Die erste Nacht war kalt. Tao hatte sich unter
dem größten Strauch zusammengerollt und versuchte zu schlafen,
der Wind blies ihm aber um die Ohren und der Boden war kalt.
Als es graute, war er ganz steif vor Kälte
und hatte noch kein Auge zugetan. Er stand auf und lief um die Insel, um
warm zu werden.
Die Sonne goss ihr rotes Licht auf die Wellen
und es wurde warm und hell, trotz des grauen Nebels, der unter dem Himmel
hing.
Das Meer hatte in der Nacht verschiedene Dinge
angeschwemmt. Tao fand viel Holz, kleine Stöcke, aber auch größere
Bretter. In manchen steckten sogar Nägel. Mit viel Mühe baute
er sich eine kleine Unterkunft. Zuerst war es nur ein Windschutz aus Brettern
und mit Grashalmen zusammengebundenen Stöcken. Nach ein paar Tagen
hatte er jedoch wieder so viel Holz zusammen, dass er es zu einem Dach
binden konnte. Die kleinen Wände dichtete er mit trockenem Gras ab
und schmückte sie nach und nach mit Muscheln und vom Meer glatt gescheuerten
Wurzeln. Um das Hüttchen legte er eine Reihe flacher, runder Steine.
Zuerst aß Tao nur Fisch. Dann entdeckte
er, dass einige Sträucher essbare Beeren trugen, und dass manche getrockneten
Blätter ein aromatisches Gewürz hergaben. Auch einige Wurzeln
und Algen konnte man zu einer anständigen Mahlzeit kochen.
Die ganze Zeit über war kein Schiff zu
sehen.
Die folgenden Tage waren ruhig und fröhlich.
Da Andrien, das Ziel der Gnome, ebenfalls westlich vom Elfenwald lag, beschlossen
sie, zusammen weiter zu ziehen. Die lustigen, ewig singenden Wesen schienen
auf unerklärliche Weise alles unangenehme und gefährliche abzuschrecken.
Solange Moff und seine Gefährten in ihrer Nähe blieben, fühlten
sie sich sicher, hörten keine Geisterstimmen und auch sonst nichts
beunruhigendes. Tagsüber marschierten sie nach Westen, nachts lagen
sie um das Feuer und sangen sinnlose Lieder. Die Sorglosigkeit tat ihnen
allen gut. Es schien, als hätten sie wenigstens für einige Zeit
vergessen, was ihnen drohte.
Nur Nel schien sich dieser Sorglosigkeit nicht
ohne Weiteres hingeben zu können. Selten nur nahm sie am abendlichen
Gesang teil, ritt auch sonst meistens etwas abseits. Wenn sie am Tag Rast
machten, verschwand sie oft irgendwo im Wald und holte die Anderen erst
ein, wenn sie schon ein gutes Stück gefahren waren. Als Moff sie einmal
darauf ansprach, lächelte sie nur schwach und sagte: "Ich will nur
manchmal meine Ruhe haben, und das ist unter Gnomen nicht so gut möglich."
Biem gab sich mit so einer Erklärung
natürlich nicht zufrieden. Eines Nachmittags stellte sie fest, dass
ihr für das Abendessen ein paar Steinpilze unentbehrlich waren, und
diese konnte man selbstverständlich nur tief im Wald finden. Als sie
an diesem Tag also zum Ausruhen stehen blieben, alle sich daran machten,
etwas zum Essen zuzubereiten und Nel mal wieder verschwunden war, murmelte
Biem etwas von einem neuen Rezept für Pilzsuppe und lief ihr nach.
Weit brauchte sie nicht zu gehen. Nel war ganz in der Nähe an einem
kleinen Bach und schöpfte Wasser in eine gläserne Schüssel.
Biem legte sich flach auf die Erde und beobachtete, wie die junge Frau
sich unter einen Baum setzte und sich über das glitzernde Gefäß
beugte, sodass ihre schwarze Kapuze ihr Gesicht völlig verdeckte.
Dann begann sie, leise sehr merkwürdige Worte zu summen. Biem schlich
lautlos so nahe wie möglich an sie heran, verstand aber trotzdem kein
Wort.
"Asme tsal Saloam, dar silue faín.”
Das Wasser veränderte sofort die Farbe,
wurde dunkelblau, fast schwarz. Nel hielt mit einer Hand die Schüssel
und machte mit der anderen ein paar kreisende Bewegungen über der
Wasseroberfläche. Dann nahm sie die Hand weg und schaute intensiv
auf die schwarze Flüssigkeit. Biem hätte alles gegeben, um auch
einen Blick darauf werfen zu können. Andererseits wagte sie es nicht,
aus ihrem Versteck hervor zu kommen.
