- 1 -
Die Mine von Medara lag tief im Düsterwaldgebirge.
Dunkle, dichte und nur schwer zu durchdringende Wälder zogen sich
bis hoch in die mit ewigem Schnee bedeckten Berge hinauf. Reißende
Gebirgsbäche und Legenden über zweifelhafte Bewohner dieser Region
sorgten dafür, dass Wanderer und Abenteurer in dieser Gegend kaum
anzutreffen waren und selbst der örtliche Tourismusverein die Gegend
zum Outback erklärt hatte. In dieser unerfreulichen Region lag die
sagenhafte Mine der Zwerge. Es wäre allerdings ein fataler Fehler,
sich unter den Betreibern die typischen, Schubkarren schiebenden oder angelnden
Exemplare vorzustellen, wie man sie in den heimischen Vorgärten anzutreffen
pflegt. Die hier lebenden Zwerge würden bei dem Anblick mit Sicherheit
einen schweren Anfall bekommen und dem unglücklichen Eigentümer
mittels ihrer Axt unmißverständlich klarmachen, was sie davon
hielten. Zwerge sind nämlich höchst reizbare und übellaunige
Gesellen, was verständlich ist, da das ewige Bearbeiten von Gestein
mit der Spitzhacke auch dem sanftmütigsten Zwerg inzwischen die Laune
verdorben hat. Einige Zwerge ziehen es daher vor, in die umliegenden Ländereien
zu reisen, um die in den Minen gefertigten Goldarbeiten oder Waffen zu
verkaufen. Nur wenige würden allerdings auf die Idee kommen, einem
Zwerg auf so einer Reise das Gold abzunehmen oder ihn beim Handeln zu betrügen.
Zwerge verstehen da keinen Spaß. Überhaupt haben Zwerge nur
sehr wenig Sinn für Humor und wenn, spielen bei ihrer Art von Humor
in der Regel eine Axt und irgendwelche fehlenden Gliedmaßen eine
Rolle.
Ein besonders repräsentatives Beispiel
dieses reizbaren Volkes war Gart, der mit einer Größe von hundertfünfzig
Zentimeter ein wenig größer war, als der durchschnittliche Zwerg.
Sein Haar und sein Bart waren grau und lang, wie bei allen Zwergen. Die
von der vielen Arbeit im Bergbau steinhart gewordenen Muskeln ermöglichten
es ihm, nicht nur die Spitzhacke, sondern auch seine riesige Axt spielend
zu handhaben. Diese Fähigkeit hatte Gart, der zu der Art Zwerge gehörte,
die lieber reisten, schon so manchen Verhandlungserfolg gesichert. Wer
einmal einen tobenden Zwerg mit einer Axt gesehen hat, wird dies kaum in
Abrede stellen. So kam es, dass die Zwergengilde mit Vorliebe Gart auf
Handelsreisen schickte, was diesem nur recht war. Nun stand in Kürze
eine neue Geschäftsreise in die mehrere Tagesreisen entfernte Küstenstadt
Wehrheim an, und Gart war entsprechend gut gelaunt, als er aus dem Verwaltungsbüro
der Zwergenmine zu den tiefer liegenden Werkstätten und Lagerräume
unterwegs war, um die geplante Lieferung vorzubereiten. Der Weg dorthin
war weit, denn die Mine von Medara war unzählige Etagen tief in den
Fels eingegraben. Stollen, Lager- und Werkstätten, Wohnquartiere und
sonstige Räume verbanden sich zu einem Labyrinth, in dem jeder Außenstehende
zweifellos sein ganzes Leben auf der Suche nach dem Ausgang verbringen
könnte, ohne ihm jemals auch nur nahezukommen. Für Zwerge hingegen
sollte dies prinzipiell kein Problem darstellen, zumal diese nie müde
wurden, mit ihrem unfehlbarem Orientierungssinn zu prahlen. Tatsächlich
kam es jedoch immer wieder vor, dass Zwerge vermißt wurden und erst
Jahre später wieder auftauchten, um zu verkünden, sie seien nur
einmal falsch abgebogen.
Doch mit derartigen Gedanken beschäftigte
sich Gart nicht, als er pfeifend einen der Gänge entlang schlenderte.
Plötzlich vernahm er ein ungewöhnliches Summen. Verwundert sah
er sich in dem zwergenleeren Gang um. Nichts war zu sehen. Zögernd
ging er weiter und lauschte. Das Summen wurde lauter. Gart war nun leicht
beunruhigt. Mit einer gewohnheitsmäßigen Bewegung nahm er seine
Axt vom Rücken, wo sie in einer speziellen Lederhalterung befestigt
war und blieb stehen, um das Geräusch besser lokalisieren zu können.
Doch das schien von überall her zu kommen. Er kannte alle Geräusche
von Medara, aber dieser tiefe, vibrierende Ton war ihm fremd. Das Vibrieren
nahm stetig zu und die Fackeln begannen zu flackern. Das war wirklich seltsam.
Vielleicht hatten seine Kollegen ja einen Gang zu tief gegraben und irgendwelche
Dämonen geweckt, die nun gereizt durch die Gänge liefen. Doch
Gart verwarf den Gedanken sogleich wieder. Welcher halbwegs vernünftige
Dämon würde sich schon in eine Zwergenmine trauen? Während
er noch überlegte, gab es plötzlich einen lauten Knall und eine
gleißende Farbexplosion, so dass der Zwerg erschrocken ein paar Schritte
zurückwich und schützend eine Hand vor die Augen hob. Mitten
im Gang erschien aus dem Nichts eine Öffnung, die in allen Farben
erstrahlte und den Blick auf einen langen, gewundenen, endlos erscheinenden
Tunnel freigab. Wie von Geisterhand wurden zwei Menschen aus dieser Öffnung
heraus geschleudert und landeten unmittelbar vor den Füßen des
entsetzten Zwerges. Mit einem saugenden "Plopp" verschwand die Öffnung
und Gart, der nun wieder den vertrauten Gang vor Augen hatte, sah verblüfft
auf die Eindringlinge herab. Menschen in Medara, das hatte es noch nie
gegeben.
.
- 2 -
Zum dritten Mal in dieser Nacht wurde Tom unsanft
geweckt. Irgend jemand trat ihm kräftig in die Seite. Tom, der glaubte,
gerade einen Alptraum gehabt zu haben, in dem ein bärtiger Irrer mit
einer Axt eine Rolle spielte, war dankbar, aufzuwachen, wenn auch nicht
auf solche Weise.
"Aua", stöhnte er und schlug die Augen
auf, um sie gleich wieder zuzumachen. "Ich träume immer noch", dachte
er, als er den grimmigen Gart erblickte. Doch ein erneuter Tritt bewies
ihm das Gegenteil.
"Los, hoch mit dir", hörte er das Wesen
mit einer Stimme sagen, die an das Aneinanderreiben von Kieselsteinen erinnerte.
