Das Tor zwischen den Welten von Klaus-Peter Behrens
II. Kapitel: Die Mine von Medara

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Die Mine von Medara lag tief im Düsterwaldgebirge. Dunkle, dichte und nur schwer zu durchdringende Wälder zogen sich bis hoch in die mit ewigem Schnee bedeckten Berge hinauf. Reißende Gebirgsbäche und Legenden über zweifelhafte Bewohner dieser Region sorgten dafür, dass Wanderer und Abenteurer in dieser Gegend kaum anzutreffen waren und selbst der örtliche Tourismusverein die Gegend zum Outback erklärt hatte. In dieser unerfreulichen Region lag die sagenhafte Mine der Zwerge. Es wäre allerdings ein fataler Fehler, sich unter den Betreibern die typischen, Schubkarren schiebenden oder angelnden Exemplare vorzustellen, wie man sie in den heimischen Vorgärten anzutreffen pflegt. Die hier lebenden Zwerge würden bei dem Anblick mit Sicherheit einen schweren Anfall bekommen und dem unglücklichen Eigentümer mittels ihrer Axt unmißverständlich klarmachen, was sie davon hielten. Zwerge sind nämlich höchst reizbare und übellaunige Gesellen, was verständlich ist, da das ewige Bearbeiten von Gestein mit der Spitzhacke auch dem sanftmütigsten Zwerg inzwischen die Laune verdorben hat. Einige Zwerge ziehen es daher vor, in die umliegenden Ländereien zu reisen, um die in den Minen gefertigten Goldarbeiten oder Waffen zu verkaufen. Nur wenige würden allerdings auf die Idee kommen, einem Zwerg auf so einer Reise das Gold abzunehmen oder ihn beim Handeln zu betrügen. Zwerge verstehen da keinen Spaß. Überhaupt haben Zwerge nur sehr wenig Sinn für Humor und wenn, spielen bei ihrer Art von Humor in der Regel eine Axt und irgendwelche fehlenden Gliedmaßen eine Rolle. 
Ein besonders repräsentatives Beispiel dieses reizbaren Volkes war Gart, der mit einer Größe von hundertfünfzig Zentimeter ein wenig größer war, als der durchschnittliche Zwerg. Sein Haar und sein Bart waren grau und lang, wie bei allen Zwergen. Die von der vielen Arbeit im Bergbau steinhart gewordenen Muskeln ermöglichten es ihm, nicht nur die Spitzhacke, sondern auch seine riesige Axt spielend zu handhaben. Diese Fähigkeit hatte Gart, der zu der Art Zwerge gehörte, die lieber reisten, schon so manchen Verhandlungserfolg gesichert. Wer einmal einen tobenden Zwerg mit einer Axt gesehen hat, wird dies kaum in Abrede stellen. So kam es, dass die Zwergengilde mit Vorliebe Gart auf Handelsreisen schickte, was diesem nur recht war. Nun stand in Kürze eine neue Geschäftsreise in die mehrere Tagesreisen entfernte Küstenstadt Wehrheim an, und Gart war entsprechend gut gelaunt, als er aus dem Verwaltungsbüro der Zwergenmine zu den tiefer liegenden Werkstätten und Lagerräume unterwegs war, um die geplante Lieferung vorzubereiten. Der Weg dorthin war weit, denn die Mine von Medara war unzählige Etagen tief in den Fels eingegraben. Stollen, Lager- und Werkstätten, Wohnquartiere und sonstige Räume verbanden sich zu einem Labyrinth, in dem jeder Außenstehende zweifellos sein ganzes Leben auf der Suche nach dem Ausgang verbringen könnte, ohne ihm jemals auch nur nahezukommen. Für Zwerge hingegen sollte dies prinzipiell kein Problem darstellen, zumal diese nie müde wurden, mit ihrem unfehlbarem Orientierungssinn zu prahlen. Tatsächlich kam es jedoch immer wieder vor, dass Zwerge vermißt wurden und erst Jahre später wieder auftauchten, um zu verkünden, sie seien nur einmal falsch abgebogen. 
Doch mit derartigen Gedanken beschäftigte sich Gart nicht, als er pfeifend einen der Gänge entlang schlenderte. Plötzlich vernahm er ein ungewöhnliches Summen. Verwundert sah er sich in dem zwergenleeren Gang um. Nichts war zu sehen. Zögernd ging er weiter und lauschte. Das Summen wurde lauter. Gart war nun leicht beunruhigt. Mit einer gewohnheitsmäßigen Bewegung nahm er seine Axt vom Rücken, wo sie in einer speziellen Lederhalterung befestigt war und blieb stehen, um das Geräusch besser lokalisieren zu können. Doch das schien von überall her zu kommen. Er kannte alle Geräusche von Medara, aber dieser tiefe, vibrierende Ton war ihm fremd. Das Vibrieren nahm stetig zu und die Fackeln begannen zu flackern. Das war wirklich seltsam. Vielleicht hatten seine Kollegen ja einen Gang zu tief gegraben und irgendwelche Dämonen geweckt, die nun gereizt durch die Gänge liefen. Doch Gart verwarf den Gedanken sogleich wieder. Welcher halbwegs vernünftige Dämon würde sich schon in eine Zwergenmine trauen? Während er noch überlegte, gab es plötzlich einen lauten Knall und eine gleißende Farbexplosion, so dass der Zwerg erschrocken ein paar Schritte zurückwich und schützend eine Hand vor die Augen hob. Mitten im Gang erschien aus dem Nichts eine Öffnung, die in allen Farben erstrahlte und den Blick auf einen langen, gewundenen, endlos erscheinenden Tunnel freigab. Wie von Geisterhand wurden zwei Menschen aus dieser Öffnung heraus geschleudert und landeten unmittelbar vor den Füßen des entsetzten Zwerges. Mit einem saugenden "Plopp" verschwand die Öffnung und Gart, der nun wieder den vertrauten Gang vor Augen hatte, sah verblüfft auf die Eindringlinge herab. Menschen in Medara, das hatte es noch nie gegeben.

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Zum dritten Mal in dieser Nacht wurde Tom unsanft geweckt. Irgend jemand trat ihm kräftig in die Seite. Tom, der glaubte, gerade einen Alptraum gehabt zu haben, in dem ein bärtiger Irrer mit einer Axt eine Rolle spielte, war dankbar, aufzuwachen, wenn auch nicht auf solche Weise. 
"Aua", stöhnte er und schlug die Augen auf, um sie gleich wieder zuzumachen. "Ich träume immer noch", dachte er, als er den grimmigen Gart erblickte. Doch ein erneuter Tritt bewies ihm das Gegenteil. 
