Traumauge und Schattenläufer von Marc Kuhn

Ihre Gedanken trieben auf die selbe anmutige Art durch ihren Geist wie ihr Körper auf ihren Schwingen die Luft durchschnitt. Ihr Blick glitt über die unter ihr liegende Landschaft und sie fand Zusammenhänge zwischen der
vorbeiziehenden rauhen Schönheit und ihrem eigenem Innersten. Das glitzernde Lichterspiel der Sonne auf einem kleinen Flußlauf, das Wogen der Baumwipfel in der Abendbrise, die wilde Farbenpracht einer unberührten Waldwiese.
Sanfte, sie mit ihrer Wärme umschmeichelnde Aufwinde, halfen ihr dabei, ihren Flug fast ohne jede Anstrengung zu gestalten. Nur ein leichtes Zucken ihrer Flügelspitzen war bisweilen nötig. Dies geschah jedoch unbewußt und störte den Adler nicht in ihren Überlegungen.
Sie genoß diese stillen Minuten in denen sie die Anstrengungen des Tages hinter sich lassen konnte. Fast schon unwirklich erschienen ihr die Ärgernisse aus denen ihr Leben so oft zu bestehen schien. Ein für ihre Art ungewohnter Friede überkam sie.
"Komm in die Wirklichkeit zurück, Traumauge!"
Scharf und rücksichtslos durchschnitt ein Gedanke ihren Geist der nicht von ihr stammte.
Verärgert ruckte ihr Haupt herum bis ihr scharfer Blick einen schwarzgrauen Schemen ausgemacht hatte, der unter ihr durch das Unterholz glitt. Ein leichtes Aufblitzen zeigte ihr, daß der Wolf, der sie so unsanft aus ihren Betrachtungen gerissen, ihr seinen Blick zugewandt hatte.
"Wenigstens verdiene ich meinen Namen. Wer dich Schattenläufer genannt hat, hat dich nie aus meinem Blickwinkel gesehen. Unsichtbar wirst du nie sein." Und leider auch nie so still wie dein Lauf durch den Wald, fügte sie ungehört, in ihrer Verärgerung gestört worden zu sein, hinzu.
Ein amüsiertes Schnauben antwortete ihr. "Auch ich freue mich dich zu sehen. Deine Silhouette vor dem Blau des Himmels ist wie immer ein bezaubernder Anblick." Sie konnte es nicht sehen, einige dicht belaubte Äste verbargen ihn vor ihr, aber sie konnte geradezu spüren wie seine Zunge in dem ihr bekannten Wolfslächeln aus seiner Schnauze hing. Verärgerung vermischte sich mit Erheiterung.
"Selbstverständlich freust du dich mich zu sehen, Wolf. Schließlich  willst du heute noch deinen Magen füllen. Ohne mich ist das ja ein hoffnungsloses Unterfangen.", sandte sie ihm einen nur der Würde halber ernst klingenden Gedanken zu.
Das leise Knacken eines zerbrochenen Astes schenkte ihr die Befriedigung, ihn einen Moment aus seiner Konzentration gerissen zu haben.
Schon weniger erheitert klang es als er ihr antwortete. "Nun gut, laß uns jagen. Und benutze deine viel gerühmten Augen einmal zu etwas sinnvollem. Mein Magen knurrt."
"Dein Magen knurrt, deine Läufe schmerzen, du bist müde und wenn dich das schlimme Schicksal so heftig verfolgt wie es es deinem ewigen Genörgel nach ja scheint, dann rammst du dir heute noch einen Dorn in die Pfote. Habe ich damit alles wesentliche zusammen gefaßt?" 
Der Wolf nahm den leicht spöttischen Unterton in ihrem so mitfühlend klingenden Gedanken nicht wahr. Er setzte an : "Ja, und vorhin...". 
"Alles dein Problem." traf ihn ihr schon hämisch vorbereiteter Kommentar. Aus dem Augenwinkel sah er wie sie im selben Augenblick einen wilden Haken schlug. Ihre bevorzugte Art ihr Gelächter zum Ausdruck zu bringen.
