Webolo hatte schon ein ungutes Gefühl,
als er sich dem Turm näherte und sein Herz sank ihm schnell in die
Hosen. Wie weggewischt waren auf einmal all sein ganzer Mut und seine heldenhaften
Vorsätze und er fragte sich allen Ernstes, wieso er sich immer und
überall vordrängeln mußte.
Schon der steinerne Drache über der schlichten,
hölzernen Eingangstür schien geradewegs auf ihn zu lauern, um
sich heimtückisch auf ihn herabstürzen zu können, und brachte
den Knappen zum Schlottern. Und unter diesem Untier mußte er zu allem
Übel auch noch durch, um zur Tür zu gelangen. Er seufzte, holte
tief Luft und machte sich so klein und unauffällig wie möglich,
immer mit einem Auge angstvoll nach oben schielend. Wider Erwarten rührte
sich der Steindrache jedoch nicht von der Stelle, und selbst als Webolo
die Hand auf die Türklinke legte, bereit, sie jederzeit sofort wieder
zurückzuziehen, machte er keine Anstalten, sich von seinem Platz über
der Tür fortzubewegen. Das beruhigte sein aufgeregt pochendes Herz
ein wenig und er drückte mutig die Klinke hinunter. Die Tür knarrte
in den rostigen Angeln und Webolo mußte sich mit seinem ganzen Fliegengewicht
dagegenlehnen, um sie auch nur einen Spalt weit aufzubekommen. Als er hineinschlüpfte,
fand er sich in einer staubigen, spinnwebverhangenen und modrig riechenden
Eingangshalle wieder. Es war duster und er konnte kaum die Hand vor Augen
erkennen, und so schnappte er sich die einzige brennende Fackel, die in
einer rostigen Halterung neben der Tür steckte, und leuchtete damit
wild in der Halle umher.
Den richtigen Weg konnte er praktisch nicht
verfehlen, denn es gab in dieser Halle nichts außer der Treppe, die
nach oben führte, und diesen Weg wählte er dann auch: hunderte
von ausgetretenen Steinstufen, die sich in endlosen Spiralen bis hinauf
in die Spitze des Turms wanden ...
"Wo ist denn dieser verflixte Knappe schon
wieder hin ... Webolo?"
Canerios mißmutige Stimme schrillte
durch den Garten des Magiers, während der Moordrache nur seine schuppigen
Schultern zuckte.
"Keine Ahnung, ich bin ja nicht sein Kindermädchen."
"Jaja, das kommt davon, wenn man sein Personal
nicht richtig beaufsichtigt!" spottete es schadenfroh von der Spitze der
Tanne. "Er ist in den Turm gegangen, Euer dämlicher Knappe – aber
das wird er noch bitter bereuen!"
Canerio legte den Kopf in den Nacken und sah
in die Baumkrone hinauf. Vor einem sternklaren Himmel konnte er die hagere
Gestalt des Magiers in den Wipfeln hin- und herwanken sehen.
"Was redet Ihr nur wieder!" schrie er nach
oben. "So etwas würde Webolo niemals eigenmächtig tun!"
"Ach, seid Ihr Euch dessen wirklich sicher?"
stichelte der Drache von der Seite. "Mir war vorhin so, als hätte
ich eine Tür quietschen hören ..."
"Seht Ihr’s? Ich hab’s ja gesagt! Das war
sehr unvorsichtig von Eurem Knappen ... sehr, sehr unvorsichtig!"
"Ruhe da oben!"
"Ruhe?" keifte Reigami. "Auf meinem Grund
und Boden kann ich so laut schreien, wie ich will!"
Der Drache warf aus den Augenwinkeln einen
gelangweilten Blick hinauf.
"Naja, Grund und Boden halte ich in diesem
Fall für leicht übertrieben ... in Anbetracht dessen, daß
ihr gut und gerne hundert Fuß über dem Erdboden herumschaukelt
..."
"Ooooch ... Ihr ..." Reigami spuckte einen
Schwall Schimpfwörter aus, die Canerio leicht erblassen ließen.