"Los, hoch mit dir", hörte er das Wesen mit einer Stimme sagen, die an das Aneinanderreiben von Kieselsteinen erinnerte. "Wer seid ihr und was habt ihr in der Mine von Medara zu suchen?" Dabei musterte der Zwerg die vor ihm liegenden Menschen auf eine Weise, wie Kammerjäger gewisse Insekten in feuchten Kellerräumen zu betrachten pflegen. Tom nahm dies mit Beunruhigung zur Kenntnis. Vorsichtig versuchte er daher, sich zurückzuziehen. "Mine von Medara?", ächzte er fragend, um Zeit gewinnen, während er sich nach Dean umsah, der mit einem herzhaften Stöhnen seine Rückkehr in die Welt der Lebenden bekundete. 
"Hey, Dean, wach auf, Überraschung", rief Tom.
"Ach du liebe Güte", krächzte dieser, nachdem er nach einem kurzen Blick in die Runde den grimmigen Zwerg erblickt hatte. "Wo sind wir denn gelandet?"
"In der Mine von Medara", erklärte Tom, während er gleichzeitig durch eindeutige Zeichen mit seinen Händen und verdrehten Augen Dean zu verstehen zu geben versuchte, was er von dem geistigen Zustand des Zwerges hielt.
"Interessant", murmelte der immer noch leicht benommene Dean vorsichtig, während Tom sich langsam erhob, um weiteren auffordernden Tritten zu entgehen.
"Vielleicht bekomme ich mal eine Antwort", knurrte Gart, ungeduldig auf den Füßen wippend, während er seine Axt vielsagend hin und her schwingen ließ. "Kein Mensch ist je hier eingedrungen. Das ist ausschließlich Zwergengebiet. Zwerge seid ihr aber eindeutig nicht, aber was dann? Zauberer? Diebe? Spione?" Ein drohender Unterton schwang in seiner Stimme mit.
"Studenten", antwortete Dean phantasielos und musterte voller Interesse die Stollenwände. Im Gegensatz zu Tom beunruhigte ihn der Zwerg nicht so sehr, dazu war er von der Umgebung viel zu beeindruckt. Gründlich musterte er die Kacheln am Boden, die glatten, verzierten, goldfarbenen Gangwände und die Fackelbeleuchtung. Dies war nicht mehr der Gang, den sie gerade noch erkundet hatten, soviel stand fest. Soweit er erkennen konnte, zog sich der Gang in beide Richtungen beträchtlich in die Länge, nur von der Öffnung zum alten Gang, war keine Spur zu sehen. Das war allerdings beunruhigend. Dean wandte seine Aufmerksamkeit dem Zwerg zu. Dieser versuchte gerade ergebnislos einzuordnen, was Dean mit der Bezeichnung "Student" gemeint haben könnte. Tom unterbrach seine Überlegungen.
"Schöner Tag zum Holzhacken. Du bist wohl gerade auf dem Weg in den Wald. Nette Axt! Wie wäre es, wenn du uns mit nach draußen nimmst, dann machen wir uns wieder auf den Weg und stören dich nicht länger." 
Hoffnungsvoll sah Tom auf den Zwerg hinunter. Doch dieser war entweder zu der Erkenntnis gelangt, dass Studenten etwas höchst Widerwärtiges sein mußten, oder ihm stand der Sinn nicht nach Holzhacken oder beides. Jedenfalls hob er drohend mit einer Hand seine Axt und zog mit der anderen eine Pfeife aus der Hosentasche, der er einen grellen Pfiff entlockte. Die Freunde hielten sich überrascht die Ohren zu. Zu allem Überfluß sah Tom einen Augenblick später etwas, das sein Stimmungsbarometer endgültig auf arktische Temperaturen sinken ließ. An den jeweiligen Gangenden erschienen gleich mehrere Zwillingsausgaben des Zwerges, alle bis an die Zähne bewaffnet und alle mit einem Ausdruck im Gesicht, der darauf schließen ließ, dass ihnen der Begriff Gastfreundschaft völlig fremd war.
Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, und die beiden Freunde fanden sich fest verschnürt an die Gangwand gelehnt wieder. Die Zwerge unterhielten sich derweilen leise miteinander und warfen den beiden immer wieder mißtrauische Blicke zu, wobei ihre Augen wie kaltes Glas glitzerten. Dann führten sie die Freunde ab. Deren Proteste blieben unbeachtet, und so fügten sie sich murrend in ihr Schicksal. Der seltsame Zug machte sich auf den Weg durch die Unterwelt von Medara. Unterwegs begegneten ihnen zahlreiche weitere Zwerge, die Karren mit Gestein durch die Gänge schoben und gelegentlich kamen sie an lodernden Feuern vorbei, an denen emsig gearbeitet und zur Beunruhigung der Freunde fast ausschließlich Waffen gefertigt wurden. Schon nach kurzer Zeit hatten sie jede Orientierung verloren. Zu viele riesige Höhlen hatten sie durchschritten und zu viele schwindelerregende Abgründe überquert. Ständig ging es hinab und wieder hinauf. Und überall war das allgegenwärtige, monotone Geräusch von Gestein bearbeiteten Spitzhacken zu hören. Schließlich endete der Marsch vor einer massiven Stahltür in einem kleinen schlecht beleuchteten Gang. 
Gart enthielt sich jeden Kommentars, als er die schwere Tür aufschloß und öffnete. Einer der Zwerge nahm Ihnen die Fesseln ab und mit einem Stoß in den Rücken wurden die beiden Freunde in den Raum befördert. Hinter ihnen fiel die Tür mit einem lauten Geräusch ins Schloß und sich entfernende Schritte ließen erkennen, dass Dean und Tom nun allein waren.

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"Hey, kommt gefälligst zurück und laßt uns hier raus, ihr Hippies. Wer glaubt ihr, wer ihr seid. Ihr könnt nicht einfach amerikanische Staatsbürger einsperren", brüllte Tom und trommelte gegen die schwere Tür, doch nichts geschah. Nach einer Weile gab er es auf und drehte sich wütend zu Dean um. Dieser stand in der Mitte des Raums, sah relativ bleich aus und schien sich mit ihrem Quartier gar nicht anfreunden zu können. Das maß ungefähr acht mal drei Meter, hatte eine Höhe von vier Metern und schien aus dem massiven Fels herausgehauen worden zu sein. Der Fußboden war mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt. Vermutlich handelte es sich um einen seit langer Zeit nicht mehr genutzten Lagerraum, für den die pragmatisch veranlagten Zwerge nun eine neue Verwendung gefunden hatten. An den Wänden befanden sich leere Regale. Eine Öffnung war, mit Ausnahme der Tür und einiger schmaler Schlitze, die wahrscheinlich der Belüftung dienten, nicht vorhanden. Licht spendeten lediglich zwei rußende Fackeln, die die Zwerge, kurz bevor die beiden in den Raum geworfen wurden, angezündet hatten. Dean sah seinen wütenden Freund ängstlich an. 