"Wer seid ihr und was habt ihr in der Mine von Medara zu suchen?" Dabei
musterte der Zwerg die vor ihm liegenden Menschen auf eine Weise, wie Kammerjäger
gewisse Insekten in feuchten Kellerräumen zu betrachten pflegen. Tom
nahm dies mit Beunruhigung zur Kenntnis. Vorsichtig versuchte er daher,
sich zurückzuziehen. "Mine von Medara?", ächzte er fragend, um
Zeit gewinnen, während er sich nach Dean umsah, der mit einem herzhaften
Stöhnen seine Rückkehr in die Welt der Lebenden bekundete.
"Hey, Dean, wach auf, Überraschung",
rief Tom.
"Ach du liebe Güte", krächzte dieser,
nachdem er nach einem kurzen Blick in die Runde den grimmigen Zwerg erblickt
hatte. "Wo sind wir denn gelandet?"
"In der Mine von Medara", erklärte Tom,
während er gleichzeitig durch eindeutige Zeichen mit seinen Händen
und verdrehten Augen Dean zu verstehen zu geben versuchte, was er von dem
geistigen Zustand des Zwerges hielt.
"Interessant", murmelte der immer noch leicht
benommene Dean vorsichtig, während Tom sich langsam erhob, um weiteren
auffordernden Tritten zu entgehen.
"Vielleicht bekomme ich mal eine Antwort",
knurrte Gart, ungeduldig auf den Füßen wippend, während
er seine Axt vielsagend hin und her schwingen ließ. "Kein Mensch
ist je hier eingedrungen. Das ist ausschließlich Zwergengebiet. Zwerge
seid ihr aber eindeutig nicht, aber was dann? Zauberer? Diebe? Spione?"
Ein drohender Unterton schwang in seiner Stimme mit.
"Studenten", antwortete Dean phantasielos
und musterte voller Interesse die Stollenwände. Im Gegensatz zu Tom
beunruhigte ihn der Zwerg nicht so sehr, dazu war er von der Umgebung viel
zu beeindruckt. Gründlich musterte er die Kacheln am Boden, die glatten,
verzierten, goldfarbenen Gangwände und die Fackelbeleuchtung. Dies
war nicht mehr der Gang, den sie gerade noch erkundet hatten, soviel stand
fest. Soweit er erkennen konnte, zog sich der Gang in beide Richtungen
beträchtlich in die Länge, nur von der Öffnung zum alten
Gang, war keine Spur zu sehen. Das war allerdings beunruhigend. Dean wandte
seine Aufmerksamkeit dem Zwerg zu. Dieser versuchte gerade ergebnislos
einzuordnen, was Dean mit der Bezeichnung "Student" gemeint haben könnte.
Tom unterbrach seine Überlegungen.
"Schöner Tag zum Holzhacken. Du bist
wohl gerade auf dem Weg in den Wald. Nette Axt! Wie wäre es, wenn
du uns mit nach draußen nimmst, dann machen wir uns wieder auf den
Weg und stören dich nicht länger."
Hoffnungsvoll sah Tom auf den Zwerg hinunter.
Doch dieser war entweder zu der Erkenntnis gelangt, dass Studenten etwas
höchst Widerwärtiges sein mußten, oder ihm stand der Sinn
nicht nach Holzhacken oder beides. Jedenfalls hob er drohend mit einer
Hand seine Axt und zog mit der anderen eine Pfeife aus der Hosentasche,
der er einen grellen Pfiff entlockte. Die Freunde hielten sich überrascht
die Ohren zu. Zu allem Überfluß sah Tom einen Augenblick später
etwas, das sein Stimmungsbarometer endgültig auf arktische Temperaturen
sinken ließ. An den jeweiligen Gangenden erschienen gleich mehrere
Zwillingsausgaben des Zwerges, alle bis an die Zähne bewaffnet und
alle mit einem Ausdruck im Gesicht, der darauf schließen ließ,
dass ihnen der Begriff Gastfreundschaft völlig fremd war.
Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, und
die beiden Freunde fanden sich fest verschnürt an die Gangwand gelehnt
wieder. Die Zwerge unterhielten sich derweilen leise miteinander und warfen
den beiden immer wieder mißtrauische Blicke zu, wobei ihre Augen
wie kaltes Glas glitzerten. Dann führten sie die Freunde ab. Deren
Proteste blieben unbeachtet, und so fügten sie sich murrend in ihr
Schicksal. Der seltsame Zug machte sich auf den Weg durch die Unterwelt
von Medara. Unterwegs begegneten ihnen zahlreiche weitere Zwerge, die Karren
mit Gestein durch die Gänge schoben und gelegentlich kamen sie an
lodernden Feuern vorbei, an denen emsig gearbeitet und zur Beunruhigung
der Freunde fast ausschließlich Waffen gefertigt wurden. Schon nach
kurzer Zeit hatten sie jede Orientierung verloren. Zu viele riesige Höhlen
hatten sie durchschritten und zu viele schwindelerregende Abgründe
überquert. Ständig ging es hinab und wieder hinauf. Und überall
war das allgegenwärtige, monotone Geräusch von Gestein bearbeiteten
Spitzhacken zu hören. Schließlich endete der Marsch vor einer
massiven Stahltür in einem kleinen schlecht beleuchteten Gang.
Gart enthielt sich jeden Kommentars, als er
die schwere Tür aufschloß und öffnete. Einer der Zwerge
nahm Ihnen die Fesseln ab und mit einem Stoß in den Rücken wurden
die beiden Freunde in den Raum befördert. Hinter ihnen fiel die Tür
mit einem lauten Geräusch ins Schloß und sich entfernende Schritte
ließen erkennen, dass Dean und Tom nun allein waren.
.
- 3 -
"Hey, kommt gefälligst zurück und
laßt uns hier raus, ihr Hippies. Wer glaubt ihr, wer ihr seid. Ihr
könnt nicht einfach amerikanische Staatsbürger einsperren", brüllte
Tom und trommelte gegen die schwere Tür, doch nichts geschah. Nach
einer Weile gab er es auf und drehte sich wütend zu Dean um. Dieser
stand in der Mitte des Raums, sah relativ bleich aus und schien sich mit
ihrem Quartier gar nicht anfreunden zu können. Das maß ungefähr
acht mal drei Meter, hatte eine Höhe von vier Metern und schien aus
dem massiven Fels herausgehauen worden zu sein. Der Fußboden war
mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt. Vermutlich handelte es sich um
einen seit langer Zeit nicht mehr genutzten Lagerraum, für den die
pragmatisch veranlagten Zwerge nun eine neue Verwendung gefunden hatten.
An den Wänden befanden sich leere Regale. Eine Öffnung war, mit
Ausnahme der Tür und einiger schmaler Schlitze, die wahrscheinlich
der Belüftung dienten, nicht vorhanden. Licht spendeten lediglich
zwei rußende Fackeln, die die Zwerge, kurz bevor die beiden in den
Raum geworfen wurden, angezündet hatten. Dean sah seinen wütenden
Freund ängstlich an.
