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Am späten Nachmittag näherte sich
die Fähre schließlich dem Gebiet der Sumpfmenschen. Der Fluss
halbierte sich an dieser Stelle. Die eine Hälfte verschwand in einem
beeindruckenden Loch des Bergmassivs, das hier bis an den Fluss heranreichte,
die andere Hälfte führte weiter durch das Sumpfgebiet. Die Freunde
verstanden beim Anblick des dunklen Loches, warum es den Namen Schlund
bekommen hatte. Sie bezweifelten kaum die Worte Garts, der ihnen erzählt
hatte, dass noch keiner, der sich dort hineingewagt hatte, wieder herausgekommen
war. Aus Sicherheitsgründen fand der Schiffsverkehr daher auf der
anderen Seite des Flusses statt. Voraus, am rechten Flußufer, befand
sich ein massiver steinerner Komplex mit einem Anlegesteg, die Bastion
der Sumpfleute. Kleine Segelboote waren am Steg festgemacht. Eines davon
kam ihnen nun mit erstaunlich hoher Geschwindigkeit entgegen. Tom schätzte
es auf ungefähr sieben Meter Länge. Es erinnerte ihn an eine
kleine Ausgabe der Wikingerdrachenboote. Der Bug war mit einer abschreckenden
Fratze verziert und die Segel blutrot gefärbt. Mit einem gekonnten
Wendemanöver ging das Boot längsseits. Es lag tiefer im Wasser
als die große Fähre und war mit sechs Mann besetzt, die alle
die gleiche taillierte Lederkleidung trugen, was ihnen einen Hauch von
Uniformität verlieh. Tom registrierte beunruhigt eine beeindruckende
Anzahl von Waffen. Offensichtlich kannte man einander; denn die Sumpfleute
kamen ohne Umschweife zur Sache.
"Ihr kennt das Spiel ja", begrüßte
ein im Bug stehender Sumpfmensch die Zwerge, die ihrerseits auf die Bänke
gestiegen waren, um über die Reling sehen zu können. Der Sprecher
hielt eine gewaltige Armbrust locker in seinen Händen, um seinen Worten
Gewicht zu verleihen.
"Allerdings, und ihr kennt unsere Einstellung",
erwiderte einer der Zwerge. Lässig putzte er seine Axt und grinste
den Armbrustträger frech an. Die restlichen Passagiere hingegen bemühten
sich, die Köpfe unten zu behalten, da Armbrustbolzen sich bekanntlich
unangenehm auf das körperliche Wohlbefinden auswirken können.
In der Tat hob der Sprecher der Sumpfmenschen drohend seine Armbrust.
"Diesmal solltet ihr lieber bezahlen. Wir
haben eine Überraschung für euch", warnte er mit grimmigem Blick.
"Laß mich raten. Ihr feiert eine Party
anläßlich unserer hundertsten kostenfreien Durchfahrt", kam
es höhnisch zurück.
"Euch wird das Lachen noch vergehen. Wir haben
etwas gebaut, das euch in den Schlund befördern wird, wenn ihr diesmal
nicht zahlt. Ihr solltet also lieber nachgeben."
"Träum weiter! Wann werdet ihr endlich
begreifen, dass man Zwergen kein Geld abknöpfen kann. Also, macht‘s
gut, wir sehen uns auf der Rückfahrt." Die Zwerge kletterten von ihren
Bänken herunter und kümmerten sich nicht weiter um die Sumpfmenschen.
Die waren sauer.
"Gut, ihr wollt es nicht anders. Ich wünsche
euch eine schöne Reise durch den Schlund", rief der Sprecher der Sumpfmenschen
wütend.
"Die habe ich aber gar nicht gebucht", kam
es spöttisch zurück. Alle lachten, von den Sumpfmenschen einmal
abgesehen. Ihr Segelboot drehte ab und entfernte sich schnell. Die Flüche
des Kommandanten, waren noch eine Weile gut zu verstehen.
"Klingt irgendwie beunruhigend", meinte Dean,
der aus Sicherheitsgründen seinen Standort an der Reling aufgegeben
hatte und nun neben Tom saß.
"Pah, nur heiße Luft", erwiderte Gart.
"Warum haben sie nicht sofort geschossen?",
wollte Tom wissen.