"Ich fürchte", sagte er mit zitternder Stimme, "hier kannst du noch so viel schreien und trommeln, die reagieren doch nicht und von Amerika haben die auch noch nie etwas gehört."
"Was soll das denn heißen?" Tom kochte vor Wut. "Das sind doch nichts weiter als abgedrehte Späthippies, die, den Bärten nach zu urteilen, für ZZ-Top schwärmen und hier eine abgefahrene WG gegründet haben, um illegalen Bergbau zu betreiben", antwortete er verächtlich und begann, den Raum zu untersuchen. 
"Das glaube ich nicht. Wo immer wir auch gelandet sind, nach Amerika sieht mir das irgendwie nicht aus", erwiderte Dean und ließ sich seufzend auf dem Boden nieder. "Denk an das Ausmaß dieser Anlage. Ich wette mit dir, wir haben gerade mal einen kleinen Teil davon gesehen. Und dann die unzähligen Arbeiter. Es müssen hunderte sein und alle von der gleichen kleinwüchsigen Statur. Wenn es so etwas bei uns geben würde, wäre es mit Sicherheit allgemein bekannt. Aber selbst im Reiseführer steht darüber nichts. Das ist doch höchst merkwürdig, oder? Und dann dieser unheimliche Fall durch dieses schwarze Loch." 
Schaudernd dachte Dean an ihr Erlebnis zurück.
"Gut, ich gebe ja zu, dass das alles hier etwas seltsam ist", räumte Tom widerwillig ein. Mit gesträubten Haaren erinnerte er sich nur zu gut an ihre Reise hierher. "Aber für alles gibt es mit Sicherheit eine simple Erklärung. Es muß sie einfach geben." Die letzten Worte sprach er im Brustton der Überzeugung aus, allerdings mehr, um sich selbst zu beruhigen. 
"Sicherlich gibt es eine Erklärung hierfür, aber simpel wird sie nicht sein." Dean begann nachzudenken. Die wissenschaftliche Herangehensweise gewann langsam wieder die Oberhand und verdrängte die Panik, die ihn eben noch zu überwältigen gedroht hatte. Es war gut, wenn man in schwierigen Situationen in der Lage war, an Probleme abstrakt heranzugehen. Das half, die Schrecken zu verdrängen. Tom untersuchte unterdessen die leeren Regale an der Wand um herauszubekommen, ob sie in irgendeiner Weise zum Aufbrechen der Tür geeignet waren.
"Weißt du", fuhr Dean nach einer Weile des Nachdenkens fort, "das Ganze hier erinnert mich an einen interessanten Artikel, den ich vor einiger Zeit gelesen habe."
"Freut mich, dass du dich in einer derartigen Situation noch an irgendwelche Artikel erinnern kannst", erwiderte Tom giftig, während er sich bemühte, ein riesiges Steinregal von seinem Platz zu bewegen. Dies sah sich leider nicht genötigt, von seinen Bemühungen Notiz zu nehmen.
"Bißchen Hilfe könnte nicht schaden", murrte Tom und sah Dean auffordernd an. Dieser betrachtete amüsiert das Regal.
"Mein lieber Tom. Das Regal dort besteht aus massivem Stein. Um das zu bewegen, brauchst du schon einen Kran oder einen leistungsstarken Gabelstapler, mit Sicherheit aber keinen Biologen", erklärte er mitleidig. Mißmutig stellte Tom daraufhin seine Bemühungen ein, nicht ohne dem Regal vorher noch einen wütenden Fußtritt zu verpassen. Dean erzählte weiter. 
"Um auf den Artikel zurückzukommen. Wenn ich mich recht erinnere, befasste sich dieser mit der Quantenmechanik."
"Quanten.... was?" Tom sah seinen Freund entgeistert an.
"Quantenmechanik." Dean war jetzt wieder ganz in seinem Element, und seine Stimme nahm den von Tom so gefürchteten Professorenstil an. Tom fragte sich, warum er bei diesen Gelegenheiten immer das Gefühl hatte, ein kleiner Junge zu sein, der sich auf eine Klassenarbeit im Bruchrechnen vorbereitet hatte und stattdessen mit der Relativitätstheorie konfrontiert wurde. Er schüttelte den Kopf, um den unerfreulichen Gedanken loszuwerden und versuchte, sich auf Dean zu konzentrieren, der schon mitten in seinen Erklärungen war. 
".....und das versteht man daher gemeinhin unter der Quantenmechanik" führte er gerade aus. "Der Artikel beschäftigte sich im wesentlichen mit den Interferenzen von Photonen zueinander und bezog in diesem Zusammenhang eine Theorie aus den fünfziger Jahren mit ein. Ich glaube, sie hieß die Theorie des multiplen Universums oder so ähnlich."
Tom sah seinen Freund an, als wäre dieser gerade zu einem Banjo spielenden Werwolf mutiert. Dann platzte es aus ihm heraus: "Wir sitzen hier irgendwo unter der Erde in einem Kellerloch fest. Draußen tobt eine Bande axtschwingender, zu kurz geratender Weihnachtsmänner durch die Gegend und du hältst mir hier einen wissenschaftlichen Vortrag über Protonen und irgendwelche Theorien aus den Fünfzigern!" Tom konnte es einfach nicht fassen, wissenschaftliche Begeisterung hin oder her, das war zuviel!
"Nicht Protonen, Photonen", erwiderte Dean ungerührt.
"Ich glaube das einfach nicht. Hauptsache, Herr Professor kann ein wenig philosophieren. Na schön, was soll’s, wir haben ja jede Menge Zeit für wissenschaftliche Vorträge. Es ist ja nicht so, als ob irgendetwas Dringenderes anstehen würde", rief Tom und reckte die Hände zur Decke, als würde er von höherer Seite Unterstützung erwarten. Die blieb natürlich aus. Nur ein wenig Kalk rieselte mitfühlend von der Decke und so ließ er nach ein paar Sekunden resigniert die Arme wieder sinken. Dean sah ihn mißbilligend an. Als Wissenschaftler mit Leib und Seele schätzte er es gar nicht, wenn man seinen Ausführungen nicht voller Wissensdurst lauschte, sondern sich stattdessen über ihn lustig machte. Aber das Verhalten seines Freundes war ihm ja nicht neu und so fuhr er unbeeindruckt fort.
"Also, dieser Theorie zufolge sollen außer dem uns bekannten Universum, noch weitere, parallele Universen sozusagen nur einen Steinwurf weit weg existieren. Kannst du mir folgen?"