Endlich hob Nel den Kopf. Sie hatte Tränen
in den Augen. Erschöpft lehnte sie sich an den Baum und schaute gedankenverloren
vor sich hin.
"Ich weiß, dass du hier bist", sagte
sie plötzlich laut und deutlich.
Biem schrak auf. Nel hatte sie wohl mit ihren
magischen Kräften erspürt. Sie wollte gerade hervor kriechen,
um sich irgendwie zu entschuldigen, als eine klare, wunderschöne Männerstimme
antwortete:
"Ich weiß, dass du weißt."
Da erst bemerkte sie ihn. Nicht weit entfernt,
hinter Nels Rücken, stand ein strahlender Engel mit den herrlichsten
weißen Flügeln, die Biem je gesehen hatte. Er war so wunderschön
und lächelte so zauberhaft, dass sie völlig erstarrte und den
Blick nicht mehr von ihm wenden konnte.
"Was hast du gesehen?" fragte er und setzte
sich neben Nel.
"Warum fragst du? Du weißt es doch selbst,"
sagte sie etwas bitter und trocknete ihre Augen mit dem Ärmel.
"Wenn du glaubst, dass Engel allwissend sind,
dann irrst du dich leider sehr." Er lächelte wieder. Nel schaute auf
und zu Biems großem Erstaunen lächelte sie zurück. Seit
sie die junge Frau kannte, hatte sie noch nie so einen entspannten und
warmen Gesichtsausdruck bei ihr gesehen.
"Willst du mir weismachen, dass du es nicht
gewusst hast?"
"Was?"
"Warum sie festgehalten wird?"
Er zuckte die Achseln.
"Sie ist der Menschen Freude und Hoffnung.
Wenn man ihnen die Kraft wegnehmen will, dann entführt man ihre Blumenkönigin."
Nel schaute ihn aufmerksam an.
"Du weißt es wirklich nicht", sagte
sie erstaunt und etwas bitter.
"Was hast du gesehen?" wiederholte der Engel
eindringlich.
Sie senkte wieder den Blick und seufzte tief.
Dann sagte sie es leise, und ihre Stimme war schmerzerfüllt.
"Saloe ist schwanger."
Biem hielt den Atem an. Was mochte das bedeuten?
"Herr, behüte uns", flüsterte der
Engel. "Sie ist also die Mutter..." Er wandte sich an Nel.
"Ihr müsst euch beeilen, um Himmels Willen",
sagte er ernst. Seine Stimme zitterte etwas.
"Ich weiß, Gavriel. Aber wer ist dieses
Kind? Wer ist der Vater?"
Er saß eine Weile bewegungslos da. Dann
sah er sie an und antwortete leise, und diesmal war seine Stimme voller
Hoffnung:
"Gott, Nel. Gott ist sein Vater."
Sie starrte ihn fassungslos an. "Du meinst...
Er ist der Messias?"
Gavriel nickte. "Deswegen haben sie sie also
entführt. Deswegen gerade jetzt. Das habe ich nicht verstehen können.
Es schien mir zu früh für einen erneuten Angriff der Dunklen
Mächte."
"Warum zu früh?"
Er schien einen Moment nachzudenken, bevor
er antwortete. "Hast du von der Verkörperung des Bösen gehört?"
"Satans Sohn? Natürlich. Alle kennen
die Geschichte von seiner Niederlage und von dem Triumph des Guten."
"Schon. Aber nicht alle wissen, dass er wiedergeboren
wurde."
Biem lief ein kalter Schauer den Rücken
hinunter, und Nel schien es ähnlich zu ergehen, denn sie zog den Umhang
enger um ihre Schultern.
"Das ist doch unmöglich", flüsterte
sie. "Woher weißt du das?"
"Es gibt Zeichen dafür. Man muss sie
nur zu lesen wissen. Jedenfalls ist er noch sehr jung, hat noch wenig Macht.
Verhältnismäßig wenig," fügte er hinzu.
"Unser Glück", sagte Nel. Sie fasste
sich plötzlich an den Kopf und schloss für einen Moment die Augen.
"Meine lustigen Freunde sind wieder losgezogen." Sie stand auf.
Gavriel erhob sich ebenfalls. "Machs gut,
Nel. Und du auch, Biem", sagte er mit einem himmlischen Lächeln in
Richtung Gebüsch und verschwand.
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