"Weil das gegen die Tradition wäre",
erklärte Gart verschmitzt, "und im übrigen konnten sie ja nicht
wissen, ob nicht noch weitere Zwerge hinter der Reling auf der Lauer lagen."
"Und wie geht es jetzt weiter?"
"Nun, wir gehen in Deckung und lassen uns
von der Strömung treiben. Wie immer, werden sie uns reichlich mit
Armbrustbolzen eindecken und wie immer werden sie daneben schießen."
Tom sah ihn zweifelnd an.
"Bei unserem Glück, werden sie heute
eine Ausnahme machen", wandte er pessimistisch ein. Dean beunruhigte noch
etwas anderes.
"Glaubst du, sie haben wirklich etwas gebaut,
das uns gefährlich werden könnte?", fragte er besorgt. Der Sumpfmensch
hatte so selbstsicher geklungen. Gart schüttelte den Kopf.
"Das glaube ich kaum. Außerdem können
wir uns dann immer noch Gedanken ..." Ein lauter unheimlicher Ton unterbrach
ihn. "Hört ihr? Das ist das Angriffssignal." Wenige Augenblicke später
drang der erste Bolzen mit einem klatschenden Geräusch in den Bootsrumpf
ein. Hastig zogen die Freunde die Köpfe ein. Auf der rechten Seite
des Flusses standen nun diverse Armbrustschützen verteilt und deckten
die Fähre mit einem wahren Geschosshagel ein. Es kam einem Wunder
gleich, dass niemand verletzt wurde. Die Luft war erfüllt von dem
Zischen der Pfeile. Plötzlich registrierte Dean ein unheimliches,
quietschendes Geräusch.
"Hörst du das?", fragte er Gart.
"Hmmm." Der Zwerg horchte irritiert. "Das
ist neu."
Vorsichtig spähten sie über die
Reling. Keine hundertfünfzig Meter voraus lag das Gebäude der
Sumpfmenschen, wo sich inzwischen eine rege Betriebsamkeit eingestellt
hatte. Am Wasserrand neben dem Bootssteg waren diverse Sumpfmenschen emsig
damit beschäftigt, ein riesiges, vertikal am Boden verankertes Rad
zu drehen. Zumindestens wußten die Gefährten nun, was das quietschende
Geräusch verursachte. Neben dem Rad ragte eine massive Balkenkonstruktion
auf, deren Pendant auf der anderen Seite des Flusses auf einem Felsen stand.
Das Rad und der Balken, schienen mit Seilzügen verbunden zu sein.
"Was zum Teufel machen die da?", fragte Dean
verwundert.
"Ich fürchte, sie versuchen uns den Weg
abzuschneiden", knurrte Gart.
Tatsächlich erhob sich aus dem voraus
liegenden Flußwasser eine feinmaschige Kettenkonstruktion, die wie
ein Netz aussah und den Fluß überspannte.
"Glaubst du, das kann uns aufhalten?", fragte
Tom beunruhigt.
"Ha, nie im Leben, es sei denn, sie haben
Zwergenstahl verwendet", antwortete Gart, während die Fähre unaufhaltsam
auf das Netz zutrieb. Gespannt warteten die Sumpfmenschen auf die sich
anbahnende Kollision. Die ließ nicht lange auf sich warten. Mit einem
gewaltigen Krachen trieb die Fähre gegen das Netz. Alle wurden nach
vorne geschleudert. Die Balkenkonstruktion ächzte beängstigend.
Das feinmaschige Netz war zum Zerreißen gespannt. Dann schnellte
es plötzlich zurück, wodurch die Fähre in der Strömung
um neunzig Grad gedreht wurde. Nun hing sie quer im Netz.
"Verflixte stumpfe Axt, sie haben doch Zwergenstahl
verwendet. Eine Unverschämtheit!" Gart war ehrlich entrüstet.
Eifrig bemühten sich nun alle, die Fähre wieder in eine akzeptable
Position zu bringen. Doch aufgrund des permanenten Beschusses, der sie
zwang den Kopf unten zu halten, gelang es ihnen einfach nicht. Die Fähre
drehte sich also weiter in der Strömung und drohte nun in Richtung
des linken Flußufers abzudriften. Während alle hektisch mit
ihren Rudern hantierten, sah Tom etwas, das ihm das Herz in die Kniekehlen
rutschen ließ. Hinter ihnen begann sich, ein zweites Netz aus dem
Fluß zu erheben, so dass die Fähre nun wie ein Fisch im Netz
gefangen war. "Vielleicht wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt, einen
Waffenstillstand vorzuschlagen?", rief er den mit dem Ruder kämpfenden
Gart zu.