"Ich habe vielleicht nicht mehr meine vollen Zauberkräfte – aber für
Euch überdimensionale Suppenschildkröte wird’s wohl gerade noch
reichen!" tobte er und schleuderte aus seinen ausgestreckten Fingern einen
Feuerblitz auf den Drachen.
"Da! Nehmt das, Ihr Untier!"
Moordrache nahm mit einem süffisanten
Lächeln zur Kenntnis, daß der Blitz etwa zwanzig Fuß weit
neben ihm, also dem anvisierten Ziel, einschlug.
"Brille vergessen, hmm?"
Er legte den Kopf schräg und linste in
die Tanne hinauf.
"Kann ich übrigens auch, Verehrtester
..."
Moordrache konzentrierte einen Wimpernschlag
lang sein Drachenfeuer, dann pustete er durch das rechte Nasenloch mal
kurz zu dem Wipfel hoch, an den der Magier sich klammerte – und Sekunden
später saß Reigami auf einer zischenden, knisternden, durch
das Drachenfeuer sämtlicher Nadeln beraubten Tanne und zog eilig die
die Knie unters Kinn, um den letzten kleinen Flämmchen auszuweichen,
die den kahlen Stamm hochzüngelten.
"Noch Fragen?"
In der Baumkrone herrschte eisiges Schweigen.
Moordrache wandte sich wieder dem Ritter und
dem verzauberten Fass zu und in seinen Mundwinkeln spielte ein leises Grinsen.
"Na, dann wollen wir mal Euren Knappen suchen
gehen", schlug er fröhlich vor und erhob sich ächzend.
Der Knappe war mittlerweile in der Spitze des
Turms angekommen – keuchend und mit schmerzenden Beinen stand er nun vor
der schweren, eisenbeschlagenen Tür, die wohl zu Reigamis Laboratorium
führte.
Webolo legte sein Ohr an das wurmstichige
Holz und lauschte. Nichts zu hören. Irgendwo wie aus weiter Ferne
konnte er ein leises, stetes Blubbern vernehmen - ansonsten herrschte Stille.
Er schulterte seinen Rucksack, umklammerte mit einer Hand die Fackel, mit
der anderen sein kleines Taschenmesser, das er todesmutig vor sich hielt,
und stieß mit der Schulter die Tür auf.
Beißender Schwefelgestank schlug ihm
entgegen und verschiedene undefinierbare andere Gerüche. Webolo ließ
auf der Stelle das Messer fallen und hielt sich angewidert die Nase zu.
"Buuäähhh ... stinkt das hier!"
Er wedelte mit der Hand den bläulichen
Qualm beiseite, der aus einer merkwürdigen, heftig vor sich hin brodelnden
Apparatur aufstieg, betrat den Raum und sah sich neugierig um.
Das Gemach war rund wie der Turm und von ziemlichen
Ausmaßen – und in diesem Labor herrschte ein einziges Chaos, wie
Webolo mit Freuden feststellte. Er liebte Chaos und Unordnung einfach über
alles.
Völlig fasziniert betrachtete er all
die aufregenden, fremdartigen Dinge, die sich in dem Raum bis unter die
Deckenbalken stapelten: seltsame gläserne Apparate, Flaschen und Tiegel,
Kisten und Kästen unbekannten Inhalts, vollgestopfte Säcke, stapelweise
dicke, in Leder gebundene Zauberbücher, Pergamentrollen, Tintenfässer,
ein ausgestopfter Uhu, mit Runen beschriebene Schiefertafeln, bauchige
Flaschen und merkwürdige Amulette, verkrustete Kerzen, seltsam geformte
Wurzeln, Körbe voller Kräuterbüschel, in einer Nische von
einem brüchigen Vorhang halb verborgen dutzende von kleinen, aufeinandergestapelten
Fässern, Reagenzgläser, bunt schillernde Phiolen – sogar ein
leibhaftiges Skelett, das an einem Seil von der Deckel baumelte ... Webolo
glaubte sich im Paradies. Er drehte sich ein paarmal atemlos um die eigene
Achse, und begann dann sofort aufgeregt damit, all diese interessanten
Gegenstände zu betrachten. Die schwarze Phiole und die Schatulle,
die er eigentlich suchen sollte, vergaß er völlig.