Tom hatte sich inzwischen damit abgefunden, von Dean mit wissenschaftlichen Erklärungen gequält zu werden. Er wußte aus Erfahrung, dass es praktisch nichts gab, mit dem man Dean von etwas abbringen konnte, für das er sich erst einmal erwärmt hatte. Ausgenommen vielleicht ein Schlag mit einer soliden Keule auf den Kopf. Da Tom aber gerade keine griffbereit hatte, seufzte er ergeben und antwortete: "Selbstverständlich." In so einem Fall wußte Tom, war es das Beste, einfach nur zuzustimmen, es sei denn, man hatte für den Rest des Tages nichts anderes mehr geplant und Zeit für endlose Debatten. Deans Mundwinkel verzogen sich nach unten. Er kannte dieses Verhalten seines Freundes nur zu gut, hakte aber nicht nach.
"Wenn man dieser Theorie also Glauben schenkt, ist von einem multiplen Universum auszugehen. Dieser Denkansatz ist immer noch aktuell, weil es ein Experiment gibt, das sich mit der Interferenz von Photonen beschäftigt und indirekt in die gleiche Richtung zielt." Tom stöhnte. "Einfach ausgedrückt, das Experiment läßt den Schluß zu, dass Photonen unter anderem auch durch Interferenzen aus anderen Dimensionen beeinflußt werden, also diese durchdringen. Dimensionen, die sich von den uns bekannten unterscheiden. Die Einzelheiten dieses Experiments erspare ich dir, es sei denn, du möchtest sie gerne hören." Dean sah Tom hoffnungsvoll an. Der trug einen Gesichtsausdruck wie ein Neandertaler zur Schau, der gerade einen Crashkurs über die elementaren Grundkenntnisse der Kernspaltung hinter sich gebracht hatte und nun aufgefordert wurde, eine kurze Zusammenfassung zu liefern. Dean hielt es daher für besser, Tom mit weiteren Einzelheiten nicht auch noch den restlichen Verstand zu vernebeln.
"Du hast immer noch keine Ahnung, was ich damit sagen will, oder?", fragte er vorsichtig. Tom schüttelte stumm den Kopf. Diesmal warf Dean die Arme verzweifelt in die Luft. Manchmal hatte er das Gefühl, jeder Getränkeautomat würde ihn besser verstehen.
"Aber das ist doch ganz einfach", rief er ungehalten. "Wenn man die Behauptung des multiplen Universums als wahr unterstellt, existieren parallel zu unserem Universum diverse Dimensionen, die quasi nur einen Schritt entfernt sind. Soweit klar? Gut! Bisher hat nur noch keiner den letzten Beweis hierfür erbringen können, weil keiner weiß, wie man sie betreten kann – doch jetzt sieht das anders aus." 
Er schwieg bedeutungsvoll und sah Tom an. Bei dem begann sich allmählich, träge, wie zäh fließender Honig, die Erkenntnis ihre Bahn zu brechen. 
"Du meinst...", sagte er nach einer Weile zögernd.
"Genau, wir haben den Zugang gefunden. Ich weiß nicht, wo wir uns befinden, aber eins weiß ich mittlerweile ganz sicher..", sagte Dean überzeugt und schwieg ein paar Sekunden, bevor er weitersprach, "wir sind nicht mehr in Amerika, sondern im wahrsten Sinne des Wortes verschollen in einer anderen Dimension." Dann zog er die Beine heran und verschränkte die Arme auf den Knien. Diese Stellung, nahm er immer dann ein, wenn er vor einem Problem stand, welches sich nur mit ausgiebigem Nachdenken lösen ließ. Tom starrte den so ruhig vor ihm sitzenden Freund fassungslos an. 
"Oh verfluchter Mist", brüllte er dann los, als ihm allmählich das Ausmaß ihrer Situation klar wurde. "Ich glaube das einfach nicht. Du und dein verfluchter Forscherdrang." Verzweifelt fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und begann, wie ein Tiger im Käfig vor Dean auf und ab zu laufen. "Und wie gedenken der Herr Professor uns hier wieder herauszubringen? Sollen wir vielleicht ein Taxi rufen oder eine Email schicken? SOS, benötigen neues Wurmloch für Rückreise." 
"Hey, das ist vielleicht gar nicht mal so schlecht", rief Dean, dem eine Idee gekommen war. "Du fängst an, wie ein Wissenschaftler zu denken."
"Klar, ich arbeite an meiner Abhandlung über interstellare Verbindungen und Raumkrümmungen. Sag bloß, das wußtest du noch nicht?", fauchte Tom zurück. 
"Nein, nein, ich meine das ernst. Die Bemerkung mit dem Wurmloch war gar nicht so verkehrt. Erinnere dich doch mal daran, wie wir hierher gekommen sind. Dieses Loch war so dunkel, dass es sogar Licht verschluckte; und dann die Sache mit deiner Hand. Verschwunden, wie in einem schwarzen Loch." Tom sah seine Hand an und bewegte vorsichtig die Finger, wenigstens die funktionierten noch. 
"Vielleicht ist das so eine Art Wurmloch", erklärte Dean weiter, "mit dem man von unserer Dimension in die nächste Dimension reisen kann. Und es muß noch weitere Ausgänge und vielleicht sogar Eingänge geben, wie bei den Stationen einer Untergrundbahn." Tom stellte die Überprüfung seiner Gliedmaßen ein und sah seinen Freund spöttisch an. 
"Und was bringt dich zu dieser glorreichen Erkenntnis?" 
"Überlege doch mal, die Zigarettenschachtel. Jemand hat schon vor uns diesen Weg genommen."  Tom nickte mitleidig und verzog die Mundwinkel. 
"Ja, und wahrscheinlich ist dieser jemand schon mit Steineklopfen hier in der Mine beschäftigt, trägt einen langen Bart und hat ein Verhältnis mit Schneewittchen."
"Nein, das kann nicht sein", hielt Dean dagegen.
"Wieso nicht? Ist Schneewittchen schon anderweitig vergeben?"
"Sehr komisch, nein, dieser Zwerg hat doch gesagt, dass noch kein Mensch die Mine betreten hat. Wer immer vor uns diesen Weg genommen hat, ist woanders gelandet. Falls also wider Erwarten der Rückweg von hier aus nicht möglich sein sollte, immerhin war der Tunnel ja verschwunden, wie du dich vielleicht erinnern magst, gibt es möglicherweise an anderer Stelle Übergänge in unsere Welt."
"Möglich wäre es", räumte Tom bereitwillig ein, "aber nicht wahrscheinlich. Woher willst du wissen, wo sich der nächste Übergang befindet? Willst du die Auskunft anrufen? Nein, nein mein Freund. Wahrscheinlicher ist es da schon, dass uns die kleinen grünen Männchen hier rausbeamen und uns an der nächsten Bushaltestelle absetzen." 
Dean schwieg eine Weile, dann gab er ernüchtert zu: "Na schön, ich weiß ja auch nicht, wie wir zurückfinden sollen, aber irgendwo müssen wir anfangen. Vielleicht können uns die Bewohner hier helfen, wenn wir sie erst mal davon überzeugt haben, dass wir keine Eindringlinge sind."