"Ich fürchte", sagte er mit zitternder
Stimme, "hier kannst du noch so viel schreien und trommeln, die reagieren
doch nicht und von Amerika haben die auch noch nie etwas gehört."
"Was soll das denn heißen?" Tom kochte
vor Wut. "Das sind doch nichts weiter als abgedrehte Späthippies,
die, den Bärten nach zu urteilen, für ZZ-Top schwärmen und
hier eine abgefahrene WG gegründet haben, um illegalen Bergbau zu
betreiben", antwortete er verächtlich und begann, den Raum zu untersuchen.
"Das glaube ich nicht. Wo immer wir auch gelandet
sind, nach Amerika sieht mir das irgendwie nicht aus", erwiderte Dean und
ließ sich seufzend auf dem Boden nieder. "Denk an das Ausmaß
dieser Anlage. Ich wette mit dir, wir haben gerade mal einen kleinen Teil
davon gesehen. Und dann die unzähligen Arbeiter. Es müssen hunderte
sein und alle von der gleichen kleinwüchsigen Statur. Wenn es so etwas
bei uns geben würde, wäre es mit Sicherheit allgemein bekannt.
Aber selbst im Reiseführer steht darüber nichts. Das ist doch
höchst merkwürdig, oder? Und dann dieser unheimliche Fall durch
dieses schwarze Loch."
Schaudernd dachte Dean an ihr Erlebnis zurück.
"Gut, ich gebe ja zu, dass das alles hier
etwas seltsam ist", räumte Tom widerwillig ein. Mit gesträubten
Haaren erinnerte er sich nur zu gut an ihre Reise hierher. "Aber für
alles gibt es mit Sicherheit eine simple Erklärung. Es muß sie
einfach geben." Die letzten Worte sprach er im Brustton der Überzeugung
aus, allerdings mehr, um sich selbst zu beruhigen.
"Sicherlich gibt es eine Erklärung hierfür,
aber simpel wird sie nicht sein." Dean begann nachzudenken. Die wissenschaftliche
Herangehensweise gewann langsam wieder die Oberhand und verdrängte
die Panik, die ihn eben noch zu überwältigen gedroht hatte. Es
war gut, wenn man in schwierigen Situationen in der Lage war, an Probleme
abstrakt heranzugehen. Das half, die Schrecken zu verdrängen. Tom
untersuchte unterdessen die leeren Regale an der Wand um herauszubekommen,
ob sie in irgendeiner Weise zum Aufbrechen der Tür geeignet waren.
"Weißt du", fuhr Dean nach einer Weile
des Nachdenkens fort, "das Ganze hier erinnert mich an einen interessanten
Artikel, den ich vor einiger Zeit gelesen habe."
"Freut mich, dass du dich in einer derartigen
Situation noch an irgendwelche Artikel erinnern kannst", erwiderte Tom
giftig, während er sich bemühte, ein riesiges Steinregal von
seinem Platz zu bewegen. Dies sah sich leider nicht genötigt, von
seinen Bemühungen Notiz zu nehmen.
"Bißchen Hilfe könnte nicht schaden",
murrte Tom und sah Dean auffordernd an. Dieser betrachtete amüsiert
das Regal.
"Mein lieber Tom. Das Regal dort besteht aus
massivem Stein. Um das zu bewegen, brauchst du schon einen Kran oder einen
leistungsstarken Gabelstapler, mit Sicherheit aber keinen Biologen", erklärte
er mitleidig. Mißmutig stellte Tom daraufhin seine Bemühungen
ein, nicht ohne dem Regal vorher noch einen wütenden Fußtritt
zu verpassen. Dean erzählte weiter.
"Um auf den Artikel zurückzukommen. Wenn
ich mich recht erinnere, befasste sich dieser mit der Quantenmechanik."
"Quanten.... was?" Tom sah seinen Freund entgeistert
an.
"Quantenmechanik." Dean war jetzt wieder ganz
in seinem Element, und seine Stimme nahm den von Tom so gefürchteten
Professorenstil an. Tom fragte sich, warum er bei diesen Gelegenheiten
immer das Gefühl hatte, ein kleiner Junge zu sein, der sich auf eine
Klassenarbeit im Bruchrechnen vorbereitet hatte und stattdessen mit der
Relativitätstheorie konfrontiert wurde. Er schüttelte den Kopf,
um den unerfreulichen Gedanken loszuwerden und versuchte, sich auf Dean
zu konzentrieren, der schon mitten in seinen Erklärungen war.
".....und das versteht man daher gemeinhin
unter der Quantenmechanik" führte er gerade aus. "Der Artikel beschäftigte
sich im wesentlichen mit den Interferenzen von Photonen zueinander und
bezog in diesem Zusammenhang eine Theorie aus den fünfziger Jahren
mit ein. Ich glaube, sie hieß die Theorie des multiplen Universums
oder so ähnlich."
Tom sah seinen Freund an, als wäre dieser
gerade zu einem Banjo spielenden Werwolf mutiert. Dann platzte es aus ihm
heraus: "Wir sitzen hier irgendwo unter der Erde in einem Kellerloch fest.
Draußen tobt eine Bande axtschwingender, zu kurz geratender Weihnachtsmänner
durch die Gegend und du hältst mir hier einen wissenschaftlichen Vortrag
über
Protonen und irgendwelche Theorien aus den Fünfzigern!" Tom konnte
es einfach nicht fassen, wissenschaftliche Begeisterung hin oder her, das
war zuviel!
"Nicht Protonen, Photonen", erwiderte Dean
ungerührt.
"Ich glaube das einfach nicht. Hauptsache,
Herr Professor kann ein wenig philosophieren. Na schön, was soll’s,
wir haben ja jede Menge Zeit für wissenschaftliche Vorträge.
Es ist ja nicht so, als ob irgendetwas Dringenderes anstehen würde",
rief Tom und reckte die Hände zur Decke, als würde er von höherer
Seite Unterstützung erwarten. Die blieb natürlich aus. Nur ein
wenig Kalk rieselte mitfühlend von der Decke und so ließ er
nach ein paar Sekunden resigniert die Arme wieder sinken. Dean sah ihn
mißbilligend an. Als Wissenschaftler mit Leib und Seele schätzte
er es gar nicht, wenn man seinen Ausführungen nicht voller Wissensdurst
lauschte, sondern sich stattdessen über ihn lustig machte. Aber das
Verhalten seines Freundes war ihm ja nicht neu und so fuhr er unbeeindruckt
fort.
"Also, dieser Theorie zufolge sollen außer
dem uns bekannten Universum, noch weitere, parallele Universen sozusagen
nur einen Steinwurf weit weg existieren. Kannst du mir folgen?"
Tom hatte sich inzwischen damit abgefunden,
von Dean mit wissenschaftlichen Erklärungen gequält zu werden.