Er leuchtete mit der Fackel hierhin und dorthin,
bestaunte mit glänzenden Augen die schweren goldenen Amulette, die
verstreut auf dem Tisch lagen, steckte hier einen Ring ein, dort ein Fläschchen,
da einen Stock, der ihm besonders gut gefiel – und nach und nach war sein
Rucksack so schwer, daß er ihn kaum noch tragen konnte. Als er alles
angesehen hatte, fiel ihm auch wieder ein, weswegen er hier war: der Zaubertrank.
Die Fee hatte von einer kleinen, mit Eisenbändern beschlagenen Schatulle
gesprochen – doch eine Schatulle war Webolo nirgends aufgefallen. Also
begann er noch einmal gründlich zu suchen, durchstöberte sämtliche
Winkel und Ecken, schaute hinter Säcke und Kisten, schlichtete den
Inhalt der Regale hin und her ... er fand sie nicht. Zuletzt fielen ihm
die Fässer in der Nische ein – dort hatte er noch nicht nachgesehen.
Also schob er den alten Vorhang beiseite, steckte seine Fackel daneben
in einen Eimer "was auch immer" – dem Geruch nach tippte Webolo schwer
auf Pferdeäpfel – und begann hinter den Fässern herumzukramen.
Und wirklich, als er einige der kleinen, hölzernen Behälter beiseite
schob, tat sich dahinter in der Mauer ein kleines, offenes Gelass auf,
und darin – er mochte es kaum glauben, stand eine unscheinbare Schatulle.
Webolo lehnte sich über die Fässer und angelte seinen wertvollen
Fund hervor. Die Schatulle war nicht verschlossen, und so öffnete
er behutsam den Deckel und sah auf ausgeblichenem Samt eine kleine schwarzglänzende
Phiole liegen, die von feingearbeiteten Goldornamenten umschlossen war
und mit einem Korken dicht gehalten wurde. Vorsichtig nahm er das Fläschchen
heraus und betrachtete es von allen Seiten – das also war das Heilmittel,
um das Fass wieder in eine Fee zurückzuverwandeln ... naja. Webolo
hatte es sich ein wenig spektakulärer vorgestellt. Aber nichtsdestotrotz
stopfte er das kleine Gefäß auch noch in seinen Rucksack zu
all den anderen Sachen, die er sich ausgeliehen hatte.
© by Sylvia
Nun gut, eigentlich hätte er wieder verschwinden
können ... er hatte schließlich, was er suchte. Doch er konnte
sich kaum trennen von all den herrlichen Dingen und ließ den Blick
noch einmal sehnsüchtig über all die Kostbarkeiten schweifen.
Gern wäre er noch ein Weilchen geblieben, um in den geheimnisvollen
Zauberbüchern zu blättern, die ihn so faszinierten, aber der
merkwürdige Geruch im Laboratorium wurde immer schlimmer, wie er feststellen
mußte.
In die bläulichen Wölkchen, die
aus dem gläsernen Apparat aufstiegen, mischte sich nun auch noch beißender,
grauer Qualm, der Webolo Tränen in die Augen trieb. Verwundert und
aus zusammengekniffenen Augen angestrengt blinzelnd sah er sich nach dem
Ursprung des plötzlich auftretenden Rauches um - und als er sich dann
schließlich umdrehte, wußte er, woher der Qualm kam: der ganze
Vorhang, der die Nische vor neugierigen Blicken abschirmen sollte, stand
in Flammen.
Entsetzt starrte der Knappe auf das Feuer,
das ihm entgegenschlug. Der trockene, brüchige Stoff brannte wie Zunder
und schon züngelten die ersten Flammen bis zu den morschen Dachbalken
empor.
Irgend etwas begann gerade offensichtlich
mächtig schiefzulaufen ...
"Oh-oh", entfuhr es Webolo und er entdeckte
auch sogleich, was den Brand ausgelöst hatte: die Fackel, die er unachtsam
in den Eimer gesteckt hatte, war umgekippt und hatte den Vorhang wohl entzündet.
Sein Herz begann wie wild zu klopfen. Das
hatte ihm gerade noch gefehlt!