"Helfen, ha, die drücken uns höchstens eine Spitzhacke in die Hand, und dann kannst du in einem staubigen Stollen für den Rest deines Lebens Steine zerkleinern", erwiderte Tom zynisch. Gleichwohl mußte er sich eingestehen, dass er wieder Zuversicht verspürte, wenn auch nur sehr wenig. Eine Weile diskutierten sie noch weiter, bis Tom schließlich müde wurde und einfach da, wo er saß, einschlief. Dean, der seinen Freund schon immer um diese Fähigkeit beneidet hatte, blieb noch eine Weile wach und überdachte ihre Lage. Doch schließlich übermannten auch ihn die Strapazen des Tages und er fiel in einen unruhigen Schlaf.

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- 4 -

Geräuschvoll drehte sich der Schlüssel im Schloß, und die schwere Stahltür schwang quietschend auf. Dean und Tom, die schon seit einiger Zeit wach waren und denen sämtliche Knochen vom Schlafen auf dem harten Boden wehtaten, waren gespannt darauf, was sie nun erwarten würde. Jede zeitliche Orientierung war ihnen abhanden gekommen. Ihre batteriebetriebenen Armbanduhren hatten mit dem Eintritt in diese Welt den Dienst quittiert. Beunruhigt sahen sie, wie ein bewaffneter Zwerg den Raum betrat, während vier weitere als Bewachung vor der Kammer stehen blieben. Alle waren mit einer Axt und zwei Zwerge zusätzlich mit einer Armbrust ausgerüstet. Allerdings steckten die Äxte in ihren Halterungen und die Armbrüste hielten ihre Bewacher locker in den Händen, ohne direkt auf sie zu zielen. Der Zwerg, der den Raum betrat, schien der zu sein, auf den sie zuerst gestoßen waren. Seine Haltung wies zwar nicht mehr die Feindseligkeit auf, die er bei ihrem ersten Zusammentreffen an den Tag gelegt hatte, trotzdem war die riesige Axt auf seinem Rücken nicht unbedingt vertrauenerweckend. "Mit einer Gießkanne in der Hand wäre er mir sympathischer", stellte Tom nüchtern fest.
"Mein Name ist Gart", teilte der Zwerg ihnen mit finsterer Miene mit, während er überlegte, was wohl eine Gießkanne war. Dean lächelte ihn freundlich an. Doch der Zwerg, der nicht sicher war, was er von einem grinsenden Studenten und einer Gießkanne halten sollte, befahl ihnen barsch, den Raum zu verlassen. "Los, Studenten, der Rat der Zwerge wünscht euch zu sehen. Ich hoffe, ihr seid vernünftig genug, freiwillig mitzukommen, sonst...." Er schwieg bedeutungsvoll und wies mit einer kurzen Handbewegung auf die vier Zwerge vor der Tür, von denen einer ein solide aussehendes Seil am Gürtel trug und, soweit man das bei dem Haar- und Bartgestrüpp beurteilen konnte, gehässig grinste. 
"Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird", beschwichtigte Dean den Zwerg schnell, bevor Tom eine entsprechende Bemerkung machen konnte. "Auch wir sind sehr daran interessiert, mehr über diesen Ort zu erfahren und mit eurem Rat zu sprechen." 
"Wenn es uns auch schwer fällt, dieses fünf Sterne Etablissement zu verlassen. Ich werde den Service weiterempfehlen", ergänzte Tom. Gart runzelte die Stirn. Dem Ton nach, schien sich der große Mensch dauernd über ihn lustig zu machen, allerdings vermochte er den Sinn seiner Äußerungen nicht nachzuvollziehen. Doch das war nicht das Einzige, was Gart irritierte. Zu seiner Verwunderung bestand die Kleidung der Eindringlinge weder aus Leder noch aus dem üblichen derben Tuch, von Rüstungsteilen oder einer Waffe ganz zu schweigen. Gart war neugierig darauf, was bei dem Gespräch vor dem Rat herauskommen würde. Die Prozession machte sich also auf den Weg. Zwei Wachzwerge gingen vorweg, dann kam Gart, gefolgt von den beiden Freunden. Die Nachhut bildeten die übrigen Wachzwerge. Gart ignorierte hartnäckig alle Fragen, die ihm die Freunde während des Marsches durch die Unterwelt stellten, und nach einer Weile gaben sie es auf. Tom verbiß sich sogar seine zynischen Kommentare. Stattdessen konzentrierten sie sich auf die ungewöhnliche Umgebung. Tom überlegte, ob sie nicht versuchen sollten, zu fliehen. Immerhin übte er sich seit Jahren in Karate. Nun ist es aber eine Sache, in einer zivilisierten Welt einem Trainingspartner gegenüber zu stehen, oder einen wehrlosen Sandsack zu verprügeln, eine ganz andere, sich mit fünf schwerbewaffneten Zwergen anzulegen. Tom hatte so eine leise Ahnung, dass sie sich nicht so kooperativ wie der Sandsack verhalten würden. Im übrigen gestand er sich resigniert ein, wüßte er gar nicht, wohin sie fliehen sollten. Selbst mit der besten Karte würden sie in diesem Labyrinth wahrscheinlich nur verzweifeln. Also verschob er entsprechende Pläne auf später und folgte mißmutig den Zwergen. Der Weg war lang und die beiden Freunde hätten nicht sagen können, ob es der gleiche  war, den sie gekommen waren. Zu vielfältig waren die Eindrücke und zu verwirrend die zahllosen Gänge. Offenkundig hatte sich ihre Ankunft herumgesprochen; denn überall standen Zwerge zusammen und tuschelten aufgeregt. Einige winkten mit ihren Äxten und machten eindeutige Zeichen mit einem Finger in Halshöhe. Die Freunde waren daher fast froh, dass sie von der Wache begleitet wurden. Als Tom sich nach einer Weile ernsthaft fragte, ob sich ihre Führer vielleicht verirrt hatten - immerhin hatten sie schon dreimal nach dem Weg gefragt - hielten sie schließlich vor einer überdimensionalen, goldfarbenen Tür an, auf der mehrere bunte Wappen und dicke Zwerge in wehenden Umhängen eingraviert waren. Gart befahl ihnen, draußen zu bleiben, dann verschwand er durch die Tür. Als er kurze Zeit später zurückkam, öffnete er die riesige Tür und verkündete: "Der Rat ist bereit." 