Er wußte aus Erfahrung, dass es praktisch nichts gab, mit dem man
Dean von etwas abbringen konnte, für das er sich erst einmal erwärmt
hatte. Ausgenommen vielleicht ein Schlag mit einer soliden Keule auf den
Kopf. Da Tom aber gerade keine griffbereit hatte, seufzte er ergeben und
antwortete: "Selbstverständlich." In so einem Fall wußte Tom,
war es das Beste, einfach nur zuzustimmen, es sei denn, man hatte für
den Rest des Tages nichts anderes mehr geplant und Zeit für endlose
Debatten. Deans Mundwinkel verzogen sich nach unten. Er kannte dieses Verhalten
seines Freundes nur zu gut, hakte aber nicht nach.
"Wenn man dieser Theorie also Glauben schenkt,
ist von einem multiplen Universum auszugehen. Dieser Denkansatz ist immer
noch aktuell, weil es ein Experiment gibt, das sich mit der Interferenz
von Photonen beschäftigt und indirekt in die gleiche Richtung zielt."
Tom stöhnte. "Einfach ausgedrückt, das Experiment läßt
den Schluß zu, dass Photonen unter anderem auch durch Interferenzen
aus anderen Dimensionen beeinflußt werden, also diese durchdringen.
Dimensionen, die sich von den uns bekannten unterscheiden. Die Einzelheiten
dieses Experiments erspare ich dir, es sei denn, du möchtest sie gerne
hören." Dean sah Tom hoffnungsvoll an. Der trug einen Gesichtsausdruck
wie ein Neandertaler zur Schau, der gerade einen Crashkurs über die
elementaren Grundkenntnisse der Kernspaltung hinter sich gebracht hatte
und nun aufgefordert wurde, eine kurze Zusammenfassung zu liefern. Dean
hielt es daher für besser, Tom mit weiteren Einzelheiten nicht auch
noch den restlichen Verstand zu vernebeln.
"Du hast immer noch keine Ahnung, was ich
damit sagen will, oder?", fragte er vorsichtig. Tom schüttelte stumm
den Kopf. Diesmal warf Dean die Arme verzweifelt in die Luft. Manchmal
hatte er das Gefühl, jeder Getränkeautomat würde ihn besser
verstehen.
"Aber das ist doch ganz einfach", rief er
ungehalten. "Wenn man die Behauptung des multiplen Universums als wahr
unterstellt, existieren parallel zu unserem Universum diverse Dimensionen,
die quasi nur einen Schritt entfernt sind. Soweit klar? Gut! Bisher hat
nur noch keiner den letzten Beweis hierfür erbringen können,
weil keiner weiß, wie man sie betreten kann – doch jetzt sieht das
anders aus."
Er schwieg bedeutungsvoll und sah Tom an.
Bei dem begann sich allmählich, träge, wie zäh fließender
Honig, die Erkenntnis ihre Bahn zu brechen.
"Du meinst...", sagte er nach einer Weile
zögernd.
"Genau, wir haben den Zugang gefunden. Ich
weiß nicht, wo wir uns befinden, aber eins weiß ich mittlerweile
ganz sicher..", sagte Dean überzeugt und schwieg ein paar Sekunden,
bevor er weitersprach, "wir sind nicht mehr in Amerika, sondern im wahrsten
Sinne des Wortes verschollen in einer anderen Dimension." Dann zog er die
Beine heran und verschränkte die Arme auf den Knien. Diese Stellung,
nahm er immer dann ein, wenn er vor einem Problem stand, welches sich nur
mit ausgiebigem Nachdenken lösen ließ. Tom starrte den so ruhig
vor ihm sitzenden Freund fassungslos an.
"Oh verfluchter Mist", brüllte er dann
los, als ihm allmählich das Ausmaß ihrer Situation klar wurde.
"Ich glaube das einfach nicht. Du und dein verfluchter Forscherdrang."
Verzweifelt fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und begann,
wie ein Tiger im Käfig vor Dean auf und ab zu laufen. "Und wie gedenken
der Herr Professor uns hier wieder herauszubringen? Sollen wir vielleicht
ein Taxi rufen oder eine Email schicken? SOS, benötigen neues Wurmloch
für Rückreise."
"Hey, das ist vielleicht gar nicht mal so
schlecht", rief Dean, dem eine Idee gekommen war. "Du fängst an, wie
ein Wissenschaftler zu denken."
"Klar, ich arbeite an meiner Abhandlung über
interstellare Verbindungen und Raumkrümmungen. Sag bloß, das
wußtest du noch nicht?", fauchte Tom zurück.
"Nein, nein, ich meine das ernst. Die Bemerkung
mit dem Wurmloch war gar nicht so verkehrt. Erinnere dich doch mal daran,
wie wir hierher gekommen sind. Dieses Loch war so dunkel, dass es sogar
Licht verschluckte; und dann die Sache mit deiner Hand. Verschwunden, wie
in einem schwarzen Loch." Tom sah seine Hand an und bewegte vorsichtig
die Finger, wenigstens die funktionierten noch.
"Vielleicht ist das so eine Art Wurmloch",
erklärte Dean weiter, "mit dem man von unserer Dimension in die nächste
Dimension reisen kann. Und es muß noch weitere Ausgänge und
vielleicht sogar Eingänge geben, wie bei den Stationen einer Untergrundbahn."
Tom stellte die Überprüfung seiner Gliedmaßen ein und sah
seinen Freund spöttisch an.
"Und was bringt dich zu dieser glorreichen
Erkenntnis?"
"Überlege doch mal, die Zigarettenschachtel.
Jemand hat schon vor uns diesen Weg genommen." Tom nickte mitleidig
und verzog die Mundwinkel.
"Ja, und wahrscheinlich ist dieser jemand
schon mit Steineklopfen hier in der Mine beschäftigt, trägt einen
langen Bart und hat ein Verhältnis mit Schneewittchen."
"Nein, das kann nicht sein", hielt Dean dagegen.
"Wieso nicht? Ist Schneewittchen schon anderweitig
vergeben?"
"Sehr komisch, nein, dieser Zwerg hat doch
gesagt, dass noch kein Mensch die Mine betreten hat. Wer immer vor uns
diesen Weg genommen hat, ist woanders gelandet. Falls also wider Erwarten
der Rückweg von hier aus nicht möglich sein sollte, immerhin
war der Tunnel ja verschwunden, wie du dich vielleicht erinnern magst,
gibt es möglicherweise an anderer Stelle Übergänge in unsere
Welt."
"Möglich wäre es", räumte Tom
bereitwillig ein, "aber nicht wahrscheinlich. Woher willst du wissen, wo
sich der nächste Übergang befindet? Willst du die Auskunft anrufen?
Nein, nein mein Freund. Wahrscheinlicher ist es da schon, dass uns die
kleinen grünen Männchen hier rausbeamen und uns an der nächsten
Bushaltestelle absetzen."
Dean schwieg eine Weile, dann gab er ernüchtert
zu: "Na schön, ich weiß ja auch nicht, wie wir zurückfinden
sollen, aber irgendwo müssen wir anfangen. Vielleicht können
uns die Bewohner hier helfen, wenn wir sie erst mal davon überzeugt
haben, dass wir keine Eindringlinge sind."