Bei allen Göttern, was sollte er nur
tun? Wenn der Magier entdeckte, daß er unvorsichtigerweise sein Labor
angekokelt hatte - nicht auszudenken, was der alles mit ihm anstellen würde!
Dagegen würden seine blauen Feuerbälle wohl nur eine nette, kleine
Belustigung gewesen sein.
Webolo schlotterten die Knie vor Angst. Aufgeregt
hopste er von einem Fuß auf den anderen. Er mußte etwas unternehmen
und zwar schnell!
Verzweifelt fing er zu pusten an, aber das
half natürlich nichts. Er packte mit beiden Händen eines der
schweren Zauberbücher, die er kaum hochheben konnte, und schlug damit
auf die Flammen ein, die bereits über den Bretterfußboden leckten.
Auch das nutzte nichts - das Feuer brannte munter weiter.
Einer Panik nahe sah er sich in Reigamis Labor
um - es mußte doch etwas geben, was sich zum Löschen verwenden
ließ! Sein Blick fiel auf einen Krug, der auf dem Arbeitstisch stand
und mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war - Wasser! Nicht
viel zwar, aber vielleicht besser als gar nichts! Hastig und mit schweißnassen
Fingern schnappte er sich den Krug, holte aus und schüttete den ganzen
Inhalt schwungvoll auf den brennenden Vorhang.
Eine weißglühende Stichflamme schoß
zischend ins Dachgebälk hoch. Webolo ließ erschrocken den Krug
fallen und schlug die Hände vor sein Gesicht, um sich vor der Hitze
zu schützen.
Irgendwie drängte sich ihm die Vermutung
auf, daß die Flüssigkeit offensichtlich doch kein Wasser gewesen
war ...
Zwischen seinen Fingern hindurchblinzelnd
starrte er auf das Feuer, das sich schneller und schneller im Labor ausbreitete.
Die Flammen loderten jetzt nicht mehr nur gelb sondern in allen Regenbogenfarben
und erinnerten ihn merkwürdigerweise an einen angeblich schwarzen
Drachen, dem er noch vor kurzem begegnet war.
Aber Webolo mußte einsehen, daß
es wohl viel zu spät war, den Brand noch zu löschen - die Hitze
war kaum noch auszuhalten und der Qualm füllte beinahe schon das gesamte
Labor und sammelte sich unter der Turmdecke in dicken schwarzen Wolken.
Ihm blieb nur noch die Wahl entweder zusammen
mit dem ganzen Plunder des Magiers zu verbrennen oder sich tapfer dessen
Zorn zu stellen.
Mit einem Blick auf die wild lodernden Flammen
entschied sich Webolo für letzteres.
Raus hier, dachte er - nur raus hier! Halb
blind und mit tränenden Augen tastete er nach seinem Rucksack, umklammerte
die Lederriemen und kroch auf allen Vieren in die Richtung, in der er die
Tür vermutete. Doch dabei stieß er völlig unabsichtlich
an eines der Fässer, das umfiel und dessen Deckel aufsprang. Webolo
bemerkte es zwar, aber er kümmerte sich nicht weiter darum. Schließlich
war es nichts Gefährliches, nur so eine Art schwarzes Pulver ...
Reigami, hoch oben in der Spitze einer etwas
verkohlten Tanne, bemerkte den Qualm als erster.
"Es brennt", stellte er schnüffelnd fest
und hielt seine Nase in den Wind. Dann entdeckte er, daß aus dem
Dachgeschoss seines Turmes dunkelgrauer Rauch quoll. "Aber ... aber ...
das ist ja mein Turm, der brennt!"
Er warf einen verzweifelten Blick nach unten
in seinen Garten, wo der Ritter, der Drache und das Fass nach dem abhanden
gekommenen Knappen suchten.
"He - ihr da!" schrie er, so laut er konnte.
"Ihr da unten! He!"
"Was ist? Wird dir schon langweilig da oben?"
spottete der Drache und warf einen desinteressierten Blick in die Höhe.
"Langweilig?" Reigami platzte beinahe vor
Wut. "Mir ist nicht langweilig - aber das Dach meines Turms brennt gerade
ab, nur zu eurer Information!"