Zögernd traten die Freunde ein. Der Anblick, der sich ihnen bot, war überwältigend. Der Raum war groß, vergleichbar einem Vorlesungs- oder Gerichtssaal und wurde von unzähligen Fackeln erleuchtet. Steinbänke waren im Kreis angeordnet und wurden durch entsprechende Gänge zur Mitte hin in vier gleich große Bereiche aufgeteilt. Zur Zeit waren Sie unbesetzt. An den Wänden hingen große Gemälde, die Zwerge in allen möglichen Posen zeigten. Die Freunde waren sich nicht sicher, ob ihnen die Darstellungen gefielen, da überwiegend Äxte eine unerfreuliche Rolle spielten. In der Mitte des Saales befand sich ein erhöhtes Podest, auf dem ein mächtiger steinerner Tisch stand, hinter dem fünf Zwerge würdevoll ihre Ankunft beobachteten. Im Gegensatz zu den Zwergen, die die Freunde bisher gesehen hatten, waren sie nicht in Leder gekleidet, sondern trugen ein dunkles Gewand mit Kapuze. Tom mußte unwillkürlich an Mönche denken, die aus Versehen gemeinsam mit ihrer Kutte bei 90 Grad zu heiß gewaschen worden waren. "Zumindest schleifen sie noch nicht ihre Äxte", dachte er, registrierte aber zugleich mit Unbehagen, dass entlang der Wände mehrere Wachen mit Armbrüsten ihre Ankunft argwöhnisch zur Kenntnis nahmen. Vis a vis zum Tisch der Zwerge, auf Höhe der Zuschauerbänke, stand ein einzelner Tisch, der offensichtlich für die beiden Freunde vorgesehen war; denn auf ihm lagen, fein säuberlich ausgebreitet, die Sachen aus ihren Rucksäcken. 
"Die Studenten", verkündete Gart mit einer Stimme, die dem Wort eine  Bedeutung gab, von der Tom nicht sicher war, ob er über diese glücklich sein sollte. "Tretet vor!" Die Stimme war überraschend dunkel und volltönend. Einer der fünf Zwerge wies einladend auf die Bank und den Tisch. Tom und Dean traten vor und nahmen vorsichtig auf der für sie viel zu niedrigen Steinbank Platz. "Hey, Wahnsinn, ich habe meinen CD-Player wieder." Voller Begeisterung betrachtete Tom ihre auf dem Tisch befindlichen Sachen und vergaß für einen Augenblick völlig die Zwerge um sie herum. Die elektrischen Geräte funktionierten natürlich nicht mehr, da auch ihre Batterien und Akkus auf der Reise ihre Ladung eingebüßt hatten, aber das störte die Freunde nicht. Dies hier war ein Stück Heimat. Die Zwerge ließen sie einen Augenblick gewähren, dann ergriff ein fast weißhaariger Zwerg in der Mitte des Podiums das Wort, und seine Stimme hallte laut durch den Saal. "Seit Jahrhunderten ist die Mine von Medara die Heimat der Zwerge. Generationen haben hier schon gelebt, und nie hat ein Fremder es gewagt, hier einzudringen." Der Zwerg schwieg salbungsvoll, während Tom enttäuscht seinen nicht mehr funktionierenden CD-Player wieder hinlegte. "Wir waren überzeugt, dass dies auch so bleiben würde", fuhr der Zwerg fort. Die beisitzenden Zwerge nickten gewichtig. "Doch nun", der Zwerg hob die Stimme an, "haben Fremde sich erdreistet, diese, unsere heilige Ruhe zu stören. Sie nennen sich selbst Studenten, was immer sich auch hinter dieser Bezeichnung verbergen mag. Unser treuer Bruder Gart hat uns von ihrem ungewöhnlichen Eindringen berichtet. Die Chronik Medaras weist kein vergleichbares Ereignis auf. Doch wir wollen nicht vorschnell urteilen. Die Tradition verlangt es, erst zu richten, wenn die Schuld zweifelsfrei feststeht. Wir haben daher beschlossen, euch die Gelegenheit zu geben, dieses Tribunal von Eurer Unschuld zu überzeugen." Mit diesen Worten gab er einen kurzen Wink, worauf ein Zwerg herantrat und vor den Freunden zwei silberne, kunstvoll ziselierte Becher, die mit einer undefinierbaren Flüssigkeit gefüllt waren, auf dem Tisch abstellte. Grüner Dampf stieg aus ihnen empor. "Igitt, das ist ja noch schlimmer als deine Armyrationen." Angeekelt schob Tom den Becher von sich. Auch Dean war wenig angetan. Als Biologe widersprach es seiner Lebenseinstellung, dampfende, unbekannte Flüssigkeiten aus fraglicher Konsistenz in sich hinein zu schütten. Er war sich zwar bewußt, dass er das in der Mensa jeden Tag tat, aber dies hier war eindeutig noch eine Stufe schlimmer. Tom vermutete, dass es selbst für Biologen irgendwo Grenzen gab. "Trinkt", forderte der Zwerg sie auf. Tom verschränkte die Arme vor der Brust und legte die Füße auf den Tisch. 
"Nur über meine Leiche", verkündete er. Die Zwerge grollten.
"Was er sagen will", versuchte Dean die Wogen zu glätten und verpaßte seinem Freund einen markigen Stoß mit dem Ellenbogen, worauf dieser fast von der Bank fiel, "ist, dass wir Ihnen für die freundliche Einladung danken", erwiderte er vorsichtig und lächelte gequält, "wir aber Ihre Gastfreundschaft wirklich nicht überstrapazieren möchten."
 "Trinkt!" Die Stimme des Zwerges klang kompromißlos und ließ an der Alternative, Axt statt Gebräu, keinen Zweifel aufkommen.
"Warum wollen Sie uns vergiften?", jammerte Dean. "Ich denke, wir bekommen eine Chance, alles zu erklären." 
"Ich verstehe." Die Stimme des Zwergs klang nun wieder versöhnlicher. "Ihr irrt, wenn Ihr glaubt, dass wir Euch vergiften wollen. Wenn wir es auf Euren Tod abgesehen hätten, würden wir kaum einen solchen Aufwand betreiben."
"Wer weiß, vielleicht wird die gute alte Axt oder ein Bolzen zwischen die Augen auf Dauer zu langweilig", warf Tom ein und erntete dafür böse Blicke. 
"Wie ich schon sagte, Ihr irrt. Wenn Ihr redlichen Herzens seid, braucht Ihr keine Angst zu haben, der Trank ist harmlos. Es ist der Trank der Wahrheit. Er macht es Euch nur unmöglich, uns zu belügen. Wir Zwerge sind von Natur aus vorsichtig, eine alte Tradition. Also, wenn Ihr nichts zu verbergen habt, dann trinkt dies und erzählt uns Eure Geschichte." 