Sein Schmunzeln durchströmte ihren Geist. "Ich bitte um Verzeihung, dich so unsanft in deinen Kreisen gestört zu haben. Und jetzt habe Mitleid mit mir. Deine Gedanken sind so scharf wie dein Schnabel."
Befriedigt lies sie von ihm ab und begann nach den verräterischen kleinen Bewegungen zu suchen, die ihr schon so oft die Beute enthüllt hatten, die sich im Unterholz des Waldes vor den beiden Jägern zu verbergen suchte.
Ein für nichts als ihren geübten Blick sichtbares Zucken von pelzigen Körpern ließ sie aufmerken.
"Wären dem Herren ein paar Hasen recht?" dachte sie, während sie ihm schon die Kenntnis zukommen lies, wo sie sich von ihm aus gesehen befanden.
Er antwortete ihr nicht. Lautlos und geschmeidig schlich er sich an die sich seiner Gegenwart nicht bewußte Beute heran. Wie der Adler durch die Luft glitt, schien er widerstandslos durch den Wald zu schneiden.
Fast hatte er sie erreicht, als die schnelle Bewegung eines Ohres ihm verriet, daß sie ihn wahrgenommen hatten.
Alle Verstohlenheit hinter sich lassend hetzte er los. Es waren zwei.
Drei kraftvolle Sätze brachten ihn an sie heran und einer der Hasen erlag einem schnellen Hieb seiner Pfote.
Das andere Tier reagierte schneller auf den plötzlichen Angriff  und versuchte, ihm Haken schlagend zu entkommen. Fast hatte es das dichte, rettende Unterholz erreicht, als sich die Reißer des Wolfes um seinen Hinterlauf schlossen. Ein kurzes herumwerfen des Kopfes bereitete auch dieser Beute ihr Ende.
"Ich habe sie, Täubchen, ich habe sie", dachte er als er den einen neben den anderen Hasen zerrte.
Eine fast unbewußt wahrgenommen Bewegung veranlaßte den Wolf dazu, sich zur Seite zu werfen. Wo sich einen Augenblick zuvor noch sein Rücken befunden hatte, schnitt ein scharfes Paar Klauen durch die Luft.
In sich hinein lachend verschwand der Wolf zwischen einigen Wurzeln und Ästen, unbewußt der Tatsache, daß er erfolgreich war, wo kurz zuvor ein Hase gescheitert war.
Nur seine Schwanzspitze sah sie noch verschwinden, bevor ein paar kräfteraubende Schläge sie wieder Höhe gewinnen ließen. Verdammt, er wußte genau wie sehr sie es haßte so genannt zu werden. Taube. Wie konnte er es nur wagen, sie mit diesen verabscheuungswürdigen Vögeln zu vergleichen. Tauben waren Beute. Sie aber ein Jäger.
Ihre Verärgerung war jedoch nicht so groß, daß sie ein verräterisches Anzeichen, das ihr die Gegenwart eines weiteren Waldbewohners verriet, übersehen hätte. 
Als sie erkannte was da so sorglos einem Wildwechsel folgte, wurde ihre Verärgerung durch ein anderes Gefühl ersetzt.
Ihre Gedanken glitten suchend dem Geiste des Wolfes entgegen und fanden ihn nicht weit entfernt geschützt unter den weitausladenden Ästen eines alten Baumes kauern. Seine jungenhafte Erheiterung schlug ihr entgegen.
"Hör auf zu spielen, Schattenläufer, ich habe Beute für uns", tadelte sie ihn mit einem schroffen Unterton.
Sofort hatte sie das Interesse des Wolfes, schließlich war es ein gutes Gefühl sie zu necken, aber alleine deswegen war er nicht hier. Er wollte satt werden. "Wo?" dachte er eifrig.