"Helfen, ha, die drücken uns höchstens
eine Spitzhacke in die Hand, und dann kannst du in einem staubigen Stollen
für den Rest deines Lebens Steine zerkleinern", erwiderte Tom zynisch.
Gleichwohl mußte er sich eingestehen, dass er wieder Zuversicht verspürte,
wenn auch nur sehr wenig. Eine Weile diskutierten sie noch weiter, bis
Tom schließlich müde wurde und einfach da, wo er saß,
einschlief. Dean, der seinen Freund schon immer um diese Fähigkeit
beneidet hatte, blieb noch eine Weile wach und überdachte ihre Lage.
Doch schließlich übermannten auch ihn die Strapazen des Tages
und er fiel in einen unruhigen Schlaf.
.
- 4 -
Geräuschvoll drehte sich der Schlüssel
im Schloß, und die schwere Stahltür schwang quietschend auf.
Dean und Tom, die schon seit einiger Zeit wach waren und denen sämtliche
Knochen vom Schlafen auf dem harten Boden wehtaten, waren gespannt darauf,
was sie nun erwarten würde. Jede zeitliche Orientierung war ihnen
abhanden gekommen. Ihre batteriebetriebenen Armbanduhren hatten mit dem
Eintritt in diese Welt den Dienst quittiert. Beunruhigt sahen sie, wie
ein bewaffneter Zwerg den Raum betrat, während vier weitere als Bewachung
vor der Kammer stehen blieben. Alle waren mit einer Axt und zwei Zwerge
zusätzlich mit einer Armbrust ausgerüstet. Allerdings steckten
die Äxte in ihren Halterungen und die Armbrüste hielten ihre
Bewacher locker in den Händen, ohne direkt auf sie zu zielen. Der
Zwerg, der den Raum betrat, schien der zu sein, auf den sie zuerst gestoßen
waren. Seine Haltung wies zwar nicht mehr die Feindseligkeit auf, die er
bei ihrem ersten Zusammentreffen an den Tag gelegt hatte, trotzdem war
die riesige Axt auf seinem Rücken nicht unbedingt vertrauenerweckend.
"Mit einer Gießkanne in der Hand wäre er mir sympathischer",
stellte Tom nüchtern fest.
"Mein Name ist Gart", teilte der Zwerg ihnen
mit finsterer Miene mit, während er überlegte, was wohl eine
Gießkanne war. Dean lächelte ihn freundlich an. Doch der Zwerg,
der nicht sicher war, was er von einem grinsenden Studenten und einer Gießkanne
halten sollte, befahl ihnen barsch, den Raum zu verlassen. "Los, Studenten,
der Rat der Zwerge wünscht euch zu sehen. Ich hoffe, ihr seid vernünftig
genug, freiwillig mitzukommen, sonst...." Er schwieg bedeutungsvoll und
wies mit einer kurzen Handbewegung auf die vier Zwerge vor der Tür,
von denen einer ein solide aussehendes Seil am Gürtel trug und, soweit
man das bei dem Haar- und Bartgestrüpp beurteilen konnte, gehässig
grinste.
"Ich glaube nicht, dass das nötig sein
wird", beschwichtigte Dean den Zwerg schnell, bevor Tom eine entsprechende
Bemerkung machen konnte. "Auch wir sind sehr daran interessiert, mehr über
diesen Ort zu erfahren und mit eurem Rat zu sprechen."
"Wenn es uns auch schwer fällt, dieses
fünf Sterne Etablissement zu verlassen. Ich werde den Service weiterempfehlen",
ergänzte Tom. Gart runzelte die Stirn. Dem Ton nach, schien sich der
große Mensch dauernd über ihn lustig zu machen, allerdings vermochte
er den Sinn seiner Äußerungen nicht nachzuvollziehen. Doch das
war nicht das Einzige, was Gart irritierte. Zu seiner Verwunderung bestand
die Kleidung der Eindringlinge weder aus Leder noch aus dem üblichen
derben Tuch, von Rüstungsteilen oder einer Waffe ganz zu schweigen.
Gart war neugierig darauf, was bei dem Gespräch vor dem Rat herauskommen
würde. Die Prozession machte sich also auf den Weg. Zwei Wachzwerge
gingen vorweg, dann kam Gart, gefolgt von den beiden Freunden. Die Nachhut
bildeten die übrigen Wachzwerge. Gart ignorierte hartnäckig alle
Fragen, die ihm die Freunde während des Marsches durch die Unterwelt
stellten, und nach einer Weile gaben sie es auf. Tom verbiß sich
sogar seine zynischen Kommentare. Stattdessen konzentrierten sie sich auf
die ungewöhnliche Umgebung. Tom überlegte, ob sie nicht versuchen
sollten, zu fliehen. Immerhin übte er sich seit Jahren in Karate.
Nun ist es aber eine Sache, in einer zivilisierten Welt einem Trainingspartner
gegenüber zu stehen, oder einen wehrlosen Sandsack zu verprügeln,
eine ganz andere, sich mit fünf schwerbewaffneten Zwergen anzulegen.
Tom hatte so eine leise Ahnung, dass sie sich nicht so kooperativ wie der
Sandsack verhalten würden. Im übrigen gestand er sich resigniert
ein, wüßte er gar nicht, wohin sie fliehen sollten. Selbst mit
der besten Karte würden sie in diesem Labyrinth wahrscheinlich nur
verzweifeln. Also verschob er entsprechende Pläne auf später
und folgte mißmutig den Zwergen. Der Weg war lang und die beiden
Freunde hätten nicht sagen können, ob es der gleiche war,
den sie gekommen waren. Zu vielfältig waren die Eindrücke und
zu verwirrend die zahllosen Gänge. Offenkundig hatte sich ihre Ankunft
herumgesprochen; denn überall standen Zwerge zusammen und tuschelten
aufgeregt. Einige winkten mit ihren Äxten und machten eindeutige Zeichen
mit einem Finger in Halshöhe. Die Freunde waren daher fast froh, dass
sie von der Wache begleitet wurden. Als Tom sich nach einer Weile ernsthaft
fragte, ob sich ihre Führer vielleicht verirrt hatten - immerhin hatten
sie schon dreimal nach dem Weg gefragt - hielten sie schließlich
vor einer überdimensionalen, goldfarbenen Tür an, auf der mehrere
bunte Wappen und dicke Zwerge in wehenden Umhängen eingraviert waren.
Gart befahl ihnen, draußen zu bleiben, dann verschwand er durch die
Tür. Als er kurze Zeit später zurückkam, öffnete er
die riesige Tür und verkündete: "Der Rat ist bereit."