Der Zwerg lehnte sich zurück und sah sie auffordernd an. Die Freunde zögerten trotzdem noch einen Augenblick, dann nickten sie sich kurz zu, nahmen die Becher, wobei Tom noch irgendetwas von der Genfer Menschenrechtskonvention murmelte, und stürzten das widerliche Gebräu hinunter. "Pfui Teufel, wenn mir jetzt auch so ein Bart wächst, wie diesen Karnevalsfiguren hier, dann werden die mich kennenlernen", krächzte Tom und setzte den Becher schwer auf dem Tisch ab. Deans Gesicht hatte derweilen ein verblüffende Ähnlichkeit mit dem Inhalt des Bechers angenommen. "Grün steht dir gut", bemerkte Tom gehässig. Dean erwiderte nichts, da er viel zu sehr damit beschäftigt war, das Gebräu nicht großzügig im Raum zu verteilen. Nachdem seine Geschmacksnerven ihre Bemühungen, kunstvolle Knoten in seine Gedärme zu machen, aufgegeben hatten, drehte er den leeren Becher demonstrativ um und setzte ihn ab. Die Zwerge nickten zufrieden.
"Wie hältst du das bloß aus?", fragte er Tom.
"Ach weißt du, wenn man einmal deine Kochkunst genossen hat, kann einen nur noch wenig umwerfen." Dean war beleidigt
"Ihr habt einen ersten Vertrauensbonus", unterbrach der Zwerg ihren Disput. "Nun beweist, dass Ihr ihn auch verdient." Die Freunde berieten sich leise und kamen überein, dass Dean die Rolle des Erzählers übernehmen sollte. Dieser räusperte sich vernehmlich und fing an zu erzählen: "Alles begann vor ein paar Tagen ganz harmlos...." Dean berichtete den Zwergen ausführlich über die Umstände, die zu ihrer Ankunft hier geführt hatten, ihren Ausflug, die Entdeckung der Höhle und die Einzelheiten ihrer Reise. Die Zwerge stellten viele Fragen und Dean wurde nicht müde, sie zu beantworten. Mit Staunen und Unglauben reagierten sie auf seine technischen Erklärungen zur Funktion der auf dem Tisch liegenden Geräte. Auch Gart wurde zu Einzelheiten ihres Auffindens ausgiebig befragt. Allerdings brauchte er das Gebräu nicht zu trinken, wie die Freunde verärgert feststellten. Schließlich kam Dean zum Schluß: "Und so landeten wir in dem Gang, in dem uns ihr Bruder Gart fand." Erschöpft von der langen Rede lehnte er sich zurück. "Du kannst aufwachen, ich bin fertig", flüsterte er Tom zu, der daraufhin unwillig aus seinem Dämmerschlaf hochschreckte. Die Zwerge berieten sich lange miteinander. Sie zweifelten nicht an der Wahrheit des Berichteten; denn der Wahrheitstrank war unfehlbar. Gleichwohl waren sie sich nicht sicher, wie sie in dieser Angelegenheit nun verfahren sollten. Schließlich richtete der weißhaarige Zwerg wieder das Wort an sie: "Wenn wir Euch recht verstehen, sollen wir Euch helfen, den Rückweg in Eure Welt zu finden."
"Richtig, sehen Sie es einmal so: Ich glaube kaum, dass sich Ihre und unsere Welt verstehen würden, und deshalb sollten Sie versuchen, eine Möglichkeit zu finden, diese Zugänge zu kontrollieren. Es sei denn, Sie hätten nichts dagegen, wenn hier demnächst unverhofft Leute aus unserer Welt auftauchen würden." In Gedanken stellte sich Dean eine Horde von Touristen vor, die von dem völlig verdatterten Zwerg Andenken kaufen wollten oder gar auf die Idee kommen würden, die Zwerge selbst als Gartenaccessoire mitzunehmen. Er konnte die typische Touristin förmlich vor sich sehen, wie sie dem entsetzten Zwerg am Bart zog und begeistert flötete: "Ist der nicht süüüüüüüüüßßßßß??? Den muß ich haben, er paßt so gut zu unseren Gartenmöbeln." 
Auch die Zwerge schienen sich mit ähnlichen Gedanken zu plagen; denn ihre Gesichter drückten alles andere als strahlende Begeisterung aus. 
"Wir erkennen durchaus die Relevanz und die Dringlichkeit Eures Begehrens. Doch leider ist uns kein vergleichbarer Fall bekannt. Es gibt in Medara keinen Übergang, der in Eure Welt führen könnte. Den Gang, durch den Ihr gekommen seid, haben wir vorsorglich verschüttet, obwohl wir keinerlei Hinweis auf den geheimnisvollen Tunnel gefunden haben. Ich fürchte, Ihr müßt woanders nach einem Übergang in Eure Welt suchen. Es wäre das beste, wenn ihr Gart begleiten würdet. In einigen Tagen wird er geschäftlich nach Wehrheim am Meer aufbrechen. Vielleicht erfahrt Ihr dort etwas, das euch weiterhelfen könnte. Wehrheim ist die belebteste Handelsregion weit und breit. Neuigkeiten verbreiten sich dort, wie ein Lauffeuer. Gart wird Euch helfen, etwas in Erfahrung zu bringen. Im übrigen habt Ihr Recht. Wir haben selbstverständlich ein Interesse daran, zu verhindern, dass sich so etwas wiederholt und daher beschlossen, dass Gart Euch solange begleiten wird, bis Ihr hinter das Geheimnis gekommen und in Eure Welt zurückgekehrt seid." Dann sahen die Zwerge Gart ernst an, der sich plötzlich mit der Rolle des Fremdenführers konfrontiert sah. "Gart, die Verantwortung liegt nun bei dir. Zeige dich der Aufgabe würdig und kümmere dich um die Studenten. Die Anhörung ist beendet." 
Die Zwerge erhoben sich und entließen sie mit einer entsprechenden Handbewegung. Die Freunde folgten daraufhin Gart etwas bedrückt aus dem Saal. Der Zwerg wußte noch nicht so recht, ob er sich nun freuen oder irgendwo eingraben sollte. "Hört mal ihr beiden", begann er, während er sie durch die Gänge zur Ausrüstungsabteilung führte und die Freunde musterte, "in diesem Aufzug könnt ihr unmöglich mit nach Wehrheim kommen." Demonstrativ zeigte er auf den leuchtend neonfarbenen Anorak Deans, auf dem unübersehbar der Name eines einschlägigen Sportartikelausstatters prangte. 
"Die sind aber nützlich und bequem", maulte Dean.
"Und tödlich", ergänzte der Zwerg.
"Wieso?", warf Tom ein. "Glaubst du, die Bewohner von Wehrheim trifft der Schlag, wenn sie mal was Modisches zu sehen bekommen?"
"Nein, aber unterwegs könnten viele Lebewesen Hunger bekommen, wenn ihnen so leuchtende Appetithappen über den Weg laufen. Ich weiß ja nicht, wie das in eurer Welt ist, aber bei uns trägt man nicht unbedingt ein Schild um den Hals auf dem steht: Bitte fressen." Das ernüchterte die Freunde schlagartig. Deans wissenschaftliche Neugier war erwacht: 
"Willst du damit andeuten, dass es draußen blutrünstige Lebewesen gibt?"