Sie beschrieb es ihm und drängte ihn sich zu beeilen: "Mach schnell, der Bursche hat es eilig. Und wie ich dich kenne bist du zu faul für eine ausgedehnte Jagd."
"Ich erwische ihn schon", sandte ihr der Wolf. Was bildete sie sich überhaupt ein. Sie vergaß wohl einmal mehr, daß er hier die Drecksarbeit machte. Anscheinend hatte er sie härter getroffen als er es beabsichtigt hatte. Aber egal. Er würde auch ohne sie zurechtkommen wenn es nötig war. Und sie ohne ihn, aber dieser Gedanke rührte nur kurz an seinem Bewußtsein. 
Auch wenn sie es anzweifeln mochte, machte er seinem Namen alle Ehre indem er mit den Schatten des Waldes zu verschmelzen schien. Von der wilden Freude der Jagd erfüllt näherte er sich der von ihr beschriebenen Stelle. Nur ein kleines Buschwerk verhinderte noch, daß sein Blick sein Opfer einzufangen vermochte.
"Schnell, es hat dich bemerkt!" blitzte ihr Gedanke in ihm auf und zerstörte seine gespannte Konzentration. Kurz war er verwirrt und verärgert, daß sie ihn störte, dann übernahm wieder sein Jagdinstinkt die Kontrolle und er brach rücksichtslos durch den Busch, um sein Opfer doch noch zu stellen.
Mit einem amüsierten Zwinkern sah sie ihm dabei zu.
Ein überraschtes und schmerzerfülltes Aufheulen des Wolfes vermischte sich mit dem protestierenden Quieken seiner Beute. Nur kurz später ertönte der helle triumphierende Schrei des Adlers.
Erbost schlugen Traumauge die Gedanken des Wolfes entgegen: "Ein Stachelschwein! Warum hast du mir nicht gesagt, daß es ein Stachelschwein ist!?!" 
Wild Haken schlagend betrachtete sie amüsiert wie ein sehr gekränkt wirkendes Stachelschwein sich langsam von dem Wolf entfernte, der mit seiner Schnauze am Boden rieb um offensichtlich ein Souvenir der für ihn so unerwartet ausgegangenen Begegnung loszuwerden.
"Strafe muß sein. Lern etwas daraus. Hündchen", mit einem weiteren, sehr ausgeprägten und schwungvollen Haken kostete sie ihren Triumph aus.
Schattenläufer, der sich inzwischen von seiner stechenden Erinnerung an das Stachelschwein befreit hatte, blickte zu dem kreisenden Adler empor und fletschte seine Zähne. Manchmal bereute er seine Idee, zusammen mit ihr zu jagen.
Ein wohlbekannter Geruch schlich sich in seine Wahrnehmung. "In Ordnung, dieser kleine, verschwindend geringe Sieg gehört dir. Und jetzt zeig etwas Würde, ich denke ich habe einen lohnenden Spielgefährten für dich gefunden."
Immer noch ihre lachenden Bahnen ziehend wandte sich der Adler ihm zu und fragte: "Du? Ich dachte das wäre meine Aufgabe?"
"Manchmal bin ich im Vorteil. Vergiß nicht, du würdest nicht im Wald jagen wenn ich nicht wäre. Das hier ist mein Gebiet", antwortete der in seinem Stolz getroffene Wolf.
Erheitert, aber sich der Wahrheit seiner Worte bewußt, forderte sie ihn auf zu berichten was denn ihrer Aufmerksamkeit angeblich entgangen wäre.
Seine Erkenntnis einen Moment lang auskostend lies er sie es wissen: "Eine Wildkatze. Ich habe die frische Witterung einer Wildkatze. Was meinst du, soll dir dieses "Hündchen" dabei helfen sie zu stellen?"
Zum ersten Mal an diesem Abend vergaß der Adler das Geplänkel mit ihrem Jagdpartner als ihre eigenen Jagdinstinkte geweckt wurden. "Führe uns zu ihr." Dachte sie erregt. Das war ihrer würdig. 