Zögernd traten die Freunde ein. Der Anblick,
der sich ihnen bot, war überwältigend. Der Raum war groß,
vergleichbar einem Vorlesungs- oder Gerichtssaal und wurde von unzähligen
Fackeln erleuchtet. Steinbänke waren im Kreis angeordnet und wurden
durch entsprechende Gänge zur Mitte hin in vier gleich große
Bereiche aufgeteilt. Zur Zeit waren Sie unbesetzt. An den Wänden hingen
große Gemälde, die Zwerge in allen möglichen Posen zeigten.
Die Freunde waren sich nicht sicher, ob ihnen die Darstellungen gefielen,
da überwiegend Äxte eine unerfreuliche Rolle spielten. In der
Mitte des Saales befand sich ein erhöhtes Podest, auf dem ein mächtiger
steinerner Tisch stand, hinter dem fünf Zwerge würdevoll ihre
Ankunft beobachteten. Im Gegensatz zu den Zwergen, die die Freunde bisher
gesehen hatten, waren sie nicht in Leder gekleidet, sondern trugen ein
dunkles Gewand mit Kapuze. Tom mußte unwillkürlich an Mönche
denken, die aus Versehen gemeinsam mit ihrer Kutte bei 90 Grad zu heiß
gewaschen worden waren. "Zumindest schleifen sie noch nicht ihre Äxte",
dachte er, registrierte aber zugleich mit Unbehagen, dass entlang der Wände
mehrere Wachen mit Armbrüsten ihre Ankunft argwöhnisch zur Kenntnis
nahmen. Vis a vis zum Tisch der Zwerge, auf Höhe der Zuschauerbänke,
stand ein einzelner Tisch, der offensichtlich für die beiden Freunde
vorgesehen war; denn auf ihm lagen, fein säuberlich ausgebreitet,
die Sachen aus ihren Rucksäcken.
"Die Studenten", verkündete Gart mit
einer Stimme, die dem Wort eine Bedeutung gab, von der Tom nicht
sicher war, ob er über diese glücklich sein sollte. "Tretet vor!"
Die Stimme war überraschend dunkel und volltönend. Einer der
fünf Zwerge wies einladend auf die Bank und den Tisch. Tom und Dean
traten vor und nahmen vorsichtig auf der für sie viel zu niedrigen
Steinbank Platz. "Hey, Wahnsinn, ich habe meinen CD-Player wieder." Voller
Begeisterung betrachtete Tom ihre auf dem Tisch befindlichen Sachen und
vergaß für einen Augenblick völlig die Zwerge um sie herum.
Die elektrischen Geräte funktionierten natürlich nicht mehr,
da auch ihre Batterien und Akkus auf der Reise ihre Ladung eingebüßt
hatten, aber das störte die Freunde nicht. Dies hier war ein Stück
Heimat. Die Zwerge ließen sie einen Augenblick gewähren, dann
ergriff ein fast weißhaariger Zwerg in der Mitte des Podiums das
Wort, und seine Stimme hallte laut durch den Saal. "Seit Jahrhunderten
ist die Mine von Medara die Heimat der Zwerge. Generationen haben hier
schon gelebt, und nie hat ein Fremder es gewagt, hier einzudringen." Der
Zwerg schwieg salbungsvoll, während Tom enttäuscht seinen nicht
mehr funktionierenden CD-Player wieder hinlegte. "Wir waren überzeugt,
dass dies auch so bleiben würde", fuhr der Zwerg fort. Die beisitzenden
Zwerge nickten gewichtig. "Doch nun", der Zwerg hob die Stimme an, "haben
Fremde sich erdreistet, diese, unsere heilige Ruhe zu stören. Sie
nennen sich selbst Studenten, was immer sich auch hinter dieser Bezeichnung
verbergen mag. Unser treuer Bruder Gart hat uns von ihrem ungewöhnlichen
Eindringen berichtet. Die Chronik Medaras weist kein vergleichbares Ereignis
auf. Doch wir wollen nicht vorschnell urteilen. Die Tradition verlangt
es, erst zu richten, wenn die Schuld zweifelsfrei feststeht. Wir haben
daher beschlossen, euch die Gelegenheit zu geben, dieses Tribunal von Eurer
Unschuld zu überzeugen." Mit diesen Worten gab er einen kurzen Wink,
worauf ein Zwerg herantrat und vor den Freunden zwei silberne, kunstvoll
ziselierte Becher, die mit einer undefinierbaren Flüssigkeit gefüllt
waren, auf dem Tisch abstellte. Grüner Dampf stieg aus ihnen empor.
"Igitt, das ist ja noch schlimmer als deine Armyrationen." Angeekelt schob
Tom den Becher von sich. Auch Dean war wenig angetan. Als Biologe widersprach
es seiner Lebenseinstellung, dampfende, unbekannte Flüssigkeiten aus
fraglicher Konsistenz in sich hinein zu schütten. Er war sich zwar
bewußt, dass er das in der Mensa jeden Tag tat, aber dies hier war
eindeutig noch eine Stufe schlimmer. Tom vermutete, dass es selbst für
Biologen irgendwo Grenzen gab. "Trinkt", forderte der Zwerg sie auf. Tom
verschränkte die Arme vor der Brust und legte die Füße
auf den Tisch.
"Nur über meine Leiche", verkündete
er. Die Zwerge grollten.
"Was er sagen will", versuchte Dean die Wogen
zu glätten und verpaßte seinem Freund einen markigen Stoß
mit dem Ellenbogen, worauf dieser fast von der Bank fiel, "ist, dass wir
Ihnen für die freundliche Einladung danken", erwiderte er vorsichtig
und lächelte gequält, "wir aber Ihre Gastfreundschaft wirklich
nicht überstrapazieren möchten."
"Trinkt!" Die Stimme des Zwerges klang
kompromißlos und ließ an der Alternative, Axt statt Gebräu,
keinen Zweifel aufkommen.
"Warum wollen Sie uns vergiften?", jammerte
Dean. "Ich denke, wir bekommen eine Chance, alles zu erklären."
"Ich verstehe." Die Stimme des Zwergs klang
nun wieder versöhnlicher. "Ihr irrt, wenn Ihr glaubt, dass wir Euch
vergiften wollen. Wenn wir es auf Euren Tod abgesehen hätten, würden
wir kaum einen solchen Aufwand betreiben."
"Wer weiß, vielleicht wird die gute
alte Axt oder ein Bolzen zwischen die Augen auf Dauer zu langweilig", warf
Tom ein und erntete dafür böse Blicke.
"Wie ich schon sagte, Ihr irrt. Wenn Ihr redlichen
Herzens seid, braucht Ihr keine Angst zu haben, der Trank ist harmlos.
Es ist der Trank der Wahrheit. Er macht es Euch nur unmöglich, uns
zu belügen. Wir Zwerge sind von Natur aus vorsichtig, eine alte Tradition.
Also, wenn Ihr nichts zu verbergen habt, dann trinkt dies und erzählt
uns Eure Geschichte."