"Darauf kannst du deine Axt verwetten", erwiderte der Zwerg. 
Das war interessant! Während Dean in Gedanken dabei war, sich die absonderlichsten Kreaturen vorzustellen, erreichte das Trio die Schneiderkammer. Die Entscheidung des Rates hatte sich rasend schnell herumgesprochen, und so wurden sie dort neugierig begrüßt. Die anschließende Kleiderauswahl gestaltete sich allerdings schwierig und so dauerte es eine Weile, bis sie sich auf eine Bekleidungsform einigten, bei der sich der Bart der Zwerge nicht vor Entsetzen kräuselte und die Freunde nicht das Gefühl hatten, zum Bruder von Rumpelstielzchen mutiert zu sein. Zum Glück arbeiteten die Schneiderzwerge schnell und so trugen die Freunde alsbald lederne Hosen, die in Höhe der Taille mit einen Lederband zugeschnürt wurden, sowie eine leichte Lederweste, die von einem großen Gürtel zusammengehalten wurde über ihren Pullovern. Das Tragen einer Kopfbedeckung hatten sie strikt abgelehnt. Im fachgerechten Hilfszwergenoutfit ging es dann weiter in die Waffenkammer. Gart hatte ihnen erklärt, dass ein unbewaffneter Mensch in dieser Welt als nackt galt, so dass ihr Styling noch einer gewissen Korrektur bedurfte. Tom war zuerst mit der Wahl der Waffen an der Reihe. Der Waffenschmied war extrem breit und kräftig, und diverse Narben an seinen Armen und im Gesicht machten deutlich, dass er die Waffen nicht nur zu schmieden verstand, sondern offenkundig auch des öfteren im Gebrauch hatte. Tom war der Ansicht, dass er eine echte Herausforderung für jeden Schönheitschirugen gewesen wäre. Er hütete sich jedoch davor, etwaige Andeutungen zu machen. Statt dessen antwortete er lässig auf die Frage des Zwerges, an welche Waffe er denn gedacht hätte: "Eine solide 45´er." 
Der Waffenschmied nickte anerkennend und verschwand in seinem Lager. Sie hörten ihn eine Weile rumoren, dann erschien er wieder und schleifte eine überdimensionale Axt hinter sich her, bei deren Anblick jeder Mammutbaum vor Schreck sofort seine Blätter verloren hätte.
"Bitte, eine 45´er. Gibt nicht mehr viele, die es verstehen, eine 45 Kilo schwere Axt zu handhaben. Respekt, wird nicht oft verlangt." Mit einem dumpfen Geräusch landete die Axt vor Tom auf dem Tresen. Dieser starrte entsetzt das Monstrum an, während Dean sich das Lachen kaum verbeißen konnte. Auch Gart war amüsiert. Er begriff, dass der Mensch unter einer 45´er offenkundig etwas anderes verstand, aber die Situation war einfach zu komisch, als dass er helfend eingreifen wollte.
"Schöne Sache, hmm? Willst ´sie mal ausprobieren, hmmm? Mal einen Testwurf machen, hmm?" Der Waffenschmied sah Tom aufmunternd an.
"Testwurf!" Tom war konsterniert. "Willst du damit andeuten, dass es Leute gibt, die so etwas hier werfen?" Beide Zwerge nickten zustimmend.
"Klar, wenngleich sie über fünfzehn Meter Wurfweite zur Ungenauigkeit neigt. Dafür ist ihre Durchschlagskraft unschlagbar, gute Wahl, hmmmm." 
"Wenn ich ehrlich sein soll, die Farbe gefällt mir nicht, paßt nicht so gut zu meinen Augen." Die Zwerge grinsten. Ihnen war klar, dass der Mensch die Axt zwar noch hochheben, sie aber keinesfalls werfen konnte. Selbst unter den Zwergen gab es der Legende nach nur wenige, die dies fertiggebracht haben sollen. Aber es machte ihnen Spaß, den Menschen aufzuziehen. 
"Die habe ich auch noch mal in blutrot da, allerdings nur in der einhändigen Ausführung für Leute mit einer guten Rückhand."
"Einhändig?" Tom war sprachlos. Er stellte sich vor, wie er mit der Axt zu seinem wöchentlichen Tennistraining erscheinen würde, um seine Rückhand zu verbessern. Er bezweifelte, dass sein Lehrer hierfür großes Verständnis aufbringen würde. Außerdem hatte er schon einen Tennisarm!
"Ich glaube, ich nehme doch lieber ein Schwert oder ein Rapier. Aufspießen ist doch irgendwie eleganter, oder?" Tom sah den Zwerg um Verständnis heischend an. Der schleppte die Axt grinsend wieder weg und brachte diesmal eine Auswahl an respektablen und für die Freunde auch brauchbaren Waffen mit. Tom wählte, nun vorsichtiger geworden, ein Rapier und einen Langbogen aus solidem Ebenholz. Im Fechten und Bogenschießen hatte er sich, wenn auch nicht sehr erfolgreich, schon einmal versucht. Für Dean war es eindeutig schwerer. Bisher hatte er noch nie eine Waffe in der Hand gehalten. Nachdem er mehrere leichte Schwerter wie einen Spazierstock haltend ausprobiert und dabei Gart beinahe skalpiert hätte, entschied er sich schließlich für ein leichtes Kurzschwert und einen fies aussehenden Dolch. Anschließend brachte Gart sie zu ihrer neuen Unterkunft, die, abgesehen von zwei Steinpritschen und einer steinernen Waschschüssel sowie einem Loch im Boden für entsprechende Verrichtungen, keine echte Verbesserung gegenüber ihrer ersten Unterbringung darstellte. Wenigstens verzichteten die Zwerge darauf, sie einzuschließen. In den folgenden Tagen versuchten die Freunde, trotz der Aussage des Rates, den Durchgang zu ihrer Welt in den weiten Gängen Medaras zu finden. Doch schließlich mußten sie sich widerstrebend eingestehen, dass der Rat Recht zu haben schien. Von hier aus war eine Rückkehr offenbar unmöglich. Da die Reise nach Wehrheim also unvermeidlich schien, ließen sie sich wohl oder übel von Gart in der Handhabung der Waffen einweisen, was diesen Nerven und einige Barthaare kostete. Die Zeit verging wie im Fluge und eines Morgens war es dann endlich soweit, die Reise nach Wehrheim und damit hoffentlich zurück nach Hause, konnte beginnen.
 

© Klaus-Peter Behrens
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Und schon geht's weiter zum 3. Kapitel: "Aufbruch nach Wehrheim"

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