"Kannst es ja gerne versuchen", schrie dieser
zurück und zeigte auf die unzähligen Armbrustbolzen, die überall
im Boot steckten. Tom schluckte. Er war sich ziemlich sicher, dass die
Sumpfmenschen erst auf ihn schießen und ihm dann zuhören würden.
Die Aussicht war nicht gerade ermutigend. Es mußte eine andere Möglichkeit
geben. Viel Zeit zum Nachdenken blieb ihnen allerdings nicht, denn die
Fähre geriet nun zusehends in den Sog des Schlundes.
"Werft doch endlich den Anker", rief Dean
ängstlich.
"Haben wir leider nicht, der war zu teuer",
kam es von vorne zurück. Tom war außer sich. Die Sparsamkeit
der Zwerge würde sie noch alle umbringen. Während an Bord die
Verzweiflung eine neue Rekordmarke erreichte, betrachteten die Sumpfmenschen
voller Spannung das Drama, das sich auf dem Fluß abspielte. Der Schlund
ragte jetzt dunkel und drohend vor der Fähre auf. Niemand bezweifelte
mehr ernsthaft den Ausgang dieses aussichtslosen Kampfes. Dann war es soweit.
"Allmählich habe ich von Höhlen wirklich die Nase voll", schimpfte
Tom noch, bevor die Fähre unter dem Jubel der Sumpfmenschen im Schlund
verschwand. Diese Runde ging an sie.
- 6 -
Der Schlund machte seinem Namen alle Ehre.
Beim Anblick der feuchten Felswände, die das Geräusch des tobenden
Wassers vielfach verstärkt zurück warfen, nur noch übertönt
von den grässlichen Geräuschen, mit denen die Fähre an den
Felswänden entlang scheuerte, waren alle überzeugt, dass der
Schlund etwas, das er erstmal verschlungen hatte, freiwillig nicht wieder
hergeben würde. Mit berstenden Geräuschen verabschiedete sich
ein Ruder nach dem anderen. Angesichts dieses unerfreulichen Umstandes
befahl der Troll, alle übriggebliebenen Ruder einzuziehen. An eine
Umkehr war angesichts der starken Strömung, ohnehin nicht zu denken.
Zum Leidwesen aller schrumpfte der Eingang in kürzester Zeit zu einem
kleinen Punkt in der Ferne zusammen, so dass nun auch noch vollkommene
Dunkelheit herrschte. Eilig wurden Lampen angezündet und bald erhellten
flackernde Fackeln und Petroleumlampen gespenstisch das vorbeiziehende
Szenario. Vorsorglich wurde der Mast gekippt. Wer wußte schon, ob
sich die Decke nicht plötzlich senken würde. Derart gewappnet
trieb die Fähre mit der Geschwindigkeit eines Schnellbootes durch
den Tunnel und der Troll hatte arg zu kämpfen, um das stark schwankende
Gefährt annähernd in der Mitte des Flußbettes zu halten.
Da das Licht nicht sehr weit reichte, konnte es jeden Moment zu einer Katastrophe
kommen. Dean und Tom ging nicht aus dem Kopf, was der Zwerg über diesen
unterirdischen Fluß gesagt hatte. Sie hofften inständig, die
ersten zu sein, die die Regel durchbrechen und hier wieder herauskommen
würden. Immer wieder sahen sie sich nervös um. Der Tunnel schien
zu ihrem Entsetzen auch noch zusehends schmaler zu werden. Tom beschlich
das unangenehme Gefühl, in einem Modellflaschenschiff zu sitzen, das
den aussichtslosen Versuch unternahm, durch den viel zu engen Flaschenhals
zu entkommen. Kein schöner Gedanke. Er fragte sich, was Gart wohl
fühlte, doch dieser trug den bekannten unerschütterlichen Gesichtsausdruck
zur Schau. Tom bemerkte jedoch, dass der Zwerg immer öfter die näher
rückenden Felswände musterte. Das einzig Positive an der ganzen
Sache war, dass sich Deans Seekrankheit verabschiedet hatte, vermutlich
verdrängt, von der Panik, die er verspürte. Medizinisch gesehen,
war das eine interessante Erfahrung, doch Dean hatte im Augenblick nicht
die Muße, sich damit näher auseinanderzusetzen. "Glaubst du,
der Eimer übersteht diese Höllenfahrt?", fragte Tom beunruhigt.