Der Zwerg lehnte sich zurück und sah
sie auffordernd an. Die Freunde zögerten trotzdem noch einen Augenblick,
dann nickten sie sich kurz zu, nahmen die Becher, wobei Tom noch irgendetwas
von der Genfer Menschenrechtskonvention murmelte, und stürzten das
widerliche Gebräu hinunter. "Pfui Teufel, wenn mir jetzt auch so ein
Bart wächst, wie diesen Karnevalsfiguren hier, dann werden die mich
kennenlernen", krächzte Tom und setzte den Becher schwer auf dem Tisch
ab. Deans Gesicht hatte derweilen ein verblüffende Ähnlichkeit
mit dem Inhalt des Bechers angenommen. "Grün steht dir gut", bemerkte
Tom gehässig. Dean erwiderte nichts, da er viel zu sehr damit beschäftigt
war, das Gebräu nicht großzügig im Raum zu verteilen. Nachdem
seine Geschmacksnerven ihre Bemühungen, kunstvolle Knoten in seine
Gedärme zu machen, aufgegeben hatten, drehte er den leeren Becher
demonstrativ um und setzte ihn ab. Die Zwerge nickten zufrieden.
"Wie hältst du das bloß aus?",
fragte er Tom.
"Ach weißt du, wenn man einmal deine
Kochkunst genossen hat, kann einen nur noch wenig umwerfen." Dean war beleidigt
"Ihr habt einen ersten Vertrauensbonus", unterbrach
der Zwerg ihren Disput. "Nun beweist, dass Ihr ihn auch verdient." Die
Freunde berieten sich leise und kamen überein, dass Dean die Rolle
des Erzählers übernehmen sollte. Dieser räusperte sich vernehmlich
und fing an zu erzählen: "Alles begann vor ein paar Tagen ganz harmlos...."
Dean berichtete den Zwergen ausführlich über die Umstände,
die zu ihrer Ankunft hier geführt hatten, ihren Ausflug, die Entdeckung
der Höhle und die Einzelheiten ihrer Reise. Die Zwerge stellten viele
Fragen und Dean wurde nicht müde, sie zu beantworten. Mit Staunen
und Unglauben reagierten sie auf seine technischen Erklärungen zur
Funktion der auf dem Tisch liegenden Geräte. Auch Gart wurde zu Einzelheiten
ihres Auffindens ausgiebig befragt. Allerdings brauchte er das Gebräu
nicht zu trinken, wie die Freunde verärgert feststellten. Schließlich
kam Dean zum Schluß: "Und so landeten wir in dem Gang, in dem uns
ihr Bruder Gart fand." Erschöpft von der langen Rede lehnte er sich
zurück. "Du kannst aufwachen, ich bin fertig", flüsterte er Tom
zu, der daraufhin unwillig aus seinem Dämmerschlaf hochschreckte.
Die Zwerge berieten sich lange miteinander. Sie zweifelten nicht an der
Wahrheit des Berichteten; denn der Wahrheitstrank war unfehlbar. Gleichwohl
waren sie sich nicht sicher, wie sie in dieser Angelegenheit nun verfahren
sollten. Schließlich richtete der weißhaarige Zwerg wieder
das Wort an sie: "Wenn wir Euch recht verstehen, sollen wir Euch helfen,
den Rückweg in Eure Welt zu finden."
"Richtig, sehen Sie es einmal so: Ich glaube
kaum, dass sich Ihre und unsere Welt verstehen würden, und deshalb
sollten Sie versuchen, eine Möglichkeit zu finden, diese Zugänge
zu kontrollieren. Es sei denn, Sie hätten nichts dagegen, wenn hier
demnächst unverhofft Leute aus unserer Welt auftauchen würden."
In Gedanken stellte sich Dean eine Horde von Touristen vor, die von dem
völlig verdatterten Zwerg Andenken kaufen wollten oder gar auf die
Idee kommen würden, die Zwerge selbst als Gartenaccessoire mitzunehmen.
Er konnte die typische Touristin förmlich vor sich sehen, wie sie
dem entsetzten Zwerg am Bart zog und begeistert flötete: "Ist der
nicht süüüüüüüüüßßßßß???
Den muß ich haben, er paßt so gut zu unseren Gartenmöbeln."
Auch die Zwerge schienen sich mit ähnlichen
Gedanken zu plagen; denn ihre Gesichter drückten alles andere als
strahlende Begeisterung aus.
"Wir erkennen durchaus die Relevanz und die
Dringlichkeit Eures Begehrens. Doch leider ist uns kein vergleichbarer
Fall bekannt. Es gibt in Medara keinen Übergang, der in Eure Welt
führen könnte. Den Gang, durch den Ihr gekommen seid, haben wir
vorsorglich verschüttet, obwohl wir keinerlei Hinweis auf den geheimnisvollen
Tunnel gefunden haben. Ich fürchte, Ihr müßt woanders nach
einem Übergang in Eure Welt suchen. Es wäre das beste, wenn ihr
Gart begleiten würdet. In einigen Tagen wird er geschäftlich
nach Wehrheim am Meer aufbrechen. Vielleicht erfahrt Ihr dort etwas, das
euch weiterhelfen könnte. Wehrheim ist die belebteste Handelsregion
weit und breit. Neuigkeiten verbreiten sich dort, wie ein Lauffeuer. Gart
wird Euch helfen, etwas in Erfahrung zu bringen. Im übrigen habt Ihr
Recht. Wir haben selbstverständlich ein Interesse daran, zu verhindern,
dass sich so etwas wiederholt und daher beschlossen, dass Gart Euch solange
begleiten wird, bis Ihr hinter das Geheimnis gekommen und in Eure Welt
zurückgekehrt seid." Dann sahen die Zwerge Gart ernst an, der sich
plötzlich mit der Rolle des Fremdenführers konfrontiert sah.
"Gart, die Verantwortung liegt nun bei dir. Zeige dich der Aufgabe würdig
und kümmere dich um die Studenten. Die Anhörung ist beendet."
Die Zwerge erhoben sich und entließen
sie mit einer entsprechenden Handbewegung. Die Freunde folgten daraufhin
Gart etwas bedrückt aus dem Saal. Der Zwerg wußte noch nicht
so recht, ob er sich nun freuen oder irgendwo eingraben sollte. "Hört
mal ihr beiden", begann er, während er sie durch die Gänge zur
Ausrüstungsabteilung führte und die Freunde musterte, "in diesem
Aufzug könnt ihr unmöglich mit nach Wehrheim kommen." Demonstrativ
zeigte er auf den leuchtend neonfarbenen Anorak Deans, auf dem unübersehbar
der Name eines einschlägigen Sportartikelausstatters prangte.
"Die sind aber nützlich und bequem",
maulte Dean.
"Und tödlich", ergänzte der Zwerg.
"Wieso?", warf Tom ein. "Glaubst du, die Bewohner
von Wehrheim trifft der Schlag, wenn sie mal was Modisches zu sehen bekommen?"