Der Wolf erhob sich und begann der deutlichen Fährte zu folgen. Sie war sehr frisch. Die Katze konnte nicht allzu weit vor ihm sein. 
Er verließ den Wildwechsel und fiel unbewußt wieder in seinen kaum wahrzunehmenden Trab. Doch dann besann er sich eines besseren und wandte sein ganzes Können auf, um unentdeckt zu bleiben. Er jagte nun nicht ein harmloses, ihm nicht wirklich gefährlich werdendes Tier sondern einen anderen Jäger.
Vergessen war der Adler, der nun weit hinter ihm kreiste, um die Beute nicht durch ihre Anwesenheit aufzuscheuchen. Sie war jedoch bereit schnell aufzuschließen, sollte sich die noch bedachte Jagd in eine wilde Hatz verwandeln.
Ein leichtes Rascheln lies den Wolf verharren. Bewegungs- und geräuschlos sandte er all seine Sinne aus.
Da war sie. Nur eine kurze Distanz trennte ihn von ihr. 
Ein Luftzug lies ihn aufmerken. Aufregung machte sich in Schattenläufer breit. Der Wind war am Drehen. Nur noch wenige Augenblicke und sie würde ihn mit Sicherheit wahrnehmen.
Schon verstummten die leisen Geräusche, die ihm ihre Anwesenheit verraten hatten. Sie war sich seiner bewußt und lauerte nun auf seine nächste Bewegung.
"Ich denke sie gehört dir", dachte der Wolf und stürzte in Richtung der Wildkatze los.
Als diese erkannte, womit sie es zu tun hatte, warf sie sich mit einem wilden Fauchen herum und versuchte, dem Wolf zu entkommen.
Gewaltsam brachen die beiden Tiere durch das Gehölz. Schnell zeigte sich, daß keiner der beiden dem anderen an Schnelligkeit überlegen war, und doch setzte der Wolf die Jagd fort.
In ihrer Panik erkannte die Katze nicht, daß sie in eine bestimmte Richtung getrieben wurde.
Mit einem gewagten Satz huschte sie über einen Wurzelstrang hinweg und rannte auf eine Lichtung hinaus.
Es wirkte fast komisch als der Wolf mit einer nicht geringen Anstrengung versuchte, seinen schnellen Lauf zu bremsen und er schlitternd am Rande dieses von Wildgräsern bedeckten Waldschneise zum Stehen kam.
Erwartungsvoll hob er seinen Blick.
Er mußte nicht warten. In einem in seiner Einfachheit schön erscheinenden Manöver stürzte Traumauge herab und bohrte ihre Krallen in die Wildkatze. Ein schneller Schlag ihres Schnabels beendete das Leben ihres Opfers.
All dies geschah in einem dem Wolf Bewunderung abverlangenden Bewegungsablauf und kaum hatte er das Geschehen registriert, erhob sich der Adler mit ihrer Beute schon wieder in die Lüfte.
Sie ließ einen Triumphschrei ertönen, der deutlich machte, welche Gefühle diese erfolgreiche Jägerin in diesem Moment durchfluteten.
"Ich gratuliere dir", sandte ihr der Wolf.
"Ich danke dir." Kam es zu ihm zurück. "Wir werden uns morgen wiedersehen. Wir haben gut gejagt."
Mit diesen Gedanken und ihrer Beute entfernte sich der Adler.
Der Wolf wandte sich ab. Ein Grinsen stahl sich über seine Schnauze. Manchmal war es von Nutzen wie vergeßlich sie in ihrer Aufregung doch sein konnte. Zwei Hasen warteten auf ihn.
Schnell trugen ihn seine Läufe durch den Wald. Kurz dachte er wie angenehm es wäre, wenn Traumauge neben ihm laufen könnte.
Einige Meilen entfernt wünschte ein Adler ihm Schwingen. Und einen schärferen Schnabel, den hatte er nötig.
 
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Und hier wartet schon die nächste Story: Aufopferung

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