Der Moordrache machte den Hals lang und äugte
zur Turmspitze hinauf. Nun sah auch er den dunklen Rauch.
"Stimmt. So ein Pech aber auch ..." grinste
er und ließ sich nicht weiter stören. Aber der Magier hörte
nicht auf zu Brüllen und zu Schreien.
"Das war Euer verflixter Knappe!" polterte
er. "Ich hab euch ja gleich gesagt, passt besser auf euer Personal auf
- aber nein, ihr wolltet ja nicht auf mich hören. Ihr mußtet
ja alles besser wissen als der gute alte Reigami! Das habt ihr jetzt davon!"
Er stutzte einen Moment.
"Nein - das habe ich davon! Diese Ausgeburt
will meinen Turm abfackeln - ein gemeiner, hinterhältiger Angriff
ist das, jawohl! Holt mich hier runter, sage ich! Auf der Stelle! Mein
Turm ... mein schöner Turm! Nicht genug, daß ihr mir meinen
Hut gestohlen habt, jetzt müßt ihr auch noch meinen Turm anzünden!"
Er schaukelte wie wild auf der Spitze der
Tanne hin und her.
"Ooooh, wartet nur, wenn ich jemals wieder
hier herunterkomme ...!"
"Ja, wenn", grinste der Drache, aber Canerio
sah mit nachdenklichem Blick zum Turm hoch.
"Was ist, wenn er recht hat?""
"Der ist Magier - Magier haben nie recht",
klärte ihn der Moordrache auf.
"Nein", schüttelte der Ritter unsicher
den Kopf, "ich meine, was ist, wenn Webolo wirklich in diesen Turm gegangen
ist ...?"
"Das ist er bestimmt nicht!"
"Ist er doch!" brüllte Reigami von oben
herunter. "Ich hab’s gesehen!"
"Ihr lügt!" blaffte der Drache zurück.
"Gar nichts habt Ihr gesehen!"
"Aber wenn doch ..." warf der Ritter ein.
"Ich muß sichergehen. Nicht auszudenken, wenn er wirklich im Turm
wäre ..."
Nein, er durfte kein Risiko eingehen. Entschlossen
stapfte er auf die Eingangstür zu und stieß sie schwungvoll
auf.
"Webolo? Bist du da drinnen?"
Den Rucksack fest umklammert, mit tränenden
Augen und Herzklopfen wie nach einem Tausendmeterlauf, hetzte Webolo die
Wendeltreppe hinab, hopsend und schliddernd, stolpernd und rutschend, immer
im Kreis herum nach unten. Nur raus hier - das war sein einziger Gedanke.
In seinem Kopf drehte sich schon alles, seine
Lungen schmerzten von dem Qualm und seine Beine vom Laufen, aber er gab
nicht auf - es konnte ja nicht mehr weit sein bis zum Ausgang. Halb blind
hüpfte er die Treppe hinab - und rannte wenige Augenblicke später
seinen Herrn und Meister über den Haufen, der sich gerade mühselig
nach oben kämpfte.
Webolo schaffte es noch, entsetzt die Augen
aufzureißen, doch seinen Schwung konnte er beim besten Willen nicht
mehr rechtzeitig bremsen - Canerio wurde regelrecht von den Beinen gesäbelt
und von seinem Knappen einfach mitgerissen und in einem Knäuel aus
Blech und wild um sich schlagenden Armen und Beinen polterten sie rücklings
die Treppe wieder hinab.
Moordrache, der zusammen mit Stibitzi draußen
vor dem Turm wartete, hörte den Lärm und das Geklirre und lugte
neugierig durch den Türspalt - und dann sah er zwei Gestalten in einem
Gewirr von rostigen Rüstungsteilen die Treppe heruntersausen, an deren
Fuß sie schließlich ächzend und scheppernd liegenblieben.
"Oh, mein Kreuz", stöhnte der Ritter
und hielt sich den Allerwertesten. "Hast du wenigstens die Phiole?"