"Nein, aber unterwegs könnten viele Lebewesen
Hunger bekommen, wenn ihnen so leuchtende Appetithappen über den Weg
laufen. Ich weiß ja nicht, wie das in eurer Welt ist, aber bei uns
trägt man nicht unbedingt ein Schild um den Hals auf dem steht: Bitte
fressen." Das ernüchterte die Freunde schlagartig. Deans wissenschaftliche
Neugier war erwacht:
"Willst du damit andeuten, dass es draußen
blutrünstige Lebewesen gibt?"
"Darauf kannst du deine Axt verwetten", erwiderte
der Zwerg.
Das war interessant! Während Dean in
Gedanken dabei war, sich die absonderlichsten Kreaturen vorzustellen, erreichte
das Trio die Schneiderkammer. Die Entscheidung des Rates hatte sich rasend
schnell herumgesprochen, und so wurden sie dort neugierig begrüßt.
Die anschließende Kleiderauswahl gestaltete sich allerdings schwierig
und so dauerte es eine Weile, bis sie sich auf eine Bekleidungsform einigten,
bei der sich der Bart der Zwerge nicht vor Entsetzen kräuselte und
die Freunde nicht das Gefühl hatten, zum Bruder von Rumpelstielzchen
mutiert zu sein. Zum Glück arbeiteten die Schneiderzwerge schnell
und so trugen die Freunde alsbald lederne Hosen, die in Höhe der Taille
mit einen Lederband zugeschnürt wurden, sowie eine leichte Lederweste,
die von einem großen Gürtel zusammengehalten wurde über
ihren Pullovern. Das Tragen einer Kopfbedeckung hatten sie strikt abgelehnt.
Im fachgerechten Hilfszwergenoutfit ging es dann weiter in die Waffenkammer.
Gart hatte ihnen erklärt, dass ein unbewaffneter Mensch in dieser
Welt als nackt galt, so dass ihr Styling noch einer gewissen Korrektur
bedurfte. Tom war zuerst mit der Wahl der Waffen an der Reihe. Der Waffenschmied
war extrem breit und kräftig, und diverse Narben an seinen Armen und
im Gesicht machten deutlich, dass er die Waffen nicht nur zu schmieden
verstand, sondern offenkundig auch des öfteren im Gebrauch hatte.
Tom war der Ansicht, dass er eine echte Herausforderung für jeden
Schönheitschirugen gewesen wäre. Er hütete sich jedoch davor,
etwaige Andeutungen zu machen. Statt dessen antwortete er lässig auf
die Frage des Zwerges, an welche Waffe er denn gedacht hätte: "Eine
solide 45´er."
Der Waffenschmied nickte anerkennend und verschwand
in seinem Lager. Sie hörten ihn eine Weile rumoren, dann erschien
er wieder und schleifte eine überdimensionale Axt hinter sich her,
bei deren Anblick jeder Mammutbaum vor Schreck sofort seine Blätter
verloren hätte.
"Bitte, eine 45´er. Gibt nicht mehr
viele, die es verstehen, eine 45 Kilo schwere Axt zu handhaben. Respekt,
wird nicht oft verlangt." Mit einem dumpfen Geräusch landete die Axt
vor Tom auf dem Tresen. Dieser starrte entsetzt das Monstrum an, während
Dean sich das Lachen kaum verbeißen konnte. Auch Gart war amüsiert.
Er begriff, dass der Mensch unter einer 45´er offenkundig etwas anderes
verstand, aber die Situation war einfach zu komisch, als dass er helfend
eingreifen wollte.
"Schöne Sache, hmm? Willst ´sie
mal ausprobieren, hmmm? Mal einen Testwurf machen, hmm?" Der Waffenschmied
sah Tom aufmunternd an.
"Testwurf!" Tom war konsterniert. "Willst
du damit andeuten, dass es Leute gibt, die so etwas hier werfen?" Beide
Zwerge nickten zustimmend.
"Klar, wenngleich sie über fünfzehn
Meter Wurfweite zur Ungenauigkeit neigt. Dafür ist ihre Durchschlagskraft
unschlagbar, gute Wahl, hmmmm."
"Wenn ich ehrlich sein soll, die Farbe gefällt
mir nicht, paßt nicht so gut zu meinen Augen." Die Zwerge grinsten.
Ihnen war klar, dass der Mensch die Axt zwar noch hochheben, sie aber keinesfalls
werfen konnte. Selbst unter den Zwergen gab es der Legende nach nur wenige,
die dies fertiggebracht haben sollen. Aber es machte ihnen Spaß,
den Menschen aufzuziehen.
"Die habe ich auch noch mal in blutrot da,
allerdings nur in der einhändigen Ausführung für Leute mit
einer guten Rückhand."
"Einhändig?" Tom war sprachlos. Er stellte
sich vor, wie er mit der Axt zu seinem wöchentlichen Tennistraining
erscheinen würde, um seine Rückhand zu verbessern. Er bezweifelte,
dass sein Lehrer hierfür großes Verständnis aufbringen
würde. Außerdem hatte er schon einen Tennisarm!
"Ich glaube, ich nehme doch lieber ein Schwert
oder ein Rapier. Aufspießen ist doch irgendwie eleganter, oder?"
Tom sah den Zwerg um Verständnis heischend an. Der schleppte die Axt
grinsend wieder weg und brachte diesmal eine Auswahl an respektablen und
für die Freunde auch brauchbaren Waffen mit. Tom wählte, nun
vorsichtiger geworden, ein Rapier und einen Langbogen aus solidem Ebenholz.
Im Fechten und Bogenschießen hatte er sich, wenn auch nicht sehr
erfolgreich, schon einmal versucht. Für Dean war es eindeutig schwerer.
Bisher hatte er noch nie eine Waffe in der Hand gehalten. Nachdem er mehrere
leichte Schwerter wie einen Spazierstock haltend ausprobiert und dabei
Gart beinahe skalpiert hätte, entschied er sich schließlich
für ein leichtes Kurzschwert und einen fies aussehenden Dolch. Anschließend
brachte Gart sie zu ihrer neuen Unterkunft, die, abgesehen von zwei Steinpritschen
und einer steinernen Waschschüssel sowie einem Loch im Boden für
entsprechende Verrichtungen, keine echte Verbesserung gegenüber ihrer
ersten Unterbringung darstellte. Wenigstens verzichteten die Zwerge darauf,
sie einzuschließen. In den folgenden Tagen versuchten die Freunde,
trotz der Aussage des Rates, den Durchgang zu ihrer Welt in den weiten
Gängen Medaras zu finden. Doch schließlich mußten sie
sich widerstrebend eingestehen, dass der Rat Recht zu haben schien. Von
hier aus war eine Rückkehr offenbar unmöglich. Da die Reise nach
Wehrheim also unvermeidlich schien, ließen sie sich wohl oder übel
von Gart in der Handhabung der Waffen einweisen, was diesen Nerven und
einige Barthaare kostete. Die Zeit verging wie im Fluge und eines Morgens
war es dann endlich soweit, die Reise nach Wehrheim und damit hoffentlich
zurück nach Hause, konnte beginnen.
© Klaus-Peter
Behrens
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
|