"Zwergenfähren sinken nicht, schon vergessen?",
versuchte Dean ihn aufzuheitern. Wie zum Hohn ertönte ein lautes,
bösartiges Kratzen. Die Fähre war mit der linken Felswand kollidiert.
Der Troll versuchte, schnell wieder in die Mitte des Flusses zurück
zu gelangen, doch dieser war inzwischen so schmal, dass die Fähre
nun die Felswand auf der Seite der Freunde streifte.
"Faszinierend, das ist Karstgestein", stellte
Dean mit fachmännischem Blick auf die schwach beleuchtete, unmittelbar
neben ihm vorbeiziehende Felswand fest. Vor lauter Begeisterung vergaß
er völlig die Gefahr, in der sie sich befanden. "Es entsteht durch
die Verwitterung von Kalkstein mit achtzigprozentigem Kalziumkarbonatanteil."
"Danke, jetzt fühle ich mich gleich besser.
Es wäre doch traurig, wenn ich nicht wissen würde, was mir in
diesem trostlosen Loch den Gnadenstoß versetzt hätte", erwiderte
Tom bissig. Eine erneute, heftige Erschütterung dämpfte Deans
Enthusiasmus. Die Fähre schwankte jetzt immer unkontrollierter hin
und her. Der Troll war kaum noch in der Lage, sie auf Kurs zu halten. Schließlich
war die Fähre bestenfalls für langsame Rudermanöver geeignet.
Das Ende schien also absehbar. Doch gerade als Tom sich damit anzufreunden
versuchte, dass er bald die Gelegenheit zu einem ausgiebigen Bad haben
würde, hörte die rasante Fahrt zur grenzenlosen Erleichterung
aller abrupt auf. Tom war als erster auf den Beinen und sah sich um. Das
laute Rauschen der Strömung verklang allmählich in der Ferne.
Erstaunt stellte er fest, dass die Fähre nun auf einer spiegelglatten
Wasserfläche trieb. Das Licht der Fackeln reichte nicht weit genug
um zu erkennen, wie groß dieser unterirdische See war. Eines stand
für alle jedenfalls fest, es war eine deutliche Verbesserung zu der
gerade durchlittenen Höllenfahrt. Nun stellte sich nur die Frage,
wie es weitergehen sollte. Dean sprach das aus, was die meisten vermuteten:
"Irgendwo muß es einen Abfluß
geben. Wir müssen ihn nur finden."
"Und was ist, wenn wir nicht durchpassen?",
fragte Tom gereizt.
"Dann haben wir ein Problem", beschied ihm
Gart nüchtern und griff sich ein Ruder.
"Also fahren wir weiter und hoffen aufs Beste",
brummte der Troll und kurze Zeit später setzte sich die Fähre
wieder in Bewegung. Am Bug wurde ein Passagier postiert, um rechtzeitig
vor Gefahren zu warnen. Eine blasse Laterne ließ das voraus liegende
Gewässer im fahlen Licht unheimlich erscheinen. "Etwas macht mir allerdings
ernste Sorgen", seufzte Dean nachdenklich während die Fähre über
den totenstillen See glitt.
"Dass du vom Rudern Muskelkater bekommst?",
zog Tom ihn auf, doch Dean ignorierte ihn und fuhr fort.
"Wenn ihr ehrlich seid, dann war die Fahrt
bisher eigentlich gar nicht so schlimm. Zugegeben, für eine Fähre
schon, aber für ein entsprechend ausgerüstetes Boot, wäre
die Fahrt relativ gefahrlos zu machen gewesen."
"Worauf willst du hinaus?", warf Gart ein.
"Nun, keines der Schiffe, die das Pech hatten,
hier hinein zu geraten, ist bisher wieder aufgetaucht, richtig?"
"Nicht, soweit ich es weiß." Gart nickte
ernst.
"Wenn das so ist, dann läßt das
nur einen Schluß zu: Das Schlimmste liegt noch vor uns", flüsterte
Dean.
© Klaus-Peter
Behrens
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