"Klar, hab’ ich - aber nun sollten wir endlich
weg von hier!" keuchte Webolo völlig atemlos und befreite sich aus
der im wahrsten Sinne des Wortes eisernen Umklammerung seines Meisters.
"Ja, das seh' ich inzwischen auch so", mußte
der Drache zugestehen und hielt schon mal die Eingangstür auf. "Und
zwar schnell!"
Reigami beobachtete von der Spitze der Tanne
aus, wie die beiden den Turm verließen, und brach sofort wieder in
sein ohrenbetäubendes Gezeter aus.
"Na - was hab ich gesagt?" schrie er triumphierend.
"Glaubt ihr mir jetzt? Was hast du angestellt, du nichtsnutziger Wurm,
du? Was qualmt da oben so? Raus mit der Sprache!"
Webolo warf einen verunsicherten Blick nach
oben.
"Ich hab gar nichts getan", sprudelte es dann
aus ihm hervor. "Diese dumme Fackel ist umgefallen und dann fing der Vorhang
zu brennen an ... ich hab’ ja versucht zu löschen, aber das war kein
Wasser in dem Krug und es brannte nur noch mehr und dann wollte ich raus
und bin über eines dieser dummen Fässer gestolpert und hab mir’s
Knie aufgeschlagen ..."
Das letzte schrie er wie einen Vorwurf nach
oben, der andeuten sollte, der Magier solle sein Labor gefälligst
besser aufräumen. Aber Reigami reagierte gar nicht, hörte schlagartig
zu Brüllen auf und seine Augen weiteten sich in blankem Entsetzen.
"Die Fässer ..." stammelte er.
"Welche Fässer?" fragte der Moordrache
interessiert.
"Ja, da waren so Fässer", erklärte
Webolo, immer noch völlig außer Puste, "da war aber nix Besonderes
drin, nur so schwarzes Pulver."
Canerios Augenbrauen schossen in die Höhe
und sein Gesicht wurde so weiß wie ein Bettlaken.
"Schwarzes Pulver?"
"Ja, wieso?"
"Bei allen Göttern", entfuhr es dem leichenblassen
Ritter. "Nehmt die Beine in die Hand und lauft - der ganze Turm wird vermutlich
gleich in die Luft fliegen ..."
Im Schweinsgalopp rannten sie quer durch den
Garten zurück in die Richtung, aus der sie bei Anbruch der Dunkelheit
gekommen waren - allen voran der Drache, halb hüpfend, halb fliegend,
dahinter der Ritter, sein völlig rußverschmierter Knappe und
ein rumpelndes Fass - begleitet von wütenden Zurufen Reigamis.
"Da können wir nicht raus!" schrie Webolo
und deutete nach vorne. "Da sind doch die Hecken!"
"Egal!" grunzte der Moordrache unbeeindruckt
und galoppierte einfach weiter. "Die nehm’ ich mit links!"
Die Erde erzitterte unter seinen Klauen, aber
er bremste nicht einmal seinen Lauf, sondern warf sich mit vollem Gewicht
in die Büsche.
Äste brachen und Strauchwerk flog querdurch
die Gegend, als er mit siegessicherem Grinsen die dichte, dornige Hecke
durchbrach und so eine Schneise schlug, die breit genug war, eine ganze
Armee durchzulassen.
Und genau das wurde zu einem Problem:
die Armee kam nämlich just in diesem
Augenblick den Hügel jenseits der Hecke herauf und geradewegs auf
sie zu.
Dem Drachen fiel schlagartig das Grinsen aus
dem Gesicht - entsetzt schlug er mit den Schwingen, rammte die Klauen in
den Boden und rutschte noch ein paar Fuß weit, bevor er endgültig
zum Stehen kam. Canerio hinter ihm konnte gerade noch bremsen, bevor er
in seine schuppenbewehrte Rückseite gerauscht wäre, und sogar
Webolo schaffte es noch, anzuhalten - nur Stibitzi erkannte das plötzlich
vor ihr auftauchende Hindernis nicht rechtzeitig und rumpelte von hinten
in Webolos Beine.
