu überdenken. Zoe wurde von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne geweckt, die in die Höhle fielen. Blinzelnd setzte sie sich auf, vor ihr stand ein Becher Wasser und ein Stück Wildbret, von Samarion war weit und breit nichts zu sehen. Zoe zuckte mit den Schultern und aß gierig, was ihr der Drache hingestellt hatte. Sie war so in ihr Mahl vertieft, dass sie nicht merkte, wie der Drache leise in die Höhle trat. "Esst nicht so schnell, sonst verschluckt ihr euch noch, mein Kind", sagte der Drache gütig lachend. Zoe sah schmatzend von ihrer Keule hoch und sagte: "Macht es euch Spaß, sich an Leute heranzuschleichen, die nichts Böses im Schilde führen? Übrigens danke für das Essen. Es schmeckt wunderbar. Was ist es?" "Ork", sagte der Drache. Zoe spuckte würgend das Stück aus, das ihre Zähne zuvor aus der Keule gerissen hatten und funkelte den Drachen wütend an. Samarion rollte sich vor Lachen am Boden und japste nach Luft. "Regt euch nicht so auf! Es handelt sich um ein Stück Rehwild, das ihr gerade verspeist habt. Wenn ihr satt seid und eure Wut auf mich einen Moment vergessen könnt, würde ich euch gerne auf einen Flug mitnehmen, Zoe." Zoes Ärger war sofort verschwunden. Natürlich hatte sie Lust mitzufliegen und so zögerte sie auch keinen Moment, als ihr der Drache bedeutete, auf seinen Rücken zu steigen. Mit einem gewaltigen Satz erhob sich Samarion in die Luft. Unter ihnen glitt der riesige Wald von Alnurnak, das Land Krem, die Zinnen von Arm und die weiten Ebenen von Nor. Zoe konnte die Wunder, die sich ihrem Blick offenbarten, nicht fassen und sie kam aus dem Staunen nicht mehr raus. So war sie auch etwas enttäuscht, als der Drache wieder zur Landung ansetzte. Es wurde noch ein schöner Tag, an dem sie beide noch viel gemeinsam lachten. Samarion hatte das manchmal etwas vorlaute, aber im Grunde ihres Herzens liebenswürdige Mädchen in sein großes Drachenherz geschlossen. Dasselbe galt für Zoe, die die ruhige und stets freundliche Art des Drachen mochte. Sie fühlte sich bei ihm auf irrationale Weise geborgen. Es begab sich, dass beide abends um ein gemütlich prasselndes Feuer saßen, als Zoe zu sprechen begann: "Ich war zehn, als alles begann. Fürst Namariel, der Schreckliche, war an die Macht gekommen und überzog die westlichen Länder mit Schrecken und Blut. Es gab nur wenige, die es wagten, sich ihm und seinen Dämonenhorden entgegen zu stellen. Mein Vater war unter ihnen. Er führte unseren Stamm in der Schlacht von Spiegelland an der Seite von Zwergenkönig Hardig. Mein Vater fiel in dieser Schlacht, die in die Geschichte eingehen sollte. Mit ihm meine beiden Brüder. Meine Mutter konnte den Verlust nicht hinnehmen und nahm sich das Leben. Seitdem war ich auf mich alleine gestellt und reiste herum. War hier und dort, aber nirgendwo hat es mich lange gehalten. Ich spüre fortwährend eine tiefe innere Unruhe, die mich immer weitertrieb. Manchmal wünsche ich mir, der Schmerz hört auf, manchmal wünsche ich mir nur den Tod, Samarion." "Ich kann dich verstehen, Zoe. Auch ich wünsche mir manchmal den Tod. Dann könnte ich meine Brüder und Schwestern sehen. Du fragst dich nun sicherlich, warum ich mich nicht schon von einem dieser Drachentöter umbringen ließ. Nun, ich glaube, es gibt etwas wie einen Schöpfer. Wir Drachen nennen ihn übrigens Rungard, was in eurer Sprache wohl soviel wie 'Vater der Welt' heißt. Nun, der Namen gibt es so viele und doch bedeuten sie alle ein und dasselbe. Ich denke, dieser Schöpfer hat uns auf die Welt geschickt, um etwas zu erledigen. Ich glaube daran, dass jeder von uns eine ihm gestellte Aufgabe hat. Eine Aufgabe, die wir erledigen müssen, bevor wir ins Jenseits treten dürfen. Ich habe meine Aufgabe noch nicht erledigt, doch ich spüre, dass bald meine Zeit kommt. Ich habe Träume. Nicht solche Träume wie du nun sicherlich denkst. Drachen träumen anders. Drachen sehen in ihren Träumen die Zukunft. Ich sah heute Nacht, dass einer kommen wird. Er kommt aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der Dinge existieren, die wir uns nicht ausmalen können. Dort fliegt man nicht auf Drachen oder Greifen, dort gibt es riesige Maschinen, die Luft mit ihren stählernen Flügeln durchschneiden, Stäbe, die Feuer spucken und Tod und Verderben bringen, eiserne Kutschen ohne Pferde und riesige Häuser aus Glas und Stein. Ich sah vieles, was mir Angst bereitete. Ich konnte in die Herzen der Menschen sehen. Viele waren verdorben und glaubten nicht an unsere Welt, doch als ich in sein Herz sah, sah ich, dass er fähig war zu verstehen. Fähig an uns zu glauben. Doch dann sah ich Dunkelheit und eine Flut aus Messern und Zähnen, die sich vom Norden her todbringend über unsere bekannte Welt zog. Dann sah ich wieder ihn, er vereinte die Rassen der verschiedenen Völker. Er stellte sich der Flut des Bösen entgegen. An seiner Seite kämpfte ein Zwerg, ein Elbe, ein Wesen das lebt und doch tot ist, eine Zigeunerin, eine Halbelfe, ein Halbork, einer aus dem kleinen Volk, ein Greif, einer der es vermag, Dinge aus nichts zu erschaffen, ein König, der keiner sein will, und schließlich dich und mich. Zoe, du und ich sind dazu bestimmt, diesem einen zu helfen." Während der Erzählung von Samarion hatte Zoe die ganze Zeit in seine unergründlichen Augen geschaut. Zoe wusste nun, dass jedes Wort des Drachens wahr war. Sie zitterte am ganzen Körper. Denn sie hatte in Samarions Augen gesehen, was er ihr bisher verschwiegen hatte: Es würde Tote in dieser Gemeinschaft geben, die Gruppe musste gegen unaussprechliche Übel kämpfen und viel Leid erdulden. Doch sie hatte auch gesehen, dass sie ihrem Schicksal nicht entfliehen konnte. Samarion machte sich sehr große Sorgen, dieses junge Mädchen sich in so eine Gefahr begeben zu lassen. Doch er würde alles tun, um sie zu beschützen. Denn es gab noch etwas, was er ihr verschwiegen hatte. Seine Aufgabe war es, sie zu beschützen. Sanft umschloss er das verschreckte Mädchen mit seinen Flügeln und spendete ihr Trost. Es war wenig Zeit, doch in dieser Zeit wollte er alles tun, um sie beide auf ihre Aufgabe vorzubereiten. |
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