"Wieso bleibt Ihr denn einfach stehen?" rief
der Ritter und gab ob dieses ungewohnten Sprints besorgniserregende Keuch-
und Pfeiftöne von sich. Webolo hüpfte um den Drachen herum, der
ihm die Sicht nach vorne versperrte und riß überrascht die Augen
auf.
"Was ist das denn??"
Wie gebannt starrten sie auf das, was da gerade
lautstark anrückte: Dutzende von breitschultrigen Gestalten in schweren,
rasselnden Plattenpanzern, die auf sie zustürmten – eigentlich hüpften
sie mehr, als daß sie stürmten -, alle bis an die Zähne
mit riesigen Schwertern, Äxten und Hellebarden bewaffnet. Webolo blieb
vor Entsetzen der Mund offen stehen.
"Die Plattladine!" entfuhr es dem Ritter,
während sein Knappe sofort in Panik verfiel und in den höchsten
Tönen zu Kreischen begann.
Der Moordrache legte eine Kehrtwendung ein
und scheuchte seine Gefährten eilig vor sich her.
"Andere Richtung! Los, los!"
Nun galoppierte die ganze Karawane in die
entgegengesetzte Richtung davon, jagte quer durch den Garten zur Rückseite
des Turmes, dessen Dach bereits in hellen Flammen stand.
Auf der angekokelten Tanne kreischte der Magier
wild durch die Gegend.
Die Armee der rasselnden Plattladine kam in
unglaublicher Geschwindigkeit näher, während Webolo und der Ritter
immer langsamer wurden. Die Anstrengung war beinahe zuviel für den
alten Canerio, dessen Atem nur noch stoßweise und von lautem Gepfeife
begleitet kam. Der Knappe warf abwechselnd besorgte Blicke zu seinem Meister
hinüber und über seine Schulter zurück auf die anmarschierende
Armee. Auch der Drache merkte, daß die beiden wohl nicht mehr lange
durchhalten würden.
"He, Kleiner!"
Mit der Krallenspitze hielt er den Knappen
am Wams fest.
"Zu viert haben wir wohl keine Chance - ich
versuche mal, diese komischen Gestalten da ein bißchen aufzuhalten.
Lauft ihr nur immer voran!"
Webolo blieb atemlos stehen, während
der Ritter neben dem hüpfenden Fass weiterkeuchte.
"Wohin sollen wir denn laufen? Wir kennen
uns doch hier überhaupt nicht aus!"
"Hinter dem Turm beginnt gleich der Wald",
erklärte der Drache, der die Gegend recht gut kannte, eilig. "Folgt
immer dem Pfad und wenn ihr an den Fluß kommt, wendet euch nach links
und folgt seinem gebogenen Lauf. So werdet ihr wieder zurück in die
Nähe von Morholts Hütte kommen - aber bis dahin hab’ ich euch
längst wieder eingeholt."
"Willst du denn nicht mitkommen?" fragte Webolo
mit großen Augen. "Was ist, wenn wir uns verlaufen? Oder wenn du
den Weg verfehlst?"
Hinter der Hecke sah er bereits die erste
Reihe silberner Plattenpanzer auftauchen.
"Ich werde euch schon wiederfinden - keine
Sorge."
Webolo mußte auf einmal ganz fürchterlich
blinzeln und schluckte schnell den Kloß hinunter, den er plötzlich
im Hals stecken hatte.
"Werden die dir auch nichts tun?"
"Ganz bestimmt nicht."
Der Drache grinste zuversichtlich.
"Und jetzt ab mit dir!"
Während Webolo seinem Meister und dem
hopsenden Fass nachrannte, und mit ohrenbetäubendem Knall das Dach
des Turms in die Luft flog, wandte sich der Moordrache wieder der anrückenden
Armee zu.
"So ... und jetzt zu euch, ihr armseligen
Blechbüchsen ..."
Er rupfte in aller Seelenruhe eine halbwüchsige
Eiche aus dem Erdboden, als würde er für seine Liebste Blümchen
pflücken, stutzte die Krone ein bißchen zurecht, packte den
Stamm anschließend fest mit beiden Vorderklauen und stellte sich
in Schlag-Positur.
"Okay, Jungs - was haltet ihr von einer Runde
Drachen-Tennis?"
© by Sylvia
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